lesen pdf - Johanna Schmeller

Transcription

lesen pdf - Johanna Schmeller
Feuilleton
Seite 28 DIE WELT
Auf der berühmten Karte aus Madaba ist der Prachtboulevard
noch deutlich zu sehen, obwohl er
damals wohl nur noch Erinnerung war. Denn das Mosaik aus
der St.-Georgs-Kirche in Madaba, das heute in Jordanien liegt,
wird auf 560 n. Chr. datiert – eine
Zeit, in der von der Pracht der
Straße kaum noch etwas zu sehen
war. Jetzt lassen Notgrabungen
am westlichen Rand des Vorplatzes der Klagemauer eine Vorstellung davon zu, wie die – neben
dem kreuzenden Decumanus –
Hauptachse der römischen Stadtanlage Jerusalems zu ihrer Blütezeit ausgesehen hat.
Elf Meter breit war dieser
„östliche Cardo“, der im zweiten
Jahrhundert parallel zum Tempelberg errichtet wurde und vom
Damaskustor Richtung Süden
verlief. Seine flankierenden Bürgersteige maßen sechs Meter, monumentale Säulen und endlose
Ladenlokale säumten sie. Bis
heute folgen die Basargassen der
Altstadt ihrem Verlauf. Denn der
heutige Stadtplan der historischen Altstadt Jerusalems wurde
um 130 unter Kaiser Hadrian
festgelegt, gut 70 Jahre nach der
Zerstörung der Stadt im großen
jüdischen Aufstand gegen die Römerherrschaft.
Der Bau eines Versammlungszentrums für Familienfeiern an
der Klagemauer habe die Grabungen nötig gemacht, sagte der
verantwortliche
Rabbiner
Schmuel Rabinowitch bei einem
Ortstermin mit Staatspräsident
Mosche Katzav. Der Ober-Archäologe für die Region Jerusalem, Jon Seligman, verwies auch
auf den frisch freigelegten zehn
Meter hohen Steilhang zum Tyropoeon-Tal, der den Tempelberg
von der antiken Oberstadt trennt.
Dort lebten in der Zeit des Herodes und Jesus die reichen Bewohner der Stadt. Vielleicht war
es dieser Steilhang, der es den
Verteidigern im Jahr 70 ermöglichte, sich nach der Zerstörung
des Tempels noch vier Monate in
der Oberstadt zu halten.
In der christlichen Spätantike
gab es dann offenbar keinen Bedarf mehr für die Prachtstraße.
Langsam wurde sie zugebaut, bis
nur noch eine enge Gasse übrig
blieb.
bas
TREIBGUT KUNST
Warhols Käfer
FOTO: CHRISTIE’S
Autonarren gibt es viele unter den
großen Künstlern und Geistern.
Und obwohl Andy Warhol Fahrzeuge von BMW oder Mercedes
Benz bemalte, porträtierte er auch
gern mal einen simplen VW-Käfer.
Das Auktionshaus Christie’s versteigert seinen „Beetle“ am 5. April
in South Kensington, am 20. und
21. Januar kann das Bild bei Christie’s in Berlin besichtigt werden.
Von 1969 bis 1985 bildete Warhol
den Käfer mehrmals ab, manchmal
einzeln, oft auch in mehrteiligen
Arbeiten. Ein 15-teiliges Bild
hängt
im
Westfälischen
Landesmuseum.
Pop Art hin oder her: Beim Thema Auto ist Warhols Liebe zum
Understatement in der Motiv-Wahl
Andy Warhols „VW Beetle“ aus
dem Jahr 1977
besonders ungewöhnlich. Denn
Nobelkarossen sind gerade in
Künstler- und Denkerkreisen Statussymbole zum Ausdruck eines
Lebensgefühls.
Dada-Meister
Francis Picabia, nach den Inhalten
seines Lebens gefragt, antwortete
spontan: „Drei Dinge: Autos, Frauen, die Kunst.“ Und meinte damit
schnelle Sportwagen.
Der Futurismus zog das Auto
den Frauen noch vor. Im Gründungsmanifest von 1909 heißt es:
„Ein aufheulendes Auto, das auf
Kartäschen zu laufen scheint, ist
schöner als die Nike von Samothrake.“ Tamara de Lempicka,
selbst
von
beeindruckender
Schönheit, porträtierte sich Mitte
der Zwanziger als emanzipierte
Dame von Welt am Steuer ihres
flaschengrünen Bugatti.
James Dean wurde seine Leidenschaft zum Verhängnis: Bekanntlich starb er bei einem Unfall mit seinem Porsche. Janis Joplin sang innig: „Oh Lord, won’t
you buy me a Mercedes Benz? My
friends all drive Porsches, I must
make amends.“ Und selbst der
französische
Soziologe
und
Schöngeist
Michel
Foucault
brauste am liebsten in einem weißen Jaguar durch die schwedische
Landschaft.
Der Schätzwert des Gemäldes
von Warhol liegt übrigens bei
300 000 bis 400 000 Euro. Der Käfer also als Ausdruck eines Lebensgefühls, das mag man verstehen. Doch ob Warhol in einem
Beetle beim Studio 54 vorgefahren
wäre?
Johanna Schmeller
OBERFLÄCHEN
Antiker Akt
Dass H&M-Plakatwerbung mit
Anna Nicole Smith in Dessous Autofahrer irritieren könnte, war
noch nachvollziehbar. Doch Unfälle aufgrund antiker Kurven?
Das sah wohl auch der
Landesbetrieb Straßenbau NRW
letztendlich ein: Die anfänglich
umstrittenen Plakate für eine Ausstellung über die Geschichte der
Sexualität wurden nun doch genehmigt. Mit einer „anzüglichen“
Fotografie wirbt das NeanderthalMuseums in Mettmann für die
Schau „100 000 Jahre Sex“ geworben. Auf den Werbebannern ist
eine 2500 Jahre alte griechische
Vase abgebildet, die ein nacktes
Paar beim Liebesakt zeigt. Die
bei anderen Motiven“, begründete
ein Sprecher des Landesbetriebs in
Gelsenkirchen die zunächst ablehnende Position der zuständigen
Dienststelle. Jedoch: „Wahrscheinlich waren unsere Kollegen ein
bisschen übervorsichtig.“ Denn, so
heißt es weiter, „Verkehrssicherheit bleibt eben bei allen Überlegungen das höchste Gut.“ Und
daher werde die Erlaubnis zur
Straßenwerbung in Deutschland
eben generell „besonders eng“ ausgelegt.
Im Museum stößt eine derartig
„enge Auslegung“ auf Unverständnis. Bärbel Auffermann,
stellvertretende Museumschefin im
Neandertal, kann die Aufregung
über die Abbildung der attischen
Vase aus dem Besitz des Berliner
Antikenmuseums
nicht nachvollziehen: Das Paar sei
Verkehrsgefährdend? Das umstrittene Plakat
FOTO: DPA
auf dem Werbebanner
„noch
Plakate sollen an Straßenbrücken nicht einmal besonders groß“ zu
in der Umgebung des Museums sehen, und „Werbung mit nackten
aufgehängt werden. Zunächst hat- Tatsachen“ sei in Deutschland
te der Landesbetrieb Straßenbau auch nicht gerade neu. Was ebenso
NRW befürchtet, dass es dadurch wenig falsch ist wie der Umstand,
vermehrt zu Verkehrsunfällen dass es sich bei dem rotfigurigen
kommen könnte. Die Autofahrer Vasenbild um ein Kunstwerk aus
könnten sich von der Eindeutigkeit der klassischen Epoche Griechender Darstellung ablenken lassen. lands handelt.
DW
Doch am Ende wurde die Opposition gegen die Plakate aufgegeben.
„100 000 Jahre Sex - Über Liebe,
„Aus unserer Sicht ist die Ge- Fruchtbarkeit und Wollust“; vom
fahr, dass Autofahrer von diesem 2. Februar bis 20. Mai im NeanderMotiv abgelenkt werden, größer als thal-Museum Mettmann
..............................................................................................................................................
Der Bestsellerautor literarisiert unsere Debatten. Auch in seinem neuen Gen-Thriller „Next“
Ungleiche Brüder:
Ian McEwans
Familiengeheimnis
V
ON WIELAND FREUND
..............................................................................
V
ON HENDRIK WERNER
..............................................................................
Die kinderzimmerfüllenden Hartplastik-Dinos, die gerade durch die
Auslagen der Spielwarenhändler
stampfen, haben wir letztlich ihm
zu verdanken. Und wäre George
Clooney auch ohne sein Zutun ein
Star? Wie man es dreht und wendet – Michael Crichton wirkt prägend. Mit „Emergency Room“ hat
er eine der Fernsehserien schlechthin geschrieben, und mit „Jurassic
Park“ hat er vollbracht, was zuvor
nur einer 13-Jährigen aus Lyme
Regis gelang. Mary Anning fand
1812 das erste Skelett eines Ichtyosaurus – wie sie löste Crichton eine
Dinomanie aus. Im Herbst wird
Crichton nun 65, mehr als 100 Millionen Bücher hat er verkauft. Dabei quält sich der Mann beim
Schreiben. Merklich.
Eine ästhetisch orientierte Kritik jedenfalls wird auch an Crichtons neuem Roman, dem Genttechnik-Thriller „Next“, der heute erscheint, kein Gefallen finden. Wie
immer sind Crichtons Sätze auf
furchtbar kurzen Beinen unterwegs, wie stets lassen sich seine
vielen Figuren allenfalls über ihre
Allerweltsnamen unterscheiden.
Doch was soll’s? Frank Burnet,
Rick Diehl und Henry Kendall sind
Chrichton letztlich so schnuppe
wie Bildsprache und Plot. Und was
will man von einem Autor auch
erwarten, der, erscheint er zur „Lesung“, aus seinen Büchern nicht
einmal vorträgt? Crichton, der
Doktor der Medizin, bevorzugt die
quasi-wissenschaftliche Diashow,
so als sei das Buch selbst nun wirklich Kinderkram.
Und je älter Crichton wird, desto
rabiater geht er zur Sache. Zuletzt
vollbrachte er gar das Kunststück,
einen Thriller mit der Botschaft
‚Nur keine Sorge‘ zu schreiben.
„Welt in Angst“, Crichtons Beitrag zur Klimakatastrophe, war
schon literarisch ein Ding der Unmöglichkeit. Zwar hat jeder, sogar
der öffentliche Autor, das Recht,
seine Zweifel an einer vom Menschen verursachte Erderwärmung
zu formulieren, nur ist der Thriller
dafür die denkbar ungeeignetste
Form. Jeder Thriller ist trivialisierter Kafka – ohne moderne
Angst kann es ihn per Definition
nicht geben.
„Welt in Angst“ war natürlich
trotzdem ein Welterfolg. Man
kann jenen US-Schriftsteller verstehen, der neiderfüllt schimpfte,
Crichton reite ja bloß noch seine
Steckenpferde auf die Bestsellerlisten.
Tatsächlich hat der Amerikaner
Michael Crichton, seit er es aufgab, seine teuren Flitzer vor die
Wand zu fahren, immer auch ein
bisschen von einem distinguierten
Englishman, der sich die Hände
nicht schmutzig macht. Zweiflern
begegnet er demgemäß mit steiler
Braue und „stiff upper lipp“ und
tut im Übrigen, was ihm gefällt.
„Next“, der neue Roman, ist da ein
wunderbares Beispiel. Im Laufe
seiner 40-jährigen Karriere hat
sich Crichton ein ums andere Mal
neu erfunden, hat Science-Fiction
geschrieben und den TechnoThriller geprägt und ist mittlerweile dazu übergegangen, die
Stoffe der Wissensgesellschaft didaktisch zuzurichten. Schon lange
Die folgende Geschichte um Verlust, Untreue und ein dunkles Familiengeheimnis klingt so, als sei
sie der Fantasie des großen Fabulierers Ian McEwan entsprungen.
Und doch ist sie kein fiktionaler
Stoff des britischen Romanciers
(„Amsterdam“, „Abbitte“), sondern
ein Kapitel seines Lebens, das dem
58-Jährigen vor fünf Jahren, der
respektvoll erschütterten Öffentlichkeit erst jetzt enthüllt worden
ist: Wie die Londoner „Times“ berichtet, hat der Schriftsteller einen
Bruder namens David, von dessen
Existenz er mehr als fünf Jahrzehnte nichts wusste.
Die Wiedervereinigung kam zustande, nachdem es McEwans älterer Bruder David mittels eines Zeitungsinserats aus dem Jahre 1942
gelungen war, seine Herkunft zu
rekonstruieren. Beider Mutter Rose
hatte den erstgeborenen David zur
Adoption freigegeben, als dieser einen Monat alt war. Zwar hatte David im Alter von 14 Jahren erfahren,
dass er adoptiert worden sei, acht
Jahre später zudem, man habe ihn
„aus der Zeitung“. Aber erst nach
dem Tod des Adoptivvaters fand
David in dessen Nachlass eine Anzeige: „Gesucht, Heim für männliches Baby, Alter: ein Monat“.
Weil David damals kurz vor seiner
Hochzeit stand, habe er die mysteriöse Causa zunächst nicht weiter
verfolgt, berichtet „The Times“. Erst
im Alter von 60 Jahren habe er den
Familiensuchdienst der Heilsarmee
eingeschaltet. Doch als er endlich
auf seine leibliche Mutter traf, konnte sie keine seiner Fragen beantworten – Alzheimer.
Erst eine Tante mütterlicherseits
enthüllte das Familiengeheimnis:
Davids Existenz verdanke sich der
außerehelichen Affäre, die Rose
während des Zweiten Weltkriegs mit
einem Offizier namens David McEwan eingegangen sei. Der Moralkodex habe es erfordert, sich des Kindes zu entledigen – darum die Freigabe Davids zur Adoption. Das derart entsorgte Kind hatte naturgemäß
nichts mehr davon, dass Roses Ehemann, auch er Soldat, ihr vor seinem
Tod (bei der Landung der Alliierten
in der Normandie) noch zugestanden
hatte, seinen Nebenbuhler zu heiraten. Sechs Jahre darauf kam Ian
McEwan zur Welt, mehr als fünf
Jahrzehnte später die kaum zu glaubende Wahrheit ans Licht.
Ironischerweise verbrachten die
Geschwister Teile ihrer Kindheit
wenige Kilometer voneinander entfernt in Oxford. Ihre Lebensläufe
sind freilich denkbar unterschiedlich: Während Ian nach akademischen Weihen Mitte der Siebziger
zum gefeierten Schriftsteller avancierte, arbeitete David als Maurer.
Dem Textmaurer Ian gilt die Familienzusammenführung als Entlastung. Bevor ihm die wahre Geschichte zugetragen wurde, dachte
er, sein Vater habe seine Mutter
tyrannisiert. Nun freue er sich
über die „romantische Dimension“
ihrer Verbindung. Während der
Schriftsteller den Fall als Privatsache behandelt wissen will, regen
sich laut „Times“ in David literarische Instinkte. Er hoffe, mit Ian
die spannende Geschichte zu dokumentieren, gab der verlorene
Sohn zu Protokoll.
Schaf „Dolly“ und seine Lämmer – es war das erste geklonte Säugetier. „Das Patentieren von Genen muss aufhören“, wettert
FOTO: PA/DPA
der amerikanische Schriftsteller Michael Crichton. Heute erscheint sein neues Buch in Deutschland
gibt er seinen Romanen Bibliografien bei. Mittlerweile kommentiert
er sie auch ausführlich und verfasst seine knackigen Nachworte
mit deutlich mehr Schmackes als
die zuweilen drögen Beispielgeschichten der Romane vorweg.
Schon „Welt in Angst“ zerfiel in
zwei Teile. Der eine enthielt die
erforderliche Action in beinahe
allen Teilen der Welt, der andere
enthielt lange Dialoge über das
Wesen der Klimahysterie an und
für sich. Nicht anders „Next“, der
Roman zur Veranschaulichung
noch eines jeden Aspekts der Gentechnik-Debatte. Sage und schreibe 95 kurze Kapitel hat Crichton
sich abgerungen, damit ihm nicht
einer dieser Aspekte entgeht; einen exemplarischen Fall reiht er
an den nächsten.
Zum Beispiel Frank Burnett.
Der hat seinen Knochenkrebs
überlebt, jetzt prozessiert er um
das Recht an seinen heroischen
Zytokinen, die der Krankheit Einhalt geboten. Oder Rick Diehl. Der
führt einen schmutzigen Scheidungskrieg und fordert von seiner
Frau einen Gentest; hat sie die
Erbkrankheit Chorea-Huntington
im Blut, kommt sie fürs Sorgerecht nämlich nicht in Frage. Die
problembewusste Liste ließe sich
noch lange fortsetzen:
ein junger Wissenschaftler patentiert ein
obskures
„Reifungsgen“, einer Tochter
fehlt das Erbgut ihres
Vaters, der womöglich
ein im Mutterleib verschmolzener Zwilling
war, ein Orang-Utan in
Sumatras Dschungel
spricht Holländisch – vielleicht ist
er ja ein genetischer Hybrid. Dazu
ein Mordfall, eine wilde Flucht
und ein bisschen Satire und das
Michael Crichton
Geboren 1942 in Chicago, Studium in Harvard, Doktor der Medizin. Schon während des
Studiums entstanden unter Pseudonym die ersten Romane. Viele seiner
Bücher wurden verfilmt
und zu weltweiten Kassenschlagern. Für manche schrieb er auch das
Drehbuch
(„Jurassic
Park“, „Rising Sun“, die
Fernseh-Serie „Emergency Room“), manche produzierte
er („Enthüllung“). Von seinen Büchern wurden weltweit mehr als
100 Millionen verkauft.
FOTO: PA/PHOTOSHOT
Jerusalems Boulevard
Schafe schauen dich an
alles in Crichtons vertrauter Führerscheinprüfungsprosa. Ja, ist
das denn überhaupt ein Roman?
Dem Kritiker könnte da glattweg
Giovanni Trapatonis berühmter
Wutausbruch in den Sinn kommen: Was erlauben sich Crichton?
Doch Chuzpe, man kann es
nicht anders sagen, Chuzpe hat
dieser Crichton. Ungerührt reitet
er sein Steckpferd ins Ziel, und am
Ende, im alles entscheidenden
Nachwort, tut er, der abgebrühte
Aufklärer mit den Mitteln Hollywoods, wie stets seine felsenfeste
Überzeugung kund. „Meine Recherchen für dieses Buch“,
schreibt er, „brachten mich zu folgenden Überzeugungen: 1. Das
Patentieren von Genen muss aufhören. 2. Wir brauchen klare
Richtlinien für die Verwendung
von menschlichem Gewebe. 3. Wir
brauchen Gesetze für die Offenlegung von Gentestdaten.“ Vernünftige
Ethik-Kommissionen
oder das Gen-ethische Netzwerk
Berlin klingen nicht anders. Deren
Ergüsse allerdings haben nicht
annähernd so viele Leser wie Michael Crichton.
Michael Crichton: Next. Aus dem
Englischen von Ulrike Wasel und
Klaus Timmermann. Blessing,
München. 539 S., 22,95 Euro
„Das Glockenspiel geht mir nach“
1939 konnte Bertha Leverton aus München nach London fliehen. Heute spricht sie im Jüdischen Museum Berlin über die Kindertransporte
V
ON JOHANNA SCHMELLER
..............................................................................
An Deutschland hat sie auch gute
Erinnerungen: das Oktoberfest,
das Schwimmen in der Isar, die
Sonntagsausflüge mit ihren Eltern.
Und vor allem die Oper. Schon mit
15 stellt sich Bertha Leverton frühmorgens an, um Karten zu ergattern. „Ich war in England nie wieder in der Oper seitdem, ich will
nicht. Das war so schön damals.
Bei ‚Aida‘ kamen richtige kleine
Elefanten auf die Bühne, die waren
vom Zirkus Krone ausgeborgt. Die
Erinnerungen sind so stark und so
genau – ich wäre so enttäuscht,
wenn es dann nicht wieder genau
so wäre.“
Seitdem, das heißt: Seit dem 4.
Januar 1939, jenem Tag, an dem
ihre Eltern sie zum Bahnhof bringen. Ihren kleineren Bruder hat
Bertha an der einen Hand, einen
kleinen Koffer in der anderen. Ein
Beamter versiegelt am Bahnhof ihr
Gepäck. „Die Nazis wussten von
den Transporten, natürlich“, erinnert sich Bertha Leverton. „Am
Anfang wollten die Deutschen die
Juden einfach nur raus haben, denen hätt’s gar nichts ausgemacht,
wenn alle Juden ausgewandert wären. Aber kein anderes Land hat
sie ja reingelassen.“ Bis auf den
Bahnsteig dürfen die Eltern nicht
mit; sie verabschieden sich in der
Bahnhofshalle. Die Eltern weinen
nicht, auch Bertha und ihr Bruder
nicht, nicht einmal ihre jüngere
Schwester Inge, die zurückbleiben
muss. Sie sind sicher, einander
bald wiederzusehen: „Wir haben
gedacht, Deutschland wird sich
wieder ändern und wir können zurückkommen nach München. Das
war ja eine schöne Stadt. Das Glockenspiel, das geht mir nach, die
Feldherrenhalle, das Taubenfüttern im Englischen Garten.“ Doch
die Familie wird nie zurückkehren.
Bertha und ihr Bruder sind zwei
von rund 10 000 Kindern, die zwischen 1938 und 1940 vor dem NSRegime gerettet werden. Aus
Deutschland,
Österreich,
der
Tschechoslowakei und Polen holt
die britische Regierung Kinder
nach London. Aber nicht mehr als
zwei pro Familie – so lautet die
Vorgabe. Offen wird darüber nicht
gesprochen. Doch Inge hat die Information im Kindergarten aufgeschnappt und erzählt von einem
Mädchen, die bald nach England
reisen soll. „Meine Mutter dachte,
sie fabuliert – doch mein Vater
wurde hellhörig.“ Er spricht mit
den Eltern von Inges Freundin,
setzt durch, dass zwei seiner Kinder mitfahren dürfen. Und nur wenige Monate später bekommt er die
Erlaubnis, auch seine jüngste
Tochter nach England zu schicken.
Die Eltern sind nicht reich. Der
Vater betreibt ein kleines Leder+
warengeschäft; einen Rucksack hat
Bertha Leverton heute noch. Als
die Politik der Nazis immer judenfeindlicher wird, kauft niemand
mehr in dem kleinen Betrieb. Die
Eltern überlegen, wie sie die jüdischen Nachbarn als Kundschaft
gewinnen können, und eröffnen
eine Wäscherei: „Als Kind nimmt
man das hin – das war ja unsere
Normalität“, erzählt die heute 84Jährige.
Sorgen macht Bertha sich erst,
als sie schon längst bei einer englischen Familie lebt. Zweimal in
der Woche bekommt sie Post von
ihren Eltern – mindestens. Für den
Untermieter ihrer Gastfamilie
stopft sie Socken, um Geld für
Briefmarken zu verdienen. Doch
plötzlich schreibt ihr Vater nur
noch wenige Zeilen. „Irgendwann
ist mir aufgefallen, dass der Papa
FOTO: SHAMROCK/KESTEN
FUNDSTÜCKE
Donnerstag, 18. Januar 2007
nur noch Grüße an Muttis Briefe
angefügt hat, Küsse, Euer liebender Papa. Einmal, zweimal, dreimal ist das nicht so schlimm. Dann
aber geht es wochenlang so. Da
bekam ich Angst, große Angst.
Aber ich konnte ja nicht nachfragen, weil der Krieg anfing.“ Viel
später erfährt Bertha, dass ihr Vater zu dieser Zeit in einem Arbeitslager war; die Grüße unter die
Briefbögen hat er vorgeschrieben.
Als er aus dem Lager entlassen
wird, entscheidet seine Frau, dass
sie flüchten müssen.
Drei Tage nach ihrem 21. Geburtstag erreicht Bertha ein Telegramm: Ihren Eltern ist die
Flucht aus Deutschland gelungen.
Ein Schleuser hat die beiden nahe
Graz durch Wälder in die Schweiz
gebracht. Ein paar Wochen später
ist die Familie vereint. „Wir zogen
Bertha Leverton am Berliner Ostbahnhof, dem Ort,
von dem aus
einige Kindertransporte
nach England
abgingen
in eine sehr einfache kleine Wohnung in Birmingham, aber ich war
so froh. Im Buckingham Palace
wäre ich nicht so glücklich gewesen wie in dieser Wohnung, zusammen mit meinen Eltern nach
fünf Jahren Trennung.“ Die Familie bekommt häufig Besuch: „Zwei
Flüchtlinge kommen über ein neutrales Land nach England – das hat
Aufsehen erregt.“ Die jüdischen
Nachbarn packen mit an: „Der
eine hat ein Bett gegeben, der andere einen Tisch und einen Stuhl.
Irgendwann haben meine Eltern
dann von der britischen Regierung
Bezugsmarken bekommen, um
Betten zu kaufen, weil wir nicht
genug hatten.“
Heute hat Bertha Leverton selbst
zwei Töchter, zehn Enkelkinder, 13
Urenkel. Und weil sie selbst Kinder hat, bewundert sie den Mut
ihrer Eltern: „Ich hab mich nie
weggegeben gefühlt. Meine Eltern
hätten es sich nicht verziehen, so
eine Gelegenheit gehabt zu haben
und sie dann nicht zu nützen.“
Vor Levertons Vortrag im Jüdischen Museum Berlin wird der
preisgekrönte
Dokumentarfilm
„Kindertransport – In eine fremde
Welt“ gezeigt. Die Veranstaltung
ist Teil des Begleitprogramms zur
Sonderausstellung „Heimat und
Exil. Emigration der deutschen Juden nach 1933“ (bis 9. April).