Eingeschrieben bei Gott

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Eingeschrieben bei Gott
Prof. Dr. Magdalene L. Frettlöh/Universität Bern [email protected]
Eingeschrieben bei Gott
Das himmlische «Buch des Lebens» und seine irdischen Entsprechungen
Besinnungswoche Affoltern 23.–29. November 2015
Vorbemerkung
Zunächst ein herzliches Dankeschön an Ursula und Ueli Trösch und alle anderen, die diese Besinnungswoche umsichtig vorbereitet und mit großem Engagement durchgeführt und damit zu ihrem Gelingen beigetragen haben.
Den fünf Predigten, die zur NachLese und zum Weitergeben zur Verfügung gestellt werden, geht eine langjährige theologische Beschäftigung mit der biblischen Metaphorik der himmlischen Buchführung im Rahmen meines Eschatologie1-Forschungsschwerpunkts voraus, die bisher zu einer Reihe von Vorträgen
sowie zwei publizierten Aufsätzen2 und einer Göttinger Predigtmeditation3 geführt hat.
Wenn diese Predigten verwegen vollmundig von der Hoffnung auf das Eingeschriebensein bei Gott sprechen, dann tun sie dies doch zugleich im Wissen
darum, dass es hier um tastende Versuche4 geht, eine Sprache der Hoffnung zu
finden, die nicht an der Grenze des Todes Halt macht und sich so in einen Raum
vorwagt, in dem noch niemand von uns war.
1
«Eschatologie» ist dem Wortlaut nach die Lehre von den «letzten Dingen»; sachgemäßer ist es, von
einer Hoffnungslehre zu sprechen, die auf Motive einer über den Tod hinaus gehenden Hoffnung und
auf die Bedingung der Möglichkeit solcher Hoffnung und des Sprechens von ihr reflektiert. Eine kurze
Skizze meines eschatologischen Entwurfs findet sich in: Tastende Schritte vor-läufiger Hoffnung:
«Gott wird nicht zugrunde-, sondern aufrichten»: http://www.reformiert-info.de/13296-0-12-2.html
(2.12.2015).
2
»Ja den Namen, den wir geben, schreib ins Lebensbuch zum Leben«. Zur Bedeutung der biblischen
Metapher vom «Buch des Lebens» für eine entdualisierte Eschatologie, in: Alles in allem. Eschatologische Anstöße. J. Christine Janowski zum 60. Geburtstag, hrsg. von Ruth Heß und Martin Leiner,
Neukirchen-Vluyn 2005, 133–166; Buch des Lebens. Zur Identifikation und vieldeutigen Aktualität
einer biblischen Metapher, in: Fragmentarisches Wörterbuch zur biblischen Exegese und christlichen
Theologie, hrsg. von Kerstin Schiffner, Klaus Wengst und Werner Zager, Stuttgart 2007, 58–71; wiederabgedruckt in: Magdalene L. Frettlöh, Worte sind Lebensmittel. Kirchlich-theologische Alltagskost (Erev-Rav-Hefte: Biblische Erkundungen 8), Wittingen 2007, 147–160. Ich empfehle diese beiden Aufsätze als Vertiefung des in den Predigten Gesagten und als Fundgrube für weitere Literatur
zum Thema himmlischer Buchführung. Es wird im Folgenden nicht eigens ausgewiesen, wo die Predigten aus diesen Aufsätzen schöpfen.
3
Eingeschriebene Hoffnung – Göttinger Predigtmeditation zu Daniel 12,1b–3 – Totensonntag (Reihe
III): http://stichwortp.de/index.php?state=stichworte&action=predigttopdf&predigtID=136 (19.12.
2015), 1–14.
4
In meiner Berner Antrittsvorlesung habe ich von solchen tastenden Versuchen hermeneutische Rechenschaft abgelegt: Namhafte Auferweckung. Tastende Annäherung an die eschatologische Funktion
des Eigennamens, in: dies./Andreas Krebs/Torsten Meireis, Tastend von Gott reden. Drei systematisch-theologische Antrittsvorlesungen aus Bern. Mit einem Geleitwort von Silvia Schroer, Zürich
2013, 73–127.
Es sind die unerfüllten Verheißungen, mit denen Gott im Wort steht, und es ist
das Bekenntnis zur Auferweckung des Gekreuzigten, die dieser Hoffnung Grund
geben und sie belastbar machen. Gleichwohl steht alles Folgende, das im
Sprechakt des Bezeugens und nicht des Behauptens5 gesagt wird, unter Vorbehalt, nämlich unter dem Vorbehalt der einstigen Bewahrheitung durch Gott
selbst. Was wir hier und heute nicht zu bewahrheiten vermögen, können wir
aber bewähren6, indem wir so leben, als habe Gott es bereits vor aller Augen
wahrgemacht.
Die Predigten liegen – mit ganz wenigen Änderungen – im gehaltenen Wortlaut
vor. Für diejenigen, die sich tiefer in die Thematik einlesen möchten, sind Anmerkungen mit Erläuterungen und Literaturhinweisen hinzugefügt worden. Vor
allem aber zeugen diese davon, wer meiner Hoffnungslehre auf die Sprünge geholfen hat.
5
Siehe zu dieser Unterscheidung etwa Johannes Fischer, Wie wird Geschichte als Handeln Gottes
offenbar? Zur Bedeutung der Anwesenheit Gottes im Offenbarungsgeschehen, in: ZThK 88 (1991),
211–231.
6
Siehe zur Bewährung als dem menschlichen Bezeugen der Wahrheit Gottes: Franz Rosenzweig, Der
Stern der Erlösung. Mit einer Einführung von Reinhold Mayer und einer Gedenkrede von Gershom
Scholem, Frankfurt a. M. 31990, 437f. 447–464.
Montag, 23. November 2015 (20.00 Uhr)
«Schreib den Namen, den wir geben, in dein Buch zum ewgen Leben.»
(RG 174,4)
Das «Buch des Lebens» als Ausdruck bleibenden Interesses Gottes an jeder
und jedem
Predigttexte: Lukas 10,17–20//RG 178,1–3//RG 174,4
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater,
und dem Messias Jesus, unserem Bruder!
Unsere Hoffnung, liebe Gemeinde, braucht Bilder: Bilder, die sie nähren, wenn
sie schwach wird, Bilder, die ihre Glut neu entfachen, wenn sie zu erlöschen und
zu Asche zu zerfallen droht. Bilder, bei denen wir in Ruhe verweilen, mit denen
wir Blicke wechseln können. Denn nicht nur wir schauen die Bilder an, sie
blicken uns ebenso an, erwidern unsere Blicke.7
I.
Auch für unsere Hoffnungsbilder mag gelten, was Elias Canetti von den Bildern,
die wir überhaupt für unser Leben brauchen, gesagt hat:
«Stark fühlt sich, wer die Bilder findet, die seine Erfahrung braucht. Es sind mehrere – allzuviele können es nicht sein, denn ihr Sinn ist es, dass sie die Wirklichkeit gesammelt halten
[…]. Aber es soll auch nicht ein einziges sein, das dem Inhaber Gewalt antut, ihn nie entlässt
und ihm Verwandlung verbietet. Es sind mehrere Bilder, die einer für ein eigenes Leben
braucht.»8
Ganz im Sinne des biblischen Bilderverbots9 spricht Canetti nicht davon, dass
wir uns solche Bilder, die wir zum Leben brauchen, selber machen, sondern wir
finden sie, finden sie vor. Und allzu viele sollten es nicht sein, aber auch nicht
nur ein einziges. Ein einziges Bild würde uns gefangen nehmen und uns bewegungsunfähig machen, würde jede Verwandlung verhindern. Wir würden uns
ein-bilden, die ganze Wirklichkeit in ein Bild einfangen zu können, und hätten
sie damit schon verfehlt. Denn die Wirklichkeit unseres Lebens ist viel bunter
und viel reicher, als dass wir sie in nur ein Bild einsperren könnten.
Aber es sollen auch nicht viele, zu viele Bilder sein, schon gar keine Bilderflut.
Wie sollten diese an uns vorbeirauschenden Bilder uns bilden, wie unserer
Hoffnung Halt und Richtung geben können, wenn wir nicht bei ihnen innehalten
7
Siehe Georges Didi-Hubermann, Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes. Aus
dem Französischen von Markus Sedlaczek, München 1999.
8
Elias Canetti, Das autobiographische Werk: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend – Die
Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921–1931 – Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931 – 1937 (Einbändige Lizenzausgabe Zweitausendeins), Frankfurt a. M. 2001, 440f.; vgl. dazu Magdalene L. Frettlöh, Gott Gewicht geben. Bausteine einer geschlechtergerechten Gotteslehre, Neukirchen-Vluyn 2006,
239–243.
9
2Mose 20,4–6; 5Mose 5,8–10; s. Frettlöh, Gott Gewicht geben (Anm. 8), 4–7.153–187.
und verweilen könnten?! Und noch eines, so lässt uns Canetti wissen, gilt es zu
bedenken im Blick auf die Bilder, die wir für unser Leben brauchen:
«Es ist aber wichtig, dass diese Bilder auch außerhalb vom Menschen bestehen […]. Es muss
einen Ort geben, wo er sie unberührt finden kann, nicht er allein, einen Ort, wo jeder, der
unsicher wird, sie findet.»10
Nicht nur Worte, die wir uns nicht selber sagen können, und die darum von außen auf uns zukommen müssen, braucht unsere Hoffnung, sondern sie braucht
auch Bilder, die wir nicht selber malen, die nicht nur in unseren Köpfen und
Herzen vorhanden sind, sondern die schon außerhalb von uns bestehen, bevor
sie für uns wirklich und wahr werden. Denn diese Worte und Bilder, die uns
helfen, dürfen nicht stehen und fallen mit unseren eigenen Erfahrungen und
Befindlichkeiten. Und sie sollen allen zugänglich und für alle wegweisend sein.
II.
Liebe Gemeinde, die Bibel ist auch eine Bildergalerie – eine Bildergalerie, zu
der alle Zugang haben und für die es kein Eintrittsticket braucht – es sei denn,
diese Bilder lesen zu können oder sie sich zeigen zu lassen. In der Bibel finden
wir Bilder, Sprachbilder, die unsere Hoffnung nähren, sie und mit ihr auch uns
am Leben halten, denn wer von uns könnte schon ohne Hoffnung leben?!
Auf einige dieser biblischen Bilder werden wir uns in dieser Woche besinnen.
Ich lade Sie in den fünf Gottesdiensten der diesjährigen Besinnungswoche zu
einem Blickwechsel mit den biblischen Bildern der himmlischen Buchführung
ein. Was hat es auf sich mit jenen Büchern, die im Himmel geschrieben werden?
Was ist gemeint vor allem mit jenem «Buch des Lebens», dem wir eben schon
im Tauflied begegnet sind: «Nun schreib ins Buch des Lebens, Herr, ihre Namen ein …»11 und das wir in jedem dieser fünf Gottesdienste mit dem Kanon
besingen: «Alles ist eitel, du aber bleibst, und wen du ins Buch des Lebens
schreibst.»12?
Dieser Kanon setzt uns schon auf eine erste Spur, auch wenn wir das Wort
«eitel»13 heute in einem anderen als dem hier gemeinten alten Sinn verwenden:
Das Eingeschriebensein ins himmlische Buch des Lebens begegnet der Vergänglichkeit unseres Lebens. Wer bei Gott eingeschrieben ist, nimmt teil an
Gottes Unvergänglichkeit, an Gottes Ewigkeit, wie wir es auch mit einem anderen Kirchenlied bekennen: «Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit.»14
10
Canetti, Das autobiographische Werk (Anm. 8), 440.
RG 178,1.
12
RG 859.
13
Ursprünglich heißt «eitel» «nichtig, leer». «Die heutige Bedeutung ‹eingebildet› ist wohl über ‹aufgeblasen, leer› entstanden» (Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache.
Bearb. von Elmar Seebold, 23., erw. Aufl. Berlin/New York 1999, 214).
14
Refrain von RG 724 «Sollt ich meinem Gott nicht singen».
11
Sind wir aufgenommen ins Buch des Lebens, eingeschrieben bei Gott, ist dem
Tod das letzte Wort über unser Leben bestritten. Gott selbst verbürgt sich mit
diesem Einschreiben dafür, dass Er uns, dass Er Seine Geschöpfe nicht hoffnungslos dem Prozess von Werden und Vergehen ausliefert, sondern uns auf
ewig die Treue hält, weil Er das Werk Seiner Hände nicht preisgibt.15
Nicht um Verewigung unseres irdischen Lebens geht es dabei, nicht um Unsterblichkeit oder Unendlichkeit, sondern um ein neues, neugeschaffenes, aus
dem Tod ins Leben gerufene Dasein16 in der Nähe Gottes – für immer.
Wir werden uns in dieser Woche Zeit nehmen, den Hoffnungsbildern der biblischen Buchführung und einigen der Spuren, die sie auch außerhalb der Bibel
hinterlassen haben, auf den Grund zu gehen, und beginnen diese Reise durch
jene Bildergalerie mit dem Blick auf Kirchenlieder, in denen diese Bilder der
Hoffnung Texte und Töne gefunden haben.
Wir werden dabei von Gottesdienst zu Gottesdienst und von Predigt zu Predigt
unbeantwortete Fragen mitnehmen, Fragen – die unsere Reise begleiten, ihr bisweilen auch den Weg weisen, Fragen, die uns neugierig auf die nächsten Wegstationen machen, bis diese Reise durch die Bildwelt der göttlichen Bücher am
Sonntagmorgen in eine große Hoffnungsvision einmündet.
III.
Womöglich haben Sie sich ja gewundert, dass wir eben in ein Tauflied eingestimmt haben, obwohl doch heute Abend gar keine Taufe stattfindet. Und dann
dämmerte es Ihnen vielleicht, als Sie beim Singen eben und zuvor schon bei der
Lesung aus Lukas 10 auf jene im Himmel geführte Namensliste, auf jenes göttliche Einschreiben gestoßen sind, in dem namentlich notiert zu sein, große Freude bei den Freundinnen und Freunden Jesu und also auch bei uns wecken soll.
Wir feiern also diesen Eröffnungsgottesdienst der Besinnungswoche als eine Art
Tauferinnerungsfest.
Warum aber hat das Hoffnungsbild von der himmlischen Namensliste Eingang
gerade in unsere Tauflieder gefunden? Und was ist das Hoffnungsvolle dieses
Bildes ausgerechnet bei der Taufe? Es begegnet uns ja nicht nur im Lied 178,
das wir eben gesungen haben, sondern auch das bekannte Tauflied «Liebster
Jesu, wir sind hier» mündet in seiner letzten Strophe in die Bitte ein: «Schreib
den Namen, den wir geben, in dein Buch zum ewgen Leben.»17
Als ich Vikarin war, erzählte mir ein Kollege die folgende kleine, aber sprechende Episode:
15
Vgl. dazu das in reformierter Tradition erweiterte Adjutorium: «Unsere Hilfe steht im Namen des
Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat, der Wort/Bund und Treue hält und niemals preisgibt/loslässt das Werk SEINER Hände.»
16
Vgl. dazu Frettlöh, Namhafte Auferweckung (Anm. 4).
17
RG 174,4.
Er hatte seinen Vikariatsmentor zu einem Taufgespräch begleitet. Die wichtigsten Dinge zur
Vorbereitung der Taufe waren schon besprochen, man war schon dabei zu gehen, da druckste
der Pfarrer noch etwas herum und brachte schließlich noch ein Anliegen zur Sprache: «Übrigens werde ich Sie dann im Gottesdienst, bevor ich Ihren Sohn taufe, fragen: ‹Wie heißt das
Kind?› Sie müssen aber nicht denken, dass ich bis Sonntag schon wieder den Namen Ihres
Kindes vergessen hätte. Ich muss Sie das aber fragen, weil’s so in der Gottesdienstordnung
für die Taufe steht. Und ich sag’s Ihnen jetzt nur, damit Sie dann nicht etwa irritiert sind,
wenn ich Sie so was frage …»
Liebe Gemeinde, ich weiß nicht, was mich mehr irritiert an diesem Taufgespräch: dass ein Pfarrer nur etwas tut, weil’s in der Gottesdienstordnung steht,
oder dass er seine Taufliturgie nicht (mehr) versteht. Aber offenbar ist es nicht
nur ihm so gegangen, denn aus den jüngsten Taufagenden ist diese Frage als
fester Bestandteil der Taufliturgie verschwunden. Aber ist es eine gute Entscheidung, auf etwas zu verzichten, nur weil man seinen Sinn nicht mehr erkennt, es nicht mehr versteht?!
Ich halte das für einen Verlust und möchte darum dieser Namensfrage bei der
Taufe neu auf die Spur kommen.18 Womöglich können uns die Tauflieder, die
Gott darum bitten, sich die Namen der Getauften zu notieren, helfen, dieses kleine liturgische Element in den Taufgottesdienst wieder aufzunehmen und neu
schätzen zu lernen.
IV.
«Nun schreib ins Buch des Lebens, Herr, ihre Namen ein …» Dass der Eigenname in der Taufe laut genannt wird, das gilt nicht nur dem Täufling, der beim
eigenen Namen gerufen werden soll, und das adressiert nicht nur die Gemeinde,
die ihr neues Gemeindemitglied mit Namen kennen und nennen19 soll. In der
Taufe wird der Name des Täuflings auch vor Gott ausgerufen, damit Gott sich
diesen Namen buchstäblich notiere, ihn eintrage ins himmlische Lebensbuch
und sich damit die Namen seiner Adoptivtöchter und -söhne gleichsam ins
Stammbuch schreibe. Das göttliche Einschreiben fungiert nämlich auf Erden
wie im Himmel als rechtskräftige Adoptionsurkunde. Irdisch wird die Aufnahme in die Gemeinde durch Eintragung ins Kirchenbuch verbürgt, himmlisch
dokumentiert die Eintragung ins Buch des Lebens die Aufnahme in die Gotteskindschaft.
18
Siehe dazu: Magdalene L. Frettlöh, Beim eigenen Namen nennen, auf den Namen Gottes taufen.
Namentlich(es) zur Kindertaufe, in: Zeitschrift für Gottesdienst und Predigt 19 (2001), 3–6.
19
«Einen Namen trägt niemand für sich allein. Wir tragen ihn für die andern und um der andern
willen, denen wir uns bekannt machen, und von denen wir, um das mindeste zu sagen, anerkannt sein
wollen. […] Der Name […] ist darauf angelegt, dass es zur Begegnung, zum ‹Treffen› kommt. Er will
ausgesprochen, will angerufen werden. […] der einzig mögliche Sachverhalt, auf den der Name zielt,
ist gerade keine Sache, kein dies oder das, sondern eine Beziehung, die mich herausfordert und in
Pflicht nimmt» (Christian Link, Die Spur des Namens. Zur Funktion und Bedeutung des biblischen
Gottesnamens, in: ders., Die Spur des Namens. Wege zur Erkenntnis Gottes und zur Erfahrung der
Schöpfung. Theologische Studien, Neukirchen-Vluyn 1997, 37–66, 46).
Das Buch des Lebens wird in den Taufgottesdiensten der Alten Kirche als
himmlische Bürgerliste verstanden – nach dem Modell der Bürgerlisten der civitas Romana, des römischen Reiches.20 Nur wer eingetragen ist, gilt als vollwertiger Bürger. Damals fand die Eintragung ins Kirchenbuch nicht abseits des Gottesdienstes im Gemeinde- oder Pfarrbüro, sondern in der Tauffeier selbst statt –
als sichtbarer, handfester Hinweis auf die himmlische Einschreibung. Damit er
korrekt eingetragen werden konnte, wurde der Name des Täuflings vorher laut
genannt.
V.
Warum aber reicht die Eintragung ins Kirchenbuch, warum reicht die Taufurkunde nicht aus? Warum diese eindringlichen Bitten an Gott: «Nun schreib ins
Buch des Lebens, Herr, ihre Namen ein …» und «Schreib den Namen, den wir
geben, in dein Buch zum ewgen Leben»?
Der von Menschen gegebene Name ist wie alles Irdische auf Erden vergänglich
und Bücher, auch Kirchenbücher, können ein Raub der Flammen werden. Die
Namen können unleserlich oder ganz gelöscht werden und darüber in Vergessenheit geraten. Wie viele Namen gibt es, die keiner mehr kennt und keine mehr
nennt!21 Dass der Name, den wir geben, bleibt, können wir nicht garantieren.
Allein die Einschreibung ins archivierende Buch des Lebens trotzt den Vergänglichkeits- und Vergeblichkeitserfahrungen, die wir machen. Von solcher
Bewahrung spricht auch ein anderes Bild, nämlich die Eingravierung unserer
Namen in die Hand Gottes:
«… Hast du mit Namen mich in deine Hand /
in dein Erbarmen fest mich eingeschrieben? /
Nimmst du mich auf in dein gelobtes Land? /
Werd ich dich noch mit neuen Augen sehen?»22
fragt ein neueres Kirchenlied bange und doch voller Hoffnung. Eingetragen in
Gottes Buch oder Gottes Hand, sind wir eingeschrieben ins göttliche Erbarmen,
hat Gott unsere Namen und mit ihnen unser Leben, uns selbst, immer zur Hand
und immer vor Augen und kann sie nicht vergessen. Unsere Namen sind ja nicht
Schall und Rauch, vielmehr steht unser Name für uns selbst, für unsere unverwechselbaren Lebensgeschichten, für alles, was uns als Person ausmacht.23
20
Dazu: Leo Koep, Das himmlische Buch in Antike und Christentum. Eine religionsgeschichtliche
Untersuchung zur altchristlichen Bildersprache (Theophania 8), Bonn 1952, bes. 86–100.
21
Siehe etwa die Erinnerungen von Marion Gräfin Dönhoff, Namen, die keiner mehr nennt: Ostpreußen – Menschen und Geschichte, Düsseldorf 1962.
22
Im von Lothar Zenetti übersetzten Lied «Ich steh vor dir mit leeren Händen» von Huub Oosterhuis
RG 213,2. In einer anderen Übersetzung lauten diese Zeilen: «Steht denn mein Name noch in deiner
Hand, / hält dein Erbarmen leise mich umfangen? / Darf ich lebendig sein in deinem Land, darf ich
dich einmal sehn mit neuen Augen?» – Huib Oosterhuis, Augen, die mich suchen. Gebete und Meditationen zum Abschied, Freiburg i.Br. u.a. 2005, 53.
23
«Dem Namen hängt an, woraus, wofür und woraufhin einer lebt, was sein Leben ausmacht und
ausdrückt. So wird er zum Kennmal der Person, zur Abbreviatur der Wege und Umwege, der Auf-
Und so ist mit unseren Namen auch unser Leben sicher bei Gott aufbewahrt und
vor dem Vergessen bewahrt. Die himmlische Einschreibung verbürgt das bleibende Interesse Gottes an jedem Geschöpf. Darum freuen sich die Kirchenliedermacher in immer neuen Bildern und Bildfolgen an dieser göttlicher Einschreibung:
«Schreib meinen Nam aufs beste / ins Buch des Lebens ein /
und bind mein Seel gar feste / ins schöne Bündelein /
der, die im Himmel grünen / und vor dir leben frei /
so will ich ewig rühmen, / dass dein Herz treue sei.»24
Hier wird die Einschreibung ins Buch des Lebens um ein zweites biblisches
Hoffnungsbild ergänzt, nämlich dem vom «Bündel der Lebendigen»25. Hirten
trugen einen Beutel mit sich, in dem sie so viele Steine wie Herdentiere hatten,
damit sie abends beim Zählen merken konnten, ob ihnen eines verloren gegangen war, nach dem sie suchen mussten.
Alle diese Bilder appellieren an die Treue Gottes, die kein einziges Geschöpf
dem Vergessen ausliefert. Dem treuen Gott bleiben alle im Gedächtnis. Welche
Hoffnungsbilder angesichts der Lebenswirklichkeit all’ derer, die vergessen vom
Rest der Welt ihr Leben fristen und ebenso vergessen leiden und sterben. Und
welch’ ein Appell geht von ihnen aus, auf dass auch wir dem Gedenken Gottes
entsprechen und den Hoffnungsbildern gegen das Vergessen, gegen Vergänglichkeit und Vergeblichkeit auch Taten des Erbarmens folgen lassen.
VI.
Und so können wir jetzt wohl auch besser verstehen, was Jesus seinen Jüngern
sagt, die freudestrahlend mit großen Erfolgsnachrichten von ihrer Mission zurückkehren und ganz stolz sind auf das, was ihnen da alles im Namen Jesu
geglückt ist. Und wer von uns würde ihnen diese Freude nicht abnehmen und
ihnen ihren Erfolg nicht gönnen! Nicht nur die Botschaft vom nahegekommenen
Gottesreich zu verkündigen und Kranke zu heilen, sondern auch Macht über
böse Kräfte zu haben, den Dämonen, die Menschen besetzt halten, Einhalt zu
gebieten und so die von Sucht oder Depression Besessenen aus ihrer Gewalt zu
befreien – das ist eine starke und große Sache. Und wer von uns würde das nicht
gerne können, wenn er sieht, wie Menschen unter diesen lebensfeindlichen, bedrückenden Mächten leiden. Wie ohnmächtig fühlen wir uns in solchen Situationen und wie gern hätten wir auch solche Vollmacht wie die Jünger damals,
die darüber doch zu Recht so froh und so stolz waren.
brüche, Entdeckungen und Konflikte, die sie […] geprägt haben, und was wir die ‹Identität› eines
Menschen nennen, seine ‹Persönlichkeit›, entscheidet sich nicht an der Ausbildung eines bestimmten
Habitus, seines Selbstbewusstseins oder seiner Urteilskraft, sondern an den je besonderen Wegen, die
er gewagt oder abgebrochen hat. Hier liegt der Grund dafür, dass man einen Namen in keine Definition einfangen kann. Seine Bedeutung […] ist mit seiner Geschichte identisch» (Link, Die Spur des
Namens, Anm. 19, 44).
24
EG 523,5. Das Lied «Valet will ich dir geben» ist im RG nicht enthalten.
25
1Sam 25,29; die Zürcher Bibel (2007) spricht vom «Verwahrungsbeutel der Lebenden».
Doch ihnen (und mit ihnen auch uns) sagt Jesus: «[…] freut euch nicht darüber,
dass euch die Geister untertan sind; freut euch vielmehr darüber, dass eure Namen im Himmel aufgeschrieben sind.»26 Was uns auch immer an Großartigem
gelingt, und sei es auch im Namen Jesu – es macht uns nicht unsterblich, es
begründet keinen ewigen Ruhm, es kann letztlich nicht davor schützen, dass wir
und unser Leben dem Vergessen anheimfallen. Nur das Erbarmen und die Treue
Gottes, nur das buchstäbliche Eingeschriebensein bei Gott, in Gottes Buch, in
Gottes Hand, gewähren unserem Leben eine Zukunft, die nicht mehr der Vergänglichkeit unterworfen ist.
VII.
Das ist tröstlich und Grund zur Freude – für uns selbst, aber nicht weniger auch
für die, um die wir uns sorgen. Bitten wir Gott für sie: «Schreib ihren Nam aufs
beste / ins Buch des Lebens ein / und bind ihr Seel ganz feste / ins schöne Bündelein …», damit niemand von ihnen verloren geht.
Liebe Gemeinde, unsere Hoffnung braucht Bilder, Bilder wie das vom Buch des
Lebens, in dem Gott sich unsere Namen notiert, Bilder wie das vom «Bündel der
Lebendigen», in das auch unser Leben eingebunden ist. Machen wir Gebete aus
solchen Bildern! Und loben wir Gott, von dessen Treue solche Hoffnungsbilder
erzählen, diesen großen und großartigen Gott!
Mit Hoffnungsbildern, die uns die unverbrüchliche Treue dieses Gottes vor Augen stellen, können wir gar nicht genug Blicke wechseln. Darum: Fortsetzung
folgt!
Und der Friede Gottes,
der schützend die Hand hält über all’ unser Verstehen,
bewahre uns, unsere Herzen und Sinne, im Messias Jesus. Amen.
26
Lukas 10,20.
Fürklage- und -bittgebet
Gott, DU treuer Gott, in DEIN Erbarmen hast DU uns eingeschrieben,
hast unsere Namen DIR notiert, in DEIN Buch, in DEINE Hand sie eingraviert.
Wir staunen über DEIN unermüdliches Interesse für jedes DEINER Geschöpfe.
Aber es gibt so viele, die das nicht glauben können,
weil sie es nicht spüren, weil ihre Erfahrung so ganz anders ist,
weil ihnen alle Hoffnung und aller Glaube genommen wurden.
Für sie bitten wir DICH:
Für die im Elend und in Einsamkeit Vergessenen dieser Erde,
für die, deren Namen niemand kennt und niemand nennt,
für die hinter Mauern aus Beton und Mauern aus Hass Eingesperrten,
für die ohne Liebe und ohne Halt, für die ohne Zuversicht und ohne Zukunft,
die keinen sehen, der sich ihrer erbarmt.
Für die Gedemütigten und Geschundenen,
für die an Leib und Seele Versehrten,
für die Entrechteten und Erniedrigten,
für die, die sich selbst nicht wertschätzen können,
für die, die keine Kraft mehr zum Leben und sich selbst aufgegeben haben.
Für sie alle rufen wir zu DIR:
«Schreib ihren Nam’ aufs beste / ins Buch des Lebens ein /
und bind ihr Seel gar feste / ins schöne Bündelein /
der, die im Himmel grünen / und vor dir leben frei /
auf dass sie ewig rühmen, / dass dein Herz treue sei.«
Stellvertretend für alle, die das nicht können,
und für alle, die das nicht wollen, rühmen wir DICH.
Wir vertrauen darauf, dass DU Wort und Treue hältst
und kein einziges Werk DEINER Hände preisgibst.
Amen.
Mittwoch, 25. November 2015 20 Uhr
Nichts und niemand geht verloren
Von himmlischen und irdischen Notizbüchern gegen das Vergessen
Predigttexte: Psalm 56,4–8; Psalm 139,13–16
Die Gnade des Messias Jesus und die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen!
Unsere Hoffnung, liebe Gemeinde, braucht Bilder: Bilder, die sie nähren, wenn
sie schwach wird, Bilder, die ihre Glut neu entfachen, wenn sie zu erlöschen und
zu Asche zu zerfallen droht. Bilder, bei denen wir in Ruhe verweilen, mit denen
wir Blicke wechseln können.
I.
Am Montagabend sind wir in die biblische Bildergalerie der bei Gott geführten
Bücher eingetreten. Dort sind wir dem Buch des Lebens begegnet – jener himmlischen Namensliste, in die eingeschrieben zu sein ein Leben bei Gott verbürgt –
ein Leben, über das der Tod seine Macht verloren hat, das nichts und niemand
mehr von Gott trennen kann. Mit unseren Namen ist unser Leben bei Gott eingeschrieben.
In einigen unserer Tauflieder und in anderen Kirchenliedern haben wir Spuren
dieses göttlichen Lebensbuches gefunden und singen von ihm die ganze Woche
über mit den Worten des Kanons: «Alles ist eitel, du aber bleibst, und wen du
ins Buch des Lebens schreibst.»27
In der Predigt kehren wir erst morgen wieder zur himmlischen Namensliste zurück. Heute gilt unsere Aufmerksamkeit einigen der anderen himmlischen Bücher, die wir in der biblischen Bildergalerie der göttlichen Buchführung finden.
Vom argentinischen Schriftsteller und Bibliothekar Jorge Luis Borges ist der
Satz überliefert: «Ich habe mir den Himmel immer wie eine große Bibliothek
vorgestellt.»28
Wir können schmunzeln über dieses Himmelsbild, aber haben unsere Himmelsbilder, wenn wir denn welche haben, nicht auch mit dem zu tun, was uns auf
Erden lieb und wert ist? Und ein Schriftsteller und Bibliothekar liebt nun mal
Bücher. Nun, ganz daneben zu liegen scheint Borges nicht mit dieser Vorstellung, denn die Bibel bezeugt eine vielfältige göttliche Buchführung. Sie kennt
neben dem Buch des Lebens oder der Lebendigen, das nur Namen enthält, auch
andere himmlische Bücher: Werkverzeichnisse, Tagebücher, Gesprächsprotokolle …
27
RG 859.
http://www.gavagai.de/zitat/literatur/HHCL09.htm (20.12.2015). Es handelt sich vermutlich um eine andere Überlieferung des Satzes: «Ich habe mir das Paradies immer als eine Art Bibliothek vorgestellt»/«Siempre imaginé que el Paraíso sería algún tipo de biblioteca» (Blindheit, in: Die letzte Reise
des Odysseus, Frankfurt a. M. 22001, 188; vgl. ders., Die Bibliothek von Babel, Ditzingen 1974).
28
Allen diesen Büchern ist eines gemeinsam: Sie stehen dafür, dass bei Gott nichts
und niemand verloren geht, dass Gott von allem und allen buchstäblich Notiz
nimmt.
II.
Offenbar rechnen diese Hoffnungsbilder-Bücher damit, dass auch Gott vergesslich sein könnte und darum Merkbücher als Gedächtnisstützen braucht – so wie
Gott das Bundes(erinnerungs)zeichen des Regenbogens in die Wolken gestellt
hat, um sich selbst daran zu erinnern, was Er aus der Sintflut gelernt hat:
«Meinen Bogen stelle ich in die Wolken.
Der soll ein Zeichen des Bundes zwischen mir und der Erde sein.
Wenn ich nun Wolken heraufziehen lasse über der Erde
und der Bogen in den Wolken erscheint,
dann will ich mich meines Bundes erinnern,
der zwischen mir und euch besteht und allen Lebewesen,
allen Wesen aus Fleisch, und nie wieder wird das Wasser
zur Sintflut werden, um alles Fleisch zu verderben.»29
Wie der Regenbogen Gott daran erinnern soll, dass Er nie mehr die Schöpfung
um der Menschen willen vernichten will, nachdem Er gelernt hat, dass mit Strafen, noch dazu mit Gewalt und Vernichtung, Menschen nicht zum Guten erzogen werden können30, so können wir die im Himmel geführten Bücher als das
Gedächtnis Gottes oder – in der Sprache des digitalen Zeitalters – als die große
himmlische Festplatte mit unbegrenzter Speicherkapazität verstehen. Zunächst
dient diese himmlische Buchführung der umsichtigen Archivierung allen Geschehens. Am Sonntagmorgen werden wir dann aber eine zweite, ebenso wichtige Funktion dieser Bücher kennenlernen.
Herr Aeschimann hat uns eben in der Lesung aus Psalm 56 und Psalm 139 zwei
dieser himmlischen Bücher, die es neben dem Buch des Lebens gibt, vorgestellt.
Schauen wir uns diese beiden Bücher nun etwas genauer an.
III.
Zu den für mich innigsten und tröstlichsten Bildern göttlicher Aufbewahrung
unseres Lebens gehört die doppelte Tränennotiz in Psalm 56, dem Gebet eines
bedrängten, von Feinden verfolgten, verängstigten Menschen, das ich mir gut
vorstellen kann im Mund eines der vielen Flüchtlinge, die ihr Zuhause, ihr Land,
ihre Heimat verlassen haben, weil sie dort um ihr Leben fürchten mussten:
«Mein Elend hast du aufgezeichnet,
meine Tränen sind verwahrt bei dir.
Steht nicht alles in deinem Buch?»
29
1Mose 9,13–15 (in der Übersetzung der Zürcher Bibel 2007).
Dazu Jürgen Ebach, Noah. Die Geschichte eines Überlebenden (Biblische Gestalten 3), Leipzig
2001, bes. 107ff.; Jan-Dirk Döhling, Der bewegliche Gott. Eine Untersuchung des Motivs der Reue
Gottes in der Hebräischen Bibel (HBS 61), Freiburg i.Br. u.a. 2009, 85–133.
30
So übersetzt die Zürcher Bibel die bange und zugleich hoffnungsvolle Frage des
bedrängten Beters in Psalm 56,9 und überschreibt den ganzen Psalm mit ebendieser Frage: «Steht nicht alles in deinem Buch?» Übersetzt man den hebräischen Psalmvers möglichst wörtlich, dann wird das Hoffnungsbild noch eindrücklicher:
«Mein Flüchtigsein zählst Du, Du;
lege meine Träne in Deinen Schlauch!
Ist sie nicht in Deinem Buch?»
Sie kennen vermutlich alle die alt- und neutestamentliche Hoffnung für ein Leben nach dem Tod, dass nämlich Gott einst die Tränen von jedem Angesicht und
Auge abwischen wird.31 Wenn der Tod nicht mehr sein wird, wenn es kein Leid,
kein Geschrei und keine Mühsal mehr geben wird32 – dann dürfen auch unsere
Tränen versiegen, dann braucht nicht mehr geweint zu werden.
Aber jetzt, in einem Leben, wo so viel geweint wird – und wir wissen ja, wie gut
es im Schmerz, in der Trauer, in der Enttäuschung, in der Sehnsucht und bisweilen auch vor Freude tut, weinen zu können – in einem Leben, wo so vielen zum
Heulen zumute ist, da verbindet sich die Hoffnung der Beterin mit einem anderen Bild, das sie fragend und bittend vor Gott bringt:
«[…] lege meine Träne in Deinen Schlauch!
Ist sie nicht in Deinem Buch?»
Die Beterin des 56. Psalms schöpft Hoffnung aus der Gewissheit, dass bei Gott
nicht eine einzige Träne ungezählt bleibt und verloren geht. Es ist das Doppelbild, das diesen Psalmvers so eindrücklich macht: Zum einen wird Gott darum
gebeten, jede einzelne Träne in seinem Schlauch zu sammeln. Doch das behutsame Bergen jeder Träne in einem Weinschlauch verhindert ja noch nicht, dass
der einzelne Tropfen im Tränenmeer untergeht. Darum tritt zu dieser Aufbewahrung der Tränen im Schlauch die bittende Frage nach ihrer schriftlichen Registrierung: «Ist sie nicht in Deinem Buch?»
Gott nimmt unsere Tränen doppelt auf. Das göttliche Buch, die göttliche Zählung ermöglicht es, dass jede Träne, auch die abgewischte, getrocknete oder ungeweinte, erinnert bleibt. Was gezählt und notiert ist, davon kann auch erzählt
werden. Was im Buche Gottes eingeschrieben ist, kann aus dem Buch vorgelesen werden. So wird jede einzelne Träne buchstäblich zur erlesenen.
Ein himmlisches Tränennotizbuch – was für ein Bild für die Achtsamkeit, die
Aufmerksamkeit und Treue Gottes! Nicht einmal eine einzige Träne geht bei
Gott verloren! Was für eine Hoffnung für die, die sich vor Kummer die Augen
aus dem Kopf heulen, aber auch für die, die ihren Freudentränen freien Lauf lassen, und für die, die voller ungeweinter Tränen sind.
31
32
Jesaja 25,8; Offenbarung 7,17; 21,4.
Offenbarung 21,4.
IV.
Stellen wir diesem Hoffnungsbild des Tränennotizbuches das zweite aus der
Lesung an die Seite. In Psalm 139,13–16 staunt die Beterin darüber, dass und
wie Gott als schöpferische Textilwerkerin sie schon vor der Geburt, bereits in
der Verborgenheit des Mutterschoßes, gekannt hat:
«Ja, Du hast meine Nieren bereitet, Du hast mich gewoben im Bauch meiner Mutter […].
Nicht verborgen war mein Gebein vor Dir, wo ich doch gemacht wurde im Verborgenen,
buntgewirkt wurde in den Tiefen der Erde. Mich als Knäuel sahen Deine Augen
und in Dein Buch sind sie alle geschrieben, die Tage, sie waren gebildet,
aber noch gab es keinen von ihnen.»
Gott, die Schöpferin, webt kunstvoll das neue Leben im Bauch der Mutter, in
den Tiefen der Erde, der großen Mutter der Menschheit, von deren In-WehenLiegen und Gebären auch der 90. Psalm spricht.33 Dem textilen Web-Bild der
kunstvollen Erschaffung des Menschen korrespondiert das Textbild des Gottesbuches, das hier als Gottes Tagebuch für den Menschen vorgestellt ist, das also
die Lebenstage, die Lebenszeiten des Beters enthält.
Auch in dieser Gestalt ist das Buch Gottes ein Hoffnungsbild für das ungebrochene und unverbrüchliche göttliche Interesse. Und besonders hoffnungsvoll
und tröstlich ist hier, dass Gottes Aufmerksamkeit für jeden Lebenstag des Menschen schon vor der Geburt beginnt.
Ein bereits pränatal geführtes göttliches Tagebuch – was für eine Hoffnung angesichts von Still- und Totgeburten und jähem Kindstod! Was für ein Trost angesichts von jedem abgebrochenen, zu früh zu Ende gegangenen Leben und im
Angesicht jedes Todes, der nicht alt und lebenssatt gestorben wurde! Gott
nimmt von unserem Leben schon vor der Geburt Notiz und dieses göttliche Interesse endet nicht mit unserem Tod.
Das pränatale göttliche Tagebuch – ein Unterpfand der Hoffnung darauf, dass
Gott das viel zu früh verloschene, das gewaltsam ausgelöschte, das zu kurz gekommene und ungelebte Leben mit all’ seinen nicht verwirklichten Möglichkeiten in Ewigkeit zur Vollendung bringen wird, dass Gott noch eine Geschichte
hat mit jedem Leben, das sich auf Erden nicht entfalten, nicht wachsen und
reifen und zur vollen Blüte gelangen konnte. Auch ein solches Leben gerät bei
Gott nicht in Vergessenheit. Es wird noch gelebt werden können.34
33
Psalm 90,2: «Noch ehe Berge geboren wurden und Erde und Erdkreis in Wehen lagen, bist du, Gott,
von Ewigkeit zu Ewigkeit» (Zürcher Bibel 2007); andere Übersetzungen haben das Bild eines gebärenden Schöpfergottes: «Bevor die Berge geboren wurden und du unter Wehen Erde und Erdkreis
geboren hast – durch alle Zeiten bist du, Gott» (Bibel in gerechter Sprache, 2006).
34
Diesem Motiv bin ich nachgegangen in: Noch nicht «aller Tage Abend» – oder: Leben aus der
Hoffnung auf ‹aller Tage Morgen›, in: Silvia Schroer (Hg.), Sensenfrau und Klagemann. Sterben und
Tod mit Gendervorzeichen, Zürich 2014, 13–25.
V.
Wir haben am Montag gehört, dass die Eintragungen der Täuflinge ins Kirchenbuch, dass aber auch Grabsteine in Buchform irdische Hinweise auf die himmlische Buchführung sind.
Auf der Suche nach aktuellen irdischen Entsprechungen zu den göttlichen Tageund Notizbüchern können wir auf viele Lebensbücher stoßen, die hier und heute
der Gedächtnisarbeit dienen – Aufzeichnungen, die die eigene Lebenszeit, das
Erlebte und Erlittene vor dem drohenden Vergessen bewahren oder dem schlichten Nichtwissen entreißen wollen. Die meisten davon gehören ganz in den persönlichen und familiären Bereich, ohne dabei jedoch einer politischen Brisanz
zu entbehren.
Und wer weiß, vielleicht wird ja auch hier in Affoltern das eine oder andere
Notiz- und Tagebuch geführt, damit Ihr Leben und Ihre Familiengeschichte erinnert bleiben, für Sie selbst und/oder für die kommenden Generationen. Vielleicht gibt es ja auch unter uns Autorinnen und Autoren von Gedächtnisbüchern
gegen das Vergessen – Bücher, in die sich Erlebtes und Erlittenes, Widerfahrenes und selbst Getanes oder Unterlassenes einschreiben, Gedanken und Worte
der Freude und des Schmerzes, der Sehnsucht und der Erfüllung, der Verzweiflung und der Hoffnung, die Sie bewegen. Merkbücher in Affoltern als irdische
Hinweise darauf, dass bei Gott im Himmel von allem Notiz genommen wird.
Ein besonders bewegendes Beispiel sind für mich die sog. memory books, die
aidskranke Frauen in Uganda für ihre noch kleinen Kinder schreiben, damit diese nach dem frühen Tod eines oder beider Elternteile von ihrer Herkunft erfahren, die Geschichte ihrer Familie kennenlernen, der Liebe und Fürsorge ihrer
Mütter begegnen. Unter dem Titel »Ich sterbe, aber die Erinnerung lebt« können
Sie eines dieser memory books lesen und sich über das Projekt informieren, das
Teil des Kampfes gegen Aids in Afrika ist und vom schwedischen Krimi-, Roman- und Kinderbuchautor Henning Mankell, der Anfang Oktober dieses Jahres
67-jährig an Krebs gestorben ist, mitgetragen wurde.35 Einige von Ihnen werden
Mankells Kurt Wallander-Krimis oder deren Verfilmungen kennen und vielleicht auch das eine oder andere seiner Afrika-Bücher. Mankell war in seiner
Heimat Schweden und seiner Wahlheimat Mosambik und überhaupt auf dem
afrikanischen Kontinent vielfältig politisch engagiert, besonders gegen Aids.
Ihr Gewicht und ihre eigentliche Bedeutung entfalten diese memory books der
aidskranken Mütter erst, wenn ihre Autorinnen bereits tot sind. Es sind Bücher
des Lebens, indem sie für die Aidswaisen ihre verstorbenen Mütter bzw. Eltern
und mit ihnen die eigene Familiengeschichte lebendig erhalten. Ich lese einen
Abschnitt aus Henning Mankells dokumentarischer Erzählung »Die Mangopflanze«, die den Band «Ich sterbe, aber die Erinnerung lebt» eröffnet:
35
Henning Mankell, Ich sterbe, aber die Erinnerung lebt. Mit einem Memory Book von Christine
Aguga und einem Nachwort von Ulla Schmidt, Wien 2004. Vgl. auch Christa Graf, Damit du mich
nicht vergisst. Afrikas Kinder und die Memory Books, München 2007.
»Erinnerungsbücher. Schriften im Angesicht des Todes, über den Tod und über das Leben.
[...] Ich war nach Uganda gefahren, um Menschen zu treffen, die sich auf ihren Tod vorbereiteten, indem sie für ihre Kinder kleine Hefte vollschrieben. [...] Diese Erinnerungsbücher,
diese kleinen Hefte mit eingeklebten Bildern und Texten, von Menschen geschrieben, die
kaum das Alphabet beherrschten, könnten sich in vielerlei Hinsicht als die wichtigsten Dokumente unserer Zeit erweisen. [...]
Früher wanderten mündliche Erzählungen von Generation zu Generation, und das tun sie
vermutlich in vielen Fällen auch heute noch. Aber wer ist noch da, um zu erzählen, wenn so
viele Glieder aus der Kette der Erzähler verschwinden? Was können Kinder über die Eltern
erzählen, an die sie sich nicht erinnern, da sie zu klein waren, als die Eltern verstarben? [...]
Auf welche Weise können Eltern ihren Kindern, die noch zu klein sind, um es zu verstehen,
erzählen, wer sie sind? Denn davon handeln diese Erinnerungsbücher. Wie erzählt ein
Mensch, der nicht schreiben kann? Wenn die mündliche Ansprache nicht mehr möglich ist?
[...] Ich fuhr nach Uganda, um dies zu verstehen. [...] Um zu erzählen, dass diese Erinnerungsschriften [...] wichtige Dokumente unserer Zeit sind. Wichtig. Aber zugleich sollten sie
ganz unnötige Bücher sein. Das eigentliche Ziel der Erinnerungsschriften muss es sein, dazu
beizutragen, dass sie eines Tages nicht mehr gebraucht werden. Niemand soll gezwungen
sein, vorzeitig an Aids zu sterben.«36
Die memory books der aidskranken Frauen in Uganda für ihre Kinder, die bald
Waisen sein werden – ein zu Herzen gehender Hinweis auf die bei Gott geführten Notiz- und Tagebücher: Bücher der Erinnerung, des Gedenkens gegen das
Vergessen im Himmel wie auf Erden!
VI.
Liebe Gemeinde, unsere Hoffnung braucht Bilder: himmlische Bilder wie die
von den Tagebüchern, die Gott schon pränatal von unserem Leben zu führen beginnt, oder von den Notizbüchern, in die jede einzelne Träne von Gott aufgenommen ist. Und irdische Bilder, die auf die himmlischen verweisen, wie die
memory books, die die afrikanischen Mütter vor ihrem Sterben für ihre Kinder
schreiben und malen. Solche Hoffnungsbilder-Bücher machen uns singen.
So stimmen wir nachher zum Ende des Gottesdienstes in ein Kinderlied ein, das
wie kaum ein anderes von Gottes Interesse an allen Seinen Geschöpfen erzählt.
Staunend bezeugt es, dass Gott nicht nur ihre Zahl kennt, sondern auch jedes
von ihnen beim Namen nennt, und sei es noch so unscheinbar und sein Leben so
flüchtig wie das einer Eintagsfliege. »Frech achtet die Liebe das Kleine.»37
«Weißt du, wie viel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt?
Weißt du, wie viel Wolken gehen weithin über alle Welt?
Gott, der Herr, hat sie gezählet, dass ihm auch nicht eines fehlet,
an der ganzen großen Zahl, an der ganzen großen Zahl.
Weißt du, wie viel Mücklein spielen in der heißen Sonnenglut,
wie viel Fischlein auch sich kühlen in der hellen Wasserflut?
Gott, der Herr, rief sie mit Namen, dass sie all ins Leben kamen,
36
Mankell, Ich sterbe (Anm. 34), 34–37.
Henning Luther, Frech achtet die Liebe das Kleine. Biblische Texte in Szene setzen. Spätmoderne
Predigten, Stuttgart 22008.
37
dass sie nun so fröhlich sind, dass sie nun so fröhlich sind.
Weißt du, wie viel Kinder frühe stehn aus ihrem Bettlein auf,
dass sie ohne Sorg und Mühe fröhlich sind im Tageslauf.
Gott im Himmel hat an allen seine Lust, sein Wohlgefallen;
kennt auch dich und hat dich lieb, kennt auch dich und hat dich lieb.»38
Kinderlieder wie Kinderbücher tun ja auch Erwachsenen gut. Darum dürfen
auch wir uns dieses Lied zusingen, dürfen staunen und uns freuen an diesem so
aufmerksamen Gott im Himmel und an Seiner Buchführung, in der Er von uns
und unserem Leben Notiz nimmt. «… kennt auch dich und hat dich lieb» – das
ist ein trefflicher Schlusssatz, liebe Gemeinde, doch nur für die heutige Predigt,
denn Fortsetzung folgt, eine Fortsetzung, die uns zum Fragen bringen wird.
Und der Friede Gottes,
der schützend die Hand hält über all’ unser Verstehen,
bewahre uns, unsere Herzen und Sinne, im Messias Jesus.
38
RG 531,1–3. Wer dieses Lied als religiösen Kitsch abtun möchte, sei auf wenigstens ein Beispiel
aus seiner Rezeptionsgeschichte aufmerksam gemacht: Die aus dem schwäbischen Dorf stammende
New Yorker Jüdin Inge Auerbacher, die 1942 siebenjährig mit ihren Eltern nach Theresienstadt deportiert wurde, schreibt in ihrem autobiographischen Bericht, wie sie in Theresienstadt mit anderen Kindern dieses Lied gesungen hat: «Wenn wir an einem Leichenhaufen vorbeikamen, wandten wir uns ab,
sangen ein Lied und versuchten so zu tun, als wäre das alles nur ein Alptraum. Wir hofften, dass Gott
uns nicht vergessen würde, wenn er seine Besitztümer im Himmel und auf Erden zählte, genau wie in
dem deutschen Volkslied: «Weißt du, wie viel Sternlein stehen […]» (Ich bin ein Stern. Aus dem
Amerikanischen von Mirjam Pressler, Weinheim/Basel 1990, 52).
Fürklage- und -bittgebet
Gott, DU treuer Gott, wir staunen über DEIN Interesse an unserem Leben,
sind verwundert, wie aufmerksam und achtsam
DU von jedem DEINER Geschöpfe Notiz nimmst,
wenn jede einzelne Träne von DIR gezählt, aufbewahrt und notiert wird
und DU selbst jede Mücke mit Namen kennst.
Doch, Gott, wir kriegen dieses Wunderbare,
das uns zu hoch ist und doch so gut tut,
nicht zusammen mit dem, was in unserer Welt geschieht:
nicht mit unserem kleinem Kummer und nicht mit der großen Not,
nicht mit dem Stöhnen der Gequälten,
nicht mit den vergeblichen Hilfeschreien der Untergehenden,
nicht mit dem stummen Leid der Missbrauchten
und zum Schweigen Gebrachten,
aber auch nicht mit dem Hass und der Gewalt der Täter und Täterinnen,
nicht mit der Gleichgültigkeit der Wegschauenden
und der Sensationsgier der Gaffenden.
Wenn DIR das alles nicht entgeht, wenn DU das alles registrierst,
warum geschieht es dann immer noch?!
Wenn DU ein so empfindsamer und achtsamer,
ein so aufmerksamer und interessierter Gott bist –
wie kann es dann sein, dass wir, DEINE Geschöpfe, einander so viel antun
und voneinander so viel einstecken müssen?
Wir klagen DIR all’ das, denn wir wollen es verstehen
und wir wollen, dass es anders wird.
Darum wecke unsere Aufmerksamkeit,
mache uns acht- und empfindsam, wo immer Leben bedroht und erstickt wird.
Bringe die Opfer zurecht, gib ihnen ihre Würde zurück
und heile sie an Leib, Seele und Geist.
Lass Untäter und Untäterinnen umkehren von ihren Irrwegen,
dass sie das Böse, das sie getan,
und das Gute, das sie unterlassen haben, bereuen,
es nicht immer wieder tun, sondern ihr Herz erneuern lassen.
Dass DEIN Blick auf unser Leben und DEIN Interesse für uns
unsere Sicht und unser Tun und Lassen verändern möge, nachhaltig,
darum bitten wir DICH.
Dass das wahr werde, dafür loben wir DICH. Amen.
Donnerstag, 26. November 2015
Das Lebensbuch als Arche – oder: Widerstandslisten gegen den Tod
Predigttexte: Psalm 69,20.29; Daniel 12,1–3; Jesaja 4,2f.
Der Gott des Friedens sei mit euch allen!
Unsere Hoffnung, liebe Gemeinde, braucht Bilder: Bilder, die sie nähren, wenn
sie schwach wird, Bilder, die ihre Glut neu entfachen, wenn sie zu erlöschen und
zu Asche zu zerfallen droht. Bilder, bei denen wir in Ruhe verweilen, mit denen
wir Blicke wechseln können.
I.
Am Montagabend sind wir in die biblische Bildergalerie der bei Gott geführten
Bücher eingetreten. Dort begegneten wir dem Buch des Lebens: Mit unseren
Namen ist unser Leben bei Gott eingeschrieben. In einigen unserer Tauflieder
und in anderen Kirchenliedern haben wir Spuren dieses göttlichen Lebensbuches
gefunden und singen von ihm die ganze Woche über mit den Worten des
Kanons: «Alles ist eitel, du aber bleibst, und wen du ins Buch des Lebens
schreibst.»
Und gestern Abend haben wir andere himmlische Bücher kennengelernt: jenes
göttliche Notizbuch, in das Gott jede einzelne unserer Tränen aufnimmt, und
jenes schon vor unserer Geburt von Gott begonnene Tagebuch unseres Lebens,
das uns verbürgt, dass Gott auch über den Tod hinaus eine Geschichte mit uns
hat und dass Er unser Leben, so kurz es auf Erden auch gewährt haben mag, so
unvollendet es auch abgebrochen wurde, rund und ganz und heil machen wird.
Heute kehren wir zum Buch des Lebens, zur himmlischen Namensliste, der göttlichen Lebenskartei, zurück und lernen sie in einer weiteren Bedeutung verstehen: nicht nur als einen Raum der Aufbewahrung unseres Lebens durch den Tod
hindurch, sondern auch als einen Raum der Bewahrung, als einen Schutz-, einen
Asylraum, in dem das Leben der Gerechten Zuflucht findet und geborgen ist wie
in einer Arche. Das Buch des Lebens als Arche!
In diesem Zufluchtsraum können Unrechtstäter und -täterinnen die Gerechten
nicht länger bedrohen, denn zu diesem Raum haben jene keinen Zutritt. Die Namen derer, die Gottes Recht mit Füßen treten, die sich einen feuchten Dreck um
Gottes Gebote und um das Leben ihrer Mitmenschen und übrigen Mitgeschöpfe
scheren, sollen in diesem Buch nicht verzeichnet sein. Das Böse darf keinen
Eingang finden in das Buch des Lebens.
Wenn schon nicht auf Erden, so sollen die Opfer doch wenigstens im himmlischen Buch sicher sein vor denen, die ihnen nach Leib und Leben trachten!
Wenigstens hier sollen sie deren lebensbedrohlichem Zugriff rettend und heilsam entzogen sein!
II.
«Ausgelöscht seien sie aus dem Buch der Lebenden
und mit den Gerechten nicht eingeschrieben.»
So lautet im 69. Psalm die Bitte eines ausweglos bedrängten und ohnmächtigen
Beters um Rettung durch Gott vor denen, die Arme und Bedürftige erniedrigen
und quälen. Das himmlische Buch der Lebenden soll ein ungefährdeter Schutzraum bleiben für die auf Erden Bedrohten, dass sie wenigstens dort dem Unrecht
nicht ausgesetzt sind. Aus Opferperspektive ist es ein unerträglicher Gedanke,
dass die Namen ihrer Unterdrücker neben denen der Gerechten im Buch des Lebens stehen. Ein gemeinsamer (Über-)Lebensraum von Gewalttätigen und ihren
Opfern im Angesicht Gottes – das verträgt sich nicht mit der Gerechtigkeit Gottes.
«Ausgelöscht seien sie aus dem Buch der Lebenden
und mit den Gerechten nicht eingeschrieben.»
Die Bitte um Austilgung der Gewalttäter aus Gottes Lebensbuch dient der Rettung, dem Überleben der von ihnen Bedrohten. Stehen die Frevler nicht länger
im Buch des Lebens, dann – so die Hoffnung dieses Psalms – können sie den
Gerechten nichts mehr antun. Wo, wenn nicht im Lebensbuch Gottes soll es
noch Zuflucht und Schutz für die geben, die auf Erden um ihr Recht und ihre
Würde, um ihre Freiheit und ihre Zukunft, ja, um ihr Leben gebracht worden
sind?!
«Ausgelöscht seien sie aus dem Buch der Lebenden
und mit den Gerechten nicht eingeschrieben.»
Es kommt aber alles darauf an, wer einen solchen Satz zu wem spricht.39 In
Psalm 69 begegnet er als flehentlich an Gott gerichtete Bitte, also im Sprechakt
des Gebets. Es ist die Bitte eines Menschen, der kein anderes Mittel gegen den
Angriff seiner Feinde hat, als sich hilfeschreiend an Gott zu wenden, auf dass
Gott das Unrecht derer, die dem Beter das Leben zur Hölle machen, auf diese
selbst zurückfallen lasse und sie aus der himmlischen Lebenskartei streiche.
«Häufe ihnen Schuld auf Schuld,
dass sie nicht eingehen in Deine Gerechtigkeit.»40
Ihnen soll selbst von Gott her das widerfahren, was sie anderen angetan haben.
Der Tun-Ergehen-Zusammenhang soll funktionieren,
«Gift gaben sie mir zur Speise und Essig zu trinken für meinen Durst.
39
Mit dem Satz «Who is speaking may be all that matters» überschreibt Ulrike Bail ihre Auslegung
der Psalmen im Kompendium Feministische Bibelauslegung, hrsg. von Luise Schottroff und MarieTheres Wacker, Gütersloh 1998, 180–191, 180.
40
Psalm 69,39.
Es werde ihr Tisch vor ihnen zur Falle und ihren Freunden zum Fallstrick.
Ihre Augen sollen dunkel werden, dass sie nicht sehen,
und ihre Hüften lass immerzu wanken.
Gieß aus über sie Deinen Grimm, und die Glut Deines Zornes erfasse sie.»41
Gott soll in Seiner Gerechtigkeit die Täter und Täterinnen nicht für immer über
ihre Opfer triumphieren lassen. Sein Zorn soll die treffen, denen ein Menschenleben nichts wert ist, die willkürlich entführen und morden, die mit ihrem Terror
Angst und Schrecken verbreiten.
Doch wie anders würde eine solche Bitte im Munde der Mächtigen klingen und
wie anders wäre dieser so verständliche Wunsch, wenn die Beterin selbst die
Namen ihrer Feinde aus dem Buch der Gerechten streichen wollte. Nein, sie
bittet Gott darum, für ihr Recht einzutreten und den Unrechtstätern das Handund das Mundwerk zu legen.
IV.
Eine ähnliche Situation mag auch hinter den Versen aus dem Danielbuch stehen,
die wir eben gehört haben und die uns in die Zeit der Schreckensherrschaft Antiochus IV. führen, in der das Blut der jüdischen Märtyrer und Märtyrerinnen von
der Erde zum Himmel schreit.42 In dieser Zeit wurde die Hoffnung auf Auferstehung geweckt, denn im irdischen Leben gingen die Rechnungen nicht mehr
auf, es ging den Gerechten an den Kragen, während die Unrechtstäter und -täterinnen rücksichtslos weiter agieren konnten, ohne dass jemand ihrem gewalttätigen Tun Einhalt gebot:
«Es wird eine Zeit der Bedrängnis sein,
wie noch keine gewesen ist, seit es Nationen gibt, bis zu jener Zeit.
Und in jener Zeit wird Dein Volk gerettet werden.
Jeder, der sich aufgezeichnet findet in dem Buch.
Und viele von denen, die im Erdenstaub schlafen,
werden erwachen, die einen zu ewigem Leben
und die andern zu Schmach, zu ewigem Abscheu.»43
Liebe Gemeinde, wieder finden wir – auf Seiten der Opfer der Geschichte – den
drängenden, sehnsüchtigen Wunsch nach göttlicher Umkehrung der irdischen
Verhältnisse, auf dass es nach dem Tod nicht immer so weitergehe … Wenn
Gott ein gerechter Richter ist, dann kann, wo Gottes Gerechtigkeit sich im
Leben vor dem Tod nicht durchsetzt, mit dem Tod nicht alles entschieden und
zu Ende sein. Und dann kann das Leben jenseits der Todesgrenze keine krisensichere Fortsetzung der irdischen Verhältnisse sein.
«das könnte manchen herren so passen
wenn mit dem tode alles beglichen
41
Psalm 69,22–25.
Zur Auslegung vgl. Frettlöh, Eingeschriebene Hoffnung (Anm. 3).
43
Daniel 12,1b–2.
42
die herrschaft der herren
die knechtschaft der knechte
bestätigt wäre für immer»44
Vielmehr hoffen die Menschen in der Makkabäerzeit angesichts der entsetzlichen Gräueltaten und der Spur der Verwüstung, die Antiochus IV. hinter sich
herzieht, dass diese «Wirklichkeit mit all’ ihren Schrecken und Grausamkeiten,
dem Unrecht und der Gewalt, der lauten und auch der stillen Freude derer, die
über Leichen gegangen sind», dass ebendiese Wirklichkeit sich nicht als «letztund endgültig» erweisen werde. Sie vertrauen darauf, «dass Gott in allem das
letzte Wort zukommt»45.
Darum setzen sie darauf, eingeschrieben zu sein bei Gott in die himmlische
Widerstandsliste gegen den Tod, und hoffen so auf Rettung aus Not und Tod.
Die Einschreibung ins göttliche Lebensbuch wird ihnen zum Unterpfand ihrer
Hoffnung auf Auferweckung aus dem Tod zum ewigen Leben.
IV.
Auch in dieser seiner Funktion als Arche, als Zuflucht und Rettung bietender
Schutzraum Bedrängter und Bedrohter und auch für auf Erden schon zu Tode
Gekommener gibt es irdische Entsprechungen für das himmlische Buch des Lebens: Eine der berühmtesten von ihnen ist «Schindlers Liste», jenes Namensverzeichnis von ca. 1200 jüdischen Männern und Frauen, das der sudetendeutsche
Fabrikant Oskar Schindler von (aus dem Arbeitslager aufgekauften) jüdischen
Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern anlegen ließ, die er durch die Beschäftigung
in seinen Betrieben vor dem sicheren Tod in Auschwitz bewahrte. Das Buch von
Thomas Keneally «Schindlers Liste»46, dessen Verfilmung durch Steven Spielberg47 die Geschichte Oskar Schindlers weltberühmt machte, trägt im Original
den Titel «Schindler’s Ark»48, «Schindlers Arche» – die lebensrettende Namensliste: eine Arche!
Und mir fallen noch weitere Beispiele aus der Geschichte meines Landes ein. So
denke ich etwa an die Gebetslisten der Bekennenden Kirche während der NaziZeit: Listen, auf denen die Namen von Pfarrern und Gemeindegliedern standen,
die in die Konzentrationslager verschleppt worden und dort brutalen Verhören
und grausamer Folter ausgesetzt waren. Jeder Name auf diesen Listen war ein
einziger Appell zum Gebet, zur Fürbitte, um diesen Menschen beizustehen. Ja,
44
Kurt Marti, Schon wieder heute. Ausgewählte Gedichte 1959–1980, Neuwied 1982, 55; vgl. auch
RG 487 «Das könnte den Herren der Welt ja so passen».
45
Klaus Wengst, Das Johannesevangelium. 1. Teilband: Kapitel 1–10 (ThKNT 4,1), Stuttgart u.a.
2000, 203.
46
Übersetzt von Günter Danehl. TB-Ausgabe, München 1994.
47
USA 1993, mit Liam Neeson in der Hauptrolle, ausgezeichnet mit sieben Oscars. Mit den rund 60
Millionen Einnahmen aus diesem Film gründete Steven Spielberg die Shoah-Foundation, die
Interviews mit Zeitzeugen führt und filmt, um sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
48
London 1982.
Beten ist wie das Tun des Gerechten49 ein Akt des Widerstands gegen die
Mächte des Bösen und gegen die, die sich zu ihren Handlangern machen. Und es
verändert die Welt. Ach, hätte es doch solche Fürbitt-Widerstandslisten in den
christlichen Gemeinden auch und gerade für die jüdischen Menschen gegeben,
gegen die die «Endlösung» der sog. Judenfrage längst beschlossene Sache war.
Oder ich denke an die Montagsgebete und Montagsdemonstrationen zum Ende
der DDR: Wenn man sah, dass jemand von den friedlich Betenden und einzig
mit der Macht einer brennenden Kerze Demonstrierenden verhaftet wurde, dann
rief man laut dessen Name und jemand schrieb ihn auf, so dass man wusste, um
wen man sich kümmern, wessen Familie und Freunde man informieren musste,
für wen man zu beten hatte.
Vielleicht können auch Sie mir Beispiele für solche rettenden, bergenden Namenslisten aus der Geschichte der Schweiz oder des Emmentals erzählen, Listen
mit Namen von Menschen, deren Leben in Gefahr war, für die man mit einer
solchen Liste in der Hand sich verantwortlich machte und bezeugte: Ihr seid
nicht vergessen! Wir lassen euch nicht im Stich.
Und da gibt es die Listen der «Gefangenen des Monats» bei Amnesty International, die uns Monat für Monat dazu auffordern, «Briefe gegen das Vergessen»
zu schreiben. Amnesty International informiert darüber auf seiner Homepage:
«Täglich werden Menschen weltweit festgenommen, bedroht, gefoltert, getötet. Weil sie ihre
Meinung sagen, sich für die Menschenrechte in ihrem Land einsetzen oder mit friedlichen
Mitteln ihre Regierung kritisieren. Gewaltlose politische Gefangene verschwinden oft für
Jahre hinter Gittern – ohne faires Gerichtsverfahren und unter unterschiedlich schwierigen
Haftbedingungen. Die Gefahr, dass sie vergessen werden, ist groß. Darum brauchen sie unseren Schutz, unsere Solidarität, unseren Einsatz!
Aus diesem Grund startet Amnesty International sogenannte ‹Briefe gegen das Vergessen›.
Sie geben den Gefangenen Hoffnung und zeigen den Verantwortlichen, dass die Gefangenen
nicht in Vergessenheit geraten sind. Die ‹Briefe gegen das Vergessen› wirken durch ihre enorme Anzahl. Wir brauchen Ihre Unterstützung. Gegen das Vergessen. […]»50
Wie viele Menschen sind weltweit durch diese Briefe wieder in Freiheit gelangt
und so gerettet worden!
Alle diese Namenslisten, diese namhaften Lebensbücher sind das Gegenteil der
‹schwarzen Listen›, jener Todeslisten, auf denen vor allem in Diktaturen die Namen jener notiert sind, die ermordet werden sollen.51
49
«[…] unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten
unter den Menschen. Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muss
neugeboren werden aus diesem Beten und diesem Tun.» So Dietrich Bonhoeffer in seinen «Gedanken
zum Tauftag von Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge» im Mai 1944, in: Widerstand und Ergebung.
Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hrsg. von Christian Gremmels u.a. (DBW 8), München
1998, 428–436, 435f.
50
https://www.amnesty.de/briefe-gegen-das-vergessen (20.12.2015).
51
Es kommt also alles darauf an, wer solche Namenslisten mit welcher Absicht führt bzw. in Händen
hält. Im Besitz der Opfer bzw. ihrer Vertrauten können diese Todeslisten selbst wiederum zu Büchern
des Lebens werden, indem sie die Erinnerung an die bereits Ermordeten und das ihnen widerfahrene
Unrecht wach halten und so zu Anklageschriften an die Mörder werden. Einen solchen Funktionswan-
Was ist die Widerstandsliste der Kirchengemeinde Affoltern gegen den Tod und
das Vergessen? Welches Lebensbuch als Arche führen wir? Für wen beten wir?
Für welche an Leib und Leben bedrohten Menschen sorgen wir, dass sie Räume
finden, in denen sie geborgen sind, sicher vor feindlichen Zu- und Übergriffen?
Für wen sind unsere Gemeinden eine Arche, ein Ort des Asyls, ein Schutzraum,
um aufatmen und wieder neuen Lebensmut schöpfen und zuversichtlich in eine
wiedergewonnene Zukunft gehen zu können?
V.
Liebe Gemeinde, gestern mündete meine Predigt in den Schlusssatz des Kinderliedes «Weißt du, wie viel Sternlein stehen» ein:
«Gott im Himmel hat an allen
seine Lust, sein Wohlgefallen,
kennt auch dich und hat dich lieb.»
Heute kann ich so nicht enden. Denn Gott hat nicht an allen Seine Lust, Sein
Wohlgefallen. Es gibt so vieles auf unserer Erde, was Gottes glühenden Zorn als
die Kehrseite Seiner leidenschaftlichen Liebe, Seiner Barmherzigkeit und Heiligkeit lodern lässt.
«Ausgelöscht seien sie aus dem Buch der Lebenden
und mit den Gerechten nicht eingeschrieben.»
Wir haben diese Psalmbitte verstehen gelernt als einen Hilfeschrei aus großer
Not, und mit ihm ist uns das Buch des Lebens zum göttlichen Schutzraum auf
Erden bedrohter Menschen, zur Arche, zur Widerstandsliste gegen den Tod geworden. Mir steht es nicht im Mindesten zu, Menschen, die sich in ihrer Ohnmacht mit dieser Bitte an Gott wenden, zu kritisieren, wie dies immer wieder in
der Geschichte des Christentums geschehen ist, als sei eine solche Bitte nicht
christlich, einem christlichen Gott der Liebe nicht angemessen …
Wer bin ich, dass ich Menschen, die die Wiederherstellung ihres Rechts und
ihrer Würde Gott anheimstellen und ihn um eine Entmächtigung ihrer Feinde
bitten, sagen dürfte: «Dazu habt ihr kein Recht»?! Nein, ich habe großen Respekt vor denen, die davon Abstand nehmen, sich ihr Recht selbst zu verschaffen, und sei es mit Gewalt oder gar um jeden Preis, und die es Gott überlassen,
für sie, für ihr Recht, ihre Würde, ihre Genugtuung einzustehen, damit auch sie
wieder vergnügt sein können.
Aber ich habe Fragen an diese mehr als verständliche und buchstäblich so notwendige Bitte:
«Ausgelöscht seien sie aus dem Buch der Lebenden
del von Todeslisten zu Gedenk- und Anklagebüchern zeigt etwa Sydney Pollacks Polit-Thriller „Die
Dolmetscherin“ (The Interpreter, USA 2005) mit Nicole Kidman und Sean Penn in den Hauptrollen –
mit deutlichen Anspielungen auf die Person Robert Mugabes und die Situation in Simbabwe.
und mit den Gerechten nicht eingeschrieben.»
Kann dies das letzte Wort unser Hoffnung sein, dass für immer Menschen aus
dem Buch der Lebenden ausgelöscht bleiben, dass die einen zum ewigen Leben,
die anderen aber zu ewiger Schmach auferweckt werden? Wird es auf ewig
Menschen geben, die Unrechtstäter und -täterinnen bleiben und deren Namen
darum keinen Ort haben in diesem Buch, in das nur die Gerechten eingeschrieben sind? Werden Menschen auf Dauer gezeichnet bleiben von dem, was sie
getan, und von dem, was sie erlitten haben? Wird Gott in Ewigkeit nicht zurechtkommen mit einem Teil Seiner Schöpfung, weil Menschen lieber dem Tod als
dem Leben dienen, sich eher dem Bösen als Gott verschreiben?
Ich frage dies alles auch um meiner selbst willen, denn wie könnte ich sagen, ich
gehörte eindeutig auf die Seite der Gerechten, so dass mein Name bestimmt
nicht ausgelöscht werde aus dem Buch des Lebens. Wer so betet wie die Betenden des 69. Psalms, betet auch gegen sich selbst, wenn sie oder er Ungerechtes
tut und ungerecht wird.
Für mich ist es ein unvorstellbarer Gedanke, dass Gott einen Teil Seiner Schöpfung preisgibt oder auch nur sich selbst überlässt. Doch wie kann ich das zusammenhoffen damit, dass das Buch des Lebens eine Arche nur für die Gerechten
ist?
Mit diesen drängenden Fragen gehen wir in die Gottesdienste am morgigen
Abend und am Sonntagmorgen und suchen nach Antworten, die der heute notwendigen Bitte:
«Ausgelöscht seien sie aus dem Buch der Lebenden
und mit den Gerechten nicht eingeschrieben.»
hoffentlich nicht das letzte Wort lassen.
Und der Friede Gottes,
der schützend die Hand hält über all’ unser Verstehen,
bewahre uns, unsere Herzen und Sinne im Messias Jesus.
Fürklage- und -bittgebet
Gott, DU treuer Gott, wie gut, dass es wenigstens bei DIR Schutzräume gibt,
für jene, die um ihr Leben fürchten müssen und den Tod vor Augen haben.
Wie tröstlich, dass DEIN Buch des Lebens ihnen Asyl bietet.
DEIN Buch, in dem kein Platz ist für die Bösen und das Böse.
Das stimmt uns dankbar, aber es beschämt uns auch.
Wir fühlen uns oft zu ohnmächtig, um etwas zu ändern an dem,
woran wir leiden, und an dem, womit wir andere leiden machen,
und machen uns so mitschuldig daran,
dass dem Unrecht und der Gewalt kein Einhalt geboten wird.
Darum erbarme DICH unser!
Wie sollten wir uns sonst derer erbarmen können,
die auf so ganz andere Weise als wir erbärmlich dran sind?!
Bringe DU DEINE Schöpfung zurecht,
wie sollten wir sonst mit unserem Leben zurechtkommen?
Wenn wir darauf vertrauen können, dass DU niemanden loslässt und preisgibst,
dann wird es auch uns leichter fallen,
einander nicht aufzugeben und aufeinander Acht zu haben.
Es gibt unter uns immer nur so wenige,
die DEINEM himmlischen Asyl auch irdische Hütten bauen,
die sich einsetzen für Verfolgte und Verschleppte,
die ihre Stimme erheben für Entrechtete und Vergewaltigte,
die mit Mut und Kreativität nach neuen Lösungen suchen,
um das Leid zu mindern und der großen Not und dem unzeitigen Tod zu trotzen.
Ihnen möchten wir gerne zur Seite stehen,
darum bitten wir DICH um ihre Stärkung,
dass sie nicht müde werden in ihrem Einsatz, dass sie nicht resignieren,
weil es so viel mehr zu tun gibt, als sie schaffen können.
Mache doch mehr Menschen bereit, daran mitzuwirken,
dass das Antlitz der Erde erneuert wird,
dass wieder etwas von dem «Sehr gut» zu spüren ist,
mit dem DU DEINE Schöpfung einst signiert hast.
Gerne wollen wir DIR helfen bei DEINEM großen Projekt
der Erlösung unserer Welt vom Bösen.
Darum loben wir DICH und segnen DEINEN Namen!
Amen.
Freitag, 26. November 2015
«Von der Liste gestrichen»? –
oder: warum mit der Einschreibung ins Buch des Lebens
auch das Gottsein Gottes auf dem Spiel steht
Predigttext: 2Mose 32,7–14.30–33
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater,
und dem Messias Jesus, unserem Bruder.
Unsere Hoffnung, liebe Gemeinde, braucht Bilder: Bilder, die sie nähren, wenn
sie schwach wird, Bilder, die ihre Glut neu entfachen, wenn sie zu erlöschen und
zu Asche zu zerfallen droht. Bilder, bei denen wir in Ruhe verweilen, mit denen
wir Blicke wechseln können.
I.
Seit Montagabend wandeln wir in der biblischen Bildergalerie der himmlischen
Buchführung, haben bei dem einen oder anderen Bild verweilt, es zu uns sprechen lassen und seine Blickwechsel mit uns auch singend erwidert, etwa im
Kanon «Alles ist eitel, du aber bleibst und wen du ins Buch des Lebens
schreibst»52, der uns durch diese ganze Woche begleitet. Wir haben das Buch
des Lebens kennengelernt als das Gedächtnis Gottes, in dem mit unseren Namen
unser Leben aufbewahrt wird: Eingeschrieben zu sein bei Gott, trotzt der Vergänglichkeit und Vergeblichkeit unseres Lebens und lässt dem Tod nicht das
letzte Wort.
Auch anderen himmlischen Büchern sind wir begegnet: jenen Merkbüchern
Gottes, in die er selbst jede einzelne unserer Tränen aufnimmt, und den Tagebüchern, die Gott von uns schon vor der Geburt zu schreiben begonnen hat und
denen die Verheißung innewohnt, dass Gott unser so fragiles und fragmentarisches irdisches Leben in Ewigkeit vollenden wird.
Und gestern haben wir das Buch des Lebens noch in einer anderen Funktion
kennengelernt: nämlich als Arche, als Widerstandsliste gegen den Tod, die an
Leib und Leben bedrohten Menschen einen Schutzraum bietet, in dem sie vor
der Nachstellung ihrer Feinde und Verfolger sicher sind, in dem ihnen Asyl gewährt wird. Wir haben die gegen die Unrechtstäter und -täterinnen gerichtete
Bitte des 69. Psalms:
«Ausgelöscht seien sie aus dem Buch der Lebenden
und mit den Gerechten nicht eingeschrieben.»
verstehen gelernt als den Hilfeschrei eines bedrängten Menschen, der sein Leben, sein Recht und seine Zukunft in Gottes Hände legt, statt selbst nach Vergeltung für das ihm zugefügte Leiden zu trachten.
52
RG 859.
Aber diese emphatische Bitte hat auch Fragen in uns geweckt, die allesamt in
die eine einmünden: Kann dies das letzte Wort unserer Hoffnung sein, dass es
Menschen geben wird, die für immer aus der göttlichen Lebenskartei gelöscht
werden, weil sie nicht umkehren von ihrem ungerechten Tun, die auf ewig kein
«ticket for life» bekommen?
Eine vorläufige, tastende Antwort auf diese Fragen, liebe Gemeinde, werde ich
Ihnen übermorgen im Festgottesdienst zum Ersten Advent zu geben versuchen –
dann, wenn wir uns das große Hoffnungsbild anschauen, das Johannes, der
Seher von Patmos, uns von den himmlischen Büchern vor dem Forum des
Jüngsten Gerichts gemalt hat.53
Aber wir brauchen den heutigen Gottesdienst und unseren Predigttext aus dem
zweiten Mosebuch, den wir eben in der Lesung von Frau Gehrig gehört haben,
um das zu verstehen, was Johannes uns am Sonntag zeigen möchte, wie wir ja
überhaupt das Neue Testament gar nicht verstehen können ohne das Alte.54 So
gehen wir heute in die Schule der allerersten biblischen Erwähnung des Lebensbuches, um übermorgen nicht wie ein Ochs vorm Berg vor den Bildern des großen Finale des Jüngsten Gerichts zu stehen, bei dem alle himmlischen Bücher
geöffnet werden.
II.
«Von der Liste gestrichen»? Herr Käser hat gestern, als er zum heutigen Gottesdienst einlud, gesagt, er sei froh, dass am Ende dieses Titels ein Fragezeichen
stehe. Und genau um dieses Fragezeichen soll es heute gehen. Ich habe mir das
Thema des heutigen Gottesdienstes von Paul Klee geliehen: 1933 hat er ein Bild
gemalt, das «von der Liste gestrichen»55 heißt – ohne Fragezeichen. Ich habe
Ihnen dieses Bild als kleine Kopie aus Bern mitgebracht, damit Sie es jetzt mit
mir anschauen und dann als Gedächtnisstütze mit nach Hause nehmen können.
Was wir heute mit einem kräftigen Fragezeichen versehen wollen, das war für
Paul Klee 1933 bittere Realität, eine Erfahrung, die er am eigenen Leib machen
musste.56 Pauls Klees Bild «von der Liste gestrichen» ist ein Selbstporträt mit
dunklen, matten Farben, das den Maler mit geschlossenen Augen und zusam 53
Offenbarung 20,11–15.
Siehe dazu: Frank Crüsemann, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht
der christlichen Bibel, Gütersloh 2011. Der Berliner Systematische Theologe Notger Slenczka hat eine
Debatte um den kanonischen Status des Alten Testaments angezettelt, in der er – mit Anleihen u.a. bei
Friedrich Schleiermacher und Adolf von Harnack – dem Alten Testament normative Geltung für die
christlichen Kirchen abspricht. Die Texte Slenczkas (und Reaktionen darauf) sind auf seiner homepage: https://www.theologie.hu-berlin.de/de/st/AT (20.12.2015) nachzulesen. Eine ausführliche Dokumentation findet sich auch auf http://www.reformiert-info.de/14292-0-4-24.html (20.12.2015).
55
Das Bild, das sich im Zentrum Paul Klee in Bern befindet, ist etwa im Ausstellungskatalog «Das
Universum Klee», hrsg. von Dieter Scholz und Christina Thomson, Ostfildern 2008, 317, abgedruckt.
Zur Interpretation im Horizont der Biographie Klees siehe/höre auch https://www.youtube.com/
watch?v=c0exElQ8KQ0 (20.12.2015).
56
Siehe Daniel Kupper, Paul Klee, Reinbek bei Hamburg 2011, 105–125.
54
mengekniffenen, nach unten gezogenen Mundwinkeln zeigt. Ein trauriges, ein
melancholisches Gesicht.
Paul Klee, von der Liste gestrichen 1933
Ölfarbe auf Papier 31,5 x 24 cm
Zentrum Paul Klee, Bern (Schenkung Livia Klee)
Mit zwei großen, schwarzen Pinselstrichen ist der Hinterkopf von einem X
durchgestrichen – ein unübersehbares Zeichen für die von Klee als Streichung
und Auslöschung empfundene Entlassung aus der Kunstakademie in Düsseldorf.
Dorthin war Klee vom Bauhaus aus zum 1. Juli 1931 als Professor für Malerei
berufen worden. Es ist eines seiner letzten in Deutschland gemalten Bilder,
bevor er am 24. Dezember 1933 mit seiner Familie nach Bern, der Stadt seiner
Kindheit und Jugendzeit, emigrierte. Und es gehört zu jenen Bildern, mit denen
Paul Klee als Maler die politische Entwicklung kommentierte und in das sich
seine eigenen Widerfahrnisse einzeichneten: «geächtet, gebrandmarkt, verfolgt,
vertrieben»57.
Seit dem Frühjahr 1933 wird die Düsseldorfer Akademie als «Hochburg
jüdischer Künstler» und Paul Klee selbst als «typisch galizischer Jude»58 diffamiert. Rasch werden seine Werke als sog. «entartete Kunst» in «Schandaus 57
58
Christina Thomas, Krieg, in: Das Universum Klee (Anm. 55), 299f, 300.
Kupper, Paul Klee (Anm. 56), 110.
stellungen» in Chemnitz, Dessau und Weimar gezeigt. Am 21. April wird er mit
sofortiger Bewirkung «beurlaubt», im Herbst 1933 folgt die definitive Entlassung zum Jahresende. Begründung: «Professor Klee wird als Jude und als
Lehrer für unmöglich und entbehrlich angesehen.»59
Im großen schwarzen X, das sich über den Kopf legt, verdichtet Klee «die menschenverachtende NS-Politik in ein einziges Zeichen»60. Das in schematischen
Farbflächen erstarrte Gesicht wird gebrandmarkt durch das schwarze Kreuz als
Zeichen der Zensur und der Vernichtung.
«von der Liste gestrichen» – das ist eine Erfahrung, die nicht nur Paul Klee
gemacht hat. Jugendliche stürzt es in eine tiefe Identitätskrise, wenn jemand sie
aus der facebook-Liste der Freunde und Freundinnen streicht. Nicht mehr dazuzugehören, ausgeschlossen, exkommuniziert zu sein – das tut weh, das kann das
eigene Selbstbild erschüttern und die Zukunft verdunkeln. Und wenn wir bedenken, wie irritierend es sein kann, auch nur von der Gästeliste eines Festes gestrichen zu sein, an dem wir gerne teilgenommen hätten, ahnen wir, welch’ einen Einschnitt und welch’ eine Krise sich mit der Streichung von anderen Listen
verbinden kann. «von der Liste gestrichen» – das kann ein hartes, bisweilen gar
vernichtendes Urteil sein …
III.
«Und nun, wenn Du ihre Sünde trägst …
Wenn aber nicht, dann lösche mich doch aus Deinem Buch,
das Du geschrieben hast, aus!»
Wie, liebe Gemeinde, kommt ein Mose dazu, so mit Gott zu sprechen? Was
bewegt ihn dazu, sich selbst auslöschen lassen zu wollen aus der Lebenskartei?
Was ist passiert, dass jemand so etwas sagt? Die Szene führt uns an den Sinai, in
das zweite einer ganzen Reihe von höchst verwegenen Gesprächen zwischen
Gott und Mose61 – Gespräche, in denen Mose Tacheles mit Gott redet, kein Blatt
vor den Mund nimmt, sondern Gott viel, ja alles zumutet, um sein eigenes Volk
vor dem Untergang zu bewahren, um aber zugleich auch Gott davor zu bewahren, sich selbst zu vergessen, sich als Gott unmöglich zu machen.
Es sind Gespräche voller Chuzpe, Gespräche, in denen nicht um den heißen Brei
herum geredet, sondern wahrgesprochen wird, freimütig, ungeschminkt, offen,
ohne Vorbehalt … Denn es geht ums Ganze, es geht um Leben oder Tod. Es
fallen Sätze in diesen Gesprächen, von denen die Rabbinen, die jüdischen Ausleger der Schrift, sagen, wenn es nicht in der Bibel stünde, dürfte man so gar
nicht sprechen.
59
Zitiert nach https://www.youtube.com/ watch?v=c0exElQ8KQ0 (20.12.2015).
Thomas, Krieg (Anm. 57), 300.
61
Siehe dazu Jan-Dirk Döhling, «Woran soll erkannt werden, dass ich und dein Volk Gnade gefunden
haben?» (Ex 33,16). Eine Skizze zur argumentativen Kohärenz und Dynamik der Mose-Jhwh-Dialoge
in Ex 32–34, in: Fragen wider die Antworten, hrsg. von Kerstin Schiffner u.a., Gütersloh 2005, 240–
267.
60
Für mich gehören diese Dialoge zwischen Gott und Mose zu den aufregendsten
Texten der Bibel überhaupt. Und je öfter ich sie lese, desto weniger werde ich
mit ihnen fertig, desto mehr haben sie mir zu sagen.62
«… dann lösche mich doch aus dem Buch,
das Du geschrieben hast, aus.»
IV.
Es ist die Erzählung vom Tanz ums goldene Kalb, die den Gesprächen zwischen
Mose und Gott vorausgeht und die den Anlass für sie bildet: Mose ist hoch oben
auf dem Sinai so sehr ins Gespräch mit Gott vertieft, dass er gar nicht gemerkt
hat, dass sein Volk am Fuße des Gottesberges unruhig wird, quengelig wie ein
kleines Kind. Denn auf dem schwierigen und mühsamen Weg aus dem Sklavenhaus in die Freiheit, auf diesem beschwerlichen Weg durch die Wüste brauchen die Befreiten jemanden, der ihnen in die Freiheit vorausgeht, der ihnen
zeigt, wo es lang geht, und der vor allem den unsichtbaren, im Himmel wohnenden Gott unter ihnen anwesend sein lässt.
Und nun bleibt Mose, der eben diese Rolle innehatte, stellvertretend und im
Auftrag Gottes sein Volk in die Freiheit zu führen – nun bleibt dieser Mose so
entsetzlich lange weg, dass sie es einfach nicht mehr aushalten: Sie brauchen
einen Gott zum Anfassen und Begreifen, der sichtbar mit ihnen zieht. Und
Aaron, ihr Priester, der Bruder und das Sprachrohr Moses63, der hat Verständnis
für dieses Bedürfnis seines ungehaltenen Volkes, lässt Goldschmuck einsammeln und gießt aus ihm ein kleines Stierbild.
«Das sind deine Götter, Israel,
die dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt haben!»
Mit diesen Worten feiern die Freigelassenen ihr sichtbares Götterbild. Aaron
versucht zu retten, was zu retten ist, und ruft ein Fest für den Gott Israels aus,
beschneidet also gleichsam das Stierbild, will es zu einem Bild des eigenen Gottes, des Gottes Israels, machen. Denn sie sollen ja nicht fremde Götter verehren
und denen dienen und um die herumtanzen.
V.
Doch über diesem Geschehen entbrennt Gottes Zorn und lodert leidenschaftlich,
vernichtend leidenschaftlich. Gott hat sein Volk nun wirklich satt und ist es leid
mit ihm – sein Volk, das seine Freiheit gar nicht genießen kann, das sich selbst
immer wieder in Abhängigkeiten begibt und nach den Fleischtöpfen Ägyptens
62
Vgl. zum Folgenden meine «Kanzelrede zu 2Mose 32,7–14»: Gott kommt zu sich – dank Mose, in:
Magdalene L. Frettlöh, GOTT, wo bist DU? Kirchlich-theologische Alltagskost. Bd. 2 (Erev-Rav-Hefte: Biblische Erkundungen 11), Wittingen 2009, 108–117, und die dort angegebene Literatur, sowie
Döhling, Der bewegliche Gott (Anm. 30), 134–176.
63
2Mose 4,10–16.
zurücksehnt, statt sich auf diesen Gott einzulassen, der freie, aufrechte Menschen mit Rückgrat liebt.
Doch stattdessen huldigen sie nun einem leblosen Idol, und das nur weil Mose,
Seine Ikone, Sein lebendiges Bild, mal für einige Zeit nicht greifbar war. Sollen
sie sich doch nur nicht einbilden, dass sie Ihn, den lebendigen Gott, den Schöpfer der Welt, in ein Bild bringen könnten. Was sie mit dem goldenen Stierbildli
verehren, das ist ein toter Götze, aber nicht der Gott, der sie aus Knechtschaft
und Abhängigkeit herausgeführt hat.
«Und nun lass Mich, dass Mein Zorn gegen sie entbrenne und Ich sie vernichte.
Dich aber will ich zu einem großen Volk machen.»
Mose kann das, was Gott ihm da in Aussicht stellt, nicht annehmen. Es ist kein
verlockendes Angebot für ihn. Darum macht er Gott klar, dass es so nicht geht,
dass Gott sich selbst unmöglich machen wird, wenn Er Sein eigenes Volk, das er
doch gerade erst mit großem Aufwand der Unterdrückung Pharaos entzogen hat,
wenn er dieses Volk nun in der Wüste elend krepieren lässt. Wie wird Er dann
nur da stehen vor den Ägyptern?! Die könnten Ihm doch glatt böse Absichten
unterstellen. Darum:
«Lass ab von Deinem glühenden Zorn,
und lass es Dich reuen, dass Deinem Volk Unheil droht.»
Und noch mehr Argumente führt Mose ins Feld: Wenn es Gott schon egal ist,
dass Er Sein Gesicht vor den Ägyptern verliert, dann soll er doch wenigstens
daran denken, was Er den Erzeltern versprochen, was er Abraham und Sara,
Isaak und Rebekka, Jakob, Lea und Rahel verbindlich zugesagt hat. Bei ihnen
steht Er im Wort, ihren Nachkommen soll das Land gehören, in das die befreiten
Sklavinnen und Sklaven nun unterwegs sind. Wie soll sich diese Verheißung
aber erfüllen, wenn sie nun unterwegs zugrunde gehen?!
Ein Gott aber, so lässt Mose seinen Gott wissen, ein Gott, der das gegebene
Wort nicht hält, ist kein Gott mehr. Der verspielt nicht nur Sein Ansehen gegenüber anderen, der gibt auch sich selbst auf.
«Da reute es den HERRN,
dass er Seinem Volk Unheil angedroht hatte.»
Mit diesem Satz endet das erste Gespräch der beiden. Mose konnte Gott überzeugen, konnte ihn davon abhalten, sich an Seinem Volk zu vergreifen und sich
dabei selbst zu verlieren. Mit theologischen Argumenten vom Feinsten besänftigt er, entzürnt er Gott. Mose streichelt Gott die Zornesfalten aus dem Gesicht.
Was für ein Bild!
VI.
Damit ist Sein halsstarriges Volk fürs erste gerettet. Doch was ist mit der
Schuld, die es auf sich geladen hat? Wer wird ihm diese Schuld abnehmen, wer
sie tragen, wer sie sühnen? Aus dieser Frage entspinnt sich das zweite Gespräch
zwischen Mose und Gott, nachdem Mose seinem Bruder Aaron versprochen hat,
bei Gott Sühne zu erwirken für sein Volk:
«Und nun, wenn Du ihre Sünde trägst …
Wenn aber nicht, dann lösche mich doch aus Deinem Buch,
das Du geschrieben hast, aus!»
Gott selbst soll die Verfehlung Seines Volkes sühnen. Schon Kain hatte ja,
nachdem er seinen Bruder Abel erschlagen hatte, aufgestöhnt: «Meine Schuld ist
zu groß, als dass ich sie tragen könnte.»64 Und Josef hatte, als seine Brüder ihn
baten, ihre Schuld zu tragen, ihnen entgegnet: «Bin ich denn an Gottes Stelle?»65
Wer soll tragen, was Menschen nicht tragen können? Wer soll sühnen, was
menschlicherseits nicht zu sühnen und nicht wiedergutzumachen ist? Wer, wenn
nicht Gott selbst?!
Für den Fall aber, dass Gott dieser Bitte Moses nicht entspricht und nicht selbst
für die Sühne Sorge trägt – für diesen Fall will Mose zusammen mit seinem
Volk aus dem göttlichen Buch gelöscht werden, also sterben.66 Mose hat sich ja
schon im ersten Gespräch nicht durch Gott von seinem Volk trennen lassen, so
will er auch jetzt nicht ohne sein Volk überleben. Mit seiner Zustimmung kann
Gott nicht rechnen, auf ihn kann Er nicht bauen, wenn Er bei Seinem verheerenden Entschluss bleibt:
«Und nun, wenn Du ihre Sünde trägst …
Wenn aber nicht, dann lösche mich doch aus Deinem Buch,
das Du geschrieben hast, aus!»
Und auch darin steckt eine ungeheure Zumutung, sagt Mose Gott damit doch:
«Wenn ich, Mose, nicht ohne meine Volk überleben will, wie kannst Du, Gott,
dies wollen, wo Du doch Dein eigenes Leben, Dein Gottsein an dieses Volk gebunden bist, wo Du doch gar nicht mehr Gott sein kannst ohne diese Menschen?!» Moses Bitte, ihn aus dem Buch des Lebens zu streichen, ist eine theologische Provokation ersten Ranges, denn sie zielt darauf, dass Gott erkennt:
«Ich, Gott, lösche mich faktisch selbst aus, wenn ich die menschlicherseits
untragbaren Sünden dennoch an den Schuldigen heimsuche.»
Und wie reagiert Gott?
64
1Mose 4,13.
Dazu Jürgen Ebach, Genesis 37–50 (HThKAT), Freiburg i. Br. u.a. 2007, 650–665; ders., Mit
Schuld leben – mit Schuld leben. Beobachtungen und Überlegungen zum Anfang und zum Schluss der
bibli-schen Josefsgeschichte, in: «Wie? Auch wir vergeben unsern Schuldigern?» Mit Schuld leben
(Jabboq 5), hrsg. von dems. u.a., Gütersloh 2004, 19–39; Magdalene L. Frettlöh, «Ja, bin denn ich an
Gottes Stelle?» (1Mose 50,19). Kanzelrede zu 1Mose 50,14–21 (im Rahmen der Josefsgeschichte), in:
dies., Worte sind Lebensmittel (Anm. 2), 87–95.
66
Andere Interpretationen sehen hier das Angebot einer stellvertretenden Lebenshingabe Moses, der
bereit sei, anstelle seines Volkes zu sterben. Dies erscheint mir allerdings eine christologisch imprägnierte Lesart des Textes zu sein, was sie aber keineswegs per se unmöglich macht.
65
«Und der HERR sprach zu Mose:
‹Wer an mir gesündigt hat, den werde ich auslöschen aus meinem Buch.›»
VII.
Sind wir mit dieser Antwort nun nicht doch wieder an dem Punkt, an dem wir
gestern Nachmittag auch schon waren? Das Buch des Lebens ist keine Sünderkartei. Es ist ein Schutzraum nur für Gerechte. Für Unrechtstäterinnen und -täter
ist kein Platz darin. Aber wir wollten doch weiterkommen, voran auf dem Weg
zu den Hoffnungsbildern des großen Finales am Sonntagmorgen.
Doch, liebe Gemeinde, wir sind weitergekommen: Nicht nur, dass uns mit Mose
ein Beter begegnet ist, von dessen Chuzpe Gott gegenüber wir uns eine dicke
Scheibe abschneiden können. So mit Gott zu reden, Gott so mit den möglichen
Folgen Seiner eigenen, einsam getroffenen Entscheidungen zu konfrontieren,
dass Gott selbst das Unheil bereut, das schon beschlossene Sache ist – diese
Verwegenheit verschlägt einem fast den Atem. Aber genau sie ist der Grund
dafür, dass Mose – wie sonst nur Abraham – Freund Gottes genannt wird.67
Denn Freunde dürfen sich alles sagen, sich alles zumuten, Freundinnen sprechen
wahr, unverblümt, ungeschminkt.68
Aber noch mehr nehmen wir mit in den Gottesdienst am Sonntagmorgen: Die
erste biblische Notiz vom göttlichen Lebensbuch bezeugt, dass es – zumindest
auf Zeit – menschenmöglich ist, Gott um Seiner selbst willen und so auch um
unsertwillen davon abzuhalten, schuldig Gewordene aus der himmlischen Lebenskartei zu streichen – nämlich dann, wenn auch nur einer da ist, der sich von
den Schuldigen nicht trennen lassen will, der nicht ohne sie überleben will. Gott
hat in dieser Situation am Sinai den Tod des Mose, der nicht ohne sein schuldig
gewordenes Volk überleben wollte, nicht zugelassen. Der Gott Israels hat Moses
Namen nicht von der Liste gestrichen.
Wird Gott aber den Tod dessen hinnehmen, der sein eigenes unschuldiges Leben
um seiner schuldig gewordenen Mitmenschen willen und an deren Stelle hingibt? Der sich stellvertretend für sie aus dem Buch Gottes löschen lässt? Und
wird Gott den Namen dieses Einen auf Dauer von der Liste streichen, ohne damit nicht auch den eigenen Namen zu tilgen und so sich selbst auszulöschen?!
Offenbar kommt so vieles, kommt vielleicht alles auf diesen Einen an. Wir dürfen gespannt sein. Fortsetzung folgt.
Und der Friede Gottes,
der schützend die Hand hält über all’ unser Verstehen,
bewahre uns, unsere Herzen und Sinne, im Messias Jesus.
67
Zu Abraham: Jesaja 41,8; 2Chronik 20,7; Jakobus 2,23; zu Mose: 2Mose 33,11. In der Providenzlehre der Kirchlichen Dogmatik entfaltet Karl Barth, dass Gottesfreundschaft ihren genuinen Ort im
Gebet hat: KD III/3, Zollikon-Zürich 1950, 323f.
68
Vgl. Andreas Krebs/Magdalene L. Frettlöh, «Rede, was dir lieb ist». Zur Praxis der Parrhesia. Dialogvorlesung an der Universität Bern am 21. Oktober 2015 (noch unveröffentlicht).
Fürklage- und -bittgebet
Gott, DU treuer Gott, wie gut, dass es Menschen wie Mose gibt,
die sich einmischen, die nicht bloß zuschauen,
wenn jemand einsame Entscheidungen trifft, fatal für sich und für andere,
Menschen, die bereit sind, etwas zu wagen, sich selbst zu riskieren,
um zu verhindern, dass schlimme Entschlüsse in die Tat umgesetzt werden.
Bisweilen hätten auch wir gern solchen Mut,
wünschten uns Chuzpe wie Mose, auch DIR gegenüber.
Wir wollen es wenigstens versuchen,
ein klein wenig mutig(er) und wahrhaftig(er) zu sein.
Darum bitten auch wir DICH,
die Verfehlungen derer zu tragen, die sie selbst nicht tragen können.
Wir bitten DICH heute für die Täterinnen und Täter,
für die, die statt dem lebendigen Gott leblosen Götzen dienen,
die vor selbstgemachten Göttern niederfallen
und dabei das Leben anderer gefährden.
Wir bitten DICH um die Umkehr aller,
die sich in ihrer Gleichgültigkeit eingerichtet,
in ihrem Eifer verrannt, in ihren Hass verbohrt,
in ihrem Egoismus verschanzt haben
und in ihrem Hang zur Zerstörung sich selbst gefallen.
Befreie sie aus ihrer Selbsttäuschung und führe sie in die Freiheit.
Wir bitten DICH für die, die bereit sind, so viel zu wagen,
damit andere nicht aus der Lebenskartei gestrichen werden,
für alle, die sich selbst riskieren aus Solidarität mit anderen.
Lass sie ihren Mut und ihre Verwegenheit nicht verlieren.
Lass sie aber auch um ihre Grenzen wissen.
Unverschämt-schamlos bitten wir DICH, Gott,
dass auch wir es wagen, uns DIR in den Weg zu stellen,
wenn DU in DEINEM berechtigten Zorn,
der ja nur die Kehrseite DEINER Liebe ist,
drauf und dran bist, DICH selbst zu verlieren,
dass auch wir DIR die Zornesfalten aus dem Gesicht streicheln,
damit DU DICH auf das besinnst, was DEINER würdig ist
und was DIR alle Ehre macht.
Wir wollen es lernen, DIR zu Hilfe zu kommen,
wollen uns dafür einsetzen, dass DU niemanden,
wirklich niemanden von der Namenliste DEINES Lebensbuchs streichst.
Weder die, die andere von irdischen Lebenslisten gestrichen haben,
noch die, die sich selbst streichen wollen.
Wir appellieren an DEIN Erbarmen und segnen DEINE Treue. Amen.
Sonntag, 29. November 2015
«wenn die bücher aufgetan werden ...»
Das «Buch des Lebens» und die begründete Hoffnung
auf Zurechtbringung aller im Jüngsten Gericht
Predigttexte: Offenbarung 20,11–15; 3,5//RG 853,1–4
Gnade sei mit euch und Friede von dem,
der ist und der war und der kommt!
Unsere Hoffnung, liebe Gemeinde, braucht Bilder: Bilder, die sie nähren, wenn
sie schwach wird, Bilder, die ihre Glut neu entfachen, wenn sie zu erlöschen und
zu Asche zu zerfallen droht. Bilder, bei denen wir in Ruhe verweilen, mit denen
wir Blicke wechseln können.
I.
Seit Montag gehen wir nun in der biblischen Galerie der himmlischen Buchführung von Bild zu Bild, bleiben bei dem einen oder anderen stehen und lassen
von ihm unsere Hoffnung beflügeln. Was haben wir nicht alles zu sehen bekommen vom Buch des Lebens, dem Schrift gewordenen Gedächtnis Gottes, des
großen Archivars, dem nichts so gering ist, dass Er davon nicht Notiz nähme,
der im Himmel aufbewahrt, was auf Erden vergänglich ist. Gott nimmt alles auf,
hat Er doch ein unverbrüchliches Interesse an allen Seinen Geschöpfen.
Mit Namen eingeschrieben zu sein bei Gott – das verbürgt uns, an der unerschöpflichen Lebensfülle Gottes in Ewigkeit teilzuhaben. Das Buch des Lebens,
die himmlische Namensliste – «a ticket for life».
Wir haben gestaunt über die göttlichen Merkbücher, in die selbst jede unser
Tränen einzeln aufgenommen wird. Das bei Gott schon vor unserer Geburt geführte Tagebuch hat uns getröstet, denn dieses himmlische Buch enthält das
göttliche Versprechen, dass all’ die ungelebten Möglichkeiten unseres irdischen
Lebens bei Gott noch zur Entfaltung kommen, weil Er auch nach dem Tod noch
eine Geschichte mit uns hat.
Aber auch irdischen Hinweisen auf die himmlischen Bücher haben wir Aufmerksamkeit geschenkt: Grabsteinen in Buchform, Eintragungen in die Kirchenbücher bei der Taufe, den memory books der aidskranken Mütter in Uganda für
ihre kleinen Kinder, die bald Waisen sein werden, der Liste Oskar Schindlers
und so vielen anderen rettenden Widerstandslisten gegen den Tod …
Und seit Donnerstagmittag bewegt uns nun die Frage, ob es Menschen geben
wird, deren Namen aus dem Buch des Lebens gelöscht werden, ohne je wieder
aufgenommen zu werden, die also in Ewigkeit keinen Platz in diesem Buch haben, die für immer von der Liste gestrichen bleiben. Den Hilfeschrei des bedrängten Beters gegen seine Feinde:
«Ausgelöscht seien sie aus dem Buch der Lebenden
und mit den Gerechten nicht eingeschrieben.»
haben wir nachempfunden. In lebensgefährlicher Not hofft er auf die himmlische Lebenskartei als Arche für alle, die auf Erden um ihr Leben fürchten müssen, denn die, die ihnen nach dem Leben trachten, haben keinen Zugang zum
Buch des Lebens. Dass es solche Schutzräume gibt, ist ein tröstliches Bild in
unserer von Terror so geängstigten Welt …
II.
Dennoch konnten wir uns nicht bei dem Gedanken beruhigen, dass diese Bitte
um Streichung von der Liste das letzte Wort unserer Hoffnung ist, obwohl ja
auch das Gespräch zwischen Mose und Gott, dessen Zeuginnen und Zeugen wir
vorgestern Abend wurden, in den unmissverständlichen Satz einmündete:
«Wer an mir gesündigt hat, den werde ich auslöschen aus meinem Buch.»
Doch hat gerade Mose, der verwegene Anwalt seines Volkes, unsere Hoffnung
neu befeuert: Denn als Gott Sein halsstarriges Volk, das Er aus dem Sklavenhaus in Ägypten befreit hatte und das doch lieber selbstgemachten leblosen
Göttern diente als Ihm – als Gott Sein in die Irre gegangenes Volk im leidenschaftlich lodernden Zorn des enttäuschten Geliebten elend zugrunde gehen lassen wollte, da war es Mose, der seinen Gott besänftigte und Ihn bat, Er möge
doch selbst die Schuld Seines Volkes tragen und sühnen. Denn wer sonst sollte
tragen, was uns zu tragen zu schwer ist, und wer vergeben, was uns schier unvergebbar erscheint, wenn nicht Gott selbst?!
«Und nun, wenn Du ihre Sünde trägst …
Wenn aber nicht, dann lösche mich doch aus Deinem Buch,
das Du geschrieben hast, aus.»
Dieser Mose, der sich bei Gott für die Rettung Seines Volkes einsetzt und der
bereit ist, sich mit den Schuldiggewordenen von der Liste streichen zu lassen –
dieser Mose mit seiner Chuzpe hat uns tief beeindruckt: «Kol kavod!» Alle
Achtung! Obwohl er selbst ja aus Zorn über den Tanz ums handgemachte
Götterbild die beiden steinernen Tafeln mit den zehn Geboten zerschmettert
hatte69, konnte er dennoch sein Volk nicht im Stich lassen, weil er es doch trotzalledemundalledem so sehr liebte.70
Mose ist es – auf Zeit – gelungen, seinen Gott davon abzuhalten, jene aus der
himmlischen Lebenskartei zu streichen, die Schuld auf sich geladen haben. Und
wenn das schon einmal gelungen ist, könnte es dann nicht wieder und einmal
auch für immer gelingen?
69
2Mose 32,19.
Vgl. dazu auch Dietrich Bonhoeffers an 5Mose 34,1 anknüpfendes, autobiographisch eingefärbtes
Gedicht «Der Tod des Mose» in: ders., Widerstand und Ergebung (Anm. 49), 590–598, 598: «Der die
Sünde straft und gern vergibt, / Gott, ich habe dieses Volk geliebt. // Dass ich seine Schmach und Lasten trug / und sein Heil geschaut, / das ist genug.»
70
III.
Offenbar kommt so vieles, kommt vielleicht alles auf diesen Einen ein – so
endete meine Predigt am Freitagabend und manche von Ihnen haben geahnt,
dass mit diesem Einen Mose gemeint war und doch nicht nur Mose, sondern
auch der Eine, den man immer wieder zum Antitypen Moses stilisiert hat und
den man auf dem dunklen Hintergrund einer bis zur Unkenntlichkeit verzeichneten Mosegestalt zum Leuchten bringen wollte: Gesetz dort, Evangelium hier;
Werke dort, Gnade hier; Gott der Rache dort, Gott der Liebe hier …
Dabei sind die beiden sich doch so ähnlich in ihrer Solidarität mit den Schuldigen, in ihrer leidenschaftlichen Anwaltschaft, in ihrem das eigene Leben nicht
schonenden Einsatz für andere bei Gott, dass ich mich je länger je mehr frage,
warum wir das nicht sehen konnten, dass sie Brüder sind: der Gottesfreund
Mose und der Gottessohn aus Nazareth, den wir zum Eingang unseres Gottesdienstes willkommen geheißen haben mit dem Lied: «Wir warten dein, o Gottes
Sohn, und lieben dein Erscheinen.»
«Wir warten dein’, du kommst gewiss; die Zeit ist bald vergangen;
wir freuen uns schon über dies mit sehnlichem Verlangen.
Was wird geschehn, wenn wir dich sehn …»71
Wessen Kommen hier sehnsüchtig erwartet wird, das ist aber nicht
«… in reinlichen Windeln das himmlische Kind,
viel schöner und holder als Engel es sind.»72 –
als hätte das Kind der Maria nie die Windeln voll gehabt, als sei der menschgewordene Gottessohn ohne Verdauungsorgane geboren, so dass er auf den meisten Weihnachtsbildern gar keine Windeln zu tragen braucht. Das ist religiöser
Kitsch, der des Bildersturms bedarf:
«weihnacht //damals // als gott / im schrei der geburt / die gottesbilder zerschlug // und // zwischen
marias schenkeln / runzelig rot / das kind lag»73
Der, dessen Kommen wir herbeigesungen haben, das ist der, «der kommen wird
zu richten die Lebenden und die Toten»74, der also dafür sorgen wird, dass
Gottes Gerechtigkeit sich weltweit durchsetzt, dass Gott mit Seiner ganzen
Schöpfung zurechtkommt und kein Geschöpf verloren gibt.75
71
RG 853,4.
EG 43,2. Das Weihnachtslieder «Ihr Kinderlein kommet» findet sich nicht im RG.
73
Kurt Marti, geduld und revolte. die gedichte am rand. Mit einem Vorwort von Ingeborg Drewitz,
Stuttgart 1984, 8.
74
Aus dem zweiten Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses.
75
Zu einer solchen Erwartung des Jüngsten Gerichts siehe Ottmar Fuchs, Das Jüngste Gericht.
Hoffnung auf Gottes Gerechtigkeit, Regensburg 2007; J. Christine Janowski, Warum sollte Gott nicht
alle erlösen? Antworten auf einige Einwände gegen eine Allerlösungslehre, in: Gott wahr nehmen.
72
IV.
So führt uns auch der Predigttext, den wir eben als Lesung gehört haben, mitten
ins Forum des Jüngsten Gerichts – dorthin, wo die Bücher aufgetan werden:
«Und ich sah die Toten, die Großen und die Kleinen,
vor dem Thron stehen. Da wurden Bücher aufgeschlagen,
und ein anderes Buch wurde aufgetan: das Buch des Lebens.
Und die Toten wurden gerichtet aufgrund dessen,
was in den Büchern geschrieben stand, nach ihren Taten.
[…] Und wer sich nicht aufgeschrieben fand im Buch des Lebens,
der wurde in den Feuersee geworfen.»
Liebe Gemeinde, mit kaum einem anderen Motiv unseres christlichen Glaubens
ist so viel Schindluder getrieben worden wie mit dem Jüngsten Gericht: Was
Frohbotschaft sein sollte, wurde zur Drohbotschaft pervertiert. Statt Menschen
aufzurichten und zu befähigen, Protestleute gegen den Tod zu sein, wurden sie
mit der Angst vorm Jüngsten Gericht und vor ewigen Höllenstrafen klein gehalten, wurden ihnen lebensvergiftende Ängste eingeimpft und unerträgliche,
auch und gerade ökonomische Lasten auferlegt. Und die Kirche verdiente sich
daran nicht nur eine goldene Nase, sondern baute sich davon goldene Paläste
und Dome und häufte Pfründe auf Pfründe.
Auch unser heutiger Predigttext ist von diesem Missbrauch nicht frei, auch er ist
kein unschuldiger Text. Mit der Angst davor, dass der eigene Name sich nicht
ins Buch des Lebens eingeschrieben finden könnte, wurden Gewissen versklavt
und Geschäfte gemacht. Darum ist es umso wichtiger, genau hinzuschauen, was
dort steht, und vor allem auch, was nicht dort steht.
V.
Klar ist, dass die himmlischen Bücher hier – vor dem Forum des Jüngsten Gerichts – noch eine andere Funktion haben als die, die wir bisher kennengelernt
haben: Aus Medien der Datenspeicherung, der Aufbewahrung irdischen Lebens,
werden sie zu Medien der Kommunikation76, denn nun werden sie aufgeschlagen, damit aus ihnen vorgelesen werden kann. Sie sind aus dem himmlischen
Archiv geholt worden, um als Gerichtsakten zu dienen. Entsprechend heißt es
auch von den Werkverzeichnissen, dass nach ihrer Maßgabe das Gericht über
die Werke, über unser Tun und Lassen, gehalten wird.
Doch was ist mit dem Buch des Lebens, das nach den Werkverzeichnissen ebenfalls geöffnet wird? Welche Funktion hat es im Jüngsten Gericht? Wozu dient
es? Ausdrücklich wird es «ein anderes Buch» genannt. Doch worin besteht seine
Festschrift für Christina Link zum 65. Geburtstag, hrsg. von Magdalene L. Frettlöh und Hans P.
Lichtenberger, Neu-kirchen-Vluyn 2003, 277–328.
76
Vgl. dazu Jan Assmann: «Die Schrift dient grundsätzlich zwei Funktionen: der Speicherung und der
Kommunikation» (Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 22004, 105).
Andersheit? Was macht es so besonders? Und – die vielleicht wichtigste Frage –
welches Buch hat das letzte Wort im letzten Gericht?
VI.
Liebe Gemeinde, bevor wir diesen Fragen nachgehen, tut es wohl gut und tut es
Not, daran zu erinnern, dass die Erwartung eines letzten Gerichts uns entängstigen und Freude, sehnsuchtsvolle Vorfreude wecken soll. Zwar wird heute
kaum noch von einer Kanzel mit der Rede vom Jüngsten Gericht Angst und
Schrecken verbreitet, jedenfalls hier in der Schweiz nicht. Das aber hängt
schlicht damit zusammen, dass das Jüngste Gericht überhaupt nicht mehr Thema
ist.
Doch damit enthalten wir einander genau das vor, wonach wir uns doch von
Herzen sehnen sollten. Es gibt gute Gründe für sehnsuchtsvolle Vorfreude auf
das letzte Gericht, weil dort unser aller Leben zurechtgebracht wird. Dazu aber
ist es nötig, dass alles, was geschehen ist, offen zutage liegt, dass nichts mehr
verborgen und verheimlicht, vertuscht und umgelogen werden muss, dass es
keine Ausreden und keine Täuschungen mehr gibt …, weil es sie im Angesicht
Gottes nicht mehr zu geben braucht, weil sie sich erübrigen unter dem Blick der
Liebe, der Schwächen nicht ausnutzt, sondern ihnen aufhilft, denn: «Geliebt
wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.»77
Fulbert Steffensky, den viele von Ihnen von der vorletzten Besinnungswoche
kennen, hat auf die Frage «Glaubst du an ein letztes Gericht?» geantwortet:
«Ich hoffe darauf. Wir haben ein Recht darauf, einmal unverhüllt vor dem Antlitz Gottes zu
stehen, wo und wie auch immer – das weiß nur Gott. Es ist eine Gnade, zu erkennen, wer wir
sind und was wir waren. Wie alles andere ist es ein Geschenk Gottes, dass wir uns selbst nicht
verborgen sind und dass wir uns in allem Gelingen und in allen Winkelzügen durchschauen
können. Es ist nicht nur Pein, wenn wir uns selber schutzlos sehen und wenn wir gesehen
werden, wie wir sind. ‹Er kennt ja unseres Herzens Grund›, heißt es im 44. Psalm. Vielleicht
ist es das Schönste, was man sich denken kann, dass einer, der uns liebt, uns in unseren
Schwächen erkennt, ohne dass uns diese Erkenntnis vernichtet. Dass er ‹unseres Herzens
Grund› kennt, besser als wir ihn kennen, ist keine Drohung. Es ist der ganze Lebenstrost. Wer
hungert nicht danach, endlich erkannt zu werden! Das Gericht Gottes als ein Akt der Liebe.»78
Das Licht, liebe Gemeinde, das im Jüngsten Gericht auf unser Leben fällt, ist
das Licht der Gnade, nicht das gleißende Licht einer Verhörlampe, kein blendendes Scheinwerferlicht und auch nicht das Blitzlichtgewitter der Papparazzi.
Im Jüngsten Gericht geht es nicht um Bloßstellung, sondern um Zurechtbrin 77
Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (GS 4), Frankfurt
a. M. 1951, 218.
78
Fulbert Steffensky, Heimathöhle Religion: Ein Gastrecht für widersprüchliche Gedanken, Stuttgart
2015, 151. Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Peter Käser/Huttwil.
gung, nicht um Beschämung79, sondern um Heilung: «Du kommst uns ja zum
Segen»80, so haben wir es eben gesungen.
Und noch etwas gilt es dabei zu bedenken: Wir stehen vor diesem Gericht ja
nicht als die Alten, nicht als die, die wir hier und heute sind, sondern als in der
Auferweckung neu geschaffene, als radikal veränderte Menschen, die diesen
Blick auf ihr Leben auch aushalten können, die dieser Lebenskrise81 auch gewachsen sind.
Und wir stehen nicht allein, gleichsam in einem Einzelverhör, vor Gott, sondern
das letzte Gericht ist ein Sozialgericht. Nicht nur wir, auch unsere Beziehungen
sollen zurechtgebracht und geheilt werden, auch unsere Gottesbeziehung. So hat
auch Gott Rede und Antwort zu stehen, hat sich zu verantworten und gibt uns
dann – hoffentlich! – auch Antwort auf alle unsere hier und heute unbeantworteten und unbeantwortbaren Warum-Fragen. Wenn das keine Gründe sind,
freudig und sehnsuchtsvoll dieses letzte Gericht zu erwarten!
VII.
Aber diese Freude scheint empfindlich getrübt zu sein von der Aussicht unseres
Predigttextes, wer nicht ins «Buch des Lebens» eingeschrieben sei, werde vernichtet – im Bild gesprochen: der werde wie der Tod und wie das Totenreich in
den Feuersee geworfen. Doch wird es jemanden geben, der – wenn das Buch des
Lebens auf den letzten Stand gebracht ist – nicht darin eingeschrieben sein wird?
Offenbar kommt so vieles, kommt vielleicht alles auf den Einen an.
Doch wo ist in dieser Gerichtsszene der Eine, der wie Mose sich nicht von seinen schuldig gewordenen Brüder und Schwestern hat trennen lassen, der wie
Mose sein eigenes Leben riskiert hat, um nicht als einziger Gerechter allein zu
überleben? Fehlt hier der Christus und mit ihm der Menschensohn-Weltenrichter, der ein menschenfreundliches Gericht hält82, weil er zugleich der Anwalt der
Angeklagten ist?
Liebe Gemeinde, in der Tat begegnet uns in dieser Vision des Johannes Christus
nicht namentlich, nicht persönlich, aber es gibt einen unübersehbaren Hinweis
darauf, dass er doch in der Szene präsent ist und auf der Bühne steht, nämlich in
Gestalt eben des anderen Buches, des Buches des Lebens. Die Johannesoffen 79
Wenn die Erzählung von 1Mose 3, die traditionell als Sündenfallgeschichte gedeutet wird, obwohl
von Sünde erst in 1Mose 4,7 die Rede ist, als Schamgeschichte zu lesen ist (vgl. dazu Frank Crüsemann, Was ist und wonach fragt die erste Frage der Bibel? Oder: das Thema Scham als «Schlüssel zur
Paradiesgeschichte, in: Fragen wider die Antworten, [Anm. 61], 63–79), dann muss Erlösung mit einer
Aufhebung der Scham einhergehen, die mehr und anderes ist als die Rückkehr in den Urstand von
1Mose 2,25.
80
RG 853,1.
81
Mit dem anthropologisch vertrauten Begriff der Lebenskrise deutet Friedrich-Wilhelm Marquardt
das Ereignis des Jüngsten Gerichts: Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften? Eine Eschatologie. Bd. 3, Gütersloh 1996, 164–371.
82
Vgl. aaO., 58–109.
barung spricht öfter von diesem Buch und gibt ihm einen neuen Namen. Sie
nennt es «das Buch des Lebens des Lammes»83.
Das Lamm aber ist der, der sein eigenes Leben in die Waagschale geworfen hat,
um die Sünde aller anderen zu tragen, ihre Schuld zu sühnen, der also genau das
getan hat, was Mose von Gott verlangt hat, und der zugleich getan hat, was
Mose Gott angeboten hat84: Er hat sich durch Gott von der Liste streichen lassen, doch nun nicht zusammen mit all’ den Schuldiggewordenen, sondern für
sie, an ihrer Stelle, damit sie nicht gestrichen werden brauchen. Karfreitag – das
heißt für den Einen: «von der Liste gestrichen».
Doch wir feiern Ostern: an Ostern hat Gott den, den er von der Liste gestrichen
hat, wieder ins Buch des Lebens aufgenommen. Ostern heißt: Neueinschreibung
ins Buch des Lebens. Denn Auferweckung ist Gerechtsprechung. Gott hat in der
Auferweckung Jesu das Leben, Leiden und Sterben Jesu ins Recht gesetzt. Die
Namen der Gerechten aber stehen im Buch des Lebens. Sollten dann aber die,
deren Sünde der Christus getragen, deren Schuld er gesühnt hat und die seit
Ostern als seine Brüder und Schwestern an seiner Gerechtigkeit teilhaben –
sollten ihre Namen dann nicht auch ins Buch des Lebens eingeschrieben und
nicht länger gestrichen sein?!
VIII.
«Es heißt,
‹du sollst dir
kein Bild machen›;
ich male mir aus, was es heißt»85
schreibt der jüdische Aphoristiker Elazar Benyoëtz. So male ich mir am Ende
unseres Gangs durch die biblische Bildergalerie der himmlischen Bücher die
Leerstellen unseres Predigttextes aus:
«wenn die bücher aufgetan werden»86, die Werkverzeichnisse, die als Maßstab
des Gerichts über die Werke dienen, zuerst, aber doch wohl auch all’ die anderen Bücher, die im Himmel geführt wurden: Gottes Gesprächsprotokolle, Merkbücher, Notizbücher, Tagebücher, all’ die gespeicherten Daten, damit alles noch
einmal angeschaut werden kann, auf dass wir, was wir jetzt nur bruchstückhaft
erkennen, dann von Angesicht zu Angesicht ganz und im Zusammenhang
wahrnehmen, – wie auch immer dann das Urteil aussehen mag, das nach Maßgabe all’ dieser Bücher gefällt wird: das letzte Wort, so meine begründete Hoffnung, kommt dem «Buch des Lebens» zu, das der auferweckte Gekreuzigte aufgeschlagen in der Hand hält. Und ich male mir aus, dass er wie Mose Einspruch
83
Offenbarung 13,8; 21,27.
2Mose 32,32.
85
Elazar Benyoëtz, Finden macht das Suchen leichter, München/Wien 2004, 13; vgl. dazu Frettlöh,
(Anm. 8), 329–336.
86
Kurt Marti, Werkauswahl in fünf Bänden. Bd. 5. Ausgewählt von Kurt Marti und Elsbeth Pulver,
Zürich 1996, 239.
84
erhebt, wenn Gott nach dem Gericht über die Werke bei der einen oder dem
anderen zu dem Urteil käme: «von der Liste gestrichen».
Mit dem Buch des Lebens des Lammes in den Händen und mit den Passionsmalen an seinem Auferstehungsleib wird der Sohn beim Vater für ihr Leben
eintreten, auf dass niemand gestrichen werde aus dem Buch des Lebens. Das
Jüngste Gericht – auch ein Gespräch zwischen Vater uns Sohn um unsertwillen.
Liebe Gemeinde, vorschreiben können wir Gott mit solchen Bildern von der
himmlischen Buchführung nichts, aber wir dürfen eigene Erfahrungen und biblische Texte hochhoffen87, nicht hochrechnen, wohl aber hochhoffen. Und so
hoffe ich das Gespräch zwischen Mose und Gott auf dem Sinai hoch ins Gespräch zwischen Vater und Sohn im Jüngsten Gericht. Sollte, was einem Mose
auf Zeit gelungen ist, nämlich sein Volk davor zu bewahren, von Gottes Lebensliste gestrichen zu werden – sollte dies dem Gottessohn für die ganze Menschheit, ja die ganze Schöpfung, nicht für immer gelingen?! Wie könnte Gott anders
zu Seinem Recht an allen Seinen Geschöpfen kommen?! Wie könnte der, der
versprochen hat: «Siehe, ich mache alles neu!»88, auch nur eines Seiner Geschöpfe dem Tod überlassen?!
Liebe Gemeinde, wie anders sähe wohl unser alltäglicher Umgang miteinander
aus, wenn wir aus dieser Hoffnung lebten: Um Christi willen wird niemand,
wirklich niemand end-gültig von der Liste gestrichen? Wie anders würden wir
einander und uns selbst achten, wenn wir schon jetzt – wie unvollkommen auch
immer – unser Leben im Licht der Gnade sähen und einander mit den Blicken
der Liebe wahrnähmen!
Nehmen wir doch die Blickwechsel mit den Bildern der himmlischen Buchführung in dieser Woche, die uns zur Besinnung kommen lassen will, als eine
Sehschule – eine Sehschule, die uns lehrt, einander neu mit den Augen der Liebe
und im Licht der Gnade zu sehen. Vielleicht machen wir dann ja die beglückende Erfahrung: «In deinen Augen kann ich schöner werden als ich bin […] ein
Segen, ein Segen.»89
Und der Friede Gottes,
der schützend die Hand hält über all’ unser Verstehen,
bewahre uns, unsere Herzen und Sinne, im Messias Jesus.
87
Fuchs, Das Jüngste Gericht (Anm. 75), 17, spricht von einem «endzeitlichen ‹Hochhoffnungsverfahren›».
88
Offenbarung 21,5a.
89
Friedrich Karl Barth/Peter Horst, In deinen Augen, in: Deine Güte umsorgt uns. Segen empfangen
und weitergeben. Gedanken, Segenswünsche und Gebete, ausgewählt und hrsg. von Martin Schmeisser, Eschbach 1989, 38.
Fürklage- und -bittgebet
Gott, DU treuer Gott, es ist Advent. Wir heißen den willkommen,
der DEIN Recht bis an die Enden der Erde bringen wird90,
der dafür Sorge trägt, dass, wo heute noch Unrecht, Hass und Gewalt herrschen,
Gerechtigkeit, Liebe und Frieden wohnen werden.
Wir bekennen DIR, dass wir das königliche Kommen DEINES Sohnes,
um zu richten die Lebenden und die Toten,
verniedlicht haben zu süßlichem Kitsch
und dass wir mit der Aussicht auf DEIN letztes Gericht
Menschen eingeschüchtert und geängstigt haben,
statt die Hoffnung derer zu stärken, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit.
Darum bitten wir DICH für alle,
die bis heute leiden unter den Drohbildern DEINES Gerichts:
befreie sie aus ihren Ängsten,
dass sie sich voller Sehnsucht auf das Kommen
des menschenfreundlichen Richters,
der niemanden aus dem Buch des Lebens streichen will, freuen können.
Wecke Hoffnung bei den Opfern,
dass die, die ihnen Schlimmes angetan haben,
nicht für immer über sie triumphieren werden.
Wecke Hoffnung bei den Tätern und Täterinnen,
dass sie nicht für immer böse bleiben müssen.
Es ist ja so anstrengend, böse zu sein.91
Wecke in den Herzen aller, die in unserer unerlösten Welt
nicht zurecht-, nicht zu ihrem Recht kommen, die Hoffnung auf ein Gericht,
dass so ganz anders ist als jene Veranstaltungen,
in denen wir übereinander zu Gericht sitzen und einander verurteilen,
als hätten wir das letzte Wort zu sprechen.92
Wenn der an unserer Stelle Gerichtete als unser Anwalt
und Richter kommt, dann, so hoffen wir, DU treuer Gott,
wird er auch DICH zum Freispruch bewegen.
Lies alle DEINE Geschöpfe aus dem Lebensbuche frei93,
90
Vgl. das Gottesknechtslied in Jesaja 42,1–7 und Matthäus 12,15–21.
Frei nach Bertolt Brecht, Die Maske des Bösen (GW 10/Gedichte 3), Frankfurt a. M. 1967: «Die
Maske des Bösen // An meiner Wand hängt ein japanisches Holzwerk / Maske eines bösen Dämons,
bemalt mit Goldlack. / Mitfühlend sehe ich / Die geschwollenen Stirnadern, andeutend, / Wie anstrengend es ist, böse zu sein.»
92
Siehe 2Korinther 4,1–5; dazu: Magdalene L. Frettlöh, Dem Menschenlob Gottes entgegengehen:
1Kor 4,1–5 – 3. Sonntag im Advent (13.12.2009), in: GPM 64/1 (2009/10), 17–23.
91
und wir wollen DICH loben und DEINEN Namen segnen –
heute und allezeit. Amen.
93
«… und lies mich aus dem Buche frei» (EG 149,6). Das Lied «Es ist gewisslich an der Zeit» steht
nicht im RG.

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