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4.
Ergebnisse des empirischen Vergleichs von
Träumen und angeeigneten Fiktionen
Imagination findet nicht im luftleeren Raum, sondern in Köpfen von Individuen statt. Die Produkte dieser Tätigkeit sind daher so unterschiedlich wie
die mentalen Landschaften der Personen, die sie konstruieren oder erinnernd
rekonstruieren – und gleichzeitig untrennbar mit dem Wissens-, Bedürfnisund Erlebnishintergrund des einzelnen Individuums verwachsen. Sie fungieren als symbolische Sprache, indem sie für persönliche Erfahrungen und
Wünsche stehen. Ihr Vokabular ist individuell definiert: Jede Person verwendet ihren eigenen – im Verlauf von Entwicklung und Sozialisation entstandenen und sich ständig fortentwickelnden – Deutungscode. Gleichzeitig
wiederholen sich die Vokabeln, mit Hilfe derer sich ein Individuum auf imaginärer Ebene mit den Objekten und Ereignissen seiner Umwelt auseinandersetzt.
Das Vokabular der Imagination, also die Bedeutungen, die ein Individuum
seinen träumerischen und medial evozierten Imaginationen zuweist, verweist
auf Parallelen und auf Differenzen zwischen beiden Phantasieprodukten und
den ihnen zugrunde liegenden mentalen Prozessen. Da sich dieses Vokabular
nur unter Berücksichtigung des persönlichen Hintergrundes der jeweiligen
Person nachvollziehen lässt, werden die Individuen kurz vorgestellt. Darüber
hinaus wird ein zusammenfassender Überblick über ihre Träume und die
erinnerten Fiktionen der jeweiligen Person gegeben.
Gemeinsam sind Träumen und angeeigneten Fiktionen die Themen, mit
denen sich das Individuum mittels ihnen auseinandersetzt. Dies sind Themen,
die die Person momentan oder längerfristig emotional beschäftigen und die
zum Teil problematischen Charakter für sie besitzen. Während mittels Träumen jedoch tendenziell eher aktuelle Themen und Konflikte bearbeit werden,
dient medial vermittelte Fiktion der Auseinandersetzung mit längerfristigen
Lebensthemen und Konflikten (siehe Seite 195ff).
Die Themen, die mittels Träumen und medial induzierter Imaginationstätigkeit verarbeitet werden, werden in beiden Phantasieprodukten häufig durch
dieselben Motive mit Symbolcharakter repräsentiert. Diese Motive fungieren
sowohl im Traum als auch in der medial induzierten Imaginationstätigkeit
jeweils als eine Art Kurzformel für ein mentales Konstrukt, welches das
Wissen und die Überzeugungen des Individuums bezüglich eines bestimmten
Themas transportiert (siehe Seite203ff).
Parallelen zwischen Träumen und angeeigneten Fiktionen gibt es weiterhin auf der Ebene der Ordnungsstrukturen, insbesondere in Bezug auf das
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4. Ergebnisse des empirischen Vergleichs von Träumen und angeeigneten Fiktionen
Weltbild, Ziele und Wertvorstellungen des jeweiligen Individuums, die sich
in beiden Phantasieprodukten widerspiegeln (siehe Seite 217ff), sowie in
Bezug auf Handlungsrollen, deren Manifestation in den Träumen und angeeigneten Fiktionen einer bestimmten Person große Ähnlichkeit aufweist (siehe Seite 236).
Erhebliche Unterschiede zwischen den Phantasieprodukten bestehen allerdings hinsichtlich der Art und Weise, wie bestimmte Themen in Träumen und
angeeigneten Fiktionen einer Person imaginär bearbeitet und ausgestaltet
werden. Dazu gehört die Rolle, die die Vertreter der eigenen Person in Träumen und angeeigneten Fiktionen einnehmen: In der medial induzierten Imaginationstätigkeit mutet diese weitaus positiver an als in Träumen (siehe Seite
253ff).
Einen für das betreffende Individuum angenehmeren Verlauf als Träume
nehmen medial induzierte Imaginationen auch in Bezug auf emotionale Dimensionen wie Sexualität (siehe Seite 278ff). Angst und negative Emotionen
bleiben dagegen in weitaus stärkerem Maße der träumerischen Imaginationstätigkeit vorbehalten (siehe Seite 292ff).
Auch in Bezug auf die Funktionen, die die medial induzierte und träumerische Imaginationstätigkeit für das Individuum erfüllen, lassen sich erhebliche
Unterschiede feststellen: Während Träume vom Individuum zum Experimentieren mit verschiedenen Problemlösungsmöglichkeiten und für emotionale
Probeläufe unterschiedlicher Zukunftsszenarien genutzt werden, dienen angeeignete Fiktionen primär dem Zweck, eine bestimmte WunschProblemlösung oder Wunsch-Zukunft zu antizipieren (siehe Seite 309ff und
Seite 328ff).
Der unmittelbare Vergleich zwischen den Bedeutungszuweisungen in Bezug auf imaginierte Inhalte in Träumen und bei der Aneignung von Fiktionen, die sich auf dasselbe Thema in der realen Lebenswirklichkeit des
Individuums beziehen, zeigt, dass das Individuum bei den beiden Imaginationstätigkeiten verschiedene Strategien verfolgt: Während beim Träumen eine
experimentelle Themenbearbeitung stattfindet, wird bei der Medienaneignung eine illusorische Wunscherfüllung anstrebt (siehe Seite 341ff).
4.1
Kurzvorstellung der Untersuchungssubjekte in ihrem
Lebenskontext
Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wurden fiktive Welten und
Traumwelten von insgesamt zwölf Individuen untersucht. So unterschiedlich
und individuell wie die Träume und die medial vermittelten Fiktionen, die
sich diese Personen angeeignet haben, sind die persönlichen Lebensumstände
dieser Menschen.
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4.1 Kurzvorstellung der Untersuchungssubjekte in ihrem Lebenskontext
Die Untersuchungssubjekte werden im Folgenden kurz vorgestellt, um ein
besseres Verständnis der Bedeutungen von ihren fiktiven und träumerischen
Inhalten zu gewährleisten. Denn die individuellen Deutungen und symbolischen Bedeutungen von Fiktionen und Traumelementen lassen sich nur im
Zusammenhang mit dem Lebenskontext und persönlichen Erfahrungshintergrund der jeweiligen Person nachvollziehen. Die Hintergrundinformationen
über die Person entstammen größtenteils dem ersten Teil der Leitfadengestützten Tiefeninterviews. Allerdings wurden auch Kontextinformationen
berücksichtigt, die die Person im zweiten und dritten Abschnitt des Interviews im Zusammenhang mit Träumen und angeeigneten Fiktionen äußerte.
Auf jede Kurz-Vorstellung folgt eine knappe Zusammenfassung der angeeigneten Plots und der erinnerten Träume der jeweiligen Person, die einen
Überblick über das empirische Material vermitteln sollen, aber an dieser
Stelle nicht näher eingeordnet oder interpretiert werden, um der Analyse
nicht vorzugreifen.
Die Namen aller Untersuchungssubjekte wurden aus Gründen des Datenschutzes geändert.
4.1.1
Ben: will höher hinaus
Ben (27) ist damit beschäftigt, seinen Weg in die berufliche Selbstständigkeit
zu finden. Die Verwirklichung dieses Ziels nimmt ihn mental stark in Anspruch. Nachdem er seine Schulausbildung auf einem für ihn unbefriedigenden Niveau abgebrochen hatte, absolvierte er zwei verschiedene
Berufsausbildungen als Altenpfleger und Schaufensterdekorateur. Beide
Berufe übte er nicht lange Zeit aus. Er strebt nach einer Tätigkeit von höherem Prestige. Akademische Berufe bleiben ihm jedoch aufgrund seiner mangelnden schulischen Qualifikation verschlossen. Von der neuen Tätigkeit als
selbstständiger Finanzberater erhofft er sich vor allem eine finanzielle Verbesserung, die das mangelnde Prestige eines nicht-akademischen Berufes
kompensieren könnte.
Obwohl Ben erst am Anfang seiner beruflichen Selbstständigkeit steht,
neigt er dazu, sich selbst als übertrieben erfolgreich darzustellen. Auch bei
der Darstellung seines schulischen und beruflichen Werdegangs tendiert er
zur Übertreibung. Er ist bemüht, seine von vielen Wechseln und Brüchen
geprägte Laufbahn als Resultat seiner persönlichen Entwicklung zu erklären
– und teilweise auch zu rechtfertigen: So wird der schulische Misserfolg und
die Abstufung vom Gymnasium in die Realschule als eine Phase der Wildheit
und Rebellion, die Ausbildung zum Altenpfleger als Folge von spirituellem
Gedankengut interpretiert. Er zeichnet dabei das Bild eines Suchers von sich
selbst, dessen Ziel die Entdeckung der eigenen Persönlichkeit ist. Ben über-
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4. Ergebnisse des empirischen Vergleichs von Träumen und angeeigneten Fiktionen
höht diese Suche durch eine spirituell-religiöse Qualität, die er ihr mit großer
Vehemenz zuspricht.
Bens Träume
Bens fiktionale Plots
1
Bei einer Straßenschießerei in mittelalterlicher Gegend stellt Ben fest, dass
die Maschinengewehre der Angreifer
Fälschungen sind.
1
Eine junge Frau versucht, ihre
Träume zu verwirklichen, und gerät
dabei ins Rotlicht-Milieu.
2
Beim Angeln wird Ben von Fischen
angegriffen.
2
Zwei Männer amüsieren sich in
Spielkasinos und mit Drogenexzessen in Las Vegas
3
In der Sauna wird Ben bei Intimitäten
mit einer Frau gestört.
3
Fahrt durch die Wüste
4a
Im Schwimmbad trifft Ben viele attraktive Frauen, die jedoch beim näheren Hinschauen alle einen Defekt
haben.
4
Atemzug, der durch Wasser und
Weltraum trägt
4b
Bei einer Party rasiert sich Ben auf
der Toilette, als sich Fahrkartenkontrolleure dem Haus nähern...
5
Der junge Dalai-Lama übernimmt
die Amtsgeschäfte in Tibet und ringt
mit der Entscheidung, ins Exil zu
gehen.
5
Wissenschaftler suchen nach dem
Wesen »Vater«.
6
Ein Bergsteiger findet in Tibet zu
sich selbst und überwindet seinen
Egoismus.
6a
Auf dem Weg zum Klassentreffen
beobachtet Ben, wie ein Forscher von
einem Krokodil verscheucht wird.
7
Hinter der sichtbaren Welt verbirgt
sich eine geistige Welt; ein junger
Mann überschreitet die Grenze.
6b
Nach dem Klassentreffen wartet Ben
darauf, nach Hause gefahren zu werden. Dabei lernt er junge Frauen kennen.
8
Liebe eines ungleichen Paares
7
Bens Chef fordert ihn auf, das Träumen zu beenden
9
Ein Ring muss zerstört werden, weil
das Böse durch ihn Macht erlangt.
8
Eine Ameise klettert Bens Wirbelsäule hinauf und bringt ihm Erkenntnis.
10
Raumschiff-Kommandeur Data, eine
Mischung aus Mensch und Maschine, entdeckt die Fähigkeit zu träumen.
9
Ben sieht seinen toten Körper und ist
sich gleichzeitig seiner Existenz bewusst.
11
Ein junger Mann entdeckt eine dunkle Welt, die parallel zur hellen,
sichtbaren Welt existiert.
12
Siddharta sucht die Erkenntnis.
13
Selbst erfundener Plot: Ein junger
Mann sucht nach seiner Identität.
Tabelle 1: Bens Träume und fiktionale Plots
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4.1 Kurzvorstellung der Untersuchungssubjekte in ihrem Lebenskontext
Während Bens Interesse an seiner persönlichen Entwicklung relativ stark ist,
berichtet er eher beiläufig davon, dass er sein Leben mit einer Frau und einem Kind teilt. Vor zwei Jahren wurde er nach einer kurzen Affäre gegen
seinen Willen mit der Familiengründung überrumpelt. Während er seiner
Lebensgefährtin weiterhin nur sehr begrenztes Interesse entgegenbringt und
von sexuellen Abenteuern mit anderen Frauen träumt, intensiviert sich momentan seine Beziehung zu der gemeinsamen Tochter, die er als Projektionsfläche für seine eigenen Ambitionen wahrzunehmen beginnt. Fasziniert von
dem Gedanken, sie in ihrer Entwicklung prägen zu können, möchte er seine
Erfahrungen und Lebensweisheiten an das Kleinkind weitergeben. Aus diesem eher egozentrischen Blickwinkel entdeckt er die Vaterrolle für sich.
4.1.2
Inke: sucht nach Sicherheit – und fürchtet sich vor ihr
Die 30-jährige Inke lebt in einer festen Partnerschaft und schmiedet eifrig an
ihren privaten und beruflichen Zukunftsplänen. Ihr Weg scheint vorgezeichnet: Als Tochter eines Apothekers hat sie Pharmazie studiert; auch ihr Lebensgefährte ist Pharmazeut. Inke ist überzeugt, in ihm ihren »Mann fürs
Leben« gefunden zu haben. Nun sollen und wollen die beiden in absehbarer
Zeit das Geschäft der Eltern übernehmen. Innerlich bereitet sich Inke also
darauf vor, den Weg, den sie und ihre Eltern schon vor langer Zeit für sie
ausgewählt haben, nun auch tatsächlich zu beschreiten.
Dabei widerstreiten in ihr zweierlei Gefühle: Auf der einen Seite sind der
Mann, den sie sich ausgesucht hat, der Beruf, den sie erlernt hat, und das
Leben, das sie nun beschreiten wird, genau das, was sie will. Jahrelang hat
sie dafür studiert und gearbeitet. Die Wünsche der Eltern sind in dieser Zeit
zu eigenen geworden. Eine Übereinkunft besteht nicht nur, was die berufliche
Seite angeht, sondern auch hinsichtlich der Ziele und Werte, die die private
Lebensführung betreffen. Wie ihre Eltern misst Inke den Themen Partnerschaft und Familiengründung große Bedeutung bei; sie möchte heiraten und
Kinder bekommen. Selbst am selben Ort wie die Eltern wird sie wohnen. Ihr
Leben verläuft planmäßig. Das gibt ihr die Sicherheit, nach der sie sich als
eher ängstliche Person sehnt.
Auf der anderen Seite jedoch erfüllt sie gerade diese Vorhersehbarkeit
auch mit einer latenten Unzufriedenheit. Sie wirft sich vor, »langweilig« zu
sein und nichts Besonderes im Leben erlebt zu haben. Mit einer gewissen
Faszination betrachtet sie Menschen, deren Schicksale weniger geradlinig
verlaufen als ihr eigenes. Diese Perspektive erscheint ihr attraktiv und Furcht
erregend zugleich. Ihre Unzufriedenheit geht nie so weit, dass sie ihre Zukunftspläne ernsthaft hinterfragen würde. Insgesamt gesehen ist Inke zwar
manchmal kritisch gegenüber ihren persönlichen Charaktereigenschaften,
aber insgesamt zufrieden mit ihrem Leben und ihren Lebensplänen.
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4. Ergebnisse des empirischen Vergleichs von Träumen und angeeigneten Fiktionen
Inkes Träume
Inkes fiktionale Plots
1
Auf einer Straße, auf der Inke und
ihr Lebensgefährte mit dem Auto
fahren, müssen sie viele Hindernisse
überwinden
1
In einer amerikanischen Spießerfamilie gerät alles durcheinander, weil sich
der Familienvater in die Freundin
seiner Tochter verliebt.
2
Inke befindet sich in einer idyllischen Landschaft, die bedrohlich
wirkt, sobald sie merkt, dass sie
alleine ist.
2
Ein japanischer Student steht zwischen zwei Frauen, in die er sich verliebt hat, und kann sich nicht
entscheiden.
3
Inke ist alleine in ihrem Elternhaus,
als sie merkt, dass sich Einbrecher in
der Wohnung befinden.
3
Ein deutscher Arzt reformiert den
dänischen Königshof im 18. Jahrhundert und beginnt eine Affäre mit der
Königin.
4
Inke trifft ihre alten Schulfreundinnen in der Stadt, in der sie bald wieder leben wird.
4
Ein Musiker, der sich als Clown verkleidet hat, springt von einem Trapez
und stirbt.
5a
Inke muss ein Medikament herstellen, aber alles läuft schief. Sie findet
Trost bei ihren Eltern.
5
Eine Widerstandsgruppe versucht eine
von Maschinen beherrschte Menschheit zu retten.
5b
Inkes Mutter zeigt ihr einen Welpen,
der auf dem Wohnzimmerboden sein
Geschäft verrichtet.
6
Menschen dienen als Energie für Maschinen – ein Mensch bricht aus diesem System aus.
6
Inke läuft mit ihrem Lebensgefährten auf einer Straße, die vom Meer
wegführt, sie unterhält sich mit Tieren und verliert ein Modellschiff.
7
Eine Frau wächst in einer GeishaSchule auf, etabliert sich dort und
heiratet schließlich.
7
Inke versucht, quer durch den Hörsaal eine Zigarette zu ihrem Freund
zu schmuggeln.
8
Inke feilscht auf einem orientalischen Markt um den Preis.
9
Inke verbringt einen Abend mit ihrem Ex-Freund, den sie als langweilig empfindet, weil er einschläft.
10
Inke bricht nachts Autos auf und
erlebt Abenteuer mit einem düsteren
Gesellen, den sie sexuell anziehend
findet.
11
Inke unterhält sich mit ihrer Freundin über eine weitere Freundin, die
einen nicht annehmbaren Partner
hat.
12
Inkes Mutter zeigt ihrer Tochter eine
Ratte, die Eichhörnchen großzieht.
Tabelle 2: Inkes Träume und fiktionale Plots
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