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Feuilleton Seite 28 DIE WELT Auf der berühmten Karte aus Madaba ist der Prachtboulevard noch deutlich zu sehen, obwohl er damals wohl nur noch Erinnerung war. Denn das Mosaik aus der St.-Georgs-Kirche in Madaba, das heute in Jordanien liegt, wird auf 560 n. Chr. datiert – eine Zeit, in der von der Pracht der Straße kaum noch etwas zu sehen war. Jetzt lassen Notgrabungen am westlichen Rand des Vorplatzes der Klagemauer eine Vorstellung davon zu, wie die – neben dem kreuzenden Decumanus – Hauptachse der römischen Stadtanlage Jerusalems zu ihrer Blütezeit ausgesehen hat. Elf Meter breit war dieser „östliche Cardo“, der im zweiten Jahrhundert parallel zum Tempelberg errichtet wurde und vom Damaskustor Richtung Süden verlief. Seine flankierenden Bürgersteige maßen sechs Meter, monumentale Säulen und endlose Ladenlokale säumten sie. Bis heute folgen die Basargassen der Altstadt ihrem Verlauf. Denn der heutige Stadtplan der historischen Altstadt Jerusalems wurde um 130 unter Kaiser Hadrian festgelegt, gut 70 Jahre nach der Zerstörung der Stadt im großen jüdischen Aufstand gegen die Römerherrschaft. Der Bau eines Versammlungszentrums für Familienfeiern an der Klagemauer habe die Grabungen nötig gemacht, sagte der verantwortliche Rabbiner Schmuel Rabinowitch bei einem Ortstermin mit Staatspräsident Mosche Katzav. Der Ober-Archäologe für die Region Jerusalem, Jon Seligman, verwies auch auf den frisch freigelegten zehn Meter hohen Steilhang zum Tyropoeon-Tal, der den Tempelberg von der antiken Oberstadt trennt. Dort lebten in der Zeit des Herodes und Jesus die reichen Bewohner der Stadt. Vielleicht war es dieser Steilhang, der es den Verteidigern im Jahr 70 ermöglichte, sich nach der Zerstörung des Tempels noch vier Monate in der Oberstadt zu halten. In der christlichen Spätantike gab es dann offenbar keinen Bedarf mehr für die Prachtstraße. Langsam wurde sie zugebaut, bis nur noch eine enge Gasse übrig blieb. bas TREIBGUT KUNST Warhols Käfer FOTO: CHRISTIE’S Autonarren gibt es viele unter den großen Künstlern und Geistern. Und obwohl Andy Warhol Fahrzeuge von BMW oder Mercedes Benz bemalte, porträtierte er auch gern mal einen simplen VW-Käfer. Das Auktionshaus Christie’s versteigert seinen „Beetle“ am 5. April in South Kensington, am 20. und 21. Januar kann das Bild bei Christie’s in Berlin besichtigt werden. Von 1969 bis 1985 bildete Warhol den Käfer mehrmals ab, manchmal einzeln, oft auch in mehrteiligen Arbeiten. Ein 15-teiliges Bild hängt im Westfälischen Landesmuseum. Pop Art hin oder her: Beim Thema Auto ist Warhols Liebe zum Understatement in der Motiv-Wahl Andy Warhols „VW Beetle“ aus dem Jahr 1977 besonders ungewöhnlich. Denn Nobelkarossen sind gerade in Künstler- und Denkerkreisen Statussymbole zum Ausdruck eines Lebensgefühls. Dada-Meister Francis Picabia, nach den Inhalten seines Lebens gefragt, antwortete spontan: „Drei Dinge: Autos, Frauen, die Kunst.“ Und meinte damit schnelle Sportwagen. Der Futurismus zog das Auto den Frauen noch vor. Im Gründungsmanifest von 1909 heißt es: „Ein aufheulendes Auto, das auf Kartäschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.“ Tamara de Lempicka, selbst von beeindruckender Schönheit, porträtierte sich Mitte der Zwanziger als emanzipierte Dame von Welt am Steuer ihres flaschengrünen Bugatti. James Dean wurde seine Leidenschaft zum Verhängnis: Bekanntlich starb er bei einem Unfall mit seinem Porsche. Janis Joplin sang innig: „Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes Benz? My friends all drive Porsches, I must make amends.“ Und selbst der französische Soziologe und Schöngeist Michel Foucault brauste am liebsten in einem weißen Jaguar durch die schwedische Landschaft. Der Schätzwert des Gemäldes von Warhol liegt übrigens bei 300 000 bis 400 000 Euro. Der Käfer also als Ausdruck eines Lebensgefühls, das mag man verstehen. Doch ob Warhol in einem Beetle beim Studio 54 vorgefahren wäre? Johanna Schmeller OBERFLÄCHEN Antiker Akt Dass H&M-Plakatwerbung mit Anna Nicole Smith in Dessous Autofahrer irritieren könnte, war noch nachvollziehbar. Doch Unfälle aufgrund antiker Kurven? Das sah wohl auch der Landesbetrieb Straßenbau NRW letztendlich ein: Die anfänglich umstrittenen Plakate für eine Ausstellung über die Geschichte der Sexualität wurden nun doch genehmigt. Mit einer „anzüglichen“ Fotografie wirbt das NeanderthalMuseums in Mettmann für die Schau „100 000 Jahre Sex“ geworben. Auf den Werbebannern ist eine 2500 Jahre alte griechische Vase abgebildet, die ein nacktes Paar beim Liebesakt zeigt. Die bei anderen Motiven“, begründete ein Sprecher des Landesbetriebs in Gelsenkirchen die zunächst ablehnende Position der zuständigen Dienststelle. Jedoch: „Wahrscheinlich waren unsere Kollegen ein bisschen übervorsichtig.“ Denn, so heißt es weiter, „Verkehrssicherheit bleibt eben bei allen Überlegungen das höchste Gut.“ Und daher werde die Erlaubnis zur Straßenwerbung in Deutschland eben generell „besonders eng“ ausgelegt. Im Museum stößt eine derartig „enge Auslegung“ auf Unverständnis. Bärbel Auffermann, stellvertretende Museumschefin im Neandertal, kann die Aufregung über die Abbildung der attischen Vase aus dem Besitz des Berliner Antikenmuseums nicht nachvollziehen: Das Paar sei Verkehrsgefährdend? Das umstrittene Plakat FOTO: DPA auf dem Werbebanner „noch Plakate sollen an Straßenbrücken nicht einmal besonders groß“ zu in der Umgebung des Museums sehen, und „Werbung mit nackten aufgehängt werden. Zunächst hat- Tatsachen“ sei in Deutschland te der Landesbetrieb Straßenbau auch nicht gerade neu. Was ebenso NRW befürchtet, dass es dadurch wenig falsch ist wie der Umstand, vermehrt zu Verkehrsunfällen dass es sich bei dem rotfigurigen kommen könnte. Die Autofahrer Vasenbild um ein Kunstwerk aus könnten sich von der Eindeutigkeit der klassischen Epoche Griechender Darstellung ablenken lassen. lands handelt. DW Doch am Ende wurde die Opposition gegen die Plakate aufgegeben. „100 000 Jahre Sex - Über Liebe, „Aus unserer Sicht ist die Ge- Fruchtbarkeit und Wollust“; vom fahr, dass Autofahrer von diesem 2. Februar bis 20. Mai im NeanderMotiv abgelenkt werden, größer als thal-Museum Mettmann .............................................................................................................................................. Der Bestsellerautor literarisiert unsere Debatten. Auch in seinem neuen Gen-Thriller „Next“ Ungleiche Brüder: Ian McEwans Familiengeheimnis V ON WIELAND FREUND .............................................................................. V ON HENDRIK WERNER .............................................................................. Die kinderzimmerfüllenden Hartplastik-Dinos, die gerade durch die Auslagen der Spielwarenhändler stampfen, haben wir letztlich ihm zu verdanken. Und wäre George Clooney auch ohne sein Zutun ein Star? Wie man es dreht und wendet – Michael Crichton wirkt prägend. Mit „Emergency Room“ hat er eine der Fernsehserien schlechthin geschrieben, und mit „Jurassic Park“ hat er vollbracht, was zuvor nur einer 13-Jährigen aus Lyme Regis gelang. Mary Anning fand 1812 das erste Skelett eines Ichtyosaurus – wie sie löste Crichton eine Dinomanie aus. Im Herbst wird Crichton nun 65, mehr als 100 Millionen Bücher hat er verkauft. Dabei quält sich der Mann beim Schreiben. Merklich. Eine ästhetisch orientierte Kritik jedenfalls wird auch an Crichtons neuem Roman, dem Genttechnik-Thriller „Next“, der heute erscheint, kein Gefallen finden. Wie immer sind Crichtons Sätze auf furchtbar kurzen Beinen unterwegs, wie stets lassen sich seine vielen Figuren allenfalls über ihre Allerweltsnamen unterscheiden. Doch was soll’s? Frank Burnet, Rick Diehl und Henry Kendall sind Chrichton letztlich so schnuppe wie Bildsprache und Plot. Und was will man von einem Autor auch erwarten, der, erscheint er zur „Lesung“, aus seinen Büchern nicht einmal vorträgt? Crichton, der Doktor der Medizin, bevorzugt die quasi-wissenschaftliche Diashow, so als sei das Buch selbst nun wirklich Kinderkram. Und je älter Crichton wird, desto rabiater geht er zur Sache. Zuletzt vollbrachte er gar das Kunststück, einen Thriller mit der Botschaft ‚Nur keine Sorge‘ zu schreiben. „Welt in Angst“, Crichtons Beitrag zur Klimakatastrophe, war schon literarisch ein Ding der Unmöglichkeit. Zwar hat jeder, sogar der öffentliche Autor, das Recht, seine Zweifel an einer vom Menschen verursachte Erderwärmung zu formulieren, nur ist der Thriller dafür die denkbar ungeeignetste Form. Jeder Thriller ist trivialisierter Kafka – ohne moderne Angst kann es ihn per Definition nicht geben. „Welt in Angst“ war natürlich trotzdem ein Welterfolg. Man kann jenen US-Schriftsteller verstehen, der neiderfüllt schimpfte, Crichton reite ja bloß noch seine Steckenpferde auf die Bestsellerlisten. Tatsächlich hat der Amerikaner Michael Crichton, seit er es aufgab, seine teuren Flitzer vor die Wand zu fahren, immer auch ein bisschen von einem distinguierten Englishman, der sich die Hände nicht schmutzig macht. Zweiflern begegnet er demgemäß mit steiler Braue und „stiff upper lipp“ und tut im Übrigen, was ihm gefällt. „Next“, der neue Roman, ist da ein wunderbares Beispiel. Im Laufe seiner 40-jährigen Karriere hat sich Crichton ein ums andere Mal neu erfunden, hat Science-Fiction geschrieben und den TechnoThriller geprägt und ist mittlerweile dazu übergegangen, die Stoffe der Wissensgesellschaft didaktisch zuzurichten. Schon lange Die folgende Geschichte um Verlust, Untreue und ein dunkles Familiengeheimnis klingt so, als sei sie der Fantasie des großen Fabulierers Ian McEwan entsprungen. Und doch ist sie kein fiktionaler Stoff des britischen Romanciers („Amsterdam“, „Abbitte“), sondern ein Kapitel seines Lebens, das dem 58-Jährigen vor fünf Jahren, der respektvoll erschütterten Öffentlichkeit erst jetzt enthüllt worden ist: Wie die Londoner „Times“ berichtet, hat der Schriftsteller einen Bruder namens David, von dessen Existenz er mehr als fünf Jahrzehnte nichts wusste. Die Wiedervereinigung kam zustande, nachdem es McEwans älterer Bruder David mittels eines Zeitungsinserats aus dem Jahre 1942 gelungen war, seine Herkunft zu rekonstruieren. Beider Mutter Rose hatte den erstgeborenen David zur Adoption freigegeben, als dieser einen Monat alt war. Zwar hatte David im Alter von 14 Jahren erfahren, dass er adoptiert worden sei, acht Jahre später zudem, man habe ihn „aus der Zeitung“. Aber erst nach dem Tod des Adoptivvaters fand David in dessen Nachlass eine Anzeige: „Gesucht, Heim für männliches Baby, Alter: ein Monat“. Weil David damals kurz vor seiner Hochzeit stand, habe er die mysteriöse Causa zunächst nicht weiter verfolgt, berichtet „The Times“. Erst im Alter von 60 Jahren habe er den Familiensuchdienst der Heilsarmee eingeschaltet. Doch als er endlich auf seine leibliche Mutter traf, konnte sie keine seiner Fragen beantworten – Alzheimer. Erst eine Tante mütterlicherseits enthüllte das Familiengeheimnis: Davids Existenz verdanke sich der außerehelichen Affäre, die Rose während des Zweiten Weltkriegs mit einem Offizier namens David McEwan eingegangen sei. Der Moralkodex habe es erfordert, sich des Kindes zu entledigen – darum die Freigabe Davids zur Adoption. Das derart entsorgte Kind hatte naturgemäß nichts mehr davon, dass Roses Ehemann, auch er Soldat, ihr vor seinem Tod (bei der Landung der Alliierten in der Normandie) noch zugestanden hatte, seinen Nebenbuhler zu heiraten. Sechs Jahre darauf kam Ian McEwan zur Welt, mehr als fünf Jahrzehnte später die kaum zu glaubende Wahrheit ans Licht. Ironischerweise verbrachten die Geschwister Teile ihrer Kindheit wenige Kilometer voneinander entfernt in Oxford. Ihre Lebensläufe sind freilich denkbar unterschiedlich: Während Ian nach akademischen Weihen Mitte der Siebziger zum gefeierten Schriftsteller avancierte, arbeitete David als Maurer. Dem Textmaurer Ian gilt die Familienzusammenführung als Entlastung. Bevor ihm die wahre Geschichte zugetragen wurde, dachte er, sein Vater habe seine Mutter tyrannisiert. Nun freue er sich über die „romantische Dimension“ ihrer Verbindung. Während der Schriftsteller den Fall als Privatsache behandelt wissen will, regen sich laut „Times“ in David literarische Instinkte. Er hoffe, mit Ian die spannende Geschichte zu dokumentieren, gab der verlorene Sohn zu Protokoll. Schaf „Dolly“ und seine Lämmer – es war das erste geklonte Säugetier. „Das Patentieren von Genen muss aufhören“, wettert FOTO: PA/DPA der amerikanische Schriftsteller Michael Crichton. Heute erscheint sein neues Buch in Deutschland gibt er seinen Romanen Bibliografien bei. Mittlerweile kommentiert er sie auch ausführlich und verfasst seine knackigen Nachworte mit deutlich mehr Schmackes als die zuweilen drögen Beispielgeschichten der Romane vorweg. Schon „Welt in Angst“ zerfiel in zwei Teile. Der eine enthielt die erforderliche Action in beinahe allen Teilen der Welt, der andere enthielt lange Dialoge über das Wesen der Klimahysterie an und für sich. Nicht anders „Next“, der Roman zur Veranschaulichung noch eines jeden Aspekts der Gentechnik-Debatte. Sage und schreibe 95 kurze Kapitel hat Crichton sich abgerungen, damit ihm nicht einer dieser Aspekte entgeht; einen exemplarischen Fall reiht er an den nächsten. Zum Beispiel Frank Burnett. Der hat seinen Knochenkrebs überlebt, jetzt prozessiert er um das Recht an seinen heroischen Zytokinen, die der Krankheit Einhalt geboten. Oder Rick Diehl. Der führt einen schmutzigen Scheidungskrieg und fordert von seiner Frau einen Gentest; hat sie die Erbkrankheit Chorea-Huntington im Blut, kommt sie fürs Sorgerecht nämlich nicht in Frage. Die problembewusste Liste ließe sich noch lange fortsetzen: ein junger Wissenschaftler patentiert ein obskures „Reifungsgen“, einer Tochter fehlt das Erbgut ihres Vaters, der womöglich ein im Mutterleib verschmolzener Zwilling war, ein Orang-Utan in Sumatras Dschungel spricht Holländisch – vielleicht ist er ja ein genetischer Hybrid. Dazu ein Mordfall, eine wilde Flucht und ein bisschen Satire und das Michael Crichton Geboren 1942 in Chicago, Studium in Harvard, Doktor der Medizin. Schon während des Studiums entstanden unter Pseudonym die ersten Romane. Viele seiner Bücher wurden verfilmt und zu weltweiten Kassenschlagern. Für manche schrieb er auch das Drehbuch („Jurassic Park“, „Rising Sun“, die Fernseh-Serie „Emergency Room“), manche produzierte er („Enthüllung“). Von seinen Büchern wurden weltweit mehr als 100 Millionen verkauft. FOTO: PA/PHOTOSHOT Jerusalems Boulevard Schafe schauen dich an alles in Crichtons vertrauter Führerscheinprüfungsprosa. Ja, ist das denn überhaupt ein Roman? Dem Kritiker könnte da glattweg Giovanni Trapatonis berühmter Wutausbruch in den Sinn kommen: Was erlauben sich Crichton? Doch Chuzpe, man kann es nicht anders sagen, Chuzpe hat dieser Crichton. Ungerührt reitet er sein Steckpferd ins Ziel, und am Ende, im alles entscheidenden Nachwort, tut er, der abgebrühte Aufklärer mit den Mitteln Hollywoods, wie stets seine felsenfeste Überzeugung kund. „Meine Recherchen für dieses Buch“, schreibt er, „brachten mich zu folgenden Überzeugungen: 1. Das Patentieren von Genen muss aufhören. 2. Wir brauchen klare Richtlinien für die Verwendung von menschlichem Gewebe. 3. Wir brauchen Gesetze für die Offenlegung von Gentestdaten.“ Vernünftige Ethik-Kommissionen oder das Gen-ethische Netzwerk Berlin klingen nicht anders. Deren Ergüsse allerdings haben nicht annähernd so viele Leser wie Michael Crichton. Michael Crichton: Next. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Blessing, München. 539 S., 22,95 Euro „Das Glockenspiel geht mir nach“ 1939 konnte Bertha Leverton aus München nach London fliehen. Heute spricht sie im Jüdischen Museum Berlin über die Kindertransporte V ON JOHANNA SCHMELLER .............................................................................. An Deutschland hat sie auch gute Erinnerungen: das Oktoberfest, das Schwimmen in der Isar, die Sonntagsausflüge mit ihren Eltern. Und vor allem die Oper. Schon mit 15 stellt sich Bertha Leverton frühmorgens an, um Karten zu ergattern. „Ich war in England nie wieder in der Oper seitdem, ich will nicht. Das war so schön damals. Bei ‚Aida‘ kamen richtige kleine Elefanten auf die Bühne, die waren vom Zirkus Krone ausgeborgt. Die Erinnerungen sind so stark und so genau – ich wäre so enttäuscht, wenn es dann nicht wieder genau so wäre.“ Seitdem, das heißt: Seit dem 4. Januar 1939, jenem Tag, an dem ihre Eltern sie zum Bahnhof bringen. Ihren kleineren Bruder hat Bertha an der einen Hand, einen kleinen Koffer in der anderen. Ein Beamter versiegelt am Bahnhof ihr Gepäck. „Die Nazis wussten von den Transporten, natürlich“, erinnert sich Bertha Leverton. „Am Anfang wollten die Deutschen die Juden einfach nur raus haben, denen hätt’s gar nichts ausgemacht, wenn alle Juden ausgewandert wären. Aber kein anderes Land hat sie ja reingelassen.“ Bis auf den Bahnsteig dürfen die Eltern nicht mit; sie verabschieden sich in der Bahnhofshalle. Die Eltern weinen nicht, auch Bertha und ihr Bruder nicht, nicht einmal ihre jüngere Schwester Inge, die zurückbleiben muss. Sie sind sicher, einander bald wiederzusehen: „Wir haben gedacht, Deutschland wird sich wieder ändern und wir können zurückkommen nach München. Das war ja eine schöne Stadt. Das Glockenspiel, das geht mir nach, die Feldherrenhalle, das Taubenfüttern im Englischen Garten.“ Doch die Familie wird nie zurückkehren. Bertha und ihr Bruder sind zwei von rund 10 000 Kindern, die zwischen 1938 und 1940 vor dem NSRegime gerettet werden. Aus Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei und Polen holt die britische Regierung Kinder nach London. Aber nicht mehr als zwei pro Familie – so lautet die Vorgabe. Offen wird darüber nicht gesprochen. Doch Inge hat die Information im Kindergarten aufgeschnappt und erzählt von einem Mädchen, die bald nach England reisen soll. „Meine Mutter dachte, sie fabuliert – doch mein Vater wurde hellhörig.“ Er spricht mit den Eltern von Inges Freundin, setzt durch, dass zwei seiner Kinder mitfahren dürfen. Und nur wenige Monate später bekommt er die Erlaubnis, auch seine jüngste Tochter nach England zu schicken. Die Eltern sind nicht reich. Der Vater betreibt ein kleines Leder+ warengeschäft; einen Rucksack hat Bertha Leverton heute noch. Als die Politik der Nazis immer judenfeindlicher wird, kauft niemand mehr in dem kleinen Betrieb. Die Eltern überlegen, wie sie die jüdischen Nachbarn als Kundschaft gewinnen können, und eröffnen eine Wäscherei: „Als Kind nimmt man das hin – das war ja unsere Normalität“, erzählt die heute 84Jährige. Sorgen macht Bertha sich erst, als sie schon längst bei einer englischen Familie lebt. Zweimal in der Woche bekommt sie Post von ihren Eltern – mindestens. Für den Untermieter ihrer Gastfamilie stopft sie Socken, um Geld für Briefmarken zu verdienen. Doch plötzlich schreibt ihr Vater nur noch wenige Zeilen. „Irgendwann ist mir aufgefallen, dass der Papa FOTO: SHAMROCK/KESTEN FUNDSTÜCKE Donnerstag, 18. Januar 2007 nur noch Grüße an Muttis Briefe angefügt hat, Küsse, Euer liebender Papa. Einmal, zweimal, dreimal ist das nicht so schlimm. Dann aber geht es wochenlang so. Da bekam ich Angst, große Angst. Aber ich konnte ja nicht nachfragen, weil der Krieg anfing.“ Viel später erfährt Bertha, dass ihr Vater zu dieser Zeit in einem Arbeitslager war; die Grüße unter die Briefbögen hat er vorgeschrieben. Als er aus dem Lager entlassen wird, entscheidet seine Frau, dass sie flüchten müssen. Drei Tage nach ihrem 21. Geburtstag erreicht Bertha ein Telegramm: Ihren Eltern ist die Flucht aus Deutschland gelungen. Ein Schleuser hat die beiden nahe Graz durch Wälder in die Schweiz gebracht. Ein paar Wochen später ist die Familie vereint. „Wir zogen Bertha Leverton am Berliner Ostbahnhof, dem Ort, von dem aus einige Kindertransporte nach England abgingen in eine sehr einfache kleine Wohnung in Birmingham, aber ich war so froh. Im Buckingham Palace wäre ich nicht so glücklich gewesen wie in dieser Wohnung, zusammen mit meinen Eltern nach fünf Jahren Trennung.“ Die Familie bekommt häufig Besuch: „Zwei Flüchtlinge kommen über ein neutrales Land nach England – das hat Aufsehen erregt.“ Die jüdischen Nachbarn packen mit an: „Der eine hat ein Bett gegeben, der andere einen Tisch und einen Stuhl. Irgendwann haben meine Eltern dann von der britischen Regierung Bezugsmarken bekommen, um Betten zu kaufen, weil wir nicht genug hatten.“ Heute hat Bertha Leverton selbst zwei Töchter, zehn Enkelkinder, 13 Urenkel. Und weil sie selbst Kinder hat, bewundert sie den Mut ihrer Eltern: „Ich hab mich nie weggegeben gefühlt. Meine Eltern hätten es sich nicht verziehen, so eine Gelegenheit gehabt zu haben und sie dann nicht zu nützen.“ Vor Levertons Vortrag im Jüdischen Museum Berlin wird der preisgekrönte Dokumentarfilm „Kindertransport – In eine fremde Welt“ gezeigt. Die Veranstaltung ist Teil des Begleitprogramms zur Sonderausstellung „Heimat und Exil. Emigration der deutschen Juden nach 1933“ (bis 9. April).