1 „Ich find Schlager toll“ der Schlager als deutsche Volksmusik Dass

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1 „Ich find Schlager toll“ der Schlager als deutsche Volksmusik Dass
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„Ich find Schlager toll“
der Schlager als deutsche Volksmusik
Dass man im Zug Menschen kennen lernt, denen man sonst eher nicht begegnet, ist
nicht nur ein Bild aus der Werbung der Deutschen Bundesbahn. Es sind buchstäblich
hautnahe Erfahrungen, man muss nur zur richtigen Zeit in den richtigen Zug einsteigen,
um andere Welten zu betreten. Wer einmal den Sonntagabend mit hoch aggressiven,
betrunkenen Bundeswehrsoldaten auf der Rückfahrt in ihre Kaserne verbracht hat, der
plant seine Fahrten demnächst anders. Ähnlich dichte Erfahrungen lassen sich auch in
den Regionalzügen vor und nach Bundesligaspielen, zur „Love Parade“ oder zum
Karneval im Rheinland machen.
Meine letzte Begegnung dieser Art fand an einem Samstag morgen im Zug nach
Hamburg statt. Gut gelaunte Jecken bevölkerten die Bahn, lustige Hüte hatten sie auf,
tranken Jägermeister, hörten Schlagermusik und der ganze Zug war unausweichlich
mit dabei. In Bremen waren es zunächst junge Männer zwischen 20 und 30, in
Rotenburg stieg dann eine Frauentruppe im Alter um die 40 zu, deren umgehängte
Blumenketten auf ein gemeinsames Ziel hinwiesen. Ohne große Berührungsängste
fielen sie lustig in die Gesänge der jüngeren Männer ein. Was war da los ? Alkohol
alleine war keine Erklärung, nein sie alle waren auf dem Weg zum Hamburger
„Schlagermove“.
Im Zug, der generations-, klassen- und stilübergreifend „17 Jahr, blondes Haar“ grölte,
gab es keinen Zweifel, der gute alte deutsche Schlager hat bei uns eine verbindende
Wirkung, eine Wirkung wie sie in anderen Ländern nur die traditionelle Volksmusik hat.
Die Bundesbahn genehmigt uns zwischen Rotenburg und Hamburg noch ungefähr 30
Minuten Zeit, diesen Gedanken mit ein paar anderen Geschichten zu verweben.
Im Jahre 1998 besuchte uns eine Freundin aus Kanada. Es war die Zeit von Guildo
(hat euch lieb) Horn und seinem grandiosen Grand Prix Auftritt. Bei den Bäckern von
Obersdorf bis Cuxhaven wurden „Nussecken nach dem Rezept von Guildo seiner
Mutter“ verkauft und für viele war das erste Mal, dass sie nach ihrer Kindheit überhaupt
wieder einen Grand Prix guckten. Wie tausende andere Deutsche knabberten wir an
diesem Abend mit unserem Gast an den erwähnten Nussecken und sahen diesem
Verrückten zu, wie er Bühnenbauwerke erklomm, sich die Seele aus dem Leib
schwitzte und damit Deutschland repräsentierte. Natürlich gab es genügend Deutsche,
die diesen Auftritt einfach nur entsetzlich fanden aber nicht wenige freuten sich, dass
so etwas in Deutschland überhaupt möglich war. Kurz vor dem Abflug sagte unsere
Freundin, dass sie zwei Dinge sehr beschäftigt hätten, die sie in Kanada aber wohl
niemanden erklären könne: die bevorstehende Umstellung, der meisten europäischen
Währungen, auf den Euro und die deutsche Begeisterung für Guildo Horn.
2005 lief „Crossing the Bridge“ in unseren Kinos, ein Film von Fatih Akin über die
Musikszene in Istanbul, neue und alte Helden der türkischen Musik zwischen alter
Kultur und neuem Pop. Das Erstaunliche war die Vitalität, mit der die türkischen
Musiker ihre Volksmusik mit moderneren Stilen mischten. Egal, ob es Musik für die
Charts war, Avantgarderock oder Hip Hop, es hatte alles seine Wurzeln in der
überlieferten Musik, baute auf überlieferten Rhythmen auf, integrierte die alten
Instrumente und macht daraus etwas Neues.
Als meine Schwester vor ein paar Jahren in Griechenland heiratete, ist es mir ganz
ähnlich mit der griechischen Popmusik gegangen. Nach der sehr altmodisch kitschigen
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orthodoxen Zeremonie, wurde in einer Kneipe gefeiert. Das Essen war fettig, die Küche
nicht allzu sauber, die Neonröhren verbreiteten nicht unbedingt folkloristische
Gemütlichkeit, aber alle waren nett und gut gelaunt. Als später die Musik (aus der
Konserve) hinzukam, wurde getanzt, denn die Musik war mitreißend, mit Seele, war
traditionell und populär zugleich. Und anders als bei deutschen Hochzeiten musste
nicht zwischen der Musik für die älteren Verwandten und denen der „jungen Leute“
unterschieden werden.
Die Griechen tanzen also immer noch ihren Rembetiko und den Sirtaki, die Franzosen
haben den Chanson, die Italiener ihre Canzoni, die Skandinavier joiken mal ganz
gerne, in Spanien tanzt und spielt man den Flamenco, in Argentinien den Tango, im
tiefsten Sibirien (und auch in unseren Fußgängerzonen) wird der Kehlkopfgesang
geprobt, die USA haben eine Country und Blues Tradition, deren Ausmaße wir gar
nicht begreifen können, die osteuropäischen Länder zeigen uns mit ihrem Balkanpop
seit ein paar Jahren beim „Grand Prix de Eurovision“ wo der Hammer hängt, selbst die
Cap Verden oder Sansibar haben einen ganz eigenen Musikstil. Die Aufzählung kann
gar nicht enden, aber deutlich wird schon beim kurzen Nachhören und denken: die
ganze Welt ist voller Volksmusik und voller Musiker die ihre Tradition mit den globalen
Rhythmen in Verbindung bringen. Mit dem dem guten alten Rock und dem aktuelleren
Hip Hop. Sie alle und besonders die jungen Musiker schaffen immer wieder etwas
Neues aus dem Alten. Jedes Volk hat es anscheinend geschafft seinen ganz eigenen
musikalischen Eintopf aus den unterschiedlichsten aber doch überschaubaren Zutaten
zu entwickeln und zu pflegen. Jedes Volk ?
Nein, Deutschland scheint aus dieser weltweiten Bewegung ausgeschlossen zu sein,
als gäbe es hier keine Grundlage auf der eigenständige populäre Musik entstehen
könnte. Was fehlt uns da ? Was hat dieses Phänomen mit unserer Identität zu tun,?
Gibt es bei uns keine identitätsstiftende Musikkultur, keinen „Common Sense“, keinen
kleinsten gemeinsamen musikalischen Nenner ? Und wenn wir schon kaum benennen
können was ursprüngliche deutsche Volksmusik ist, kann dann der Schlager bei uns
die Rolle ausfüllen, die in anderen Ländern die traditionelle Volksmusik hat ?
Schlager ist, wenn man „Hossa“ sagt und alle wissen was gemeint ist. Ein Schlager soll
einschlagen, soll ein Gassenhauer sein. Der moderne Schlager kommt aus der
Operette und hat sich über die frivolen Zwanziger Jahre, den Aufmunterungsliedern
des zweiten Weltkrieges, den Nachkriegsharmlosigkeiten und Sehnsüchten, zu dem
entwickelt, was wir alle aus der ZDF Hitparade (die es ja nicht mehr gibt) kennen.
Schlager ist Kult, die Revival Bands bevölkern die Stadtfeste, Theater veranstalten
Liederabende, kluge Menschen schreiben und reden darüber. Wie bei anderen großen
Begriffen wie z.B. der „Liebe“ (Hauptthema der Schlagertexte) weiß natürlich keiner so
recht eine Definition zu geben, das ist aber auch nicht nötig, weil jeder auch ohne
Definition etwas mit diesen Begriffen anfangen kann. Zumindest in unseren
Landesgrenzen gilt dies auch für den Schlager, aber wenn wir jemanden außerhalb
dieser Grenzen eine Beschreibung des typisch deutschen Schlagers liefern müssten,
sehe diese vielleicht so aus: kitschige Musik, sehr kommerziell, wenig innovativ, zum
Mitschunkeln, produziert eine heile Welt, Opium fürs Volk, ganz einfacher Rhymus,
ganz einfache Texte, darf den Hörer nicht überfordern, gutaussehende Sänger und
Sängerinnen befördern Träume von der Ferne und der unendlichen Liebe, zentrales
Verbreitungsorgan des Schlagers war die „Deutsche Hitparade im ZDF“ mit Dieter
Thomas Heck, ihre Blütezeit von 1955 bis 1980.
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Mit dieser Symptombeschreibung wäre unser fremdländisches Gegenüber
wahrscheinlich nicht viel klüger, wir müssten Beispiele auf den Plattenteller legen:
„Fiesta, Fiesta Mexicana“, „Sieben Fässer Wein“, „Wir lassen uns das Singen nicht
verbieten“, „Ein Bett im Kornfeld“, „Liebeskummer lohnt sich nicht, my Darling“, bei „Am
Tag als Conny Cramer starb“ würden uns dann die Tränen kommen und wir müssten
das Vorspielen abbrechen. Haben Sie etwas gemerkt ? 100% Wiedererkennungswert,
wir alle kennen diese Lieder, wir könnten mitsingen, wir sehen den dicken Roland
Kaiser vor uns, den attraktiven Howard Carpendale, die ewig verliebten Cindy und Bert,
den verträumten Roy Black, die ehrliche Juliane Werding, Vadder Abraham und die
Schlümpfe („Sagt mal wo kommt ihr denn her ?“) und als Alternativangebot Jürgen
Drews mit seiner Gitarre oder mit seinen Freundschaftbändern Wolfgang „Wolle“ Petry.
Unser Gegenüber wäre wahrscheinlich nicht sonderlich erstaunt, solche oder ähnliche
Musik hat es zu dieser Zeit in allen westlich orientierten Ländern gegeben und
manches wurde einfach eingedeutscht.
Wo bleibt denn da der deutsche Sonderweg ?
Und wirklich ist dieser Sonderweg zunächst nicht leicht zu erkennen, denn Anfang der
in den sechziger und siebziger Jahren konnten die Jugendlichen in Deutschland dem
Schlager genauso wenig entgehen, wie Jugendliche in anderen Ländern den örtlichen
Varianten. Als sie dann ausweichen konnten hörten die deutschen Jugendlichen wie
überall in der westlichen Welt englisch/amerikanische Popmusik. Weil diese Musik viel
mehr bot als der Schlager: mehr Skandale, mehr Sex, Drugs and Rock´n Roll, mehr
coole Stars, bessere Texte, mehr musikalischer Reichtum und vor allem waren diese
Musiker in keinster Weise wie die Eltern (also vernünftig, spießig, konservativ,
asexuell). Es gab niemanden, der gesagt hätte „Ich find Schlager toll“ (Guildo Horn)
auch wenn man, mangels Alternativen, dann doch zusammen mit den Eltern die
„Hitparade“ im zweiten Deutschen Fernsehen guckte und sich diese Lieder tief in die
Ohrwindungen eingruben.
So hätte es jahrelang weitergehen können, deutscher Schlager für die Alten, englischer
Pop für die Jungen, wäre da nicht die Neue Deutsche Welle über uns gekommen. Und
es hätte natürlich nicht so weitergehen können, weil es in der Musik immer wieder
völlig überraschende und gleichzeitig zwangsläufige Entwicklungssprünge gibt. Weil in
der Musik Kunst, Kommerz, ein Massenpublikum und junge Wilde sich verbinden wie in
keinen anderen kulturellen Zweig.
Die Zeit war reif für diese neue deutsche Musik, das Publikum war dankbar und die
Musikindustrie noch viel mehr. Was für Musik und was für Texte: „Ich möchte ein
Eisbär sein, im kalten Polar, dann müßte ich nicht mehr schreien, alles wär so klar“
(Grauzone mit Stephan Eicher als Sänger) oder „Hey, hey, hey ich war der goldene
Reiter, hey, hey, hey ich bin ein Kind dieser Stadt, hey, hey, hey ich so hoch auf der
Leiter, doch dann fiel ich ab, ja dann fiel ich ab.“ (Joachim Witt) solchen Gesang hörten
wir nie vorher, weder von Howi, nicht von Wolle, nicht von Rio und nicht von Udo (und
wir werden solches auch nicht mehr so bald hören, die neue Generation reimt wieder
neue Reime). Dabei war die Szene äußerst vielfältig, was nicht nur daran lag, dass
jede Schülerband mit einigermaßen frechen Texten eine Schallplattenvertrag bekam,
sondern daran, dass sich diese Welle so lange angestaut hatte und einfach raus
musste. Damit war deutsche Musik plötzlich Bravo tauglich geworden.
In den neunziger Jahre gab es überall auf der Welt relativ zeitgleich neue musikalische
Bewegungen. In England wurde der Brit-Pop wieder entdeckt, in Frankreich belebten
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junge Künstler den Chanson neu und auch andere Länder entdeckten ihre eigene
Musik. Die Abkehr vom austauschbaren Plastikpop der Achtziger und die Entdeckung
der globalen Weltmusik, provozierte eine musikalische Rückbesinnung, auf das was
man hat und was einen auszeichnet.
In Deutschland war dies bezeichnender Weise die große Zeit des Schlagerrevivals. In
Ausstellungen, auf Stadtfesten, im Theater und auf den Konzerten von Dieter Thomas
Kuhn oder Guildo Horn wurde dem Schlager gehuldigt. Wenn auch heute diese ganz
große Zeit vorbei ist, so bringt doch eine Veranstaltung wie der „Schlagermove“ immer
noch eine halbe Million Menschen auf die Beine.
Im großen Unterschied zu anderen Ländern gehen wir aber ironisch und nicht ernsthaft
mit unseren musikalischen Traditionen um. Als müssten wir einen Abstand zwischen
uns und dieser Musik herstellen und die einfachste Möglichkeit diese Musik zu
genießen und nicht dafür ausgelacht zu werden ist der Einsatz von Ironie. Damit
können wir diese, in ihrer Art gut gemachte, Musik hören, Erinnerungen wecken, in die
Zeit unserer Jugend zurückkehren und eine generationsübergreifende Gemeinschaft
spüren Sollte uns dann jemand auf unsere befremdlichen Neigung ansprechen, war
„alles doch nur Spaß“. Anstatt zu unsere niederen Triebe zu stehen, sind sie uns
peinlich. Von unseren intellektuellen Höhen schauen wir auf diese Musik herunter und
wissen: es ist eigentlich nicht richtig, sie zu mögen. Gleichzeitig ist die Schlagermusik
aber auch ein Teil unser Geschichte, ein Teil von uns. Und da kommt vielleicht etwas
typisch deutsches ins Spiel, denn entweder müssen wir diesen Teil von uns
dogmatisch bekämpfen (als übelstes kommerzielles, verdummendes Produkt der
Kulturindustrie) oder es mit Hilfe der Ironie abspalten.
Anders gesagt, wenn du im Pornokino erwischt wirst, solltest du besser eine gute
Ausrede parat haben (auch vor dir selber).
Seine eigene Identität, die eigenen Besonderheiten sieht man am besten durch die
Abgrenzung von den anderen. Das gilt für jeden einzelnen von uns genauso wie für
ganze Völker.
Was unsere musikalische Identität angeht, sind wir nicht nur einzigartig und vielen
Einzigartigen, nein uns fehlt etwas, was scheinbar alle anderen haben. Wo andere
Länder munter ihre traditionelle Volksmusik pflegen und weiterentwickeln, bleibt uns
nur der Schlager als kleinster gemeinsamer musikalischer Nenner und selbst mit dem
gehen wir nicht besonders sorgsam um. Die Frage, warum dies so ist, hat viel mit
unserer Geschichte und der Auseinandersetzung mit unserer Identität als Deutsche zu
tun.
Als ein Erklärungsversuch bietet sich die traditionelle Trennung zwischen E- und UMusik an. Die hohe Kultur der ernsthaften Musik, wie sie an den unzähligen deutschen
Höfen und in den Kirchen praktiziert wurde und die Fortsetzung dieser Tradition in den
bürgerlichen Häusern, war in Deutschland unglaublich erfolgreich. Eine Verbindung zur
Unterhaltungsmusik des niederen Volkes wurde nur selten gefunden. Die deutschen
Künstler und ihr Publikum suchten eher die Erhöhung als die Verbreitung. Selbst die
Bewegungen im 18. und 19. Jahrhundert (z.B. durch Johann Gottfried Herder), zur
Förderung des deutschen Volksliedes, wurden ernsthaft intellektuell und nicht aus Spaß
an der Sache betrieben. Es gab und gibt in Deutschland ein sehr hohes Bewusstsein
davon, welche Musik gut = ernsthaft ist und welche schlecht = dumm ist. Diese
Trennlinie ziehen nicht nur die Klassik- und Jazz Anhänger, auch die Pophörerschaft
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beherrscht dieses Spiel exzellent.
Wenn man mit Musikliebhabern in Deutschland spricht, trifft man oft auf eine
erstaunliche Toleranz gegenüber den vielfältigen Musikstilen: alles ist möglich,
Hauptsache es wird mit hohen Anspruch musiziert. Auf der anderen Seite findet man
aber auch eine unglaublich große Abwertung des „Dudelfunks“, des Schlagers oder der
rein kommerziellen Musik. Dass sich diese „schlechte“ Musik, trotzdem massenhaft
verkauft (genauso wie Zeitungen mit großen Buchstaben und halbnackten Frauen), ficht
die Aufklärer nicht an, sondern verschärft eher die Abgrenzung (und fördert ihre
Gewinne). Fast ist es so als sollten sich alle Schlagerhörer (vor allem der Schlagerhörer
in uns allen) schämen, weil sie doch eigentlich wissen müssten, was wirklich gut ist und
was nicht.
Wie soll man unter diesen Bedingungen unbefangen mit dem Schlager oder anderer
„niedriger“ Musik umgehen ?
Zum Anderen ist da die Zäsur des II. Weltkrieges. Nach all der mythischen
Überhöhung des Völkischen und des deutschen Wesens, war es schwer eine
unverkrampfte neue deutsche Identität zu entwickeln. Alles Deutsche, das man vorher
auf den viel zu hohen Sockel gehoben hatte, lag nun in Scherben und diese (Spiegel-)
Scherben waren zum Teil zu hässlich, um sie nochmals anzuschauen.
Auf was sollte man da musikalisch aufbauen ? Der Einsatz der deutschen Volksmusik
im Sinne der Nationalsozialisten, machte sie pauschal unbrauchbar. Dagegen boten
sich an: der Schlager aus den 20´er und 30´er Jahren (als die jüdischen Komponisten
und Texter noch in Deutschland lebten), die Melodien der Operette und die
musikalischen Zutaten aus den Ländern der Sieger, vor allem Amerika. Daraus
entstand der typische deutsche Schlager. Der Preis für diesen Neuanfang war das
Vergessen der deutschen Volksmusik.
Natürlich wurde die deutsche Volksmusik nicht völlig vergessen, aber sie lief und läuft
einfach nicht. Sie läuft nicht im Radio, sie verkauft sich nicht, niemand will sie hören,
niemand spielt sie in den Kneipen oder auf anderen kleinen Bühnen und an den
(Musik-) Schulen wird sie nicht gelehrt. Das ist ein staunenswerter Unterschied zu
anderen Ländern.
Und natürlich kann man sagen, dass ja in den Siebzigern die deutsche Volksmusik
wieder entdeckt wurde. Vor allem durch die Liedermacher und die Produzenten der
Musikantenstadl, aber damit war die „Volksmusik“ zwei Extremistengruppen in die
Hände gefallen.
Auf der einen Seite versuchten Gruppen wie Zupfgeigenhansel, Liederjan, Ougenweide
und die politischen Liedermacher, Volksmusik in die heutige Zeit zu transportieren. Das
klang gut, war witzig und hatte Pfiff. Vielleicht hätte diese Bewegung sogar die Kraft
gehabt ursprüngliche deutsche Volksmusik dahin zu bringen wo sie hingehört. Es gab
nur ein Problem: die Vertreter dieser Richtung waren politisch eindeutig links
einzuordnen. Sie belebten nur den ihnen genehmen Teil der Volksmusik und erfüllten
ansonsten jedes Vorurteil, das Ekel Alfred von langhaarigen Bombenlegern hatte. Für
die ganz breite Masse war das nix.
An Zuhörer- und Verkaufszahlen gemessen breiter sind da schon die Varianten des
Musikantenstadls. Außerhalb der Hardcoreanhängerschaft wird diese Musik aber
belächelt. Das ganze Drumherum, die Klischees von Trachten, Schwarzwaldhäuschen
und Friesen in Fischerhemden, machen es viel zu leicht diese Musik nicht ernst
zunehmen. Oft zu Unrecht, natürlich sind die Gruppen, die dort auftreten kommerzieller
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orientiert als die meisten linken Liedermacher aber die Musik könnte trotzdem ein
Steinbruch sein, aus dem man sich besten Teile herausklaut, es müssten sich nur
mehr Musiker und Zuhörer von außen trauen diesen Steinbruch überhaupt zu betreten.
Den Musikern, die sich an diesem Musikantenstadlzirkus beteiligen, könnte man
höchstens den Vorwurf machen, dass sie es sich zu bequem in dieser Nische machen.
Ein bisschen mehr Mut zur Integration könnte nicht schaden und zwar auf beiden
Seiten. Dann ergäbe sich vielleicht ein dritter Weg.
Muss man sich also Sorgen um die deutsche Musik oder gar die deutsche Identität
machen ? Auf gar keinen Fall ! Wir merken an manchen Punkten, dass uns etwas fehlt,
was andere wie selbstverständlich haben. Diese Lücke lässt uns aber nicht ins Leere
fallen, wir sind einfach gefordert sie zu füllen. Wenn wir bei dieser Auseinandersetzung
Ironie als Hilfsmittel brauchen, um auch mal eine Flagge hissen zu dürfen oder
gemeinsam gute alte Schlager zu hören, und wenn wir uns dabei nicht ganz so ernst
nehmen, ist das wahrscheinlich besser als die alte deutsche Leidenschaft für die
Extreme.

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