Hier spricht Edgar WallacE

Transcription

Hier spricht Edgar WallacE
Felix Huby
Hier spricht Edgar Wallace
Der Fall Themsedock
Hier spricht Edgar Wallace
Der Fall Themsedock
Der Fall Nightelmoore
Der Fall Blackburn
Der Fall Beverly Green
Der Fall Software
Der Fall Queens Dance
Der Fall Three Oaks
Der Fall Morehead
Felix Huby
Hier spricht Edgar Wallace
Der Fall Themsedock
Impressum:
Graphiti-Verlag
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Dieffenbachstraße 78
D – 10967 Berlin
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Alle Rechte vorbehalten.
Nachdruck, auch auszugsweise, nicht gestattet.
© Graphiti-Verlag, Berlin 2014
1. Auflage
Redaktionelle Leitung: Michael Beautemps
Umschlaggestaltung: Lucy Wiesenfeld
Satz, Herstellung & E-Book-Konvertierung: Ute Spebam
ISBN (print): 978-3-945383-07-0
ISBN (mobi): 978-3-945383-09-4
ISBN (epub): 978-3-945383-08-7
Printed in Germany
Inhalt
Die Personen
7
Der große Unbekannte
9
Überfall auf Miss Sothebee
22
Besuch in der Nacht
37
Verfolgung im Nebel
48
Im Hausboot gefangen
63
Ein unvermuteter Verdacht
77
Entführt und verschleppt
98
Ausbruch in der Nacht
114
Der Autor
122
Die Personen
Arthur Hicksted
genannt Old Arthur, Leiter des
Edgar-Wallace-Archivs in London.
William Hicksted genannt Billy the Kid, ein Neffe
Old Arthurs mit einem ausgeprägten Hang zur Kriminalistik.
Robert Rowly
genannt Bob the Rubber, der
beste Freund von Billy the Kid,
Sportsmann und Draufgänger.
Denise Rowly Bobs Schwester – schön und
schnippisch und ein wenig in
Billy verliebt.
Thimothy Hicksted Billys Vater und Old Arthurs
Bruder, ein biederer Bankbeamter.
Horatio McIntire Journalist mit guten Verbindungen und ungewöhnlichen Methoden.
Chiefinspector Holloway klein, pfiffig und erfahren.
Mrs. Rowly
Denises und Bobs Mutter, eine
Frau mit viel Verständnis für
Kinder.
7
Miss Sothebee
Old Arthurs Sekretärin, sie kennt
Edgar Wallace in- und auswendig und liebt ihren Chef.
Larry Holmes
kleiner Gauner, der sich mit dem
„großen Unbekannten“ anlegt.
Der Mann mit der Mütze ständiger Begleiter des „großen
Unbekannten“.
Der „große Unbekannte“ ebenbürtiger Gegner von Chiefinspector Holloway und gefährlich wie eine Klapperschlange.
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Der große Unbekannte
Larry Holmes ging langsam die schmale Straße zum Pad-
dington Circus hinunter. Es war ein typischer Londoner
Herbstabend. Der Wind peitschte Regen und bunte Blätter
über das Pflaster.
„Nicht einmal einen Hund würde man bei diesem Wetter
auf die Straße jagen“, brummte der einsame Mann. Dennoch schritt Larry Holmes so gemächlich aus, als ob er im
Sommer über eine Strandpromenade spazierte. Jetzt blieb er
sogar stehen, zog eine altmodische Taschenuhr heraus, ließ
den Deckel aufspringen und warf einen Blick auf das Zifferblatt. Es fehlten noch drei Minuten bis zur vollen Stunde.
Um acht Uhr war er mit dem „großen Unbekannten“ verabredet. Alles, was er über ihn wusste, war, dass er gefährlich
war wie eine Klapperschlange – und pünktlich. Jeder, der
irgendwann einmal mit dem „großen Unbekannten“ zu tun
gehabt hatte, konnte bestätigen, dass er stets auf die Minute
genau zur verabredeten Zeit erschien.
Larry Holmes hatte in einem Pub auf den Anruf gewartet. Tom, der Mann hinter dem Tresen, hatte das Gespräch
entgegengenommen und den Hörer an Larry weitergereicht.
Der „große Unbekannte“ rief immer nur den Mann hinter
dem Tresen an. Niemand wusste, von wo aus. Dafür, dass
Tom die weitere Verbindung herstellte, kassierte er monatlich einhundertzwanzig Pfund – und natürlich auch dafür,
dass er absolut dicht hielt.
Der eisige Wind drang durch Mantel und Anzug bis auf
die Haut. Larry griff schon wieder nach seiner Taschenuhr.
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Er war nervös. Einen Moment lang überlegte er sich, ob er
nicht einfach umkehren und nach Hause laufen sollte. Larry
Holmes konnte nicht einschätzen, worauf er sich eingelassen
hatte.
Aber da wurde er schon all dieser Überlegungen enthoben.
Ein dunkler Bentley glitt neben ihm dicht an den Bordstein
heran. Im gleichen Augenblick schlug die Turmuhr von Big
Ben die achte Stunde.
Larry Holmes ging einen Schritt auf die Limousine zu.
Das rechte hintere Fenster glitt mit einem kaum hörbaren
Surren in die Türverkleidung.
„Mister Holmes?“ Die Stimme klang tief und kehlig.
„Ja?“ Larry versuchte, das Gesicht zu erkennen, aber der
Mann im Fond des Bentley blieb geschickt im Schatten.
„Nun?“, fragte er herrisch.
„Ein gutes Geschäft“, sagte Larry Holmes hastig – zu hastig, wie ihm sofort klar war. Dabei hatte er sich vorgenommen, ruhig und überlegen zu sprechen.
Der Mann im Wagen lachte leise. „Das werden wir ja
sehen.“
Larry Holmes griff in die Innentasche seiner Anzugjacke
und zog ein Kuvert heraus. Mit klammen Fingern entnahm
er ihm einen Geldschein und reichte ihn durch das Fenster.
Dabei versuchte er erneut, einen Blick auf den Mann zu erhaschen, aber er sah nur eine dunkle Silhouette. „Ich werde
das prüfen“, sagte die Stimme aus dem Wageninneren. Im
gleichen Augenblick glitt der schwere Wagen davon.
Larry Holmes blieb ratlos zurück. Dann machte er kehrt
und stapfte in die Richtung davon, aus der er gekommen
war. Tief in Gedanken ging er an der grauen Häuserzeile
entlang.
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Wäre er aufmerksamer gewesen, hätte er wohl die Schuhe
gesehen. Das Licht der Straßenlampe fiel schräg in einen
Hauseingang und beschien gerade noch den vorderen Teil
der obersten Treppenstufe vor der Tür. Und auf der Stufe
wurden ein Paar ziemlich altmodischer Schuhe und ein
Stück der darüber gestülpten Gamaschen sichtbar.
Kaum hatte Larry Holmes die Stelle passiert, da bewegten
sich die Schuhe. Der Schatten eines mittelgroßen, schlanken
Mannes löste sich aus dem Hauseingang und folgte Larry
Holmes.
Larry Holmes betrat einen Pub. Der Wirt, der hinter dem
Tresen Bier zapfte, sah kurz auf und richtete dann seine
ganze Aufmerksamkeit wieder auf die Biergläser. Der Mann,
der Larry Holmes gefolgt war, erschien nun ebenfalls in
der Tür. Er zögerte einen Moment und trat an den Tresen.
Die Luft in dem niedrigen Raum war warm und roch nach
Rauch und Bier.
Arthur Hicksted kam sich hier fremd und deplatziert vor.
Wenn er schon mal ein Bier trank, dann in seinem Club
nahe dem Picadilly Circus. Obwohl ihm die heimelige
Wärme in dem Schankraum guttat, fühlte er sich unbehaglich. Aber dann wandte er seine Aufmerksamkeit Larry
Holmes und dem Mann hinter dem Tresen zu.
Arthur Hicksted hatte eine Aufgabe übernommen, und
niemand hätte ihn davon abgebracht; zumal der Auftrag
von seinem eigenen Bruder kam. Arthur Hicksted musste
lächeln, als er an das Gespräch zurückdachte:
„Wir wissen uns nicht mehr zu helfen“, hatte sein Bruder
Timothy gesagt, „täglich wird mehr Falschgeld in Umlauf
gebracht – ausgezeichnete Arbeit übrigens – Scheine, die
nur ein Fachmann von richtigem Geld unterscheiden kann.“
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„Und wie soll ich euch helfen? Ihr seid eine große Bank mit
allen Möglichkeiten, ich bin nur ein kleiner Archivar.“ „Jetzt
übertreibst du aber, Old Arthur“, hatte Timothy gerufen. „Du
bist immerhin der Leiter des Edgar Wallace-Archivs, und du
hast als Kriminalist doch schon manchen Fall gelöst.“
Old Arthur – wie seine Freunde Arthur Hicksted nannten – hatte seinen Bruder nur ungläubig angestarrt. Bisher
war seine ganze Familie über seine „Detektivspiele“ nur ungehalten gewesen – mit Ausnahme seines Neffen William,
der immer begeistert dabei war, wenn es um einen neuen
spannenden Fall ging.
Old Arthur riss sich aus seinen Gedanken. Larry Holmes
lehnte sich jetzt weit über den Tresen und redete auf den
Wirt ein.
„Ich kann es nicht leiden, Tom“, sagte Larry Holmes zu
dem Mann hinter dem Tresen, „wenn ich so in der Luft
hänge.“
Arthur Hicksted rückte näher heran und bestellte ein Bier.
Larry und Tom warfen ihm einen misstrauischen Blick zu.
Aber Arthur Hicksted, der einen altmodischen Anzug mit
Weste trug und ein noch altmodischeres Monokel ins rechte
Auge geklemmt hatte, wirkte harmlos auf sie.
Während der Mann hinter dem Tresen das Bier für Old
Arthur zapfte, sagte er zu Larry Holmes: „Es bleibt dir gar
nichts anderes übrig, als zu warten!“
„Ich hab aber keine Zeit!“
Tom schob das schäumende Bier über den Tresen.
„Wenn du dich mit ihm einlässt, musst du seine Spielregeln
anerkennen – sonst such dir ’nen anderen Partner.“
„Kalt heute, nicht?“, fragte Old Arthur unvermittelt und
rieb die feingliedrigen Hände.
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Tom nickte zustimmend und musterte den neuen Gast
genauer. „Kenne ich Sie nicht irgendwoher?“
„Das kann ich mir nicht vorstellen!“, sagte Old Arthur.
Tom zögerte. „Nicht von hier, das meine ich nicht – aber
irgendwie kommt mir Ihr Gesicht bekannt vor.“
Arthur Hicksted lachte gezwungen. „Das ist wirklich
nicht möglich.“
Tom überlehte. „Aus der Zeitung vielleicht?“
Nun sah auch Larry Holmes Old Arthur aufmerksamer
an.
Tatsächlich war vor ein paar Tagen ein Bild von Arthur
Hicksted in der „Times“ gewesen. Er hatte wesentlich dazu
beigetragen, das Geheimnis von Schloss Nightelmoore
aufzuklären. Sein Freund Horatio McIntire, ein bekannter
Reporter, hatte ausführlich darüber berichtet und auch ein
Foto von ihm veröffentlicht.
„Wie sollte ich wohl in die Zeitung kommen?“, sagte Arthur Hicksted schnell. „Ich bin nur ein unbedeutender Archivar …“ Weiter kam er nicht. Larry Holmes schlug mit
der flachen Hand auf den Tresen, dass die Biergläser hüpften. Im gleichen Moment wusste Old Arthur, dass er seinen
Beruf nicht hätte ins Spiel bringen dürfen.
„Archivar!“, sagte Larry Holmes. „Sie sind doch dieser
Bücherwurm, der da mit Edgar Wallace und so …“
Arthur Hicksted sah ihn streng an: „Was ist denn das für
ein Satz, Mann!“
„Ah, jetzt klingelt’s auch bei mir“, rief Tom. „Sie sind so’n
Kriminaler, der mit seinen kleinen grauen Zellen hier oben
arbeitet“, er klopfte mit dem Fingerknöchel gegen seine
Stirn.
„Das ist ein gewaltiger Irrtum, meine Herrn!“ Arthur
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Hicksted wurde es immer unbehaglicher zumute. „Ich
ordne, katalogisiere und hüte den Nachlass des großen Kriminalschriftstellers Edgar Wallace, weiter nichts.“
Aber Tom blieb hartnäckig: „Es stimmt doch, dass Sie
auf Schloss Nightelmoore den Familienschatz ausgegraben
haben …“
„Oh, nein!“ Old Arthur nahm einen kräftigen Schluck.
„Ich war nur zufällig da, als …“
Das Telefon hinter dem Tresen klingelte und enthob Old
Arthur damit weiterer Erklärungen.
Tom hob ab und meldete sich mit „Hallo!“. Er hörte eine
Weile zu. Seine Augen wanderten zu Larry Holmes, der
unter den Blicken Toms sichtlich nervös wurde.
„Ja, bestelle ich ihm“, sagte Tom schließlich, und dann: „Übrigens, Sir, wir haben hier einen ziemlich ungewöhnlichen Gast.
Den Leiter des Wallace-Archivs … richtig, Hicksted heißt
er  … jetzt fällt’s mir auch wieder ein … Er kam kurz nachdem
Larry … ja, verstehe … alles verstanden Sir!“ Tom legte auf.
„Nun?“, fragte Larry.
„Nichts – es war ein Anruf für mich!“
„Aber das war doch sicher …“, Larry unterbrach sich und
fuhr mit dem Kopf herum. Old Arthur stopfte teilnahmslos
seine Pfeife.
„Sind Sie etwa hinter mir her?“, stieß Larry Holmes hervor. „Meinen Sie mich?“ Old Arthur sah seinem Nachbarn
verständnislos in die Augen.
„Natürlich Sie!“
„Ich bin hier, um ein Bier zu trinken und um mich ein
wenig aufzuwärmen.“
Tom schmunzelte. „Noch eines, Sir?“
„Ja, gerne“, antwortete Arthur Hicksted.
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Larry warf ein paar Münzen auf den Tresen und ging
hinaus.
„Den haben Sie ganz schön nervös gemacht“, sagte Tom.
„Aber warum denn nur?“ Od Arthur lächelte harmlos.
„Mir machen Sie nichts vor“, sagte der Mann hinter dem
Tresen.
Old Arthur blies vorsichtig ein wenig Schaum von seinem
Bier und trank dann in kleinen Schlucken.
Eine Viertelstunde später verließ Hicksted das Lokal. Der
Wind war noch stärker und eisiger geworden. Old Arthur
schlug den Mantelkragen hoch und sah sich nach einem
Taxi um. Aber er war in einer gottverlassenen Gegend, nicht
weit von den Docks am Flussufer. Hier wohnten nur Leute
mit wenig Geld. Und die Stadt schien in diesem Viertel
gewaltig Strom zu sparen. Die wenigen Lampen, die im steifen Wind knarrend an ihren Verspanndrähten schaukelten,
spendeten nur ein müdes Licht.
Arthur Hicksted musste einsehen, dass hier wohl kaum
ein Taxi vorbeikommen würde. Also marschierte er leise
murrend los. Die engen Gassen wirkten wie ausgestorben.
An solchen Abenden ging nur auf die Straße, wer unbedingt
musste. Eine Katze huschte vor ihm davon und kletterte
über einen brüchigen Bretterzaun.
Arthur Hicksted ging rasch. Den Kopf streckte er weit
vor, die Hände hatte er tief in den Manteltaschen vergraben. Wenn sein Bruder wüsste, welche Strapazen er auf sich
nahm …! Nicht nur falsches Geld, sondern auch hervorragend gefälschte Wertpapiere waren im Umlauf. Scotland
Yard musste hilflos zuschauen, denn die Täter operierten
außerordentlich geschickt. Die Fäden zog offensichtlich ein
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besonders tüchtiger Mann, den man in der Unterwelt, wie
auch bei der Polizei, den „großen Unbekannten“ nannte.
Old Arthur hatte sich sehr geschmeichelt gefühlt, als sein
Bruder ihn um Hilfe bat. Aber er hatte sich auch geärgert,
weil Timothy ihm gleich Verhaltensmaßregeln erteilte: „Lass
aber bitte die Kinder aus dem Spiel. Billy muss sich um die
Schule kümmern, und für Bob und Denise gilt dasselbe.
Du hast sie schon viel zu oft in deine Abenteuer mit hineingezogen!“
Was Timothy, der brave Bankbeamte, so Abenteuer
nannte! Arthur Hicksted durchschritt eine finstere Gasse.
Weit voraus sah er ein helles Feld. Wie ein Fenster wirkte der
Blick auf einen besser beleuchteten Platz am Ende der Gasse.
Old Arthur hörte ein Motorengeräusch. Sollte er wirklich
so viel Glück haben und hier doch noch ein Taxi bekommen? Die Scheinwerfer erfassten die ärmlichen Häuserfronten links und rechts. Hicksted drehte sich um. Es war kein
Taxi. Der Wagen füllte die schmale Gasse fast aus. Old
Arthur trat auf den schmalen Gehsteig, um das Fahrzeug
vorbeizulassen. Er hielt sich so weit wie möglich von der
Fahrbahn entfernt. Regen hatte zu riesigen Pfützen geführt,
und Arthur Hicksted fürchtete, das von den Reifen aufspritzende Wasser könnte seine Hosenbeine beschmutzen. Der
Fahrer aber schien ein höflicher Mann zu sein. Er verlangsamte das Tempo und wich zur anderen Seite aus so weit
es ging. Dann aber beschleunigte erkurz, fuhr plötzlich auf
Old Arthur zu und stoppte dann hart.
Old Arthur war zwischen Auto und Hauswand eingeklemmt.
Die Fensterscheibe surrte herunter.
„Mister Hicksted?“, fragte eine Stimme von innen.
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„Ja?“, sagte Old Arthur überrascht.
„Ich würde Sie gerne ein Stück mitnehmen, aber ich muss
leider verhindern, dass Sie mich zu Gesicht bekommen.“
„Und um mir das zu sagen, halten Sie hier an?“, fragte Old
Arthur ungnädig.
Der Mann im Fond lachte. „Nein, nicht nur deshalb,
ich wollte Ihnen auch sagen, dass Sie sich ganz unnötig in
Gefahr begeben, wenn Sie versuchen sollten, sich in meine
Angelegenheiten zu mischen.“
Old Arthur wurde noch ärgerlicher: „Dazu kann ich
nichts sagen, weil ich Sie nicht kenne, und Sie scheinen ja
unhöflich genug zu sein, sich nicht vorzustellen.“
Wieder lachte der Mann. Er gab seinem Fahrer ein Zeichen, indem er auf die Lehne des Beifahrersitzes klopfte.
Der Wagen fuhr los. Old Arthur hatte für einen Augenblick die Hand des Mannes im Fond gesehen. Er trug weiße
Handschuhe und über dem Handschuh seltsamerweise einen schweren Siegelring am Ringfinger.
„Flegel!“, knurrte Old Arthur und stapfte wieder los.
Die Limousine war jetzt etwa dreißig Meter vor ihm.
Plötzlich blendeten die Scheinwerfer auf. Old Arthur sah
den Schattenriss eines Mannes, der wie ein Hase hakenschlagend die Gasse hinunterrannte. Das Automobil schien
regelrecht Jagd auf ihn zu machen. Jetzt war es ganz dicht
heran. Der Gejagte machte einen mächtigen Satz nach
rechts, wurde aber von dem Kotflügel des Wagens noch
erwischt und schlug schwer auf dem Pflaster auf.
Arthur Hicksted begann zu rennen. Das Auto verschwand
in dem Lichtfeld am Ende der Gasse.
Als Old Arthur den Mann erreichte, hatte der sich bereits
auf die Knie aufgerichtet. Old Arthur half ihm vollends auf
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die Beine. Im fahlen Laternenlicht erkannte er das Gesicht
von Larry Holmes.
„Kommen Sie, ich helfe Ihnen“, sagte Arthur Hicksted.
„Hau ab!“, knurrte Larry.
„Noch duzen wir uns nicht“, antwortete Hicksted streng.
„Sie kommen allein nicht weiter, Sie können ja kaum stehen.“ Er fasste Larry Holmes um die Hüfte und legte den
linken Arm des Verletzten um seine Schulter.
Ziemlich mühsam schleppte sich das ungleiche Paar bis zu
dem Platz am Ende der Gasse. Hier herrschte wieder dichter
Autoverkehr.
„Wo kann ich Sie hinbringen?“, fragte Arthur Hicksted.
„Ich nehm ein Taxi“, brummte Larry Holmes unwillig und
winkte auch schon einem langsam vorbeifahrenden Wagen.
Arthur Hicksted zog eine Visitenkarte aus dem Uhren­
täschchen seiner Westentasche. „Da“, sagte er, „wenn Sie
mal meine Hilfe brauchen können, rufen Sie mich bitte an.“
Larry schob die Karte achtlos in die Hosentasche. Old Arthur half ihm in den Wagen. Er wartete einen Augenblick,
in der Hoffnung, er könnte noch hören, welche Adresse
Larry Holmes dem Fahrer angab. Aber der schlug die Türe
zu. Das Taxi war gerade angefahren, als ein zweites über den
Platz gerollt kam. Old Arthur winkte es heran und stieg eilig
ein. Er steckte dem Fahrer eine zusammengerollte Banknote
zu: „Meinen Sie, Sie könnten Ihrem Kollegen dort vorne
unauffällig folgen?“
„Kein Problem“, sagte der Chauffeur und stipste mit dem
Zeigefinger gegen den Schirm seiner Mütze.
Larry Holmes’ Taxi fuhr in südlicher Richtung über die
Southwark-Bridge, und dann weiter durch die SouthwarkRoad bis zum Elephant-Place. Von dort nahm es die New
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Kent Road und bog dann in die Bechway-Street ein. Die
Häuser wurden hier schon niedriger. Wohngebäude wechselten mit kleinen Fabrikanwesen. Der Wagen verlangsamte
seine Fahrt auf der Höhe eines Ruinengrundstückes, auf
dem sich ein Schrotthändler eingerichtet hatte.
„Mich geht’s ja nichts an, Chef, aber wenn Sie wollen,
sagen Sie mir, warum wir dem hinterher fahren“, sagte Old
Arthurs Taxifahrer.
„Sie werden’s mir nicht glauben, aber ich weiß es selber
nicht so genau“, antwortete Arthur Hicksted. „Zunächst
einmal interessiert mich nur, wo der Mann da vorne hinfährt.“ Der Fahrer hob die Schultern, als ob er sagen wollte,
,mir kann’s ja egal sein‘.
Larry Holmes’ Wagen rollte aus. Der Taxifahrer stieg
aus und half seinem Fahrgast aus dem Auto. Hicksteds
Chauffeur hatte seine Lichter sofort abgestellt, als das andere Taxi an den Straßenrand gefahren war. Aber Larry
Holmes schien viel zu sehr damit beschäftigt, sich auf den
Beinen zu halten, um auch noch nach etwaigen Verfolgern
Ausschau zu halten.
Kaum war das erste Taxi abgefahren, da steckte Larry zwei
Finger in den Mund und pfiff.
Auf dem Ruinengrundstück flammte in einem alten Gebäude ein Licht auf. Jetzt rief der Verletzte etwas, was die
beiden Männer in dem geparkten Taxi nicht hören konnten.
Darauf erschien ein zweites Licht. Diesmal musste es eine
Taschenlampe sein, die sich näherte. Ein Mann kam über
die steile, mit Unkraut bewachsene Böschung herunter. Er
verharrte einen Augenblick – offensichtlich entsetzt über
den Anblick Larry Holmes’. Dann hakte er ihn unter und
führte ihn die Böschung hinauf.
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„Was jetzt?“, fragte Arthur Hicksteds Fahrer.
„Einen Moment noch“, Old Arthur beobachtete gespannt,
wie Larry Holmes und der andere Mann hinter der Böschung verschwanden.
„Warten Sie hier!“
„Aber die Uhr läuft weiter“, sagte der Fahrer.
Arthur Hicksted nickte. Er stieg aus und schritt langsam
die Straße hinunter. Als er die Stelle erreichte, wo Larry Holmes von seinem Helfer über die Böschung gebracht worden
war, stieg er hinauf.
Die Böschung war klitschig vom Regen. Nasse Blätter
schlugen gegen Old Arthurs Hosenbeine. Der Wind hatte
zwar etwas nachgelassen, aber dafür regnete es jetzt noch
stärker. Als Arthur Hicksted den Kamm der Böschung erreicht hatte, konnte er das Areal einigermaßen überblicken,
wenn auch die Autowracks und die verfallenen Gebäude nur
schemenhaft zu erkennen waren.
Vorsichtig stieg Arthur Hicksted auf der anderen Seite der
Böschung hinunter. Seine Augen hatten sich inzwischen
so gut an die Dunkelheit gewöhnt, dass er einen schmalen
Weg ausmachen konnte, der zwischen Schrott und Schutt
zum hinteren Teil des Grundstücks führte. Dort war in
dem höheren alten Gebäude noch immer das erleuchtete
Fenster zu erkennen. Aber gerade das wurde Old Arthur
zum Verhängnis. Er hatte seinen Blick fest auf das Licht
gerichtet und dabei die Hindernisse direkt vor seinen Füßen aus den Augen verloren. Prompt stolperte er über ein
herumliegendes Auspuffrohr, er strauchelte, versuchte sich
abzustützen, geriet dabei aber an einen lose aufgestapelten
Berg ausrangierter Kotflügel, Kühlerhauben und Blechstücke. Der Schrotthaufen fiel krachend in sich zusammen. Bei
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dem Haus im Hintergrund schlug ein Hund an. Eine Tür
wurde aufgerissen. Hoch über dem Platz erstrahlte plötzlich ein heller Flutlicht-Scheinwerfer, der das ganze Areal in
gleißendes Licht tauchte. Old Arthur richtete sich auf und
versuchte, etwas zu erkennen. Aber das Licht blendete ihn.
Dann hörte er das scharrende Geräusch von Hundepfoten.
Das Flutlicht wurde wieder ausgeschaltet. Und nun war gar
nichts mehr zu erkennen. Der Hund musste jetzt da sein.
Leises Knurren und unterdrücktes Gebell. Old Arthur zitterte. Woher kam die Gefahr?
Er hatte keine Chance mehr, dies festzustellen. Ein gewaltiger Schlag auf den Hinterkopf streckte ihn nieder. Arthur
Hicksted verlor das Bewusstsein.
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