Storytelling und Leadership
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Storytelling und Leadership
Storytelling und Leadership Studie im Auftrag der GIZ Lernwerkstatt Leadership Development Im Rahmen des Programms Climate Leadership Plus Christine Blome und David Wagner 1 Inhaltsverzeichnis Einführung .................................................................................................................................3 1. Felderkundung: Was ist Storytelling? ...................................................................................4 1.1. Definition ............................................................................................................................................................................. 4 1.2. Ausgewählte Anwendungsfelder von Storytelling.............................................................................................. 4 1.3. Zwischenfazit und ein tieferer Blick – drei Ebenen von Storytelling ........................................................... 7 1.3.1 Storytelling auf der individuellen Ebene – Die Wirkung von Geschichten ............................................. 8 1.3.2 Storytelling auf der kollektiven Ebene – Gesellschaftliche Narrative ................................................... 11 1.3.3 Storytelling als Transformationsansatz - Die Heldenreise ......................................................................... 13 2. Storytelling in Leadership Development Programmen ........................................................ 17 2.1. Einleitung ........................................................................................................................................................................... 17 2.2. Nutzung des Heldenreise-Ansatzes für die Gestaltung von Leadership-Journeys .............................. 18 2.2.1. Nutzung der Heldenreise als ergänzende Landkarte ................................................................................... 18 2.2.2. Umgang mit dem Helden(reise)begriff im Leadership-Bereich .............................................................. 18 2.2.3. Konkrete Empfehlungen & Methoden ................................................................................................................ 19 2.3. Einsatz von Storytelling-Methoden zur Wirkungserzielung ........................................................................ 23 2.3.1 Der grundsätzliche Nutzen des Geschichtenerzählens für Leadership-Formate .............................. 23 2.3.2 Appell an einen verantwortungsvollen Umgang mit Geschichten .......................................................... 24 2.3.3 Storytelling-Tools ........................................................................................................................................................ 25 2.4. Einsatz von Storytelling-Methoden zur Wirkungserfassung........................................................................ 27 2.4.1 Ein anderer Blickwinkel und eine andere Sprache ........................................................................................ 27 2.4.2 Hintergrund: Notwendigkeit und Nutzen von Wirkungserfassung in der IZ ..................................... 27 2.4.3 Daraus resultierende Problematiken, Herausforderungen & Konsequenzen .................................... 29 2.4.4 Der Zugewinn und Nutzen qualitativ-narrativer (Storytelling-)Methoden......................................... 31 2.4.5 Qualitativ-narrative (Storytelling-)Tools zur Wirkungserfassung.......................................................... 33 2.5 Einsatz von Storytelling-Methoden zur Wirkungsdarstellung und zum Wissensmanagement ..... 37 2.5.1 Der Nutzen von qualitativ-narrativen Fallstudien/ Case Studies ............................................................ 37 2.5.2 Verschiedene Formen von Case Studies/ Fallstudien .................................................................................. 37 Anhang: Vorstellung konkreter Storytelling-Tools ..................................................................... 41 1. Methode zur Wirkungserzeugung: Story of self, us and now ......................................................................... 41 2. Methode/n zur Wirkungserfassung: Qualitativ-narrative Methode/n........................................................ 41 3. Methodische Anregungen zur Wirkungsdarstellung........................................................................................... 41 3.1 Digital Storytelling .......................................................................................................................................................... 41 3.2 Elemente wirksamer Geschichten ............................................................................................................................ 41 Literaturverzeichnis.................................................................................................................. 41 2 Einführung Der Begriff Storytelling erlebt derzeit einen Boom und ist in aller Munde. Das Magazin Managerseminare kürte Storytelling 2012 gar zum shooting star unter den Trainings- und Beratungsmethoden, nachdem in einer Umfrage ein Drittel der befragten Trainer/innen angaben, Storytelling „immer“ oder „häufig“ bei ihrer Arbeit einzusetzen (vgl. www.managerseminare.de). Storytelling ist offensichtlich beliebt und anziehend, es verspricht einen Hauch Abenteuer, reichlich Emotionen und einiges an Wirkung. Angesichts dieses phänomenalen Aufstiegs ist es erstaunlich, wie unklar oftmals ist, was genau Storytelling eigentlich ist. Ist Storytelling ein Ansatz, eine Methode, und lässt diese sich klar umreißen? Oder gibt es verschiedene Anwendungsfelder und Interpretationen von Storytelling, die zwar alle mit dem selben Label operieren, sich aber in der Praxis durchaus substantiell voneinander unterscheiden? Wir nehmen die Antwort auf diese Frage vorweg, denn sie bestimmt die Struktur und den Inhalt der Studie: Unter dem Begriff Storytelling werden sehr unterschiedliche Phänomene subsumiert, die von spontanen Stegreiferzählungen bis zu bewusst konzipierten Geschichten, von beruflichen Geschichten bis zum Schreiben von Drehbüchern und der Gestaltung von Seminarprozessen reichen. Wir machen mit dieser Studie den Versuch, das wildwüchsige Feld Storytelling zu ordnen und zu erkunden, wie unterschiedliche Formen von Storytelling für Leadership Development Programme im Kontext der Internationalen Zusammenarbeit nutzbar gemacht werden können. Wir wenden uns dabei einerseits der Frage zu, wie Storytelling-Ansätze einen Beitrag zur konzeptionellen Weiterentwicklung des GIZ-Ansatz Leadership for Global Responsibility und zur Durchführung von konkreten Leadership Development Programmen bzw. Leadership Journeys leisten kann. Zweitens untersuchen wir, inwieweit sich Storytelling als Instrument der qualitativen Wirkungsmessung im Rahmen von Leadership Development Programmen nutzen lässt. Beide Schwerpunkte verbindet die übergeordnete Frage, ob und wie Storytelling einen Beitrag zur Weiterentwicklungen von wirksamen und innovativen Human Capacity Development-Formaten im Kontext der IZ leisten kann. Unsere unterschiedlichen beruflichen Hintergründe fließen hierbei in die Gestaltung der Studie ein. Neben unserer gemeinsamen Verankerung im LeadershipDevelopment arbeitet David Wagner mit dem Modell der Heldenreise im Feld der Transformationsund Prozessbegleitung und Christine Blome mit innovativen und transformativen Bildungsansätzen im Feld der Prozessbegleitung und qualitativen Evaluationsforschung. Das erste Kapitel widmet sich ganz der Erkundung des „Storytelling-Felds“. Auf der Basis eines Blicks in aktuelle Anwendungsfelder von Storytelling unterscheiden wir drei Ebenen von Geschichten: Individuelle Geschichten oder „Mikrogeschichten“, gesellschaftliche Narrative, Mythen oder „Makrogeschichten“ und das Modell der Heldenreise als Transformationsansatz. Unter der Überschrift der individuellen Geschichten untersuchen wir, welche Formen von Geschichten es gibt und welche Wirkungen Geschichten auf Menschen haben. Wir blicken anschließend auf Makrogeschichten bzw. gesellschaftliche Narrative und verweisen dabei auf unterschiedliche Formen der Weltwahrnehmung sowie den von Marshall Ganz entwickelten Ansatz der „Story of self, us and now“. Letztlich stellen wir das Modell der Heldenreise Landkarte zur Gestaltung von Transformationsprozessen vor. Das zweite Kapitel formuliert Empfehlungen für die Gestaltung von Leadership-Programmen im Kontext der Internationalen Zusammenarbeit. Diese Empfehlungen sind Vorschläge, die entweder kombiniert, aber auch unabhängig voneinander angewandt werden können. Im ersten Teil formulieren wir Ansätze, wie das Heldenreisemodell die Prozessdramaturgie von Leadership Journeys bereichern kann. Im zweiten Teil zeigen wir auf, wie (auf der Mikroebene angesiedelte) Storytelling-Methoden genutzt werden können, um die Wirkung von Leadership-Journeys zu vertiefen. Abschließend gehen wir auf das Verhältnis von Storytelling, Wirkungserfassung und Wirkungsdarstellung ein und zeigen mit Bezug auf Vorgaben der GIZ auf, wie qualitativ-narrative Verfahren für das Monitoring, die Evaluierung, Dokumentation und das Wissensmanagement von Leadership-Programmen im Kontext von „Leadership for Global Responsibility“ genutzt werden können. Diese einzelnen Teile können unabhängig voneinander gelesen werden. 3 1. Felderkundung: Was ist Storytelling? 1.1. Definition Storytelling bedeutet im wörtlichsten und einfachsten Sinne: Geschichten erzählen. Die erste Frage lautet daher: Was ist eine Geschichte? Da es sehr unterschiedliche Arten und auch Komplexitätsmuster von Geschichten gibt, schlagen wir hier eine Minimaldefinition vor, die alle Arten von Geschichten umfasst: „Eine Geschichte enthält eine Ausgangslage, ein Ereignis und eine Konsequenz (im Sinne einer Moral). Geschichten werden vollständig, wenn Charaktere auftreten und die Gesamtheit bzw. die Abfolge der Ereignisse eine erkennbare Handlung ergeben“ (Thier 2010, S. 8). 1.2. Ausgewählte Anwendungsfelder von Storytelling Storytelling ist „in“ und erlebt derzeit einen Boom. Es scheint als wird die uralte Technik des „Geschichtenerzählens“ wiederentdeckt und verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Bereits während der Erstellung dieser Studie hat sich das Anwendungsfeld erweitert und in einem halben Jahr werden neue Akteure den Nutzen von Storytelling für ihre Branche entdeckt haben. Der folgende Überblick in ausgewählte Anwendungskontexte hat daher nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, er kann ihn wegen der schnellen Verbreitung der Geschichtenerzählungen nicht haben. Wir begeben uns dennoch in dieses lebendige Praxisfeld, wagen eine Felderkundung, um dem Phänomen etwas mehr auf den Grund zu gehen und zu sehen, was Storytelling genau ist, heißt und umfasst. 1. Film und Fernsehen Ein klassischer Bereich des Storytellings ist der Bereich Film und Fernsehen. In diesem Praxisfeld wird Storytelling meist in Verbindung mit dem Modell der Heldenreise gebracht, dass auf den Mythenforscher Joseph Campbell zurückgeht (vgl. Campbell 1999). Campbell entdeckte, dass Mythen und Märchen aus aller Welt im Kern Variationen einer immer gleichen Geschichte erzählen, in der ein „Held“ (oder eine Heldin) zu einer Reise ins Unbekannte aufbricht, tiefgreifende und neue Erfahrungen macht und verändert in die Alltagswelt zurückkehrt. Der Autor und Drehbuchschreiber Christopher Vogler erkannte, welchen Wert die von Campbell entdeckte uralter Struktur von Geschichten auch für Filme und Drehbücher - gewissermaßen das Märchenformat unserer Zeit - hat (vgl. Vogler 2012). Vogler adaptiert Campbells Werk für die Filmbranche und zeigte auf, dass Filme insbesondere dann erfolgreich sind, wenn sie die von Campbell beschriebene Struktur aufgreifen und ihre Geschichten in den Stationen der Heldenreise erzählen. Viele erfolgreiche Drehbuchschreiber und Regisseure haben seitdem mit dem Prinzip der Heldenreise gearbeitet, das in 1.3.3 ausführlicher dargestellt wird. 2. Werbung & Marketing Ein Bereich, in dem Storytelling aktuell einen Boom erlebt, ist der Bereich Werbung und Marketing. Werbung und Marketing nutzen seit einigen Jahren gezielt neurowissenschaftliche Erkenntnisse (vgl. ausführlicher Kapitel 1.3.1), um mithilfe von Geschichten Menschen zum Konsum zu „verführen“ (Fuchs 2013). So nutzt Werbung z.B. menschliche Urthemen - wie Leben und Tod, Suchen und Finden, etc. - die von fast allen Menschen geteilt werden, die damit ein Andocken an die eigene Geschichte ermöglichen und Aufmerksamkeit erzeugen. Werbung und Marketing bedienen sich hierbei nicht selten Campbells Modell der Heldenreise als Prozessdramaturgie. Geschichten in der Werbung haben oft einen klar erkennbaren Plot, einen Held, der ein Sinnstifter und/ oder eine Projektionsfläche für das Publikum ist, einen Widersacher, bzw. klar erkennbaren Feind, einen Helfer und sie verfolgen einen erkennbaren Spannungsbogen. 3. Public Relations Public Relations lernen seit einigen Jahren von Werbung und Marketing und bedienen sich des Storytellings in Form von gezielt inszenierten Geschichten über das Unternehmen, seine Marke und seine Erfolgsfaktoren, um Vertrauen zu bilden, Kunden zu binden und die Marke positiv besetzt in den Köpfen der Menschen zu verankern. Als besonders wirkmächtig werden zunehmend Geschichten eingesetzt, die von den Menschen selbst (weiter)erzählt werden. 4 Zielgruppen der Unternehmensgeschichten - wie z.B. Entstehungsgeschichten der Unternehmen, Geschichten über Mitarbeiter/innen und Kunden, etc. - sind Mitarbeitende, Journalisten, die Finanzgemeinde, Lieferanten, Geschäftspartner oder die Gesellschaft allgemein (Herbst 2011). Als Geschichtsformen werden z.B. Erfolgsgeschichten der Marke, Biografien von Gründer/innen oder Manager/innen verwendet. Auch auf der individuellen Ebene wird Storytelling zunehmend zur Eigen-PR eingesetzt (vgl. Gálvez 2009). 4. Trainings- und Beratungsbereich Auch im Seminar- und Beratungsbereich erlebt Storytelling einen Boom. Wie in der Einleitung erläutert kürte das Magazin Managerseminare Storytelling 2012 zum „shooting star unter den Trainings- und Beratungsmethoden“. Ein tieferer Blick verdeutlicht, dass unter dem Begriff Storytelling in der Trainings- und Beratungspraxis sehr unterschiedliche Formen und Methoden subsummiert werden. Beispiele für Storytelling-Praxen sind hier z.B. das Erzählen der eigenen Geschichte durch Trainer/innen, die Übertragung von Unternehmensgeschichten in Märchen oder ihre Aufführung als Unternehmenstheater, die Nutzung narrativer Erhebungsmethoden zur Erfassung von Organisationsgeschichten, die Anwendung von Campbells Modell der Heldenreise als Prozessdramaturgie oder und das Erzählen persönlicher Geschichten zwischen den Teilnehmenden. Das letztgenannte Verständnis von Storytelling erfährt derzeit eine hohe Prominenz im Ansatz „Art of Hosting“ (vgl. Arthur/Hanna (2011); Fenton (2013) und Baeck (Datum unbekannt), siehe ausführlicher Kapitel 2.3.3 sowie Anhang). 5. Persönlichkeitsarbeit und Psychotherapie Im Bereich der Persönlichkeitsarbeit und der Psychotherapie wird Storytelling unterschiedlich definiert und umgesetzt. So hat beispielsweise der Theaterexperte und Therapeut Paul Rebillot auf Basis der Heldenreise ein mehrtägiges erfahrungsbasiertes Seminarkonzept entwickelt, das die Teilnehmenden auf eine persönliche, innere Heldenreise führt und so persönlichen Wandel und Weitung ermöglicht (vgl. Rebillot 2011). Im Bereich der narrativen Psychologie beschreibt Storytelling die Erzählung und Neu-Erzählung von persönlichen Lebensgeschichten des Klienten. Die therapeutische Intervention besteht hier darin, dass Menschen ihre Geschichten erzählen und Therapeut und Klient gemeinsam neue, alternative Erzählungen formulieren, die den Handlungsspielraum des Klienten erweitern und ihm helfen können, seine Probleme zu lösen. Auch kreatives Schreiben wird vielfach als Methode in der Therapie eingesetzt, damit sich Klienten ihrer inneren Geschichten darüber, wie die Welt ist, bewusst zu werden und diese anschließend umgestalten zu können. 6. Change Management und Transformationsbegleitung Viele der unter 4., 5. sowie auch unter den beschriebenen Feldern benannten Verfahren (z.B. Ansatz nach Thier, Frenzel oder Denning, vgl. unten) werden für das Change-Management sowie Transformationsbegleitung angewandt. Neben den bereits genannten Verfahren werden hier z.B. die Storytelling-Methoden „Appreciative Inquiry“ (vgl. zur Bonsen, 2000) sowie „Story-Construction“ (vgl. Snowden 2001) eingesetzt, um positive Kräfte eines Unternehmens zu entdecken und stärken oder „erwünschte“ Aspekte und Inhalte zu streuen. Der Ansatz „Story-Management“ zielt darauf, mithilfe von Geschichten die Identifizierung der Mitarbeiter/innen mit dem Unternehmen zu stärken (vgl. Loebbert 2003). Auch das Modell der Heldenreise wird vielfach für den Bereich des Change Managements und der Transformationsbegleitung von Individuen, Gruppen und Unternehmen nutzbar gemacht. Höcker, Trobisch et. alter wenden das Modell der Heldenreise im Unternehmenskontext an (vgl. Höcker 2010; Trobisch et al. 2012). Beide beziehen sich in ihrer Prozessgestaltung neben Campbell auf Vogler und Rebillot und schaffen mit unterschiedlichen Methoden (Kunst, Psychologie, Management, Coaching) Räume, in denen Führungskräfte aus der Wirtschaft im Rahmen der Reise Erfahrungen mit Unsicherheit, Neuem, eigenen Schattenseiten, Ängsten machen können und aus der Erfahrung der Heldenreise Kreativität, neue Kompetenzen und Innovationen schöpfen. Die Transformationsexpertin Ursula Seghezzi nutzt das Modell der Heldenreise zur Gestaltung und Begleitung von Transformationsprozessen von Einzelpersonen und Gruppen (vgl. Seghezzi 2012). Sie verknüpft dabei die Kreisbewegung der Heldenreise mit ihrem Modell des Lebenskompass, dem die zyklischen Bewegungen der Natur (Jahreszeiten, Tag/Nacht, Lebensalter etc.) ihre Energiebewegungen und Qualitäten zugrunde liegen. Seghezzi zeigt damit 5 auf, wie sich Gesetzmäßigkeiten von Wandlungs- und Entfaltungsprozessen in der Natur in gleicher Weise in Bereich der Kultur (Mythen und Märchen) wiederfinden. 7. Wissens- und Qualitätsmanagement sowie Organisationskulturforschung Im Bereich des Wissens- und Qualitätsmanagements sowie in der Organisationskulturforschung bezeichnen Thier et. al. mit Storytelling eine spezifische Methode, die in ihrer Ursprungsform „learning histories“ am MIT von einer Gruppe von Forschern, Unternehmern, Managern großer Unternehmen und Journalisten entwickelt wurde, um kollektive Lernprozesse zu erheben, dokumentieren und unternehmensweit nutzbar machen zu können (vgl. Thier 2010). Mit Hilfe der Methode werden Mitarbeiter/innen eingeladen, Geschichten aus ihrem Arbeitsalltag zu erzählen, die dann aufbereitet und für Wissens- und Qualitätsmanagement nutzbar gemacht werden: „Storytelling ist eine Methode, mit der (Erfahrungs-)Wissen von Mitarbeitern über einschneidende Ereignisse im Unternehmen (wie z.B. ein Pilotprojekt, eine Fusion, Reorganisationen oder eine Produkteinführung) aus unterschiedlichsten Perspektiven der Beteiligten erfasst, ausgewertet und in Form einer gemeinsamen Erfahrungsgeschichte aufbereitet wird. Ziel ist, die gemachten Erfahrungen, Tipps und Tricks zu dokumentieren und damit für das gesamte Unternehmen übertragbar und nutzbar zu machen“ (Thier 2010, S. 17). Ein anderes Anwendungsfeld ist die Organisationskulturforschung, die auf eine „Rekonstruktion der Modelle des Unternehmens im Kopf“ (Thier 2010, S. 100) zielt (vgl. Frenzel et al. 2006). Hinter dieser Form von Storytelling, d.h. der (angepassten) Anwendung qualitativ-narrativer Erhebungs- und Auswertungsmethoden wie z.B. Objektive Hermeneutik und/oder qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (vgl. Mayring 2002) steht die Erkenntnis, dass der größte Schatz der Firma in den Köpfen ihrer Mitarbeiter steckt und dieses oftmals implizite Erfahrungswissen „gehoben“ und nutzbar gemacht werden kann. 8. Evaluation und Wirkungserfassung Im Bereich der Evaluation und Wirkungserfassung wird der Begriff Storytelling und daraus abgeleitete Methoden bisher vorwiegend in der Entwicklungszusammenarbeit bzw. Internationalen Zusammenarbeit verwendet. Ebenso wie im Wissens- und Qualitätsmanagement bezeichnet Storytelling hier insbesondere die Anwendung von qualitativ-narrativen Verfahren, die unterschiedlich intensiv wissenschaftlich fundiert sind. So werden z.B. mit der Methode „The most significant change“ Zielgruppen eingeladen, Geschichten über von ihnen wahrgenommene Wirkungen zu erzählen und die Website „Gobalgiving storytelling project“ (vgl. www.globalgiving.org) sammelt Wirkungsgeschichten. Auch wenn über den Bereich der Entwicklungszusammenarbeit bzw. Internationalen Zusammenarbeit hinaus im Feld der Evaluation bislang kein zu den anderen hier genannten Anwendungsfeldern vergleichbarer Boom des Storytelling-Begriffs bemerkbar ist, ist die Praxis narrativer, erzählender Verfahren, d.h. die Praxis von Storytelling, seit jeher elementarer Bestandteil wissenschaftlich fundierter qualitativer Evaluationsforschung und eine gängige Methode zur Wirkungserfassung. Auf den umfangreichen Nutzen von Storytelling-Methoden für die Evaluation und Wirkungserfassung wird in Kapitel 2.4 ausführlich eingegangen. 9. Leadership Aufbauend auf einem Wissen über die Wirkmacht von Geschichten, die im folgenden Kapitel ausführlicher erläutert wird, wird Storytelling mitunter bewusst als Tool eingesetzt, um Menschen (Mitarbeitende) zu gewünschte Handlungen oder der Bereitschaft zu einer Veränderung zu motivieren. Sogenannte „Springboard Storys“ sind Geschichten, die beim Zuhörer einen mentalen Sprung im Verständnis für einen „Change“-Prozess in Unternehmen ermöglichen (vgl. Denning 2001). Dabei soll der Zuhörer den „Sprung“ vom Inhalt der gehörten Geschichte zu seinem eigenen Kontext und seinen Erfahrungen vollziehen. Für Denning beruht die Kraft der „Springboard Stories“ nicht auf der Geschichte an sich, sondern auf der Reaktion, die sie bei den Zuhörern hervorruft. Neben „Springboard Stories“ können Führungskräfte persönlich erzählte Geschichten über sich selbst einsetzen, um Vertrauen zu bilden. Weiterhin empfiehlt Denning Storytelling als Leadership-Tool, um Werte zu vermitteln, um Zusammenarbeit zu fördern, um Gerüchte auszumerzen, um Wissen zu Teilen und um Menschen in die Zukunft zu führen (vgl. Denning 2011, 2007, 2004). 6 10. Community Organizing Auch im Community Organizing, einem von Gewerkschaften in den USA entwickelten Ansatz, spielt das Thema Storytelling eine prominente Rolle. Einer der konzeptionellen Vordenker des Organizing ist Harvard-Professor Marshall Ganz, der Storytelling im Sinne einer Entwicklung von neuen öffentlichen Narrativen (public narratives) explizit als einen Kernbereich von LeadershipPraxis definiert (vgl. Ganz 2011). Ganz verwendet einen Dreischritt von Story of self, us and now, auf den wir unten noch eingehen. Für ein Individuum ebenso wie für eine Gruppe ist das Erzählen und Bewusstwerden der jeweils eigenen Geschichte und das Weben einer gemeinsamen Geschichte essentiell, um herauszufinden, was die gemeinsame story of now im Sinne einer konkreten Aufgabe und Herausforderung ist. Ganz betont ebenfalls die Notwendigkeit, das die geteilten Geschichten stories of hope sind, da Menschen (Einzelpersonen ebenso wie Unternehmen oder ganzen Gesellschaften) ohne Hoffnung auf eine Veränderung zum Besseren die Bereitschaft und Energie für mitunter langwierige und herausfordernde Wandlungsprozesse fehlt. Ganz betont, dass Storytelling und konkretes Handeln kein Gegensatz sind - vielmehr geht es darum, konkretes Handeln als inspirierende und einladende Geschichte zu erzählen. Die Präsidentschaftskampagne von Barack Obama 2008 hat explizit mit dem Organizing- und Storytelling-Ansatz von Marshall Ganz gearbeitet. 1.3. Zwischenfazit und ein tieferer Blick – drei Ebenen von Storytelling Diese erste Felderkundung zeigt, dass sich unter der großen Überschrift „Geschichten erzählen“ sehr viele Verständnisse von Storytelling verbergen. Diese umfassen zum Teil sehr unterschiedliche Arten von Erzählungen und auch sehr unterschiedliche Methoden. Die Gefahr von Missverständnissen scheint groß, wenn nicht genau definiert wird, von welcher Form von Geschichten gesprochen wird und wie diese Geschichten erzählt oder erhoben werden. Ohne einen solchen „Meta-Dialog“ könnte z.B. ein Dialog zwischen einem Regisseur, einer Therapeutin, einem Marketing-Manager, einem Organisationskulturforscher und einer Evaluatorin über den Nutzen von Storytelling zu einigen Verwirrungen führen. Bei dem Versuch, das komplexe Feld zu ordnen und zu verstehen, was Storytelling ist und umfasst, lassen sich drei Ebenen von Geschichten herausdestillieren, die jeweils Fragen aufwerfen, denen wir im folgenden tiefer nachgehen werden. 1. Storytelling beginnt und wirkt auf der individuellen Ebene. Es sind Individuen, die Geschichten erzählen und es sind Individuen, die durch Geschichten - intensiv - beeinflusst werden. Auf dieser individuellen Ebene, der Ebene der „Mikrogeschichten“, gibt es offensichtlich mehrere Arten oder Formen von Geschichten. Was hat es mit dem Verhältnis von Geschichten und Menschen auf sich? Welche Formen von Geschichten gibt es? Warum haben Geschichten einen so intensiven Einfluss auf Menschen – und welcher Einfluss ist das? 2. Storytelling findet neben der individuellen auch auf der kollektiven Ebene statt. Es gibt kollektive Geschichten, „public narratives“ oder „Makrogeschichten“, die in Wechselwirkung zu individuellen Geschichten stehen. Was ist der Charakter dieser kollektiven Geschichten oder von public narratives, wie entstehen sie und wie verändern sie sich? Was ist das Verhältnis von individuellen und kollektiven Geschichten? 3. Einige Varianten von Storytelling basieren auf einer Prozessdramaturgie, die Campbell mit dem Modell der Heldenreise beschrieben hat. Dieses Modell hat offensichtlich einen wirkmächtigen und transformativen Charakter. Was ist die Heldenreise? Wie ist sie gestaltet und welchen Bezug hat sie zu Transformationsprozessen? In welchem Verhältnis steht sie zur individuellen und kollektiven Ebene? 7 1.3.1 Storytelling auf der individuellen Ebene – Die Wirkung von Geschichten 1. Geschichten sind ur-menschlich und in unserem Denken verankert Geschichten sind etwas Ur-Menschliches und so alt wie die Menschheit selbst. In Jahrtausenden vor der Erfindung der Schrift haben Menschen ihre Erfahrungen, ihr Wissen, ihre Historie - also ihre Geschichte - in mündlicher Form als Erzählungen weitergetragen. Bis heute sind in allen Kulturen der Welt Geschichten Träger von menschlichem Wissen, Weisheit und menschlicher Erfahrung. Das Erzählen von Geschichten - Storytelling - ist damit eine der ältesten menschlichen Kulturtechniken überhaupt. Es gibt verschiedene Formen von Geschichten bzw. Narrativen: Spontan erzählte oder zum Teil auch gesungene Geschichten, bewusst inszenierte Geschichten, Sagen, Märchen, Mythen usw. Die Form von Geschichten kann variieren von einfachen Handlungsabfolgen bis hin zu komplexen Mustern. Laut neurowissenschaftlichen, psychologischen und erzähltheoretischen Theorien spiegelt sich diese „Geschichte der Geschichten“ im menschlichen Sein wider, indem der Werkzeugkasten zur Herstellung einer Geschichte zur Grundausstattung des menschlichen Gehirns gehört, der allen Menschen zur Verfügung steht und sofort genutzt werden kann. Laut dieser Theorien ist jeder Mensch ohne große Schulung in der Lage, Geschichten zu erzählen und Geschichten zu verstehen (vgl. Fuchs 2013, Rutledge 2011, Bohnsack 2003, Kallmeyer/Schütze 1976 u. 1977, Schütze 1987). Das menschliche Gehirn weiß jedoch offensichtlich nicht nur intuitiv, wie Geschichten funktionieren, sondern es denkt und erinnert sich auch in Geschichtsform (vgl. Baldwin 2007, Rutledge 2011). So werden Erlebnisse und Erfahrungen von Menschen rückblickend in eine aufeinander aufbauende Reihenfolge zusammengefügt und somit in eine sinnvolle Geschichte gegossen. Dieser Prozess ist in der Regel nicht bewusst, sondern er geschieht implizit, unbewusst. Neurowissenschaftliche und psychologische Ansätze verweisen darauf, dass dieses „Denken in Geschichten“ bereits sehr früh beginnt, da das Gehirn in den ersten Lebensjahren sogenannte „Mustervorlagen von Geschichten“ entwickelt, die Orientierung ermöglichen (vgl. Fuchs 2013). Diese „Ur-Geschichten“1 erzählen Menschen, wer sie sind, wo ihre Platz in der Welt ist, wie die Anderen sind und wie die Welt funktioniert. Obwohl laut Fuchs die Mustervorlagen von Geschichten individuell verschieden sind, gibt es unter Menschen übergreifende Mustervorlagen, z.B. die Erfahrung von Geburt, Kindheit, Erwachsenendasein, von Leben und Tod, Ankunft und Abschied, Liebe und Hass, Gut und Böse, Geborgenheit und Furcht, etc., lediglich ihre Ausgestaltung ist unterschiedlich (vgl. Fuchs 2013). Auch laut neurowissenschaftlichen und psychologischen Theorien eigene Ur-Geschichten stark verankert und sehr beständig sind, sind sie dennoch nicht in Stein gemeißelt. Sie können sich verändern und sie tun dies insbesondere dann, wenn neue Erfahrungen emotional intensiv sind (vgl. Egler 2012). Durch emotionale, berührende Erfahrungen – und auch durch das Hören von emotionalen, berührenden Geschichten - werden die eigenen Geschichten erweitert, angepasst und umgeschrieben. Dementsprechend ändert sich auch das Verhalten, denn das Gehirn strebt eine Konsistenz von Geschichten und eigenem Verhalten an (vgl. Baldwin 2007). Autor/innen unterschiedlicher Disziplinen verweisen darauf, dass diese eigenen, inneren Geschichten darüber, wer man ist, wie die Anderen sind und wie die Welt funktioniert, zunächst nicht bewusst, sondern Teil des impliziten Gedächtnisses sind. Polanyi spricht von „tacit knowledge“, d.h. stillschweigendem Wissen, „das in der Handlungspraxis impliziert ist und diese 1 Vertreter/innen der Transaktionsanalyse bezeichnen diese Mustervorlagen als „Skripte“, Vertreter/innen der Schematheorie des Lernens und der Schematherapie als „Schemata“: „ Neurobiologischer Hintergrund für die Bildung von Schemata ist die Fähigkeit des Gehirns, verschiedene Reizeindrücke miteinander zu verbinden und bei immer oder häufig an gleichem Ort und zu gleicher Zeit wiederkehrenden Auftreten fest miteinander zu verknüpfen“ (vgl. Egle, 2012, Steiner 2005, Roediger 2010, Young/Klosko 2008).). „Stories are how we think. They are how we make meaning of life. Call them schemas, scripts, cognitive maps, mental models, metaphors, or narratives. Stories are how we explain how things work, how we make decisions, how we justify our decisions, how we persuade others, how we understand our place in the world, create our identities, and define and teach social values“ (Rutledge 2011). 8 anleitet“ (Bohnsack 2010, S. 40; vgl. auch Polanyi 1985). Als dieses „tacit knowledge“ besitzen die inneren Geschichten eine enorme Wirkungsmacht, denn sie beeinflussen die Wahrnehmung und sie steuern das eigene Verhalten (vgl. Aronson/Wilson/Akert 2004). „Was wir umgangssprachlich auch Bauchgefühl nennen, ist (...) nichts anderes als eine Geschichte, deren Kern ein Handlungsvorschlag ist“ (Fuchs, S. 57). Auch wenn die Geschichten, die das eigene Leben tragen, zunächst unbewusst sind, werden sie in Form von Erzählungen sichtbar. Jede spontane Erzählung, d.h. jede Alltagserzählung oder „Stegreiferzählung“ (vgl. Schütze 1987) verdeutlicht, wie der Mensch sich selbst, die Anderen und die Welt wahrnimmt, was ihn antreibt, welche Haltung und welche Werte er hat - und wie er dies in Handlungen, in Verhalten gießt. Die eigenen Geschichten können durch Prozesse der Selbstreflexion, z.B. durch das angeleitete Tagebuchschreiben (vgl. Baldwin 2007) oder durch angeleitete Reflexionsprozesse in Therapieund Bildungssettings sowie im Rahmen von Evaluationsprozessen ins Bewusstsein gehoben werden (vgl. Fuchs 2011, Bohnsack 2011, Nentwig-Gesemann 2011). 2. Geschichten können spontan und bewusst inszeniert erzählt werden Von den inneren Geschichten lassen sich die erzählten Geschichten unterscheiden. Auf Basis unserer Felderkundung der Praxis zeigen sich uns zwei Formen oder Spielarten von Erzählungen. Die erste Spielart bezieht sich auf die dargestellte grundsätzliche Bedeutung und Wirkung von Geschichten zur Vermittlung von Wissen, Erfahrungen, Werten und Weisheiten sowie zur Herstellung von Gemeinschaft. Storytelling meint hier eine offenes, mitunter spontanes und eher unstrukturiertes Erzählen von Geschichten. Geschichten werden nicht bewusst anhand einer bestimmten Dramaturgie gestaltet und inszeniert, sondern entfalten sich intuitiv auf Grundlage der menschlichen Ur-Fähigkeit, stimmige und sinnvolle Geschichten zu erzählen. Schütze bezeichnet diese Form von Geschichten als Alltagsgeschichten oder Stegreiferzählungen (vgl. Schütze 1987). Diese offene, unstrukturierte Spielart von Storytelling findet, wie die Begrifflichkeit schon verdeutlicht, insbesondere Anwendung im Alltag. Sie kann auch in therapeutischen Prozessen oder in angeleiteten Gruppenprozessen zur Teamentwicklung und Gemeinschaftsbildung zur Anwendung kommen. Während es in therapeutischen Prozessen um Heilungsprozesse geht, steht in Gruppenprozessen das Erzählen und Hören der jeweils persönlichen Geschichten und der Aufbau von Vertrauen, einer gemeinsamen Identität, die Entwicklung von geteilten Werten, Zielen und Visionen im Fokus. Weitere Anwendungsfelder sind die Organisationsentwicklung und das Wissensmanagement, die spontan und unstrukturiert erzählte Geschichten als Rohmaterial nutzen, um implizites Wissen, Erfahrungen und Werte in einer Organisation herauszuarbeiten. In einer zweiten Spielart des Storytellings werden Geschichten bewusst eingesetzt, konstruiert und inszeniert, um bei einer Zielgruppe eine gewünschte Wirkung zu erzielen. Hier wird eine Geschichte nicht spontan (Stegreif) formuliert, sondern in der Regel schriftlich vorab entwickelt (z.B. in Form eines Storyboards) und entweder mündlich, schriftlich oder auch audio-visuell präsentiert. Das Erzählen einer Geschichte kann dem sehr unterschiedlichen Zwecken dienen, beispielsweise der Steigerung von Motivation und Identifikation bei Mitarbeitenden, Bildungs- und Aufklärungszwecken, der Gestaltung einer Prozessdramaturgie, dem Werben für eine politische Agenda, der Außendarstellung eines Unternehmens oder einzelner Projekte, der Imagebildung von Unternehmen oder dem Verkauf von Produkten. Klassische Felder sind also Mitarbeiter- und Unternehmensführung, Change-Management, Politik, Prozessarbeit, Marketing und Public Relations. In der Regel wird der strategische Einsatz einer bewusst konstruierten Geschichten und ihre Wirkmechanismen nicht transparent gemacht bzw. ist den Zielgruppen nicht bewusst. Diese Form des Storytellings geht daher stets mit der Gefahr der bewussten Manipulation von Zielgruppen zu eigenen Zwecken einher. 3. Geschichten sind sehr wirkmächtig Mit Blick auf die eingangs gestellte Frage nach den Wirkungen von Geschichten zeigt unsere Recherche, dass Autor/innen der unterschiedlichsten Disziplinen Geschichten eine sehr hohe Wirkmacht zuschreiben: 9 Fuchs beschreibt, dass das „Gehirn Geschichten liebt“, da Erzählungen im Gehirn positive Emotionen erzeugen, ähnlich wie sie durch Essen, Drogen und Sex ausgelöst werden (vgl. Fuchs 2013). Daher belohnen und unterhalten Geschichten und sie lösen Aufmerksamkeit aus. Bei spannenden Erzählungen bleiben Menschen lange Zeit aufmerksam, denn sie wollen wissen, wie die Geschichte ausgeht (vgl. Ganahl 2013). Interessante Geschichten werden daher weitererzählt und verbreiten sich daher sehr schnell (vgl. Fuchs 2013, Ganahl 2013). Die hohe Aufmerksamkeit und positiven Emotionen entstehen laut neurowissenschaftlicher Ansätze dadurch, dass Geschichten Orientierung und Sinnangebote vermitteln - und damit das beständig nach Orientierung und Sinn suchende Gehirn befriedigen: „Die Kultur des Erzählens ist ein perfektes Mittel, Sinn in die Vielschichtigkeit der Welt hineinzutragen. Geschichten schaffen eine Ordnung, zeigen Zusammenhänge auf und formulieren Visionen und Erfahrungen“ (Spath/Foerg, 2006, S. 8). „Den Sinn, den unser Handeln für uns macht, beziehen wir aus der Geschichte, die wir darüber erzählen. Das gilt für unsere persönliche Lebensgeschichte genauso wie für die Geschichte eines Unternehmens, eines Staates oder einer Geschichte unserer Welt. (vgl. Loebbert 2003:17)“ (Ganahl, S. 42). Geschichten ermöglichen laut Herbst, Fuchs und anderen Autor/innen weiterhin eine Orientierung, indem sie in stark verdichteter Form gesellschaftliches und kulturelles Wissen, Regeln, Werte und Normen vermitteln: „Geschichten zeigen, was das Denken und Handeln von Menschen leitet und wie Gemeinschaften und entstehen und bestehen können“ (Herbst 2011, S. 16). Die Bibel, eine der größten und bekanntesten Geschichtssammlungen, aber auch die Odyssee oder Grimms Märchen sind Beispiele dafür, wie Geschichten in sehr komprimierter Form sehr komplexes (Handlungs-)Wissen vermitteln können. Laut Ganahl und Herbst haben Geschichten weiterhin eine so hohe Anziehungskraft auf Menschen, da sie helfen, Probleme zu lösen. Denn Geschichten handeln oft von Konflikten und ihren Lösungen: „Konflikte sind der Kern guter Geschichten, die Lösung des Konflikts dient als Lerneffekt“ (Ganahl 2013, S. 43). Eine Besonderheit von Geschichten besteht aus Perspektive der bereits genannten Autor/innen darin, dass sie besonders stark erinnert werden. Da Erzählungen aufgrund ihrer Bildhaftigkeit alle Sinne ansprechen und intensive Emotionen erzeugen können, bleiben Geschichten im bewussten und unbewussten Gedächtnis verankert. Sowohl neurowissenschaftliche und psychologische als auch evaluationstheoretische Ansätze betonen, dass Geschichten eine stellvertretende Erfahrung („vicarious experience“) ermöglichen können (vgl. Fuchs 2013, Rutledge 2011, Stake 1995 und 1982). Diese stellvertretenden Erfahrungen können das Sein und Handeln der Menschen verändern, die die Geschichten hören: Wenn Menschen Geschichten hören, erleben sie diese emotional mit, fast so als würden sie diese Erfahrung selbst machen, das gehörte Wissen geht in das eigene Wissen ein: „Zur Wirkung (...) von Geschichten allgemein gehört das Entstehen von inneren Vorstellungsbildern, die wir vor allem unbewusst speichern und auf die wir schnell und leicht zugreifen können, wenn wir entscheiden oder handeln sollen“ (Herbst 2011, S. 16). „Stories take place in the imagination. To the human brain, imagined experiences are processed the same as real experiences. Stories create genuine emotions, presence (the sense of being somewhere), and behavioral responses“ (Rutledge 2011). Dieser Aspekt sowie das gemeinschaftsfördernde Element von Geschichten (s.u.) führt nach Aussagen von Theoretikern verschiedener Disziplinen dazu, dass Geschichten auch große Massen von Menschen inspirieren, bewegen und mobilisieren können (vgl. Herbst 2011, Fuchs 2013, Ganz 2011). So hat z.B. die Geschichte vom Tellerwäscher zum Millionär viele Menschen motiviert, in die USA zu gehen und dort Ihr Glück zu versuchen. Im politischen Bereich gibt es positive Beispiele, z.B. King´s „I have a dream“ oder negative Beispiele wie Hitlers Buch „Mein Kampf“. Ein aktuelles Beispiel für die Wirkmacht und Anziehungskraft von Geschichten ist die Präsidentschaftskampagne von Barack Obama im Jahr 2008, in der Obama sehr gezielt und bewusst seine eigene Herkunft und Lebensgeschichte mit der kollektiven Geschichte der USA und den aktuellen Herausforderungen zu einer stimmigen Gesamtgeschichte verwoben hat. 10 Eine weitere bedeutsame Wirkung von Geschichten besteht darin, dass sie Empathie, Identifikation und Vertrauen erzeugen. „By engaging our imagination, we become participants in the narrative. We can step out of our own shoes, see differently, and increase our empathy for others“ (Rutledge 2011). Insbesondere persönlich und authentisch erzählte Geschichten ermöglichen es, dass sich Menschen in den Geschichten selbst wiedererkennen und sich dem oder der Erzählenden verbunden fühlen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Geschichten eigene „Urgeschichten“ berühren: „Die Bezugsgruppen können sich identifizieren: Spricht sie eine Geschichte stark emotional an, (...) können sie sich mit der Geschichte und den darin Handelnden identifizieren“ (Herbst 2011, S. 78). Damit einhergehend erzeugen Geschichten Verbindung und sie formen Gemeinschaften. Wenn Menschen die Geschichten anderer Menschen hören, entsteht ein Gefühl der Identifikation, Vertrautheit und Verbindung. Menschen erkennen, dass sie – trotz aller Unterschiede - Menschen sind, die ähnliche Erfahrungen teilen. „Stories are about collaboration and connection. They transcend generations, they engage us through emotions, and they connect us to others. Through stories we share passions, sadness, hardships and joys. We share meaning and purpose. Stories are the common ground that allows people to communicate, overcoming our defenses and our differences. Stories allow us to understand ourselves better and to find our commonality with others“ (Rutledge 2011, vgl. auch Baldwin 2007). 1.3.2 Storytelling auf der kollektiven Ebene – Gesellschaftliche Narrative Geschichten sind also seit jeher ein elementarer Bestandteil menschlichen Verstehens und Handelns in der Welt. Ebenso wie Individuen brauchen und nutzen auch Gemeinschaften und Gesellschaften Geschichten, um Sinn und Orientierung herzustellen. Geschichten, die für ganze Gesellschaften sinnstiftend wirken, werden als Narrative und große Erzählungen bezeichnet. Ein eingängiges Beispiele für eine solche Erzählung ist der amerikanische Traum mit seiner Botschaft: wenn du dich anstrengst, kannst du es ganz nach oben schaffen („vom Tellerwäscher zum Millionär“) und dem Optimismus, dass die Zukunft eine Verbesserung gegenüber der Gegenwart sein wird. Die Narrative einer Zeit stiften allerdings nur solange Sinn, Zusammenhalt und Orientierung, wie sie mit der alltäglich erfahrbaren Lebensrealität von Menschen und Gesellschaften erkennbar übereinstimmen. Narrative und Lebenspraxis stehen also in einem dynamischen Wechselspiel und beeinflussen sich gegenseitig. Wenn die Narrative einer Zeit mit der Lebensrealität nicht mehr übereinstimmen und nicht mehr zur Lösung von aktuellen Herausforderungen beitragen, beginnen sie zu erodieren. Krisen, neuartige Herausforderungen und Transformationsprozesse in der materiellen Welt gehen also unweigerlich mit einem Wandel der sinnstiftenden Narrative einher. Angesichts der offensichtlichen ökonomischen, sozialen und ökologischen Verwerfungen und Krisen unserer Zeit ist weist der Storytelling-Experte Jonah Sachs darauf hin, dass zentrale Narrative der Moderne ihre sinnstiftende Kraft zunehmend einbüßen - er nennt u.a. den Glaube an die unsichtbare Hand des Marktes, an Wachstum, Fortschritt und Technik. Sachs spricht angesichts dieser Entwicklung von „broken myths“ und entstehenden „myth gaps“ (Sachs 2012, S. 95) also einer Art mythologischer, narrativer Leerstelle, die kollektive Verunsicherung, Sinnleere und Orientierungslosigkeit hervorrufen. Das Verblassen von alten Narrative geht automatisch einher mit einer kollektiven Suchbewegung nach neuen, sinnstiftenden und tragfähigen Narrativen, mit denen sich die Herausforderungen einer Zeit bewältigen lassen. Da wir es hier mit kollektiven Ebenen und kulturellen Diskursen zu tun haben, die ganze Gesellschaften und Kulturräume umfassen, können diese Narrative nicht am Reisbrett entworfen werden. Neue sinnstiftende Narrative können nur gemeinsam von vielen Menschen in einer kollektiven Suchbewegung ge- und erfunden werden, oder anders formuliert: Neue sinnstiftende Geschichten emergieren im Prozess des Erzählens und Handelns. Obwohl dieser Prozess nicht von gezielt gesteuert werden kann, können Einzelne, Gruppen und Unternehmen doch bewusst einen Beitrag zu dieser Suchbewegung leisten, indem sie ihr eigenes Erleben und Handeln bewusst als Geschichte beschreiben und einweben in ein größeres gesellschaftliches Narrativ und diese Geschichte öffentlich erzählen. Jede Version einer Geschichte ist und kann dabei immer nur eine von vielen möglichen Geschichten sein - es geht daher nicht darum, die einzig wahre Geschichte zu finden, sondern die zum jetzigen Zeitpunkt für 11 eine Gruppe von Menschen stimmige und sinnstiftende Geschichte zu erzählen, mit der sich die Fragen und Herausforderungen der Gegenwart angehen lassen. In diesem Sinne wohnt Geschichten (individuellen wie kollektiv geteilten) ein Element von Selbstermächtigung inne Menschen sind aus sich heraus in der Lage, sich mit Hilfe einer für sie sinnhaften Geschichte zu gestaltenden Akteuren mit einer Ausrichtung in Richtung Zukunft zu machen. Ein Beispiel: Stories of self, us and now - and hope Marshall Ganz, Professor für Community Organizing und Leadership an der Harvard Universität, beschreibt, wie Leadership und Storytelling zusammenhängen und welche zentrale Rolle Geschichten und Werte spielen, damit der Schritt vom Wissen zum Handeln gerade angesichts von Unsicherheit gelingt. „Public narrative is a leadership practice of translating values into action“ (Ganz 2011, S. 274). Ganz zufolge reicht kognitives, analytisches Wissen um eine Situation alleine nicht aus, um Menschen zum Handeln zu bewegen. Ein tieferes Verständnis und die Motivation zum Handeln entsteht erst dann, wenn das Erlebte als Geschichte und in Verbindung mit eigenen Werten erfahren wird. „To answer the why question—why does it matter, why do we care, why must we risk action—we turn to narrative. The why question is not simply why we think we ought to act, but rather why we must act, what moves us, our motivation, our values“ (Ganz 2011, S. 275). Ähnlich wie der GIZ-Ansatz Leadership for Global Responsibility geht auch Ganz von einem Leadership-Verständnis aus das gesellschaftliche Themen und sozialen Wandel in den Mittelpunkt rückt und daher eine neue öffentliche Geschichte erzählen will und muss. „Leadership, especially leadership on behalf of social change, often requires telling a new public story, or adapting an old one: a story of self, a story of us, and a story of now (Ganz 2011, S. 282). Die Story of self ist die eigene, persönliche Geschichte, in der ein Mensch erzählt, woher er kommt, was ihm wichtig ist, welche Werte ihm wesentlich sind und welche wichtigen Entscheidungen und Erfahrungen das eigene Leben geprägt haben: „Telling one's Story of Self is a way to share the values that define who you are— not as abstract principles, but as lived experience. We construct stories of self around choice points—moments when we faced a challenge, made a choice, experienced an outcome, and learned a moral“ (Ganz 2011, S. 283). Wenn Menschen - eine Gruppe, ein Team, eine Gemeinschaft - sich die Zeit nehmen, einander ihre stories of self zu erzählen und die Geschichten der Anderen wertschätzend zu bezeugen, kann eine gemeinsame Story of us entstehen. Eine solche gemeinsame Geschichte erzählt Menschen davon, wer sie sind, was ihre geteilten Werte sind, welche Erfahrungen sie auf ihrem bisherigen Weg gemacht haben, und wie sie ihre gegenwärtige Situation erleben. Erst wenn das Gefühl einer gemeinsamen, geteilten Geschichte entsteht, ist der Boden bereitet für eine Story of now, die davon erzählt, was es jetzt für Menschen/ein Kollektiv in diesem Moment der Geschichte zu tun gibt, in ihr formuliert sich der Auftrag, die Aufgabe, die Herausforderung, die es jetzt ganz konkret gemeinsam anzugehen gilt. Die Story of Now ist somit Katalysator, der geteilte Intention in kollektives Handeln überführt. Ganz betont, dass es keine Story of Now ohne eine Story of Us geben kann - ohne das Gefühl einer geteilten Identität und Geschichte, ohne gemeinsame Werten und Hoffnungen gibt, fehlt der Boden für kollektives und öffentliches Handeln. Eine Story of Now geht immer einher einer dringenden Herausforderung oder einer Krise, angesichts derer eine Gruppe eine Entscheidung treffen muss. „A story of now articulates an urgent challenge—or threat—to the values that we share that demands action now. What choice must we make? What is at risk? And where's the hope? (…) A most powerful articulation of a story of now was Dr. Martin Luther King's speech delivered in Washington, D.C., on August 23,1963, often recalled as the "I Have a Dream“ speech“ (Ganz 2011, S. 286). Marshall Ganz betont mit Bezug auf die Rede von King, dass eine Story of now immer auch eine Story of Hope sein muss, damit genügend Energie, Bereitschaft zum Aufbruch und Resilienz für mitunter langwierige und herausfordernde Wandlungsprozesse vorhanden ist. (vgl. Ganz 2011 S. 279). Der Ansatz story of self, us and now scheint uns in besonderer Weise mit dem GIZ Ansatz Leadership for Global Responsibility kompatibel und für diesen bereichernd, da er wesentliche Aspekte des Ansatzes aufgreift - die zentrale Rolle von Werten, die Verknüpfung von individuellem und kollektivem Leadership und die Ausrichtung auf soziale Innovation, Verantwortung und Transformation angesichts von Unsicherheit. Wir stellen daher im Anhang eine methodische Umsetzung von story of self, us and now vor. 12 1.3.3 Storytelling als Transformationsansatz - Die Heldenreise Die dritte Ebene oder Spielart des Storytelling basiert auf dem Begriff der Heldenreise, der auf den Mythenforscher Joseph Campbell zurückgeht (Hauptwerk: Der Heros in tausend Gestalten, erschienen 1947). Campbell entdeckte in unzähligen Mythen und Märchen aus aller Welt und den verschiedensten geschichtlichen Epochen jenseits aller kulturspezifischen und zeitgeschichtlichen Eigenheiten eine pankulturelle, universelle Struktur, die allen Mythen zugrunde liegt. Die Heldenreise beschreibt damit Grundmuster und Gesetzmäßigkeiten von Transformation und Potenzialentfaltung, die Menschen offenbar seit Menschengedenken kennen, erfahren und leben. Diese grundlegende Struktur findet sich in verschiedenen Arten von Geschichten: „Alle Geschichten bestehen im Grunde aus einer Handvoll stets wiederkehrender Bauelemente die uns auch in Mythen, Märchen, Träumen und Filmen immer wieder begegnen“ (Vogler 2010, S. 35). Erzählt werden diese Reisen in äußeren Bildern, Handlungen und Herausforderungen und können auch als solche erfahren werden - sie meinen und beschreiben jedoch ebenso sehr innere, seelische Reisen und Wandlungsprozesse. Der Kern der Heldenreise liegt laut Seghezzi „in der Fähigkeit, in Konfrontation mit dem Unbekannten über die bisherigen Grenzen hinauszuwachsen. (…) Die Heldenreise (...) dient dabei als geistige Landkarte. Sie zeigt uns die Stationen auf, die durchlaufen werden müssen, wenn ein Mensch zu einem Bewusstseinswandel gelangen möchte“ (Seghezzi 2012, S. 69). Inspiriert durch die Arbeit von Joseph Campbell haben eine Vielzahl von Menschen die Struktur der Heldenreise für ihre jeweiligen Praxisfelder fruchtbar gemacht und dabei unterschiedliche Aspekte und Stadien der Reise vertieft. Zu den bekanntesten Adaptionen zählen die Arbeiten von Christopher Vogler (Die Odyssee des Drehbuchschreibers) und Paul Rebillot (Die Heldenreise. Das kreative Abenteuer der Selbsterfahrung). 2 Obwohl sich alle Heldenreise-Adaptionen in der Substanz und bezüglich der einzelnen Stationen der Reise an Campbell orientieren, variieren die Begriffe zur Beschreibung der einzelnen Stationen leicht. Campbells Sprache ist stark von seinem mythologischen Hintergrund geprägt, mitunter schwer verständlich und für heutige Anwendungen daher nicht ideal. Wir beziehen uns daher in der nachfolgenden Beschreibung der Heldenreise auf die Begrifflichkeiten aus der Heldenreise-Adaption der Transformationsforscherin Ursula Seghezzi (Das Wissen vom Wandel). Zum einen stellt Seghezzi auf der Basis einer vergleichenden Gegenüberstellung von Campbell, Vogler und Rebillot einen vollständigen Prozessablauf der Heldenreise dar.3 Zum anderen betont Seghezzi den transformativen Charakter der Heldenreise und setzt sich kritisch mit den Begriffen des „Helden“ auseinander. Sie hebt außerdem stärker als Vogler (Film und Drehbuch) sowie Rebillot (Persönlichkeitsarbeit) hervor, dass die Heldenreise zwar einerseits ein Prozess der persönlichen Wandlung und Weitung ist, aber dieser Prozess in gleicher Weise auch den Aspekt des Dienens und der Bereicherung einer konkreten menschlichen Gemeinschaft/Gesellschaft beinhaltet. Diese Aspekte sind anschlussfähig an den Ansatz Leadership for Global Responsibility. Grundsätzlich erfolgt die Darstellung der Heldenreise als Rad - die Reise beginnt in der gewohnten Welt und endet mit der Rückkehr dorthin. Allerdings ist der Held oder die Heldin 4 bei ihrer Rückkehr eine andere geworden - in diesem Sinne gleicht die Heldenreise nicht nur einem zyklischen Prozess, sondern auch einer aufwärtsführenden beziehungsweise weitenden Spiralbewegung. 2 Einige weitere Arbeiten zur Heldenreise sind: Heldenprinzip. Kompass für Innovation und Wandel, von Trobisch et alter, 2012; Business Hero, von Angelika Höcker, 2010; Neue Helden braucht das Land, von Franz Mittermair, 2011. 3 So findet sich bei Seghezzi auch eine sehr dienliche graphische Übersicht über die verschiedenen Bezeichnungen, die Joseph Campbell, Christopher Vogler und Paul Rebillot den einzelnen Stationen der Heldenreise gegeben haben (vgl. Seghezzi 2012 S. 142). 4 Um gedanklich flexibel zu bleiben, sprechen wir mal von Held, mal von Heldin und ab und an von ProtagonistIn. Was die Verwendung des Begriffs „Heldin“ angeht, teilen wir Paul Rebillots Meinung nicht: „Der Ausdruck ‚Held‘ bezieht sich sowohl auf Frauen wie auch auf Männer, denn ich halte das Wort ‚Heldin‘ für eine abgeschwächte Form, der es an Würde fehlt.“ (Rebillot 2011, S. 30) 13 Die gewohnte Welt Die Reise der Heldin beginnt in ihrer alltäglichen Welt, der Komfortzone des Gewohnten und Bekannten. Hier kann routinierte Sorglosigkeit und Zufriedenheit ebenso vorherrschen wie eine latente, aber vertraute Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben oder ein lange bekanntes und ebenso lange ertragenes Leid. 1. Etappe: Der Ruf und die Schwelle uns Unbekannte Die Reise der Heldin beginnt mit einem Ruf, der die Routine der gewohnten Welt durchbricht. Der Ruf kann vielfältige Formen annehmen, wie z.B. äußere Ereignisse (eine Einladung, Geburt oder Tod eines geliebten Menschen) oder auch eine innere Unruhe die Aufbruch und Veränderung einfordert. Der Ruf kann laut oder zunächst kaum hörbar sein und langsam anschwellen. Er kann ausgelöst werden durch Not und Ungleichgewicht im Leben eines Menschen oder einer Organisation aber ebenso in einer Phase der Sättigung und vermeintlichen Zufriedenheit erfolgen. Campbell nennt den Ruf eine „aufkeimende Entwicklungsabsicht“ (Campbell in Höcker 2010, S. 63). Mitunter lässt sich der Ruf eine Weile ignorieren, aber irgendwann kommt der Held nicht umhin, sich dem Ruf zu stellen. Dem Ruf wohnt eine Frage, Motivation oder Aufforderung inne. Nicht selten ist diese diffus, und so braucht es an dieser Stelle „Vertrauen, das auf dem Weg noch mehr oder andere Potenziale liegen, als in dieser Phase schon begreifbar sind“ (Trobisch 2012, S. 60). Der Ruf ist gleichbedeutend mit der Aufforderung, die Komfortzone des gewohnten Lebens zu verlassen. In aller Regel betritt kurz nach dem Ruf die Weigerung die Bühne, ein innerer oder äußerer Widerstand, der vor dem Aufbruch warnt oder diesen verhindern will. Oftmals speist sich die Weigerung - innere ebenso wie äußere - aus der „Angst, die Beherrschung über die Wirklichkeit zu verlieren“ und ist ein Versuch „die Kontrolle über die Dynamik des Geschehens zu behalten und wieder herzustellen“ (Trobisch 2012, S. 65). Dramaturgisch ist die Weigerung somit eine Prüfung des Rufs - ist der Wunsch und Wille nach Wandel stark genug, auch angesichts von Widerständen? Hier gilt es, die Gründe der Weigerung ernst zu nehmen und zu erforschen und die Ambivalenzen auszuhalten, ohne sich im Widerstand einzurichten und dort hängen zu bleiben. Zugleich verdeutlicht das Zögern auch, dass bei der Reise tatsächlich etwas auf dem Spiel steht. An dieser Stelle der Heldenreise taucht oftmals eine Mentorenfigur auf. Diese kann eine reale Person ebenso wie ein inneres Helferwesen sein. Die Aufgabe des Mentors ist es, die Heldin in ihrer Wandlungsbereitschaft zu unterstützen und ihr als Partner auf der weiteren Reise helfend zur Seite zu stehen. Einem wohlwollenden Mentoren zu begegnen ist ein Geschenk - um es annehmen und nutzen zu können braucht der Held in dieser Situation allerdings „Selbstreflexion und den Mut, sich selbst einzugestehen, nicht alles zu wissen und aus eigener Kraft schultern zu können. Es erfordert von ihm Demut, das Vertrauen, sich auf Fremdes einzulassen und die Sensibilität für die richtigen Fragen am rechten Ort“ (Trobisch S. 2012, S. 71). Der Wechsel von der gewohnten Welt in das unbekannte Land ist markiert durch eine Schwelle ins Unbekannte. Jenseits der Schwelle liegt eine unbekannte Zone, in der andere Regeln gelten als in der bekannten Welt, alte Gewissheiten an Gültigkeit verlieren und nicht absehbare Erfahrungen warten. An dieser Schwelle begegnet der Heldin ein Schwellenhüter - eine äußere oder innere Figur, die ihr (scheinbar bzw. zunächst) den Zugang zur anderen Welt versperrt. Trobisch beschreibt die Schwellenhüterfigur als eine Metapher für „innere und äußere Kontrollinstanzen, welche die momentane Veränderungsfähigkeit des Systems (bzw. der Person, Anmerkung der Verfasser) durchleuchten (Ressourcen, Zeitpunkt, Umfeld etc.)“ (Trobisch 2012, S. 78). Das Überqueren der Schwelle markiert auf der Reise den point of no return - danach ist eine Rückkehr in das gewohnte Leben nicht mehr möglich. Entsprechend braucht es einen bewussten Entschluss, diesen Weg zu gehen - oder umzukehren in die gewohnte Welt, denn auch das ist eine Möglichkeit. In beiden Fällen ist entscheidend, dass der Held Verantwortung für seinen weiteren Weg übernimmt.5 5 Im Film Matrix wird das Überqueren der Schwelle anschaulich inszeniert: Nachdem der Protagonist Neo zu Beginn des Films erfahren musste, dass sein vermeintlich reales Leben nur eine Computersimulation ist, stellt ihn Morpheus (der in dieser Szene der Schwellenhüter ist) vor die entscheidende Wahl: Schluckt Neo die blaue Pille, entscheidet er sich für 14 2. Etappe: Prüfungen, Hingabe und Ganzheitserfahrung „Nachdem der Held einmal die Schwelle überquert hat, bewegt er sich in einem Traumland (…) wo er eine Reihe von Prüfungen zu durchstehen hat“ (Campbell 1999, S. 91). In diesem jenseitigen Land macht der Protagonist Erfahrungen jenseits der bisherigen Komfortzone und bekannter Regeln, erfährt fundamental Neues, begegnet eigenen Ängsten und Schattenseiten. Ganz gleich ob der Weg der Prüfungen handfeste äußere oder innere Herausforderungen bereithält, er ist ein „Erfahrungsfeld, in dem der Held dem noch nie Erlebten, dem noch die Gedachten, Gefühlten, Getanen begegnet“ und stellt somit einen „iterativen Prozess voller Lernschleifen“ (Trobisch 2012, S. 85) dar. „Aus dem kreativen Nacheinander von Versuch und Scheitern entstehen widersprüchliche Gefühlslagen. Freude und Enttäuschung, Glück und Trauer, Liebe und Abweisung liegen oft nah beieinander. (…) In der Polarität von Erfolg und Misserfolg dringt der Held immer tiefer und konkreter zu den Quellen seines Rufs vor.“ (ebd.) Diese Phase der Reise die Begegnungen mit dem Unbekannten, Lernschleifen, Erfahrungen des Scheiterns und Eingestehen eigener Grenzen können aus Perspektive der bisherigen Ich-Identität und für das menschliche Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit eine Herausforderung darstellen oder gar als Bedrohung empfunden werden. Dieses Hindernis lässt sich jedoch nicht vermeiden - vielmehr fordert die Reise an dieser Stelle vom Helden die Bereitschaft zur Hingabe und die Fähigkeit, Loszulassen und sich auf unbekannte Ebenen des Lebens einzulassen. Viele Märchen und Mythen - insbesondere jene, die von der Initiation junger Frauen und Männer handeln - erzählen davon, dass der Held/die Heldin an dieser Stelle der Reise in die Gesetzmäßigkeiten des Lebens und eine größere, den Menschen übersteigende und einbettende Ordnung erfolgte. In modernen Spielarten der Heldenreise - in Filmen ebenso wie in Persönlichkeitsseminaren - fehlt dieser Aspekt in der Regel. Auf der Reise durch die Welt jenseits der Schwelle nähert sich der Protagonist nun dem tiefsten Punkt. Auf dem Weg dorthin verdichtet sich die Energie nochmals und spitzt sich krisenhaft zu. Vogler spricht vom „Vordringen zur tiefsten Höhle“, Campbell spricht von der „entscheidenden Prüfung“. Dieser tiefste Punkt der Reise ist entscheidend für die Wandlung des Helden. Die Herausforderung an dieser Stelle und das Geheimnis der tiefsten Höhle ist die Begegnung mit dem Tod bzw. der eigenen Sterblichkeit und ein symbolisches Sterben. Während in einer Kultur der Todesverdrängung diese Erfahrung ausschließlich als grausam und potentiell vernichtend erfahren wird, erzählen viele Mythen aus aller Welt davon, dass die Begegnung mit der Wahrhaftigkeit des Todes in einer Haltung der Hingabe, Annahme und Demut den Zugang zu einem seelischen Raum zwischen Leben und Tod öffnen kann, in dem tiefe Ganzheitserfahrungen mit dem Leben möglich werden. Wir finden in allen spirituellen Traditionen der Welt diesen leeren und offenen Raum. Der Daoismus beschreibt diesen Raum mit dem Begriff wu wei, was übersetzt bedeutet „nicht wollen, nicht wissen, nicht tun“. Die 3. Etappe: Gabe und Schwelle in den Alltag Der tiefste Punkt ist zugleich der Wendepunkt der Heldenreise. Auf den symbolischen Tod folgt die Wiedergeburt, die Rückkehr ins Leben. Von nun an geht es wieder aufwärts in Richtung der alltäglichen Welt. Wenn Hingabe und ein Absinken in die Tiefe tatsächlich stattgefunden haben, erhält der Held an dieser Stelle der Reise eine Gabe, die in Mythen oftmals als Elixier beschrieben wird. „Die Gabe ist eine Frucht der Hingabe an die Ganzheitserfahrung (…). Die Gabe ist Schau des Ganzen, ist Erkenntnis der inneren Ordnung des Gesamtzusammenhanges und des eigenen Platzes darin“ (Seghezzi 2012, S. 210). Die Gabe kann auch das Gewahrwerden von neuen Qualitäten, von jetzt bewusst gewordenen Potenzialen, ein geweitetes Selbst-Bewusstsein, eine veränderte Grundhaltung dem Leben gegenüber oder ein neues Gefühl von innerer und sinnstiftender Ausrichtung sein. Im Rad der Heldenreise liegt die Erhalt der Gabe dem Ruf zu Beginn der Reise diametral gegenüber, und oftmals zeigt sich in der Gabe eine erste Antwort auf den Ruf. Meist ist es an eine erinnerungslose Rückkehr in die alte Scheinwelt und somit seine gewohnte Welt. Schluckt er aber die rote Pille, bedeutet das seinen endgültigen Ausstieg aus dem alten Leben mit allen unabsehbaren Konsequenzen (im Bild des Films wird sein Körper abgekoppelt von den Maschinen, die bisher die Scheinwelt der Matrix in seiner Wahrnehmung erzeugt haben). Neo entscheidet sich für die rote Pille - und überquert damit die Schwelle ins Unbekannte Land. 15 dieser Stelle noch schwierig, die Gabe und das Erfahrene in konkreter sprachlicher Form zu benennen, denn mythische Erfahrungen finden auf der Ebene von Bildern, intuitiven Erkenntnissen, Gewissheiten, Melodien und Empfindungen statt, die sich mit Worten oft nur unzureichend fassen lassen. Gleichwohl beginnt hier nach der Phase der Auflösung des Alten der Prozess der Formulierung und Verdichtung des Neuen, der entscheidend ist, damit aus der Gabe für den Einzelnen im Verlauf der weiteren Reise ein Geschenk für die Welt und die Gemeinschaft der Vielen werden kann. Mit dem Erhalt der Gabe rückt der Aspekt des Dienst mehr und mehr in die Vordergrund. Die Aufmerksamkeit verlagert sich vom Individuum hin zur Gemeinschaft, von der persönlichen Erfahrung des Helden für sich selbst hin zur Weitergabe der Erfahrung für andere. Dieser Wechsel gelingt umso besser, je mehr der Held im Verlauf der Reise „sein Zentrum vom Ego zum Selbst“ verlagert hat (Vogler 2010, S. 301). Der Weg zurück in den Alltag führt über eine zweite Schwelle, die Schwelle in den Alltag. Wie schon die Schwelle ins unbekannte Land stellt die Schwelle in den Alltag eine energetische Zuspitzung und ein veritables Hindernis für die Heldin dar. Erneut braucht es Mut und dieses Mal den Entschluss, ganz zurück in die Welt zu gehen. Diese Aussicht kann neben Vorfreude auch Ängste und Unlust auslösen - „manchmal verweigert der Held die Rückkehr, weil die schillernde Anderswelt aufregender ist als die erinnerte graue Landschaft des banalen Alltags“ (Trobisch S. 104). Während die erste Schwelle ins unbekannte Land die innere Auseinandersetzung und Loslösen aus dem Alltag und der alten Ich-Identität/ dem Ego markiert und der Bezugspunkt der geistige Seelenraum wird, geht die Blickrichtung an der Schwelle in den Alltag nach Außen, und der Bezugspunkt wird die materielle Welt des menschlichen Alltags und der Dienst für die Gemeinschaft. Es braucht also den Entschluss, mit offenem Herzen zurückzugehen und die letzte Etappe der Reise anzugehen. Die 4. Etappe: Berufung und Hoch-Zeit Das letzte Viertel der Reise - die Reintegration in den Alltag - ist ein essentieller Bestandteil der Reise, ohne den sie unvollständig bleibt und in gewisser Weise sinn- und wirkungslos. Wie in alle guten Geschichten entscheidet der Ausgang der Heldenreise auch über die „Moral von der Geschicht“, zeigt sich erst mit der Rückkehr in den Alltag, welche Wirkung die Geschichte entfaltet. Seghezzi betont, dass die Heldenreise, um ihre ganze Wirkung entfalten zu können, nicht als „Selbsterfahrungstrip“ gestaltet werden oder in einem narzisstischen Triumphzug enden darf. „Was auch immer im Land jenseits der Schwelle erlebt wurde - was auch immer erkannt, was auch immer geschenkt wurde - die Reise vollendet sich erst, wenn das Erlebte und Erkannte zurück in die Gemeinschaft gebracht wird und sich dort nun in den Dienst am alltäglichen Leben entfalten kann“ (Seghezzi 2012, S. 213). Hier kommt die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes heros zur Geltung: „dienen“ und „schützen“. Eine Heldenreise bleibt auch dann unvollständig, wenn es trotz guter Absichten nicht gelingt, etwas von den Gaben und Erfahrungen der Reise fruchtbar zu machen in der realen, alltäglichen Welt. Mitunter kann diese Phase die größte und mühseligste Herausforderung der ganzen Reise werden - und gerade deshalb verdient sie viel Aufmerksamkeit. „Viele Veränderungen scheitern nicht deshalb, weil die höchste Prüfung nicht bestanden wurde, sondern weil im Anschluss daran die „Luft raus“ ist und die Energie der Transformation nicht bis zur Implementierung in die reale Lebenswelt reicht“ (Trobisch 2012, S. 106). Und auch wenn Energie und Begeisterung vorhanden sind, machen die Rückkehrenden oftmals die Erfahrung, dass sich der Herkunftskontext zunächst wenig Interesse an den Erfahrungen des Reisenden zeigt, und mitunter sogar offenes Misstrauen an den Tag legt. Die Dramaturgie der Drehbuchschreiber beschreibt diese Phase denn auch als Klimax, als finalen Höhepunkt der Geschichte - hier entscheidet sich, ob die Heldin das auf der Reise gehobene Potenzial und die empfangenen Gaben als Berufung leben kann oder scheitert. Berufung meint hier nicht das Erreichen eines absoluten Zustands. Vielmehr ist entscheidend, ob der Held als Gewinn der Reise etwas mehr von seinem ureigenen Potenzial in die Welt bringen kann und damit ein Stück mehr von dem verwirklicht, was er (jetzt) sein kann. Nachdem es zu Beginn der Reise darum ging, sich aus den Sicherheiten und Gewohnheiten des Alltags zu herauszulösen und den Schritt über die Schwelle ins Unbekannte zu wagen, geht es nun darum, eine neue Verbindung zum eigenen Herkunftskontext zu knüpfen. „Die Dinge müssen jetzt durch vielfältige Übersetzungen und Transferleistungen strukturiert und so aufbereitet werden, dass auch andere etwas damit anfangen können. Der Held sucht Anschlussmöglichkeiten und 16 muss anschlussfähig werden.“ (ebd.) Damit dies gelingt, braucht die Heldin gleichermaßen Sensibilität und Kooperationskompetenz, Demut und Empathie. Die Fallstricke sind Hochmut und Missionierungsdrang auf der einen Seite und ein zu wenig an Selbstbewusstsein und Resilienz auf der anderen Seite. Je stärker die Erfahrung der Heldenreise den Protagonisten von innen her gewandelt, geweitet und neu ausgerichtet hat, desto eher wird er aus dieser Haltung und aus dieser inneren Verfasstheit heraus handeln können und seine Umgebung durch eine einladende Ausstrahlung verändern. Wirkung und Wandel werden also auch an dieser Stelle der Reise weniger gemacht und durchgesetzt, sondern sind das Resultat von „Handlungen aus dem Kern der inneren Substanz“ (Trobisch 2012, S. 122). Die innere Wandlung und Weitung ist also der Schlüssel zu Wandel und Innovation im Außen. Vogler fasst diesen Zusammenhang zusammen: „Für eine neue Welt Bedarf es auch eines neuen Selbst. Als die Helden die andere Welt betraten, mussten sie ihr altes Selbst (...) abwerfen. Nun müssen sie eine neue Persönlichkeit entwickeln, die den Anforderungen der gewohnten Welt entspricht. Diese neue Persönlichkeit sollte die besten Eigenschaften des alten Selbst und die gesammelten Erfahrungen der Reise widerspiegeln.“ (Vogler in Seghezzi 2012 S. 336). Der Abschluss der Heldenreise ist wahlweise beschrieben worden als „Hoch-Zeit“ (Seghezzi 2012), als „Meisterschaft zweiter Welten“ (Trobisch 2012) oder als „Rückkehr mit dem Elixier“ (Campbell) beschrieben worden. Der Kreis hat sich geschlossen und gleichzeitig geweitet, bis irgendwann von neuem ein Ruf ertönt und zu einer neuen Reise der Wandlung und Potenzialentfaltung einlädt. 2. Storytelling in Leadership Development Programmen 2.1. Einleitung Auf der Basis einer Felderkundung von aktuellen Anwendungsfeldern haben wir drei Ebenen des Geschichtenerzählens voneinander unterschieden und herausgearbeitet. Da diese drei Ebenen sowohl Stegreiferzählungen als auch als bewusst inszenierte Geschichten umfassen und sich letztere oft der Prozessdramaturgie der Heldenreise bedienen, beschreiben wir nun eine Reihe von konkreten Möglichkeiten, wie diese verschiedenen Formen von Storytelling für die konzeptionelle Weiterentwicklung, Durchführung und Wirkungsmessung von Leadership Development Programmen im Kontext der Internationalen Zusammenarbeit genutzt werden können. Wir beginnen damit aufzuzeigen, wie Storytelling die Wirkung der Leadership-Arbeit bereichern bzw. verstärken kann. Hierbei orientieren wir uns sowohl an den drei Ebenen von Storytelling als auch den verschiedenen Storytelling-Formen (Stegreiferzählung vs. bewusst inszenierte Geschichte). Im ersten Kapitel wird aufgezeigt, wie das Heldenreisemodell die konzeptionelle Gestaltung von Leadership-Journeys des Ansatzes Leadership for Global Responsibility bereichern kann (Kapitel 2.2). Der Fokus liegt hier auf der Prozessdramaturgie der Heldenreise für die Gesamtkonzeption von Leadership Journeys, gleichzeitig werden erste Anregungen zur methodischen Umsetzung gegeben. Der zweite Teil (Kapitel 2.3) befasst sich mit der individuellen und kollektiven Ebene des Storytellings und dem Zusammenhang zwischen beiden Ebenen. Hier wird mit Bezug auf die Wirkmechanismen von Geschichten und die theory of self, us and now aufgezeigt, wie und welche Storytelling-Methoden eingesetzt werden können, um individuelle Lernprozesse und Kompetenzerwerb zu fördern und damit zugleich die Entwicklung kollektiver Narrative zu formen. Die Empfehlungen der Kapitel 2.2 und 2.3 verstehen sich als Auflistung von Möglichkeiten. Sie können entweder kombiniert oder getrennt voneinander umgesetzt werden. Nach diesem Fokus auf die „Wirkungserzielung“ wechseln wir die Perspektive und gehen darauf ein, welchen Mehrwert Storytelling für die „Wirkungserfassung und Wirkungsdarstellung“ von Leadership Development Programmen bietet (Kapitel 2.4 und 2.5). Basierend auf dem StegreifVerständnis von Storytelling und qualitativen Evaluationsmethoden zeigen wir auf, warum und in welcher Form Storytelling-Methoden besonders gut zum Monitoring, zur Wirkungserfassung und zur Wirkungsdarstellung von Leadership Development Programmen geeignet sind. Auch hier werden Empfehlungen formuliert, die einzeln oder kombiniert umgesetzt werden können. 17 2.2. Nutzung des Heldenreise-Ansatzes für die Gestaltung von Leadership-Journeys 2.2.1. Nutzung der Heldenreise als ergänzende Landkarte Die GIZ will mit ihren Leadership Development Programmen einen Beitrag zur Großen Transformation hin zu nachhaltigeren und sozial verantwortlichen Gesellschaften leisten. Da die Heldenreise die Grundstruktur von Transformation und Entfaltung des Neuen beschreibt, bietet sie Potenzial als ergänzende geistige „Landkarte“ zur Gestaltung von Leadership Journeys im Rahmen des Ansatzes Leadership for Global Responsibility der GIZ. Dies gilt insbesondere für Leadership Journeys, die bereits explizit und erfolgreich mit der Reisemetapher arbeiten. Zu den gegenwärtigen Phasen der Leadership Journey ebenso wie Theory U als einem der gegenwärtig genutzten Ansätze bestehen wesentliche Schnittmengen, so dass eine Verknüpfung möglich ist. Gleichzeitig können mit der Heldenreise bestimmte Phasen und Themen anders und deutlicher akzentuiert werden. Insbesondere die vierte Etappe der Rückkehr in den Alltag, aber auch andere Elemente bieten hier Potenzial für die Weiterentwicklung des Ansatzes. Da die Struktur der Heldenreise nicht von einzelnen Menschen eines bestimmten Kulturkreises erfunden wurde, sondern als archetypische Struktur in den Mythen und Märchen aus aller Welt enthalten ist, ist sie anschlussfähig an die Arbeit im Kontext der Internationalen Zusammenarbeit. Grundsätzlich kann die Struktur der Heldenreise als (ergänzendes) Konzept für die Gestaltung und Durchführung von Leadership Journeys im Kontext des Ansatzes Leadership for Global Responsibility genutzt werden. Sie ist also zunächst eine „Landkarte“ für Facilitator/innen und Prozessgestalter/innen, die Seminare und längerfristige Programme mit Hilfe der Heldenreise gestalten können. Hierbei können Formate entweder explizit anhand einer Reisemetapher inszeniert werden oder sich implizit daran orientieren. Die im Rahmen der Felderkundung beschriebenen Anwendungsfelder zeigen, dass die Heldenreise nicht nur zur Begleitung von individuellen Prozessen, sondern auch zur Gestaltung von Transformations- und Innovationsprozessen von Teams und ganzen Unternehmen eingesetzt werden kann und wird. Mit Blick auf den Prozess der Großen Transformation ist auch das Motiv einer gesellschaftlichen Heldenreise interessant. Diese kann zwar nicht im selben Sinne gestaltet werden wie Prozesse mit Individuen, Teams oder Unternehmen. Eine gesellschaftliche Heldenreise kann jedoch als narrativer Frame und Landkarte die Idee einer großen Transformation veranschaulichen, die ebenfalls eine Reise ins Unbekannte und Neue bedeutet. 2.2.2. Umgang mit dem Helden(reise)begriff im Leadership-Bereich Bevor wir konkrete Hinweise zur Nutzung der Heldenreise geben, soll zunächst auf den Umgang mit einem potenziellen Fallstrick in der Anwendung des Heldenreise-Modells eingegangen werden. Der Begriff des Helden ist kulturell sehr besetzt mit Bildern, Begriffen, Stereotypen und Fantasien. „Held“ meinte über Jahrhunderte in erster Linie eine furchtlose, charismatische, durchsetzungsstarke und in aller Regel männliche Figur, die in einer latent feindlichen Umgebung mit Kraft, List und gegen alle Widrigkeiten und Feinde glorreiche Siege erringt. Problematisch ist auch die Tatsache, dass „Held“ unweigerlich nach „Mann“ klingt. Zwar betonen einige Autor/innen, dass mit Held immer auch Heldin gemeint sei (Vogler 2010 S. 26) oder versuchen, den Begriff des Helden neu zu besetzen und mit anderen Eigenschaften aufzuladen, beispielsweise Empathie, Kooperationsfähigkeit und Orientierung am Gemeinwohl (Höckler 2010 S. 14) und betonen die ursprüngliche griechische Bedeutung „dienen“ und „schützen“ des Wortes heros. Ein Held ist demzufolge ein Mensch, der sein Wirken auf eine dienende und schützende Weise einer Gemeinschaft zur Verfügung stellt. Campbell und viele andere Autor/innen weisen zudem darauf hin, dass „Held“ im Kontext der Heldenreise oftmals gar keinen konkreten Menschen meint - „Held und Heldin verkörpern vielmehr gewisse grundsätzliche menschliche Qualitäten. Das Bild des Helden steht demzufolge für Gesetzmäßigkeiten, Kräfte und Prinzipien des Lebens ebenso wie (innere) Anteile in Menschen oder Gemeinschaften, es „repräsentiert also (…) die menschliche Berufung, Entwicklung schöpferisch und verantwortlich zu gestalten“ (Trobisch 2012, S. 33). Eine Auseinandersetzung mit der (ursprünglichen) Idee des Heldenbegriffs ist also durchaus lohnenswert. Gleichwohl scheint es fragwürdig, ob ein kulturell derart stark aufgeladener Begriff kurzfristig umgedeutet und mit anderen Bildern und Begriffen verknüpft werden kann. Eine Studie 18 britischer NGOs hat beispielsweise für das Feld der Entwicklungszusammenarbeit herausgearbeitet, wie sehr die fortlaufende Verwendung von Begriffen wie „Aid“, „Development“ und „Charity“ bei den Rezipienten automatisch sogenannte „toxische Frames“ aktiviert, die althergebrachte Machtverhältnisse, Stereotype und Perspektiven im Verhältnis zwischen Ländern des Globalen Nordens und Südens massiv reproduzieren und damit die Bemühungen vieler NGOs, dieses Verständnis zu überwinden, zunichte machen (Oxfam 2011). Es ist anzunehmen, dass der Begriff des Helden einen ähnlich starken toxischen Frame aktiviert. Und natürlich birgt der Begriff des Helden gerade für den Bereich Leadership und Management einiges an Spannungspotential. Nachdem in diesem Feld lange ein herrschaftlich-hierarchisches und meist männliches Verständnis von Führung dominierte, gab es in den vergangenen 20 Jahren eine Reihe von Plädoyers für ein post-heroisches Management bzw. für eine post-heroische Führung (vgl. Baecker 1994) und neue Leadership-Ansätze, die den kollektiven, kooperativen Aspekt von Führungsverantwortung betonen. Da der GIZ-Ansatz Leadership for Global Responsibility mit einem post-heroischen und kooperativen Verständnis von Führung arbeitet, scheint es ratsam, in der (Außen)Kommunikation und Darstellung des Ansatzes auf eine explizite Verwendung des Begriffs des Helden sowie der Heldenreise (weitestgehend) zu verzichten und weiterhin von Leadership Journeys zu sprechen. 2.2.3. Konkrete Empfehlungen & Methoden Wir beschreiben nachfolgend, welche konkreten Möglichkeiten das Konzept der Heldenreise zur Bereicherung von Leadership Journeys bietet bzw. bieten kann. Die genannten Methoden stellen Anregungen dar, von denen sich einige in der Leadership Toolbox der AIZ finden. 1. Verfeinerung der Reisemetapher Die Metapher der Reise (Leadership Journey) kann verfeinert werden. Das Motiv der Reise spricht eine universelle menschliche Grunderfahrung an und intoniert automatisch das Thema Wandel und Erkundung unbekannter Welten. Damit eignet es sich auf besondere Weise für Leadership Journeys im Kontext der Internationalen Zusammenarbeit, die individuelle und gesellschaftliche Transformation initiieren und begleiten wollen. Die Darstellung der Heldenreise als vollständiger Kreis bzw. Spirale bietet die Möglichkeit, die Reise in der gewohnten Welt (Herkunftskontext) der Protagonisten beginnen zu lassen und dort auch wieder enden zu lassen. Insbesondere die Aufwertung des letzten Viertels der Reise, aber auch andere Elemente bieten hier Potenzial für eine Weiterentwicklung. 2. Arbeit mit dem Impuls der Veränderung (Im Heldenreisemodell: „Ruf“) Zu Beginn einer Leadership Journey kann explizit mit dem Motiv des Rufs gearbeitet werden, der zum Aufbruch aus der gewohnten Welt und einer tiefgreifenden Veränderung einlädt. Der Ruf erfolgt, orientiert man sich am Heldenreisemodell, noch vor Beginn der Teilnahme an einem Leadershipformat – oder insgesamt vor weitreichenden Veränderungen. Die Teilnehmenden können darüber reflektieren, ob und wie sie in ihrem individuellen Leben (beruflich oder persönlich) einen Ruf nach Veränderung wahrnehmen, sei es aus Neugierde oder aufgrund von eines Ungleichgewichts und Missstandes. Je konkreter der Ruf beschrieben wird, desto besser: was genau ist es, das sich ändern verändern soll oder muss? Wo trägt das Alte nicht mehr gut genug, so dass ein Aufbruch nötig ist? Die Teilnehmenden können ebenfalls den Ruf für die eigene Organisation oder - gemeinsam als Gruppe - den gegenwärtigen Ruf für ihre Gesellschaft oder die Menschheit als Ganzes herausarbeiten. Mögliche Methoden: Methoden aus der Leadership-Toolbox, bspw. River of Life, Mapping Personal Leadership Challenges, Dialogmethoden (z.B. Dialogue Walk oder Bohmian Dialogue), Befassung mit dem individuellen oder organisationalen Ruf/Veränderungsimpuls zu Beginn der Leadership Journey, Befassung der Gruppe mit dem gegenwärtigen Ruf für ihre jeweiligen Gesellschaften sowie dem Ruf der Menschheit als Ganzes befassen oder auch die Nutzung von Filmausschnitten, Reden oder biographischen Texten von inspirierenden Persönlichkeiten sowie die Auseinandersetzung mit globalen Herausforderungen und Krisenphänomenen. 19 3. Arbeit mit Widerständen (Im Heldenreisemodell: „Weigerung“) Im Zusammenhang mit dem bewussten Erkennen des Rufs tauchen gesetzmäßig auch innere und äußere Widerstände oder eine Weigerung auf. Diese sollten wahrgenommen und angeschaut werden, da sie sonst unbewusst wirken und die weitere Reise behindern bzw. im späteren Verlauf auftauchen. Teilnehmende können erfahren, dass Widerstände und Weigerungen nichts Schlechtes sind, sondern gesetzmäßige äußere und innere Anteile, die den Status Quo bewahren wollen. Oft tauchen hier Ängste auf. Diese Widerstände und Ängste gilt es wertschätzend zu erkunden und ernst zu nehmen, ohne sich von ihnen dominieren und aufhalten zu lassen. Je größer die anstehende Veränderung, desto mehr steht auf dem Spiel, und desto wesentlicher werden auch die Widerstände sein. Wie schon beim Ruf lohnt es sich, neben der persönlichen Ebene auch die Ebene des eigenen Unternehmens bzw. der eigenen Gesellschaften (inklusive der gemeinsamen globalen Ebene der „Weltgesellschaft“) herauszuarbeiten. Ein Widerstand kann sich z.B. in der Hoffnung oder Überzeugung zeigen, dass sich die globalen Herausforderungen unserer Zeit mit altbekannten Routinen und technischen oder ausschließlich managementbasierten Lösungsansätzen bewältigen lassen. Hier bieten sich spannende Gesprächsmöglichkeiten, denn letztlich steht hier die dem GIZ Ansatz Leadership for Global Responsibility zugrunde liegende Annahme zur Disposition, dass wir eine größere gesellschaftliche Transformationsbewegung benötigen. Hier scheint uns ein offener Dialog in der Gruppe lohnend. Mögliche Methoden: Integration in die Toolbox-Methoden River of Life oder Personal Leadership Challenges. Weiterhin Nutzung von Filmausschnitten, Reden oder biographischen Texten, die entweder Widerstände darstellen oder sich mit Widerständen befassen; Verkörperung des Widerstands, z.B. durch szenisches Darstellen, Forumtheater, Aufstellungsarbeit oder andere künstlerische Formen; Befassung mit Widerständen im Rahmen von Einzelcoachings, Peer Coachings oder der Gesamtgruppe. 4. Arbeit mit einer/einem Mentor/in (Im Heldenreisemodell: „Mentorenfigur“) Nachdem Ruf und Weigerung bewusst angeschaut wurden, taucht in der Heldenreise oftmals eine Mentorenfigur auf. Mit dieser lässt sich auch in Leadership Journeys arbeiten. Mentorenfiguren können dabei einerseits reale Menschen sein. In einem ersten Schritt könnten die Teilnehmenden für sich selbst klären, welche Qualitäten, Eigenschaften und Erfahrungen eine Mentorenperson für sie (idealerweise) mitbringen sollte. Was würde sie auf ihrer Reise unterstützen? Der zweite Schritt ist die Suche und das konkrete Anfragen eines Mentors oder einer Mentorin. Diese kann eine bereits bekannte ebenso wie eine noch fremde Person sein. Die Bitte um Unterstützung durch eine Mentorenfigur stimuliert automatisch ein spannendes Thema: die eigene Begrenzung, das Bitten um Unterstützung, die Bereitschaft, zu lernen und zu nehmen. Es lohnt sich, diesen Aspekt in der Gruppe zu reflektieren. Alternativ zu einer realen Mentorenfigur kann auch mit einer inneren Mentorenfigur gearbeitet werden. Diese können z.B. durch eine geführte Traumreise oder vergleichbare Methoden herausgearbeitet werden. Im Seminarverlauf kann mehrmals Zeit für Begegnung und Austausch mit der (äußeren oder inneren) Mentorenfigur gegeben werden. Die Teilnehmenden können motiviert werden, ihre Mentorenfigur auch eigenständig zu nutzen und anzusprechen, wenn es ihnen dient. Mögliche Methoden: Kontaktaufnahme, Gespräch/Treffen mit einer realen Mentorenperson, Arbeit mit inneren Mentorenfiguren (Traumreisen, Brief an Mentorenfigur, Helden der Kindheit), Arbeit mit Naturaufgaben. 5. Bewusste Entscheidung für die Reise (Im Heldenreisemodell „Überqueren der Schwelle“) Ein markanter Aspekt der Heldenreise ist das bewusste Überqueren der „Schwelle ins unbekannte Land“. Da Transformation eine der vier Kompetenzdomänen des Ansatz Leadership for Global Responsibility ist, bietet es sich an, in Leadership Journeys explizit mit der Schwelle zu arbeiten. Überträgt man das Heldenreisemodell auf die Gesamtprozessdramaturgie einer Leadership Journey, befindet sich diese Schwelle relativ am Beginn des gemeinsamen Seminarprozesses. Eine Schwelle kann als ganzheitliche Erfahrung inszeniert werden, also physisch überschritten werden. Das kann sowohl im Seminarraum geschehen (z.B. durch die Überquerung eines Seil oder die Bewegung von einer Seite des Raumes auf die andere Seite) oder in der Natur (z.B. das bewusste Überqueren einer natürlichen Grenze wie ein Weg oder ein Bach, oder einer selbst gebauten Schwelle). Vor der Überquerung der Schwelle ins Unbekannte sollte bewusst 20 innegehalten werden - das Überqueren der Schwelle ist der Schritt ins Unbekannte (und heraus aus der eigenen Komfortzone) und zugleich die letzte Möglichkeit, umzukehren. Es geht also um den Entschluss, den Status Quo aufzugeben und sich auf das (noch unbekannte) Neue einzulassen. Es ist hilfreich, wenn die Teilnehmenden so konkret wie möglich benennen, welche alte Gewohnheit, welchen Aspekt des Status Quo, welche Gewissheit über sich und das Leben sie mit dem Überqueren der Schwelle aufgeben. Optional kann auch mit einer Schwellenhüter-Figur gearbeitet werden. Mögliche Methoden: Inszenierung und physisches Überqueren einer Schwelle, Formulieren und Teilen, welche Gewohnheit/welcher Status Quo zurückgelassen wird, Arbeit mit Naturaufgaben, Filmsequenzen der Schwellenüberquerung anschauen und besprechen (z.B. Matrix). 6. Loslassen von Bekanntem (Im Heldenreisemodell „Loslassen und Hingabe“) Nachdem die Schwelle überquert wurde, bewegen sich die Teilnehmenden im „unbekannten Land“ - übersetzt für Leadership Journeys kann diese Metapher verstanden werden als das Loslassen von alten Gewissheiten und Routinen und das Erkunden von Neuem. Dieses Neue kann ein thematisches Feld oder System sein, ebenso aber neue Formen der Wahrnehmung, Kommunikation und des ganzheitlichen Lernens und Arbeitens, die beispielsweise die physische und emotionale Ebene mit einbeziehen. Die zentrale Bewegung in dieser Phase der Reise ist das Loslassen. Konkret können Teilnehmende z.B. eingeladen werden, berufliche oder privat eingenommene Rollen, feste Überzeugungen, Glaubenssätze und/oder Stereotype (z.B. über ein Thema, Feld, andere Kulturen, sich selbst, den Menschen, die Welt, etc.) zu reflektieren und loszulassen. Das Wahrnehmen und Anerkennen von Scheitern als Bestandteil des Lebens kann ebenso Thema sein wie die Anerkennung von eigenen Begrenztheiten (bezogen auf Wissen, Kompetenzen, physische Ressourcen etc.). Teilnehmende können darauf hingewiesen werden, dass das Loslassen von Rollen oder beruflichen und privaten Images, das „Sich als Mensch hinter Rollen zeigen“ in der Regel für Menschen eine Herausforderung ist oder auch eine gefühlte Bedrohung darstellt und dass Ängste normal sind. Die Teilnehmenden sollten eingeladen werden, derartige Empfindungen nicht nur auszuhalten, sondern sich durch diese „Turbulenzen“ zu bewegen und zu erkunden, was ihnen in dieser Phase Halt und Vertrauen gibt. Mögliche Methoden: Arbeit mit Glaubenssätzen, Leiter der Schlussfolgerungen, Teilen von Erfahrungen des Scheitern, Schattenarbeit, Sensing Journeys, Erleben von Räumen mit unbekannten/fremden Regeln, Beschäftigung mit Mythen und Märchen. Meditationen, Achtsamkeitsübungen und Körperarbeit. 7. Retreat/ symbolisches Sterben des Alten (Im Heldenreisemodell tiefster Punkt, symbolisches Sterben oder Ganzheitserfahrung) Der tiefste Punkt der Heldenreise beschreibt einen Raum des weitgehenden Rückzugs aus der alltäglichen Welt. Dieser kann gestaltet werden als Raum des Innehaltens, der Stille und des Gewahrwerdens von inneren Kraftquellen, wie es beispielsweise Theory U (presencing) und die daran angelehnte Phase „Exploring the Inner World“ im aktuellen Konzept der Leadership Journeys tun. Die Heldenreise geht darüber hinaus und verweist darauf, dass eine tiefgreifende Transformation ein symbolisches Sterben des alten Ichs oder „Egos“ erfordert. Dieser Punkt ist im Rahmen von Leadership Journeys sicherlich sensibel. Während Mythen verdeutlichen, dass Transformation gesetzmäßig eine Phase des Sterbens beinhaltet, damit das Neue in die Welt kommen kann, ist dies im Rahmen von Leadership Formaten potenziell schwer vermittelbar. Otto Scharmer eröffnet mit seiner Theory U dieses Transformationsfeld bereits, indem er die Notwendigkeit des Sterben-Lassens betont. Bei Scharmer finden wir diesbezüglich auch einen bedeutsamen Hinweis auf die Tiefendimension von Führung: „Die indo-europäische Wurzel des englischen Wortes leadership und des deutschen Wortes Leitung ist *leith und bedeutet wörtlich „nach vorne gehen“, „über die Schwelle gehen“ oder „sterben“ (Scharmer 2005). Die Heldenreise schlägt uns vor, ganz zu diesem Kern der Transformationsbewegung vorzudringen. Spannende Fragen lauten hier: Wollen Leadership-Programme diesen Weg gehen? Wie wird dies im internationalen Kontext betrachtet? Wie wird in verschiedenen Kulturen mit (symbolischem) Sterben als Teil von Transformation umgegangen, ist dies vermittelbar und wird angenommen? Mit welchen Verfahren und Methoden lässt sich dies umsetzen? 21 Mögliche Methoden: Intensive Meditationserfahrungen, längere Solozeiten in der Natur, Visionssuchen, Rituale. 8. Erkennen von neuen Einsichten, Qualitäten und Kompetenzen (Im Heldenreisemodell „Erhalt der Gabe“) Das Motiv der Gabe, die nach der Erfahrung des tiefsten Punktes empfangen wird, kann in Leadership Journeys auf verschiedenen Ebenen übersetzt werden. Reflexionsräume können das erste Formulieren, Verdichten und Teilen der eigenen Erfahrungen im bisherigen Reiseverlauf ermöglichen. So kann die eigene Geschichte weitergeschrieben werden. Mit reflexiven, narrativen und kreativen Methoden können die Teilnehmenden zudem herausarbeiten, welche neue Qualitäten, Kompetenzen und Einsichten in ihnen gewachsen sind und sich jetzt zeigen. Die Teilnehmenden haben tiefgreifende Erfahrungen gemacht und mehr über sich selbst und das Leben erfahren. Damit einher gehen können kreative Impulse und Inspirationen für die Gestaltung der eigenen Arbeit und für konkrete Projekte greifbar werden. Mögliche Methoden: Formulieren und Teilen der eigenen Geschichte/Erfahrungen/Einsichten, Spiegeln von Geschichten, künstlerisch-kreativer Ausdruck (Sculpting, Malen, kreatives Schreiben, Poesie, Installationen etc.), erstes Formulieren eines Prototypen. 9. Vorbereitung auf die Rückkehr in den Alltag (Im Heldenreisemodell „Übertritt der Schwelle in den Alltag“) An der Schwelle in den Alltag steht der Entschluss im Vordergrund, nach der Reise wieder ganz in die Herkunftswelt bzw. den Herkunftskontext zurückzukehren und sich dort mit Energie, Wertschätzung und Ausdauer einzubringen und die neuen Erkenntnisse oder Kompetenzen (Gaben) fruchtbar zu machen. Das Überqueren der Schwelle in den Alltag kann wahlweise zu Beginn des letzten Drittels oder am Ende einer Seminarphase stattfinden, bevor die Teilnehmenden wieder nach Hause zurück kehren. Dieser Moment eignet sich gut für ein erneutes Storytelling - am Ende der gemeinsamen Reise teilen und verdichten die Teilnehmenden ihre individuellen und die gemeinsame Geschichten. Dieser Storytelling-Prozess kann eingebunden sein in eine umfassende Reflexion der Kompetenzentwicklung und Evaluation der bisherigen Reise. Hierauf wird ausführlicher in den folgenden Kapiteln eingegangen. Mögliche Methoden: Überqueren einer physischen Schwelle (s.o.), Formulieren und Teilen von Ängsten, Vorfreuden, Zweifeln angesichts der Rückkehr, Story of Hope, Formulieren der eigenen Geschichte mit verschiedenen Methoden (Digital Storytelling, Reisetagebuch, Erzählen in Großgruppe, Collagen etc.), Entwicklung eines Prototypen/Change Projektes, Soundingboard als Feedback-Methode zum Prototypen, Reflexion der eigenen Kompetenzentwicklung. 10. Rückkehr in den Herkunftskontext: (im Heldenreisemodell: „Berufung und Hoch-Zeit“) Im Heldenreisemodell beginnt mit dem Überqueren der Schwelle in den Alltag das letzte Viertel der Reise, das im Idealfall in die Berufung und eine neue Hoch-Zeit des Protagonisten führt. Dazu muss es gelingen, die Gaben und Schätze aus der Reise gewinnbringend und dienend in den Herkunftskontext einzubringen. In Leadership Journeys entspricht das letzte Viertel der Reise der Rückkehr ins Heimatland bzw. Herkunftskontext und den Alltag nach dem Abschluss eines Seminars oder eines längeren Prozesses. Bisher liegt der Fokus hier sehr auf der Implementierung von Prototypen oder Change Projekten. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass nur ein Teil der Teilnehmenden ihren Prototypen tatsächlich umsetzt. Weil die Teilnehmenden zum Zwecke der Evaluation und Wirkungsmessung aber etwas „liefern“ sollen, entsteht mitunter eine eher negative Dynamik von Druck. Mit dem Heldenreise-Modell lässt sich die Rückkehr in den Herkunftskontext aus einer weiteren Perspektive angehen. Während ein Prototyp oder Change Projekt weiterhin Teil des Prozesses sein kann, rückt der Prozess der Rückkehr und ReIntegration in seiner Ganzheit in den Mittelpunkt. Jede Erfahrung in allen Bereichen von Beruf und Privatleben, ganz gleich ob beflügelnd, frustrierend oder überraschend, ist ein wesentlicher und gleichwertiger Teil dieses letzten Reiseviertels. Wie zuvor auch, bietet das vielfältige Lern- und Reflexionsmöglichkeiten. Die entscheidende Frage ist nun, ob und wie es den Teilnehmenden gelingt, neue Kompetenzen, persönliche Qualitäten, Ideen und Inspirationen, die sie im Verlaufe der Reise entdeckt und entwickelt haben, in ihren beruflichen oder auch persönlichen Alltag einzubringen. Viele dieser Erfahrungen, Erfolge und Frustrationen werden sich jenseits eines 22 konkreten Change Projekts abspielen. Entscheidend ist daher, dass auch nach der Rückkehr eine Begleitung der Teilnehmenden stattfindet und weiterhin Räume der Reflexion, des Formulierens und Teilens der eigenen Erfahrungen angeboten werden. Es bietet sich an, die Erfahrungen der Teilnehmenden insbesondere mit Storytelling-Methoden „einzusammeln“ und den während der Präsenzphasen begonnenen individuellen und kollektiven Storytelling-Prozess fortzusetzen. Auch hierauf wird in den folgenden Kapiteln ausführlicher eingegangen. Mögliche Methoden: Digital Storytelling, virtuelle Reflexionen und Storytelling, virtuelles Coaching und Peer Coaching, offene schriftliche Formate wie Reisetagebücher, Blogs, Aufsätze, Erzählungen. 2.3. Einsatz von Storytelling-Methoden zur Wirkungserzielung Bereits im vorhergehenden Kapitel wurden (neben der Nutzung von Heldenreise-Elementen zur Gesamtkonzeption von Leadership Journeys) an vielen Punkten methodische Hinweise gegeben, wie individuelles und kollektives Storytelling - also das Erzählen und Teilen individueller Geschichten - genutzt werden kann, um die Wirkung von Leadership Formaten zu vertiefen. Im Folgenden wird, nach einer kurzen Darstellung des grundsätzlichen Nutzens von Geschichten für Leadership-Formate und einen uns wichtigen Appell an den verantwortungsvollen Umgang mit Geschichten, auf einzelne Storytelling-Methoden ausführlicher eingegangen. Diese Methoden können auch angewandt werden, wenn die oben beschriebene Gesamtinszenierung der Leadership Journey als Heldenreise bzw. die Nutzung von Heldenreise-Elementen nicht erfolgt. 2.3.1 Der grundsätzliche Nutzen des Geschichtenerzählens für Leadership-Formate Um zu verdeutlichen, wie das Erzählen und Hören von Geschichten genutzt werden kann um im Rahmen von Leadership-Programmen Wirkung zu vertiefen, erinnern wir uns kurz an die Wirkungen von Geschichten, die in Kapitel 1 ausführlich dargestellt wurden: Geschichten • lösen Aufmerksamkeit aus, werden erinnert und weitererzählt • bringen Sinn in die (innere und äußere) Welt und schaffen Orientierung • vermitteln Informationen und (Praxis)Wissen und helfen, Probleme zu lösen • können das Sein und Handeln des/der Zuhörenden (Zusehenden, Lesenden, etc.) verändern, da gehörte, emotionale Geschichten im Gehirn gleich behandelt werden wie real gemachte Erfahrungen. Sie gehen ins implizite, handlungsleitende Wissen ein • erzeugen Empathie und schaffen Vertrauen • führen zu Identifikation und Verbindung. Das Teilen persönlicher Geschichten („story of self“) führt zu Gemeinschaftsbildung und der Entwicklung einer gemeinsamen Geschichte, einer „story of us“, die die Basis für eine „story of now“ and „story of hope“ - ist • können Einzelne bewegen und Massen mobilisieren • tun dies oft langfristig, denn Menschen streben nach Sinn, Orientierung und Eindeutigkeit – und damit nach einer Konsistenz von Geschichten und eigenen Verhalten • machen Werte und Weltsichten (innere Geschichten) von Menschen sichtbar. Sie verdeutlichen damit das implizite Wissen, das Menschen oft selbst nicht bewusst ist, aber ihr Handeln orientiert. Der Nutzen von Storytelling-Methoden für Leadership-Formate ist damit schnell ersichtlich: 1. Indem Teilnehmende eingeladen werden, ihre persönlichen Geschichten zu teilen, • können sie von dem Wissen der anderen profitieren & davon lernen, • entsteht Empathie und Vertrauen untereinander, • können Teilnehmende - jenseits von nationalen, kulturellen, religiösen oder anderen Differenzen - Gemeinsamkeiten entdecken, die tief verbinden, • entsteht also eine Gemeinschaft • und das Gefühl einer gemeinsamen, geteilten Geschichte, einer „story of us“, die den Boden bereitet für eine „Story of now“, d.h. kollektives Handeln. 23 2. Indem Teilnehmende eingeladen werden, den Geschichten anderer Teilnehmender intensiv zuzuhören und diese zu spiegeln, d.h. widerzugeben, was sie hören und wahrnehmen, • können die Erzählenden neue Erkenntnisse über sich, ihre Werte und ihr implizites Wissen erlangen, die sie alleine nicht oder nur sehr schwer gewinnen können, • erfahren die Zuhörenden nicht nur viel über den oder die Anderen und können von seinen bzw. ihren Erfahrungen und Kenntnissen lernen. Sie erwerben zugleich Kompetenzen darin, zum „Storycatcher“ zu werden. Der Begriff „Storycatcher“ wurde von Baldwin geprägt (vgl. Baldwin 2007). Er beschreibt sowohl eine Haltung als auch die Kompetenz, Menschen einzuladen, ihre Geschichten zu erzählen – und damit letztlich ähnliche Prozesse zu initiieren, wie unter 1. vorgestellt wurden.6 Auch Edgar Schein beschreibt die Kompetenz, individuelle und vor allem kollektive Geschichten zu erfassen, als essenziell für Führungskräfte (vgl. Schein 2004). 3. Indem Teilnehmende nach der Leadership Journey ihre individuellen Erfahrungen und die entwickelte gemeinsame Geschichte weitererzählen, • können sie ihr (Erfahrungs-)Wissen teilen, • andere Menschen zu „stellvertretenden Erfahrungen“ einladen, • sie diese damit auch inspirieren, Teil dieser kollektiven Geschichte zu werden und/oder sie weiterzuerzählen und • damit auch dazu beitragen, das Leben und Handeln von vielen zu inspirieren. 4. Indem Facilitator/innen selbst Geschichten anwenden, d.h. • Geschichten von beeindruckenden Persönlichkeiten erzählen oder zeigen, vermitteln sie sehr komprimiert Wissen, von dem die Teilnehmenden profitieren können, oder das sie inspirieren kann. • ihre eigene Geschichte erzählen, machen sie sich als Menschen jenseits ihrer Funktion sichtbar und erzeugen Vertrauen. Durch das Teilen ihrer „story of self“ werden sie Teil der „story of us“ der Gruppe. • Geschichten über eine „story of now“ und „story of hope“ erzählen oder insipirierende Persönlichkeiten einladen (persönlich oder visuell), dies zu tun, können sie die Teilnehmenden inspirieren und zu kollektiven Handlungen anregen. Die – Geschichten und Storytelling immer innewohnende – Gefahr der Manipulation ist hier besonders gegeben und es verlangt einen achtsamen Umgang mit dieser Form des Geschichtenerzählens. 5. Indem Facilitator/innen Teilnehmende über die Wirkmacht von Geschichten informieren und ihnen mitteilen, wann und wie sie eine Geschichte so gestalten, dass sie besonders intensiv wirkt, • geben sie Teilnehmenden ein sehr wirksames Leadership-Tool an die Hand. Facilitator/innen sollten hierbei den Appell vermitteln, den wir im Folgenden auch Facilitator/innen bzw. Gestaltenden von Leadership-Formaten mit an die Hand geben möchten. 2.3.2 Appell an einen verantwortungsvollen Umgang mit Geschichten Wie wir in dieser Studie dargestellt haben, sind Geschichten sehr wirkmächtig. Diese Wirkmacht trifft auch auf „Stegreiferzählungen“ zu, die wir in Kapitel eins vorgestellt haben, auf die wir uns oben unter 1. und 2. beziehen und auf die wir in Kapitel 2.4 ausführlicher eingehen. 6 Vergleicht man die im Leadership Competency Framework vorgestellten Kompetenzen mit den Kompetenzen, die Baldwin als „Storycatcher“-Kompetenzen bezeichnet, zeigen sich Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen: „„Storycatchers are intrigued by human experience, inquisitive about meaning, insight and learning, more curious than judgemental, more in love with questions than answers, empathic without overidentification, able to hold personal boundaries in interpersonal space, able to present while others experience emotions, able to be present while others have insight, able to safeguard the space for listening, able to invite forgiveness, release and grace, aware of stories´ power and use it consciously, practitioners oft he heart of language“ (Baldwin, S. 29). 24 Sie gilt aber insbesondere für bewusst inszenierte Geschichten, die ein klares Ziel verfolgen und sich einer wirksamen Prozessdramaturgie - wie z.B. der Heldenreisestruktur - bedienen. Bewusst inszenierte Geschichten verfolgen ein klares Ziel und sind damit manipulativ. Manipulation ist hier zunächst wertneutral, meint Beeinflussung und verweist darauf, dass inszenierte Geschichten für positive Zwecke ebenso wie für negative Zwecke eingesetzt werden können. Das gilt auch für die „story of now“ und „story of hope“, die wir hier mehrfach als wirkungsvollen Ansatz vorstellen. Während Martin Luther King und Obamas Wahlkampf als positive Beispiele herangezogen werden können, hat auch Hitler eine „story of now“ erzählt, die – aus seiner Perspektive und aus der Perspektive von Vielen - eine „story of hope“ darstellte. Und damit Massen bewegte. Menschen, die mit Geschichten arbeiten, müssen sich dieser Wirkmacht bewusst sein und verantwortungsvoll damit umgehen. Wir empfehlen nicht, auf Geschichten zu verzichten. Denn Geschichten werden ohnehin erzählt weil Menschen nach Orientierung streben. In einer Zeit gesellschaftlicher Krisen und Unsicherheiten entfalten Geschichten, die einen Ausweg aus der Krise anbieten, eine besondere Anziehungskraft. Da dies für alle, d.h. auch für zerstörerisch wirkende (fundamentalistisch orientierte, rechtsradikale, etc.), Geschichten gilt, erscheint es uns wichtig, als Gegengewicht positive und hoffnungsvolle Geschichten anzubieten, die Menschen Orientierung in eine nachhaltige Gesellschaft anbieten. Doch auch hier gilt der Satz „gut gemeint ist heißt nicht immer gut gemacht“. Das heißt auch hier ist ein achtsamer und selbstkritischer Umgang mit der Gestaltung und Nutzung von Geschichten wichtig. Bei der Anwendung von Storytelling-Tools ist zu überlegen, ab welchem Punkt des Seminars/Leadership-Formats Teilnehmende in die Wirkmacht von Geschichten eingeführt werden. Es erscheint uns sinnvoll, bzgl. des Umgangs mit Geschichten drei Phasen zu verwenden: Zu Beginn des Prozesses sollten die Teilnehmenden zunächst eingeladen werden, ihre persönlichen Geschichten (Stegreiferzählungen) zu teilen um Gemeinschaftsbildung und die Entwicklung einer kollektiven Geschichte zu fördern und „Storycatcher-Kompetenzen“ zu entwickeln. Hierbei sollten die Teilnehmenden sehr frei und im geschützten Raum sprechen bzw. erzählen können, ohne dass auf ihre persönlichen Alltags-Geschichten eingewirkt wird. In einer zweiten Phase, gegen Ende des Prozesses, kann dann ein bewussteres Reflektieren und Erzählen der eigenen Geschichte erfolgen. In einer dritten Phase, gegen Ende eines Prozesses kurz vor der Rückkehr in die Heimatorganisation, können die Teilnehmenden Informationen über die Wirkmacht von Geschichten und Elemente wirksamer Geschichten erhalten. Sie können hierbei auch auf den bisherigen Seminarverlauf zurückblicken und herausarbeiten, welche Wirkung das Erzählen und Hören von Geschichten auf sie hatte. 2.3.3 Storytelling-Tools 1. Storytelling-Tools zum Teilen der persönlichen Geschichten Die Toolbox Leadership for Global Responsibility beinhaltet bereits viele Storytelling-Tools, die Menschen dazu einladen, ihre persönliche Geschichte/n zu teilen, z.B.: • Peer Groups • Mapping Personal Leadership Challenges • River of Life • Dialogue Walk • Bohmian Dialogue Collective Story Harvesting Ein weiteres Tool ist die im Rahmen von Art of Hosting angewandte Methode Collective Story Harvesting. Diese Methode, die insbesondere von Mary Alice Arthur und Monica Nissen entwickelt bzw. für den Seminarprozess im Art of Hosting Kontext nutzbar gemacht wurde, wird in adaptierter Form im Anhang vorgestellt (vgl. zur Originalmethode: Arthur/Hanna (2011); Fenton und Baeck (Datum unbekannt). 25 Story of self, us and now Das weiter oben bereits vorgestellte Konzept story of self, us and now von Prof. Marshall Ganz lässt sich als konkrete Methode in Seminaren einsetzen. Ein Vorschlag zur methodischen Umsetzung findet sich ebenfalls im Anhang. 2. Storytelling-Tools zur Spiegelung „Storycatcher-Qualitäten“ von Geschichten und Entwicklung von Auch hierfür schlägt die Toolbox Leadership for Global Responsibility bereits Storytelling-Tools vor. Zum einen werden durch die oben genannten Methoden auch Storycatcher-Qualitäten gefördert, da wertschätzendes Fragen und Zuhören sowohl Methodenbestandteile als auch Erfolgsprinzipien sind. Weitere Methoden zur Entwicklung von „Storycatcher-Qualitäten“ sind hier: • The Leader as a Coach • Monitoring the Learning Results and Evaluating the Course • Peer Coaching • Sounding Board Storytelling-Tools, mit denen Teilnehmende Einblicke in ihre eigenen Lernprozesse und Perspektiven erhalten können (sie also in Bezug auf sich selbst „Storycatcher-Qualitäten“ entwickeln können), sind: • Learning Journal • U-Journaling Auch die im Anhang dargestellte Methode (Adaption des Collective Story Harvesting, s.o.) werden „Storycatcher-Qualitäten“ entwickelt. 3. Storytelling-Tools zur Darstellung und Verbreitung der Geschichten Geschichten können entweder von den Teilnehmenden selbst oder auch von dritten Personen dargestellt und weitererzählt werden. Methoden zur Darstellung sowie Verbreitung von Geschichten durch die Teilnehmenden sind z.B.: • • Schriftliche Formate, z.B. Blogs, Reisetagebücher, Aufsätze, Erzählungen Digitale und visuelle Formate, z.B. Digital Storytelling Eine klassische Methode zur „Weitererzählung“ bzw. Verbreitung von Geschichten sind • Falldarstellungen/ Case Studies (zumeist in Textform verfasst, aber auch visuelle Darstellungen sind möglich) Auf diese Tools wird unter dem Kapitel „Wirkungsdarstellung und Wissensmanagement“ ausführlicher eingegangen und im Anhang werden hierzu Anregungen gegeben. 4. Storytelling-Tools für Facilitator/innen Facilitator/innen können u.a. folgende Storytelling-Tools einsetzen: • • • • 5. Selbstdarstellung mithilfe von Geschichten Präsentation von inspirierenden Geschichten Bezug auf religiöse und/oder mystische Erzählungen zur Veranschaulichung Etc. – hier gibt es fast unüberschaubare Einsatzmöglichkeiten von Geschichten Grundlagen für Hinweise auf die Wirkmacht von Geschichten Zur Verdeutlichung der Wirkmacht von Geschichten können die Inhalte dieser Studie verwendet werden (insbesondere Kapitel 1). Die Literaturangaben geben Hinweise auf ergänzende Quellen. Auch im Anhang wird auf Elemente wirksamer Geschichten eingegangen. 26 2.4. Einsatz von Storytelling-Methoden zur Wirkungserfassung 2.4.1 Ein anderer Blickwinkel und eine andere Sprache Während in den vorhergehenden Kapiteln untersucht wurde, wie Storytelling eingesetzt werden kann um Wirkung zu erzielen, richtet sich der Blick nun darauf, wie das Erzählen von (Alltags- oder Stegreif-)Geschichten genutzt werden kann, um Wirkung zu erfassen. Wirkungserfassung umfasst hierbei sowohl das Monitoring als auch die Evaluierung von Leadership Programmen bzw. Angeboten im Kontext der Internationalen Zusammenarbeit. Storytelling meint in diesem Kapitel somit nicht bewusst inszenierte Geschichten, sondern persönliche „Stegreiferzählungen“ (vgl. Kapitel 1). Um eine Verwechslung mit anderen StorytellingVarianten zu vermeiden, verwenden wir in diesem Kapitel vorwiegend die Begriffe Stegreiferzählung, Erzählung oder persönliche (Alltags-)Geschichte/n. Die Tools oder Methoden, mit denen die Geschichten erfasst und ausgewertet werden, werden unter den Begriffen qualitativnarrative Verfahren, Methoden oder Evaluationsmethoden zusammengefasst. Wie bereits in Kapitel 1 angedeutet und in Kapitel 2 aufgegriffen wurde, verfügt laut neurowissenschaftlicher, psychologischer und sprachwissenschaftlicher Theorien jeder Mensch über die Kompetenz, spontan – also aus dem Stegreif heraus - Geschichten zu erzählen. Diese Stegreifgeschichten geben laut diesen Theorien Einblicke in die Werte und das implizite, handlungsleitende Wissen – also „innere Geschichten“ (vgl. Kapitel 1.1), die das Handeln von Menschen anleiten und orientieren. In diesem Kapitel gehen wir ausführlicher darauf ein und zeigen auf, dass Stegreiferzählungen und narrative Verfahren nicht nur genutzt werden können, diese inneren Geschichten aufzudecken, sondern auch besonders geeignet sind, um Kausalitäten und die Wirkung von Leadershipformaten zu erfassen. Die Sprache dieses Kapitels passt sich damit unweigerlich dem Gegenstand an: Da wir hier eine sozialwissenschaftlich und evaluationstheoretisch fundierte Begründung geben, warum sich qualitativ-narrative Formate des „Geschichtenerzählens“ und „Geschichtenerfassens“ besonders gut für die Erfassung und Darstellung von Wirkungen eignen, kommen wir nicht umher, eine „wissenschaftliche Sprachweise“ zu verwenden. Für Praktiker/innen, die keine besondere Vorliebe für Wirkungserfassung und Evaluation haben, mag dieses Kapitel daher zum Teil etwas „schwere Kost“ sein. Wir bemühen uns dennoch, den Bogen von der Wissenschaftlichkeit zur Lesbarkeit zu schlagen. Zu Beginn dieses Kapitels wird – mit besonderer Bezugnahme auf Vorgaben der GIZ - erläutert, woraus die Notwendigkeit einer Wirkungserfassung resultiert, was unter Wirkung – allgemein und speziell im Leadershipkontext der GIZ – verstanden wird und welche Erwartungen an die Wirkungserfassung formuliert werden (Kapitel 2.4.2). Das folgende Kapitel zeigt auf, welche Herausforderungen daraus für den Leadership-Bereich entstehen (Kapitel 2.4.3). Im Anschluss daran wird mit Bezug auf qualitativ-sozialwissenschaftliche Theorie/n aufgezeigt, warum und wie qualitativ-narrative Verfahren hier besondere Vorteile bieten und wie diese im GIZ-Kontext zulässig bzw. anschlussfähig sind (Kapitel 2.4.4). Im anschließenden Kapitel (2.4.5) werden qualitativnarrative Storytelling-Verfahren vorgestellt, die zur Wirkungserfassung in Leadership Programmen genutzt bzw. adaptiert werden können. Auf qualitativ-narrative Verfahren (Fallstudien) wird in Kapitel 2.5 ausführlich eingegangen. 2.4.2 Hintergrund: Notwendigkeit und Nutzen von Wirkungserfassung in der IZ 1. Vorgaben der GIZ & Begrifflichkeiten Der Ansatz „Leadership for Global Responsibility“ der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit – GIZ GmbH finden im Kontext der internationalen Zusammenarbeit (IZ) statt. Die Stabsstelle M&E (Monitoring und Evaluierung) der GIZ schreibt der Wirkungserfassung im internationalen Kontext eine zentrale Bedeutung zu: „Die wichtigste Frage der internationalen Zusammenarbeit lautet: Entfalten die Aktivitäten die gewünschten positiven Wirkungen? Und zwar nachhaltig – über das Ende der Maßnahme hinaus? Als Wirkungen werden dabei Veränderungen bezeichnet, die sich einem Vorhaben ursächlich oder zumindest plausibel zuordnen lassen. Von Anfang an ist die Arbeit der GIZ daher konsequent daran ausgerichtet, mit ihren Maßnahmen solche dauerhaften Veränderungen zu erreichen“ (GIZ 2013b). 27 Wirkungen werden in der GIZ somit wie folgt definiert: „Die GIZ versteht Wirkungen (= results) als intendierte oder nicht intendierte, positive oder negative Veränderungen eines Zustandes oder Verhaltens in direkter oder indirekter Folge einer Intervention. Wirkungen werden in einem systemischen Wirkungsmodell der GIZ abgebildet und schließen Impacts, Outcomes und Outputs implizit mit ein“ (GIZ 2013d, S. 13), vgl. auch (GIZ 2013e, S. 16). „Das Wirkungsmodell bildet einen intendierten Veränderungsprozess (...) umfassend ab. (Es) beschreibt die eintretenden Veränderungen (Wirkungen), die kausal miteinander in Verbindung stehen. Positive Veränderungen können sich gegenseitig beeinflussen. Dabei sind auch wechselseitige Feedbackschleifen möglich, die Veränderungsprozesse nachhaltig verstärken“ (GIZ 2013d). Laut GIZ resultiert die Notwendigkeit und der Nutzen von Wirkungserfassung zum einen aus der Umsetzung internationaler Standards und der Rechenschaftspflicht und zum anderen aus dem Eigenanspruch, eine Lernende Organisation zu sein: „Als lernende Organisation hat die GIZ den Anspruch, Ergebnisse aus Evaluierungen für den unternehmensweiten Lernprozess zu nutzen. Evaluierungen sind nicht nur ein wichtiges Instrument, um evidenzbasiert Wirkungen der internationalen Zusammenarbeit aufzuzeigen und so Rechenschaft gegenüber Partnern, Auftraggebern und der Öffentlichkeit abzulegen. Evaluierungen ermöglichen eine systematische Reflexion von Erfahrungen, um herauszufinden, was nachhaltig wirkt und was nicht, was effizient ist und was nicht“ (GIZ 2013a, S. 3). Eine wichtige Basis für dieses Lernen und die Grundlage für Evaluierungen ist das wirkungsorientierte Monitoring der GIZ: „Wirkungsorientiertes Monitoring (WoM) dient der laufenden, internen Überprüfung des Projektfortschritts und damit der Steuerung des Projekts/Programms und der Berichterstattung. Es legt die Grundlage für Evaluierungen und leistet einen Beitrag zum Lernen im Projekt/Programm. Auf der Grundlage von Monitoringergebnissen kann evidenzbasiert darüber kommuniziert werden, was wirkt und wo nachzubessern ist. Monitoringergebnisse fördern somit den Lernprozess im Projekt/Programm und fließen in das Wissensmanagement ein. Die Lernerfahrungen dienen dazu, die Konzeption des Projekts/Programms anzupassen oder ein neues Projekt/Programm vorzubereiten“ (GIZ 2013a, S. 8). Bedeutsam für den Kontext von Leadership-Formaten ist, dass die Wirkungsmatrix, das wirkungsorientierte Monitoring und Evaluierungen mit quantitativen Indikatoren arbeitet: „Outputs sind positive intendierte Wirkungen auf unterster Wirkungsebene mit bis zu zwei dazugehörigen Indikatoren, Basis und Zielwerten. (...) Das Modulziel soll in der Regel auf der Outcome-Ebene liegen“, es soll „ebenso mit bis zu 5 Indikatoren, Basis- und Zielwert“ bezeichnet werden“ und das EZ-Ziel, d.h. die Impact-Ebene „liegt oberhalb des Verantwortungsbereichs der Maßnahme“ (GIZ 2013d, S. 9). Im Rahmen von „KOMPASS – Komparatives Perspektiven Assessment“ besteht die Möglichkeit, auch qualitative Daten für das Monitoring zu nutzen. Hier steht die Erfassung von Partnerperspektiven im Vordergrund um Stärken und Schwächen einer Maßnahme aus Perspektive unterschiedlicher Akteure zu erfassen (2013a, S. 8). 2. Konsequenzen für HCD-Formate Wie jede Maßnahme der GIZ sind auch HCD-Formate, d.h. „Human Capacity DevelopmentFormate“, zu denen das Leadership Development und der Ansatz Leadership for Global Responsibility gehört, dazu verpflichtet, wirkungsorientiertes Monitoring und Evaluierungen durchzuführen um aus Erfahrungen zu lernen und Wirkungen nachzuweisen. Human Capacity Development in der GIZ überträgt die allgemeine GIZ-Terminologie und definiert HCD-Wirkungen wie folgt: HCD-Wirkungen bezeichnen ein „Verändertes Handeln der Personen und Resultate der veränderten Beiträge der Personen in das Bezugssystem als Folge der HCDDienstleistungen. Dies umfasst geschaffene und nachhaltig verankerte persönliche Handlungskompetenz sowie durch gemeinsame Lernprozesse veränderte Beiträge der Person in das Bezugssystem, die aus dem Einsatz von Ressourcen und der Durchführung von Aktivitäten resultieren“ (GIZ 2013c, S. 9). „Zusammengefasst lautet das Wirkungsversprechen von HCD: HCD der GIZ entwickelt die Kompetenzen von Personen und gestaltet gemeinsame Lernprozesse so, dass diese Personen zu nachhaltigen Wirkungen in ihrem jeweiligen Bezugssystem beitragen können“ (ebd., S. 9; vgl. auch GIZ 2011 a, 2011b). Der HCD-Bereich verpflichtet sich dazu, seine Maßnahmen zukünftig entsprechend dem HCDWirkungsgefüge zu konzipieren und ein systematisches Wirkungsmonitoring und Evaluierungen 28 durchzuführen, mit dem die Wirkungen auf der Ebene des Individuums und des Bezugssystems kontrolliert und bewertet werden (vgl. GIZ 2013c, S. 20). 3. Konsequenzen für Leadership-Formate und den Ansatz Leadership for Global Responsibility Zusammengefasst ergeben sich aus den oben dargestellten Vorgaben der GIZ folgende Anforderungen für Leadership-Formate und Angebote des Ansatzes Leadership for Global Responsibility: • Definition von Output- und Outcome-Wirkungen mit jeweils zugehörigen Indikatoren, Basisund Zielwerten • Festlegung, dass diese Output- und Outcome-Wirkungen folgende Aspekte beschreiben müssen: Kompetenzerwerb und Handlungen/Verhalten der Teilnehmenden sowie Wirkungen auf das Bezugssystem der Teilnehmenden • Darstellung von Kausalitäten, d.h. Zusammenhängen von Maßnahmen/Aktivitäten und (vorab definierten) Wirkungen • Durchführung eines regelmäßigen, indikatorenbasierten Monitorings, mit dem die Erreichung der Wirkungen kontrolliert wird & ggfs. nachgesteuert werden kann • Durchführung einer abschließenden Evaluierung zur Kontrolle und Bewertung der Wirkungen, die zur Legitimation/Rechenschaftsablegung ebenso genutzt werden kann wie für Lernprozesse 2.4.3 Daraus resultierende Problematiken, Herausforderungen & Konsequenzen Diese Vorgaben stellen den Leadership-Bereich – ebenso wie Bildungsmaßnahmen allgemein – vor eine Reihe von Herausforderungen (vgl. Bergmüller 2012, Scheunpflug 2008, Bergmüller/Scheunpflug 2014, Seitz 2010, VENRO 2014). 1. Die Problematik der Wirksamkeitsbewertung auf Basis vorab definierter Indikatoren und die Herausforderung, reale Wirkungen zu erfassen Nach den oben dargestellten Vorgaben wird die Wirksamkeit einer Maßnahme aufgrund von vorab definierten Output- und Outcome-Indikatoren eingeschätzt und bewertet. Dies ist nicht unproblematisch, da in Bildungskontexten oft andere Wirkungen („unerwartete Nebenwirkungen“) erzeugt werden, als vorab definiert wurden. Da Menschen sich selbst steuernde, autopoietische Systeme sind, die aus erhaltenen Inputs, Fortbildungen oder Trainings jeweils individuelle Lernprozesse erzeugen, und da die Herkunftssysteme eigene Dynamiken besitzen die Einfluss auf die Wirkungen nehmen, können Leadership-Programme zu anderen Wirkungen führen, als zuvor beabsichtigt sind: „This is mainly due to the fact that human systems are non-trivial, self-organized and autopoietic. The actors participating in a leadership development programme may often make use of outputs in a not predetermined way. This is because they operate in a highly uncertain and dynamic context and they act as an agency driven by their purpose and exercising their will to advocate for certain changes.“ (Wank/Dhamotaran, S. 56; vgl. auch Silvestrini 2014, Bergmüller/Scheunpflug 2014). Die realen Wirkungen können von vorab definierten Wirkungen also zum Teil deutlich abweichen. Fokussiert sich Monitoring und Evaluierung auf vorab definierte Wirkungen und werden diese nicht erreicht, wird eine Maßnahme als negativ bzw. nicht wirksam bewertet, selbst wenn sie andere, positive Wirkungen erzeugt. Hieraus resultieren zwei Herausforderungen bzw. Fragen: Zum einen, ob sich der Geldgeber bzw. Auftraggeber bereit erklärt, zu erreichende Wirkungen weiter zu fassen, so dass auch unerwartete Wirkungen als Erfolge definiert werden können. Zum anderen stellt sich die Frage, wie diese unerwarteten Wirkungen effizient erfasst werden können. Quantitative, hypothesenprüfende Verfahren kommen hier an ihre Grenzen. 29 2. Die Herausforderung der Einstellungsveränderungen Erfassung von Kompetenzerwerb, Werten und Eine weitere Herausforderung entsteht durch die Frage, wie reale Lernprozesse und Kompetenzerwerb erfasst werden können. So ist es zwar leicht möglich, z.B. mithilfe von Fragebögen zu erfassen, ob die Teilnehmenden selbst denken, dass sie die gewünschten Kompetenzen erworben haben. Ob dies tatsächlich so ist, d.h. ob Teilnehmende tatsächlich ihre Kompetenzen vertieft bzw. neue Kompetenzen erworben haben, oder ob sie dies nur denken oder gar wegen einer angenommen sozialen Erwünschtheit angeben, ist mithilfe von quantitativen Erhebungsverfahren nicht erfassbar. Werden Selbstaussagen der Teilnehmenden als ausreichende Wirkungsindikatoren anerkannt, sind quantitative Verfahren ausreichend. Sollen reale Wirkungen erfasst werden, ist dem nicht so. Diese Herausforderung verstärkt sich im Bereich des Leadership-Developments, da hier tiefere Ebenen angesprochen werden: „Leadership development programs in general (...) focus on changes at deeper, hard to observe levels of individuals (...) and softer issues such as social interactions, attitude, values and culture“ (Wank/Dhamotaran, S. 59). Wie in Kapitel 1 dargestellt und unten ausführlicher erläutert wird, sind solche Ebenen und damit Veränderungen auf diesen Ebenen den Teilnehmenden selbst oft nicht oder nur sehr schwer zugänglich. Hieraus resultiert die Herausforderung, Verfahren bzw. Evaluationsmethodiken zu finden, die es ermöglichen, realen Kompetenzerwerb sowie Einstellungsänderungen zu erfassen. 3. Die Herausforderung, Kausalitäten nachzuweisen Eine andere Herausforderung besteht darin, Kausalitäten nachzuweisen. Wie oben dargestellt wird nur das als Wirkung bezeichnet, was in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit einer Intervention/Maßnahme steht. Um Wirkung zu erfassen, muss also dargestellt werden können, wie Interventionen/Maßnahmen zu bestimmten Ergebnissen führen. Dieser Kausalitätsnachweis stellt zwar für alle Maßnahmen der Internationalen Zusammenarbeit eine Herausforderung dar. Dies gilt jedoch (aufgrund der autopoietischen Beschaffenheit menschlicher Systeme sowie der Einflussfaktoren des Herkunftssystems der Teilnehmenden (s.o.)) besonders für Bildungsprogramme und damit Maßnahmen des Leadership Developments. Kelle verweist hier auf Grenzen quantitativer Verfahren: „Ein Gegenstandsbereich, der nicht durch das Wirken unpersönlicher Kräfte und Mechanismen, sondern durch soziales Handeln kompetenter, handlungs- und entscheidungsfähiger Subjekte strukturiert wird, die sich in unterschiedlichen kulturellen Kontexten bewegen, setzt quantitativen Kausalanalysen Erkenntnisgrenzen“ (Kelle 2006, S. 133f.). Es besteht somit die Notwendigkeit, Verfahren/Evaluationsmethoden zu finden, die diesen Kausalitätsnachweis erbringen können. 4. Die Herausforderung, ein Lernen aus Evaluationen zu ermöglichen Der oben erwähnte Kausalitätsnachweis ist auch die Grundlage, um aus Evaluationen lernen zu können. Denn nur wenn sichtbar gemacht werden kann, was tatsächliche Resultate einer Maßnahme sind und warum Interventionen gewirkt - oder nicht gewirkt – haben, kann aus den Erfahrungen gelernt werden. Übersetzt für den Bereich Leadership Development bedeutet dies: Nur wenn erfasst und sichtbar gemacht werden kann, was die Teilnehmenden wirklich gelernt und anschließend in ihrem Herkunftssystem bewirkt haben, und nur wenn erfasst werden kann, was gewirkt hat (oder auch nicht) und warum – dann ist ein Lernen aus Evaluationen möglich. Hier entsteht also die Notwendigkeit, Verfahren zu finden, die ein solches Lernen möglich machen. 5. Konsequenzen: Empfehlungen für den Bereich Leadership Development Wank und Dhamotaran verweisen in ihrer Studie „Strengthening Leadership Capabilities for Sustainable Development“ mit Verweis auf die oben dargestellten Problematiken auf die Notwendigkeit, für den Bereich Leadership Development eine neue Herangehensweise des Monitorings und der Wirkungserfassung zu entwickeln: „Leadership development or human capacity development interventions may also require in general a new approach for formulating results as well as measuring such results. A more incremental approach, which observes expected and unexpected outcomes closely and use such insights for the continuous adaptation of the programme implementation as well as a stronger interaction with the participants to continuously get feedback how they make use of their strengthened leadership competencies may be more 30 applicable than traditional monitoring practice focusing on linear results chain and easily measurable products. (...) We recommend a proactive debate with donor agencies as well as internal monitoring units to find innovative solutions for monitoring human capacity development interventions such as leadership development.“ (Wank/Dhamotaran, S. 60). Als Lösungsmöglichkeit schlagen sie explizit qualitative Methoden wie Storytelling vor: „Qualitative methods such as storytelling, most significant change etc. may be helpful to collect the evidences by the participants of LDPs and triangulate them with evidences from boundary partners of the participants or other sources“ (Wank/Dhamotaran, S. 56). Wir greifen im Folgenden diese Empfehlung auf und begründen, warum qualitativ-narrative (Storytelling-)Methoden besonders geeignet sind, um den obenstehenden Herausforderungen zu begegnen. 2.4.4 Der Zugewinn und Nutzen qualitativ-narrativer (Storytelling-)Methoden In Kapitel 1 wurde bereits angedeutet, dass der Begriff des Storytellings im Bereich der Evaluation und Wirkungserfassung zwar bisher weniger Prominenz erfahren hat als in anderen Bereichen, dass die Praxis qualitativ-narrativer Verfahren – also Storytelling-Verfahren, jedoch seit jeher ein etablierter Bereich der qualitativen Evaluationsforschung und Wirkungserfassung ist. Im Folgenden gehen wir, basierend auf einem kurzen Exkurs in sozialwissenschaftliche Theorie darauf ein, warum sich qualitativ-narrative (Storytelling-)Verfahren besonders für die Wirkungserfassung und Wirkungsdarstellung von Leadership Development Programmen eignen & an die Vorgaben der GIZ anschlussfähig sind: 1. Wissenschaftlichkeit & Vermittelbarkeit gegenüber Auftrag- und Geldgebern Qualitativ-narrative Methoden, d.h. Storytelling-Methoden, basieren auf der Theorie und Methodologie qualitativer Evaluationsforschung, sind damit wissenschaftlich fundiert und gegenüber Auftraggebern und Geldgebern vermittelbar. Qualitative Evaluationsforschung bezeichnet die wissenschaftlich basierte Anwendung qualitativnarrativer Methoden. Sie ist ein eigenständiger Forschungstyp qualitativer Sozialforschung (vgl. Blome 2005, Kardorff 2003; Lüders/Haubrich 2003). Entstehungshintergrund ist eine in den 70er Jahren geführte kritische Auseinandersetzung mit dem frühen objektivistischen Evaluationsmodell, welches mit Methoden der vor allem experimentellen Sozialforschung einen Nachweis von Effekten und Kausalzusammenhängen sowie eine vergleichende Beurteilung von sozialen Programmen anstrebte. Die Kritiker, die sich insbesondere auf einen geringen Nutzen der Evaluationsergebnisse, vernachlässigte Bedürfnisse der Betroffenen und unreflektierte Werturteile bezogen, entwarfen als Konsequenz ein gänzlich neues Verständnis von Evaluation und der dafür notwendigen Konzepte und Verfahren. Sie entwickelten verschiedene Ansätze qualitativer 7 Evaluationsforschung, die im „konstruktivistischen Paradigma“ verankert sind. Der lange geführte Paradigmenstreit zwischen quantitativer und qualitativer Evaluationsforschung ist im Rahmen einer zunehmenden Akzeptanz qualitativer Evaluationsforschung inzwischen weitgehend beigelegt. Statt einer einseitigen Entscheidung für entweder quantitative oder qualitative Methoden wird es heute aus einer sogenannten pragmatischen Evaluationsposition heraus befürwortet, die Methoden anhand der Fragestellung und dem Erkenntnisinteresse einer Evaluationsstudie auszuwählen sowie qualitative und quantitative Verfahren zu verbinden bzw. zu triangulieren (vgl. Greene 1994; Lüders/Haubrich 2003; Sanders 1999). 7 Prominente Vertreter qualitativer Evaluationsforschung in den USA sind E. G. Guba und Y. S. Lincoln und ihr Modell der „4th Generation Evaluation“ (Guba/Lincoln 1989), Robert E. Stake und sein Modell der „responsiven Evaluation“ (welches von Guba/Lincoln aufgegriffen und weiterentwickelt wurde), Ian Shaw (1999) und Michael M. Patton (1987, 2002) (vgl. Kardorff 2003, 241; Lüders/Haubrich 2003, 212). Bis heute orientiert sich qualitative Evaluationsforschung in Deutschland in ihrer methodologischen Ausrichtung an den in den USA entwickelten Ansätzen; eine eigenständige Diskussion über diesen Forschungstyp existiert im deutschsprachigen Raum so gut wie nicht (Bohnsack 2006, 2010, Nentwig-Gesemann 2006, 2010). 31 2. Anschlussfähigkeit an das Monitorings- und Evaluierungssystem der GIZ Diese Offenheit für qualitative Verfahren trifft auch für die GIZ zu, da im Rahmen von KOMPASS neben dem primär quantitativ ausgerichteten Wirkungsmonitoring qualitative Methoden zulässig sind. Bisher wird KOMPASS vorwiegend angewandt, um das quantitative Monitoring um die Perspektiven der Partner von IZ-Maßnahmen zu erweitern. Durch seine offene Herangehensweise ist KOMPASS komplementär zum indikatorenbasierten Wirkungsmonitoring und gleichwertiger Partner im dezentralen M&E-System der GIZ. Unter dem Begriff KOMPASS bietet die GIZ verschiedene Instrumente und Methoden an, die eine vergleichbare Erfassung der Perspektiven von Partnern und Zielgruppen eines Vorhabens möglich machen (vgl. GIZ 2013a sowie interne Darstellung auf der GIZ-Homepage). Bisher werden hier (nach Kenntnisstand der Autor/innen) keine expliziten Storytelling-Methoden vorgeschlagen bzw. angeboten. Eine Offenheit scheint jedoch vorhanden. 3. Übereinstimmendes konstruktivistisches Paradigma Das konstruktivistische Paradigma qualitativer Evaluationsforschung steht im Einklang mit dem konstruktivistischen Verständnis von Bildung, das Bildungsprogrammen insgesamt sowie auch dem Leadership Development Ansatz der GIZ zugrunde liegt (vgl. u.a. Wank/Dhamotaran). Die zugrundeliegenden theoretischen Annahmen beider Ansätze sind somit vereinbar und eine notwendige Plausibilität im Sinne wissenschaftlicher Grundlagen ist gegeben. 4. Erfassung erwarteter/erwünschter & nicht-erwarteter/nicht-erwünschter Wirkungen Der offene, abduktive Blick qualitativ-narrativer Verfahren ermöglicht es, sowohl erwünschte oder erwartete, als auch nicht-erwünschte oder nicht-erwartete Wirkungen zu erfassen – somit zu erkennen, was eine Maßnahme wirklich bewirkt. In qualitativer Evaluationsforschung wird der Blick nicht auf vorhandene Hypothesen eingeschränkt, sondern es besteht ein sehr großes Maß an Offenheit für das, was im Prozess bedeutsam erscheint (vgl. Patton 1987). „Im Kontext der Anwendungsund Evaluationsforschung sind qualitative Datenerhebungsund Auswertungsverfahren insbesondere deshalb unverzichtbare methodische Werkzeuge, weil Fragen nach zusätzlichen und ggfs. unerwarteten Effekten von Interventionen hier stets von herausragender Bedeutung sind“ (Kelle 2006, 134). 5. Einblick in Werte, Kompetenzerwerb und Einstellungsänderungen Während alle qualitativ-narrativen Verfahren in diesem Sinne ermöglichen, zu erfassen, was die Menschen selbst als Wirkungen bezeichnen, geht die Methodologie Dokumentarischer Evaluationsforschung darüber hinaus (vgl. Bohnsack/Nentwig-Gesemann 2010). Sie unterscheidet zwischen zwei Ebenen von Wissen, die sich in Erzählungen zeigen bzw. abbilden: Eine Wissensform ist das theoretische, bewusste, argumentative Wissen. Dies ist das Wissen, das Menschen selbst bewusst ist. Davon unterschieden wird das atheoretische, implizite Wissen, das „tacit knowledge“, d.h. die inneren Geschichten, in die auch die Werte eingelassen sind. Wie in Kapitel 1 dargestellt wurde, stimmen Vertreter/innen der Dokumentarischen Evaluationsforschung mit psychologischen Theorien sowie Ansätzen der Neurowissenschaften darin überein, dass dieses innere Wissen, diese inneren Geschichten und darin gehaltenen Werte, handlungsleitend sind, d.h. das Handeln orientieren und steuern. Während klassische Interviewverfahren von Frage und Antwort es lediglich ermöglichen, dass Menschen ihr bewusstes, argumentatives, Wissen widergeben, führen narrative Verfahren, die zu „Stegreiferzählungen“ einladen, zu einem Erzählfluss, der das implizite Wissen, die inneren Geschichten widergibt. „Im Sinne von Fritz Schütze (vgl. 1987) gehören evaluative Textsorten (...) zur theoretisch-argumentativen Dimension der Wirklichkeitskonstruktion; wohingegen die narrativen Textsorten uns den Zugang zur existenziellen Ebene der Handlungspraxis und den darin implizierten fundamentalen Voraussetzungen der Identitäts- und Biografiekonstruktion mit den dazugehörigen Werthaltungen eröffnen“ (Bohnsack 2010, S. 48). Die Methodologie Dokumentarischer Evaluationsforschung sagt hier also: Wenn Menschen frei erzählen, was sie - z.B. in Interventionen, Programmen, Maßnahmen, etc. – erlebt und was sie im Anschluss an die Maßnahme getan haben, geben sie 32 nicht nur Einblicke in ihre Werte und „inneren Geschichten“, sondern auch in reale Wirkungen8 jenseits von Wirkungen, die erwünscht sind oder Wirkungen, die den Erzählenden bereits bewusst sind. Indem Externe auf diese Erzählungen blicken, können diese tiefliegenden und z.T. unbewussten Wirkungen erfasst und aufgedeckt werden. Durch eine Rückspiegelung dieser Eindrücke an die Befragten können „blinde Flecken“ aufgedeckt und Erkenntnisprozesse initiiert werden. Eine Rückspiegelung ermöglicht auch eine Validierung, d.h. eine Bestätigung durch die Erzählenden, ob sie diese Einschätzung teilen. 6. Ermöglichung von Kausalanalysen Bezüglich der oben dargestellten Herausforderung von Kausalanalysen bieten qualitativ-narrative (Storytelling-)Verfahren gegenüber quantitativen Verfahren klare Vorteile: „Qualitative Verfahren können zur Identifikation der von den verschiedenen Gruppen von Akteuren erwünschten outcomes eingesetzt werden und der Beschreibung von kausalen Pfaden dienen, die durch die Interventionen verschiedene beabsichtigte und unbeabsichtigte Folgen erzielen. Diese Funktion ist insbesondere dann für ein Evaluationsforschungsdesign von Bedeutung, wenn die outcomes durch komplexe instrumentelle Handlungsketten erzeugt werden“ (Kelle 2006, 134). Kausalanalysen können sich hierbei sowohl auf das den Menschen bewusste, als auch auf das ihnen zunächst unbewusste Verhältnis von Ursache (Maßnahmen) und Wirkung (Einstellungsänderungen) beziehen. Sowohl qualitativ-narrative Verfahren, die abfragen, was Menschen bewusst als Ursache und Wirkung beschreiben als auch der Ansatz der Dokumentarischen Evaluationsforschung der auf das schaut, was Menschen selbst noch nicht bewusst ist, bieten einen Einblick in das Verhältnis von Ursache und Wirkung: „Eine eigenständige und besondere Qualität der qualitativen Evaluationsforschung liegt darin, dass Prozesse beobachtet, Entwicklungen dokumentiert und im Detail rekonstruiert, subjektive Sichtweisen der Beteiligten sichtbar und Interessen somit transparenter und nachvollziehbar gemacht werden; damit werden Erfolge oder Misserfolge im Verlauf auf das Handeln und Erleben von Akteuren und auf spezifische Rahmenbedingungen spezifisch zurechenbar“ (Kardorff 2006, S. 83). 7. Ermöglichung des Lernens & der Qualitätsentwicklung Diese Analysen ermöglichen ein tiefes Verständnis von Wirkungen und ihren Ursachen und bereiten damit die Grundlage, um aus Evaluationen zu lernen, d.h. Qualitätsentwicklung von Leadership-Programmen durchzuführen. 8. Anwendbarkeit und explizit gewünschter Prozessnutzen Da die im konstruktivistischen Paradigma verankerte qualitative Evaluationsforschung auf der Grundannahme basiert, dass Realität konstruiert wird, muss kein neutrales oder experimentelles Setting geschaffen werden, um den Einfluss des Forschers zu vermindern. Menschen können in ihrem Umfeld befragt, bzw. zu Erzählungen eingeladen werden. Der Einfluss der Befragung auf die Menschen und ihre Situation sind nicht nur zulässig, sondern auch gewünscht, denn im konstruktivistischen Paradigma verankerte qualitative Sozialforschung zielt explizit auf eine Verbesserung lokaler Praxis (vgl. Stake, Patton). Der durch eine qualitative Evaluationsforschung erzeugte „Prozessnutzen“, d.h. Wirkungen wie Aktivierung, Selbstverantwortung und Empowerment der Befragten oder eine erhöhte Kompetenz in Selbstreflexion, sind also erwünschte positive Wirkungen qualitativer Evaluation. 2.4.5 Qualitativ-narrative (Storytelling-)Tools zur Wirkungserfassung Im Folgenden werden ausgewählte qualitativ-narrative Methoden (Tools) vorgestellt, die in der Praxis zur Wirkungserfassung eingesetzt werden. Dabei wird jeweils kurz aufgezeigt, bzw. angedeutet, wie sie für Leadership-Programme nutzbar gemacht werden können. Manche der 8 Der Begriff der “realen Wirkungen“ ist hier im konstruktivistischen Paradigma zu verstehen: Wenn die Grundannahme darin besteht, dass es keine objektiv gegebene Realität gibt, sondern Realität immer subjektiv konstruiert wird, ist die Realität der einzelnen Menschen entscheidend. Denn diese ist handlungsleitend, d.h. sie bestimmt, wie Menschen handeln. 33 Methoden werden explizit als Storytelling-Methoden bezeichnet, andere bezeichnen sich nicht so, arbeiten jedoch mit dem Ansatz des Geschichtenerzählens. Ein Blick in die Praxis der Evaluation und Wirkungserfassung anhand von/mit qualitativ-narrativen Methoden zeigt, dass vor allem zwei Formen eingesetzt werden: Zum einen ist Storytelling ein Erhebungsinstrument, d.h. Menschen werden mit verschiedenen Methoden auf verschiedene Weisen eingeladen, ihre persönlichen Geschichten zu erzählen um Wirkung zu erfassen. Diese Methoden werden hier vorgestellt (Kapitel 2.4.5). Zum anderen werden qualitativ-narrative Verfahren bzw. Storytelling zur Darstellung und Präsentation von komplexen Informationen und Evaluationsergebnissen eingesetzt, z.B. indem komprimierte Wirkungsgeschichten erzählt werden. Der klassische Begriff sind Fallstudien bzw. Case-Studies. Auf diese Methoden wird unter 2.5 eingegangen. 1. Narratives Interview und Gruppendiskussionsverfahren & Adaption für die Praxis Das Narrative Interview und das Gruppendiskussionsverfahren sind Verfahren die in der qualitativen Sozial- und Evaluationsforschung eingesetzt werden. Einzelpersonen (im Fall des narrativen Interviews) oder Gruppen (im Fall des Gruppendiskussionsverfahrens) werden eingeladen, spontan und ohne Vorbereitung ihre Erfahrungen in oder mit einem besonderen Kontext, z.B. einem Bildungsprogramm, zu erzählen. Wichtig ist hier, dass sie spontan das erzählen, was ihnen in den Kopf kommt und nicht bewerten oder argumentieren, denn in der Erzählung zeigt sich neben dem theoretischen Wissen das implizite Erfahrungswissen. Das narrative Interview sowie das Gruppendiskussionsverfahren können unterschiedlich intensiv ausgewertet werden. Zum einen kann auf die Ebene des theoretisch-argumentativen Wissens geschaut werden, also auf das, was die Teilnehmenden selbst als Wirkungen beschreiben. Hier werden z.B. mit dem Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring Analysekategorien definiert und diese ausgewertet (vgl. Mayring). Die im ersten Kapitel vorgestellte StorytellingMethode arbeitet mit diesem Verfahren (vgl. Thier 2010). In anderen Varianten wird aufwändiger interpretiert, z.B. mit der objektiven Hermeneutik oder, im Fall der Dokumentarischen Evaluationsforschung, mit der dokumentarischen Methode (vgl. Bohnsack 2003). Diese Verfahren sind sehr erfolgreich und ergebnisreich in der Erfassung von Kausalbeziehungen und realen Wirkungen, auch auf der tiefen Werteebene (vgl. oben sowie Texte von Bohnsack und NentwigGesemann). Zugleich ist sowohl eine Auswertung nach Mayring als auch insbesondere eine Auswertung mit der Objektiven Hermeneutik oder der Dokumentarischen Methode sehr zeit- und kostenaufwändig und beide benötigen sozialwissenschaftliche Methodenkenntnisse. Letztgenannte Erhebungs- und Auswertungsverfahren eignen sich somit besonders für größere Evaluationen von Leadership Programmen oder Maßnahmen, die wissenschaftlich fundierte, plausible und (im Sinne qualitativer Sozialforschung valide und reliable) Erkenntnisse über Wirkungen und Kausalitätsbeziehungen erzeugen sollen. Sie sind auch geeignet, um reale Wirkungen zu erfassen, d.h. Hypothesen über Wirkungen zu formulieren, die anschließend mit quantitativen Verfahren abgefragt werden können. Für das Monitoring und die Evaluation von Leadership-Programmen kann eine (starke) Vereinfachung und Anpassung der des Narrativen Interviews bzw. Gruppendiskussionsverfahrens auf die Praxis erfolgen: • Wird die Methode des der freiläufigen Erzählung für das Monitoring angewandt, d.h. werden Teilnehmende im Seminarprozess eingeladen werden, individuell (Narratives Interview) oder in der Gruppe (Gruppendiskussionsverfahren) sehr frei – d.h. ohne Fokus auf spezifische Fragen oder Programmelemente - zu erzählen was sie bisher im Seminar erlebt haben und was sie bewegt hat, erhalten Facilitator/innen Eindrücke, welche Interventionen wie wirken, und eine Anpassung der Seminarmethodik oder Inhalte ist möglich. Bezieht sich das Monitoring auch auf die Zeit nach der Maßnahme, d.h. wird die Integration der Erfahrung in den Herkunftskontext als Teil von Leadership-Programmen bezeichnet, können auch hier freiläufige Erzählungen Einblicke geben, wie die Maßnahmen (weiter) wirken und es besteht die Möglichkeit, durch (virtuelle) Coachings den Umsetzungsprozess zu begleiten um Wirkungen zu vertiefen. 34 • Auch als Evaluationsmethode kann diese Variante eingesetzt werden, indem die Teilnehmenden am Ende der Maßnahme dazu eingeladen werden, freiläufig zu erzählen, wie sie den gesamten Prozess erfahren haben. Hier besteht jedoch die Herausforderung, dass diese (voraussichtlich umfangreichen) Erzählungen ausgewertet und darin verdeutlichte Wirkungen verdichtet dargestellt werden müssen. Dies benötigt nicht nur methodische Kenntnisse (pragmatischer) Auswertungsmethoden, sondern auch umfangreiche Ressourcen. Hier bieten sich eher verdichtete Darstellungen durch die Teilnehmenden an, die weiter unten vorgestellt werden. • Eine Praxisadaption der Dokumentarischen Evaluationsforschung für das Monitoring von Leadership Programmen besteht darin, dass andere Teilnehmende oder auch Facilitator/innen den Erzählenden im direkten Anschluss „spiegeln“, d.h. widergeben, was sie an Erfahrungen und Lernprozessen wahrnehmen. Diese Eindrücke, die anschließend durch die Erzählenden validiert werden, ermöglichen ihnen Erkenntnisprozesse und Einblicke in Wirkungen, die ihnen selbst potenziell nicht bewusst waren. Die im Anhang vorgestellte Methode arbeitet mit dieser Adaption. Bemerkenswert ist hierbei die Verbindung von Wirkungserfassung und Prozessnutzen im Sinne der Förderung von Erkenntnis und sozialen Verbindungen (positive Wirkungen, die durch das Erzählen und Hören von Geschichten erzeugt werden, vgl. vorherige Kapitel). 2. The Most Significant Change (MSC) und Story Circle Eine der bekanntesten Storytelling-Methoden im Bereich der Evaluation ist die Methode „Most Significant Change“ (MSC). MSC ist eine partizipative Monitorings- und Evaluierungsmethode, die besonders häufig im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit bzw. der internationalen Zusammenarbeit eingesetzt wird. Der Prozess beinhaltet die Sammlung Geschichten über signifikante Veränderungen und die systematische Auswahl der wichtigsten Veränderungen: „The most significant change (MSC) technique is a form of participatory monitoring and evaluation. It is participatory because many project stakeholders are involved both in deciding the sorts of change to be recorded and in analysing the data. It is a form of monitoring because it occurs throughout the program cycle and provides information to help people manage the program. It contributes to evaluation because it provides data on impact and outcomes that can be used to help assess the performance of the program as a whole. (...)The process involves the collection of significant change (SC) stories from the field level, and the systematic selection of the most important of these by panels of designated stakeholders or staff. The designated staff and stakeholders are initially involved by ‘searching’ for project impact. Once changes have been captured, various people sit down together, read the stories aloud and have regular and often indepth discussions about the value of the reported changes. When the technique is successfully implemented, whole teams of people begin to focus their attention on programme impact. (...) These ten steps are usually included: 1.Raising interest at the start, 2. Defining the domains of change, 3. Defining the reporting period, 4. Collecting SC stories, 5. Selecting the most significant of the stories, 6. Feeding back the results of the selection process, 7. Verifying the stories, 8. Quantification, 9. Secondary analysis and meta-monitoring, 10. Revising the system“ (Davies/Dart, 2005; vgl. auch Davis 2013, Lennie 2011). Diese Methode ist in verschiedenen Formen auf den Bereich Leadership Development adaptierbar: • Gegen Ende eines Seminarprozesses können die Teilnehmenden eingeladen werden, Wirkungsgeschichten zu formulieren, diese miteinander zu teilen, zentrale Wirkungsgeschichten auszuwählen und auf dieser Basis zentrale Wirkungen darzustellen. Während das narrative Interview und Gruppendiskussionsverfahren auf einen freiläufigen Diskurs zielen, kann hier in Anlehnung an MSC sowie aufbauend auf der Methode Story Circle expliziter nach Wirkungen gefragt werden. So kann im Sinne des „Story Circles“ am Ende der Maßnahme/des Programms/Seminars jede/r Teilnehmer/in mithilfe einer gerichteten Frage (z.B. „What have you learned from being part of this program?“, „How has the participation in this program changed your life““) eingeladen werden, eine Geschichte zu erzählen. Am Ende kann die Gruppe eingeladen werden, die zentralsten 35 Wirkungen sowie darauf basierende lessons learned zu formulieren (zum Story Circle vgl. Sukop 2007). Elemente dieses Vorgehens gehen die im Anhang vorgestellte Methode ein. • 3. Ein ähnlicher Sammlungs- und Austauschprozess von Wirkungsgeschichten kann nach Beendigung eines Programms/einer Maßnahme, z.B. über digitale Plattformen, erfolgen. Hier erscheint eine intensive Begleitung und/oder Moderation durch Externe Personen notwendig und diesbezügliche Chancen und Grenzen digitaler Verfahren sind auszuloten. Hier bietet das Global Giving Project potenziell interessante Anregungen: Storytelling auf einer digitalen Plattform - The Global Giving Project Das Global Giving Projekt hat MSC in einem Pilotprojekt in Kenia und Uganda weiterentwickelt (vgl. http://www.globalgiving.org/stories/). Mit Hilfe von standardisierten, halbstrukturierten Fragebögen wurden tausende von kurzen Geschichten gesammelt (Fragen waren hier u.a.: Welches erfolgreiche Unterfangen hat ihre Gemeinde durchgeführt?). Mit einer eigens entwickelten Software (SenseMaker) wurden die Antworten so ausgewertet, dass neben den qualitativen Daten auch statistische und grafische Auswertungen vorliegen. Laut Grauer arbeitet Global Giving aktuell daran, ein „online DIY community feedback toolkit“ zu entwickeln, den jede interessierte Organisation, egal welcher Größe, nutzen kann. Das ist insbesondere für kleine und lokale NGOs interessant, die oftmals nur geringe Kapazitäten für M&E-Aktivitäten haben, ebenso wie Budgets dafür“ (Grauer 2013). Ob und inwiefern dieses Toolkit für Leadership Programme genutzt werden kann oder eine Anpassung für Leadership Programme mach- und finanzierbar ist, könnte geprüft werden. 4. Weitere Storytelling-Methoden, die für den Bereich Leadership adaptierbar sind In der von Sukop veröffentlichten Studie „Storytelling Approaches to Program Evaluation: An introduction“ werden weitere Storytelling-Methoden vorgestellt, die für die Wirkungserfassung in Leadership Development Programmen adaptiert und genutzt werden können (vgl. Sukop 2007): 5. • Storytelling-Interview: Im Rahmen von Einzelinterviews oder Gruppeninterviews werden die Teilnehmenden eingeladen, von Wirkungen des Programms/der Maßnahme auf ihr Leben zu erzählen. Diese Interviews werden aufgenommen, transkribiert und ausgewertet. • Oral history interview: Während das Oral history interview darauf zielt, mithilfe von Geschichten die Geschichte eines Ortes zu erfassen und kennenzulernen, könnte eine Adaption auf den Bereich Leadership Development darin bestehen, dass Akteure aus dem Umfeld der Teilnehmenden eingeladen werden, Geschichten über den Teilnehmenden und seine Wirkung ins Umfeld zu erzählen. Für die Sammlung und Auswertung dieser Geschichten müssten effiziente Verfahren entwickelt werden. Z.B. könnten Teilnehmende eingeladen werden, Geschichten aus ihrem Umfeld zu sammeln und vorzustellen. Die Auswertung und Aggregierung von Wirkungen könnte durch die Teilnehmenden selbst oder Facilitator/innen, Auftraggeber oder Evaluator/innen erfolgen. • Institutional Memory: In dieser Methode werden nicht nur Teilnehmende, sondern auch Mitarbeitende eingeladen, (Wirkungs)Geschichten über das Programm und seine Entwicklung zu erzählen. Adaptiert auf den Bereich Leadership Development könnten Facilitator/innen und/oder Auftraggeber zum Erzählen und Teilen von Geschihten eingeladen werden. Fazit: Vielfältige Tools und Notwendigkeit der Auswertung und (aggregierten) Darstellung Wie oben dargestellt gibt es vielfältige Storytelling-Tools/Methoden, die zur Wirkungserfassung im Bereich Leadership Development genutzt werden können. Mithilfe von Storytelling werden umfangreiche Wirkungen sichtbar, die mithilfe von quantitativen Methoden nicht erfasst werden können. Die Herausforderung besteht (wie in allen qualitativen Methoden) weniger darin, die Daten zu erfassen bzw. Wirkungen zu heben, sondern darin, die Wirkungen in aggregierter und anschaulicher Weise zu vermitteln. Auf das diesbezügliche Potenzial von qualitativ-narrativen Storytelling-Verfahren wird im Anschluss eingegangen. 36 2.5 Einsatz von Storytelling-Methoden zur Wirkungsdarstellung und zum Wissensmanagement 2.5.1 Der Nutzen von qualitativ-narrativen Fallstudien/ Case Studies Wie oben dargestellt werden qualitativ-narrative (Storytelling-)Methoden zum einen zur Wirkungserfassung und zum anderen zur Wirkungsdarstellung angewandt. Die klassische Methode der qualitativen Sozialforschung sind hierfür Fallstudien bzw. Case Studies. Der qualitative Evaluationsforscher Robert Stake betont die Notwendigkeit, Wirkungen in Form von Fallstudien/Case Studies darzustellen. Diese Fallstudie soll es sowohl Stakeholdern, also am Programm/einer Maßnahme Beteiligten, als auch Personen, die das Programm/die Maßnahme nicht kennen, ermöglichen, den Fall in seiner Ganzheit kennen zu lernen. Bezüglich der Struktur und Gestaltung von Fallstudien betont Stake: „[M]ost case studies feature: descriptions that are complex, holistic, and involving a myriad of not highly isolated variables; data that are likely to be gathered at least partly by personalistic observations; and a writing style that is informal, perhaps narrative, possibly with verbatim quotations, illustration, and even allusion and metaphor. [...] Themes and hypotheses may be important, but they remain subordinate to the understanding of the case“ (Stake 1978, 7; zitiert in Shadish/Cook/Leviton 1991, 283). Kardorff beschreibt, dass auch laut dem qualitativen Evaluationsforscher Michael Patton „evaluative Fallstudien alle Bestandteile einer guten Geschichte in sich vereinigen sollten. Sie erzählen, was wann geschah was wem widerfuhr und welche Folgen dies alles hatte“ (Kardorff 2006). Laut Stake dient eine Fallstudie nicht nur einer aggregierten Wirkungsdarstellung. Sie soll zugleich einen Nutzen für Leser/innen erzeigen, indem die Fallstudie eine „stellvertretende Erfahrung“ („vicarious experience“) des Programms/der Maßnahme ermöglicht. Der Erhalt von einem umfassenden und tiefgreifenden Einblick in die Perspektiven und Erfahrungen der Programmbeteiligten soll die Leser/innen dazu anregen, Parallelen zu eigenen Erfahrungen zu ziehen und die Erfahrungen des Programms auf andere Situationen zu übertragen, d.h. eine sogenannte „naturalistische Generalisierung“ durchzuführen: „We believe that program evaluation studies should be planned and carried out in such a way as to provide a maximum of vicarious experience to the readers who may then intuitively combine this with their previous experiences. The role of the program evaluator or educational researcher would then be to assist practioners in reaching new understandings, new naturalistic generalizations“ (Stake & Trumbull 1982, S. 2; zitiert in Shadish/Cook/Leviton 1991, S. 285). Diese „naturalistischen Generalisierungen“ sollen es somit ermöglichen, den Wissensschatz des Lesers/der Leserin um eine zusätzliche – eben in der Fallstudie beschriebene – Erfahrung zu erweitern: „The reader comes to know some things told, as if he or she had experienced them“ (Stake 1994, S. 240). Hiermit erläutert Stake zugleich den umfangreichen Nutzen von Fallstudien/Case Studies – also Storytelling - für das Wissensmanagement in Organisationen: Indem Fallstudien, also Geschichten, dargestellt werden, können die Erfahrungen nicht nur komprimiert dargestellt, sondern auch für eine wirksame Verbesserung der Praxis von anderen Programmen/Aktivitäten nutzbar gemacht werden. Die bereits weiter oben vorgestellte Storytelling-Methode nach Thier (Thier 2010) in ihrer Adaption der vom MIT entwickelten Methode „Learning Histories“ verwendet Geschichten in diesem Sinne für das Wissensmanagement in Organisationen. Fallstudien bzw. Case Studies werden traditionell in der dritten Person dargestellt, sie können aber auch in der Ich-Form erzählt werden, indem die eigene (Wirkungs-)Geschichte dargestellt wird. 2.5.2 Verschiedene Formen von Case Studies/ Fallstudien Ein Blick in die Praxis verdeutlicht, dass Fallstudien unterschiedlich gestaltet werden können. Je nach Bedarf und Anwendungsbereich können im Bereich des Leadership Developments verschiedene Formen zur Anwendung kommen. Im Folgenden werden als Orientierung und Basis für eine Anpassung auf das Feld des Leadership Developments zwei Formen von Fallstudien vorgestellt: Einmal für die Falldarstellung/Case Study eines gesamten Programms und einmal für eine persönliche Fallstudie von Individuen. 37 1. Fallstudie eines Programms: Kontributionsanalyse Kontributionsgeschichte auf Basis einer Ein Beispiel für wissenschaftlich basiertes und im Rahmen der GIZ zur Anwendung im Governancebereich bereits vorgestelltes 9 Storytelling ist die auf einer Kontributionsanalyse basierende Kontributionsgeschichte, die von John Mayne entwickelt wurde (vgl. Mayne 2008, 2012). Sie eignet sich besonders zur Wirkungsdarstellung eines Gesamtprogramms und kann entweder ergänzend oder alternativ zur indikatorenbasierten Wirkungsdarstellung erfolgen (die wie oben dargestellt, für Bildungsprogramme/Programme des Leadership Developments herausfordernd ist und zum Teil Probleme darstellt). Die Kontributionsanalyse dient dazu, Kausalverbindungen zwischen einem Programm/einer Maßnahme und Ergebnissen/Wirkungen theoretisch herzuleiten und empirisch zu überprüfen. Eine Kontributionsanalyse überprüft Kausalverbindungen in der Konzeption des Vorhabens, überprüft also die Wirkungslogik des Vorhabens Schritt für Schritt und identifiziert die Hauptbeiträge zu Veränderungen, inklusive des Vorhabens selbst. Die Kontributionsanalyse ist ein Ansatz zur Herleitung von Schlussfolgerungen über den Beitrag eines Programms zu beobachteten Wirkungen, d.h. sie reduziert Ungewissheit über den Beitrag eines Programms durch ein Verständnis, warum Wirkungen eintreten (bzw. nicht eintreten) und durch Klärung von Rollen, die das Programm bzw. andere Faktoren dabei gespielt haben. Sie wird für komplexe Zusammenhänge angewandt, in denen (quasi-)experimentelle Ansätze schwer durchführbar sind. Hauptwerkzeuge der Kontributionsanalys sind die Theory of Change und das Wirkungsmodell eines Programms. In einem 1. Schritt wird das Attributionsproblem dargelegt. Geeignete Fragen sind hier: Warum ist die Wirkung eingetreten? Hat das Programm einen wichtigen Beitrag dazu geleistet? Wie wurde dieser Beitrag geleistet? Welche Rolle hat das Programm gespielt? Kann begründet angenommen werden, dass das Programm einen Unterschied gemacht hat? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, um diese Art von Programm zum Erfolg zu führen? In einem 2. Schritt wird die Theory of Change (ToC) auf Basis des Wirkungsmodells rekonstruiert. Die ToC sollte eine plausible Verbindung zwischen den Aktivitäten und Leistungen des Programms und den angestrebten Wirkungen herstellen. Die ToC muss Annahmen im Wirkungsmodell artikulieren und Risiken sowie mögliche externe Einflüsse und Akteure benennen. Im 3. Schritt werden Belege für die Theory of Change gesammelt: Welche Belege lassen sich dafür finden, dass die intendierten Wirkungen eingetroffen sind? Welche Belege lassen sich für die Annahmen, Risiken und externe Faktoren finden? Welche Annahmen sind „stark“ (empirische Belege, klare Logik, große Akzeptanz)? Welche Annahmen sind „schwach“ (wenig empirische Belege, unklare Logik, geringe Akzeptanz)? Hierfür werden zunächst existierende Informationen herangezogen. Im 4. Schritt erfolgt dann das „Story Telling“. Hier wird eine Kontributionsgeschichte, d.h. ein Narrativ, entwickelt, aus dem hervorgeht, warum begründet angenommen werden kann warum und wie das Programm einen Beitrag zu den beobachteten Ergebnissen geleistet hat. Elemente einer glaubhaften Kontributionsgeschichte sind der Programmkontext, geplante und erreichte Ziele, lessons learned, ein Ansatz zur Qualitätssicherung der zu Grunde liegenden Informationen sowie wichtigste alternative Erklärungen für Wirkung und Begründung, warum diese nicht stichhaltig sind. Im 5. Schritt werden Hauptschwächen der Geschichte analysiert und zusätzliche Belege gesucht. Um Schwächen festzustellen, sind folgende Fragen nützlich: Ist klar, welche Ergebnisse erzielt wurden? Konnten alle Schlüsselannahmen validiert werden? Sind die Wirkungen anderer Einflussfaktoren ausreichend verstanden? Welche alternativen Erklärungsansätze lassen sich nicht vollständig entkräften? Schwächen und alternative Erklärungsansätze deuten auf Bereiche, für die weitere Informationen eingeholt und ggf. zusätzliche Daten erhoben werden müssen. 9 Quelle der folgenden Erläuterung der Kontributionsanalyse ist eine GIZ-Powerpoint-Präsentation zur Wirkungsevaluation im Governance-Bereich, die der Autorin für diese Studie zur Verfügung gestellt wurde (Autorin ist Dr. Sylvia Schweitzer, Datum der PPT-Präsentation ist der 30. August 2013). 38 Im 6. Schritt wird die Geschichte auf Grundlage der zusätzlich gesammelten Informationen und Daten überarbeitet und substantiviert. Ist dies nicht möglich, leistet das Programm wahrscheinlich keinen essenziellen Beitrag zu den beobachteten Ergebnissen. Dies erfordert auch eine Revidierung des Wirkungsmodells. Eine ähnliche Methode ist die Methode „Structured Storytelling“ (vgl. Scott 2005). Die Kontributionsgeschichte kann, je nach Zielgruppe und Anwendungskontext, unterschiedlich formuliert werden (formalisierte Sprache oder/und anschaulich-ansprechende Sprache, faktenbasiert oder/und Arbeit mit Bildern und Metaphern). 2. Individuelle Fallstudie: Value-creation stories als persönliche Wirkungsgeschichten In ihrem Dokument „Promoting and assessing value creations in communities und networks: a conceptual framework“ der Open Universiteit in den Niederlanden schlagen die Autor/innen die Methode der „Value-creation Stories“ vor, um Wirkungen von Gemeinschaften und Netzwerken darzustellen auf Individuen darzustellen (vgl. Wenger, Trayner, De Laat (2011). Da diese Methode dazu angewandt wird, individuelle Wirkungen von Bildungsmaßnahen zu erfassen und zu erläutern, bietet diese Methode Potenzial für die Darstellung von individuellen Fallstudien/Case Studies über Wirkungen von Bildungsmaßnahmen in Leadership-Formaten. Die Methode benötigt hierfür eine Anpassung auf den Leadership-Kontext. Die Autor/innen verweisen zunächst auf die Kausalitätsproblematik der indirekten Beziehungen zwischen Lernen und Ergebnissen: „the indirect relationships between learning and outcomes often make it difficult to claim causal attributions. For instance, if one observes an improvement in performance, such as higher sales or better student scores, there are usually multiple factors that contribute to such improvements. The market may have improved anyway or the student population may have changed. So it may be misleading to attribute performance improvement or redefinition of success back to community or networking activities unless one can tell how these activities ultimately contributed to observed improvements“ (ebd., S. 33). Als Reaktion/Umgangsstrategie empfehlen sie, die Wertentwicklung in Zyklen zu erfassen bzw. darzustellen und schlagen daher Value-Creation Stories vor: „To paint a more reliable picture of how a community or network is creating value, it is necessary to follow value creation across cycles. For instance, it would be good news to hear that a community meeting or a network interaction has generated a very exciting and inspiring discussion of a problem recurring in practice, but one would want to know what specific ideas came out of the discussion. Then it would be useful to find out who has tried to apply these ideas in their own context and with what effects on performance – or if current measures of good performance cannot account for such effects, what new definitions of success are suggested. Such a cross-cutting account is what we call a “value-creation story” (ebd., S. 33). Anschließend stellen sie diese value-creation stories vor: „A value-creation story is a special genre of story. Like many other genres, it follows a specific format. Think of the format of a typical thriller: it has a crime, an investigation, false trails, and finally a solution. Similarly a romance has a typical format: the two meet, dislike each other at first, then fall in love, get separated, get reunited, and finally live happily ever after. The standard format of a value- creation story is illustrated in Figure 6.1, represented by the horizontal arrows. Typically, such a story is woven through each of the cycles of value creation. It starts with a community or network activity-- such as a community meeting, a project, or the propagation of an inquiry through network links – and how productive it was (cycle 1). The story then highlights a resource, such as a response to an inquiry, an idea, a piece of advice, a document, a procedure, a model, or a relationship which came out of the activity (cycle 2). It then explains how this resource was applied in the practice of the storyteller and with what effects (cycle 3). The effect on practice can then be linked to an outcome, such as a measure of performance in the organization or for a person (cycle 4). Finally, there is always the possibility that current measures of performance are found inadequate to fully account for the new development so that in some cases; a story might even involve a reflection on the definition of success and new considerations to frame the expectations of value creation (cycle 5).“ 39 FIGURE 6.1 Value-creation stories Die Autor/innen verweisen darauf, dass eine „Value-creation story“ nicht notwendigerweise alle Zyklen abdecken muss: „For instance, a story could start with a document without a full account of how community or networking activities produced it; or it could end with an application to practice without exploring further outcomes. The reason for cropping a story with a proxy can be that it is too difficult to know the full story; or that the story is not finished. For instance, someone may be really happy to have made some significant contacts through a community or network, but the potential of these contacts has not been leveraged yet. The rest of the story is there in imagination. In both cases, the cropped story hints at a full story. This is expressed by the variety of arrows of different length and dotted lines in the figure. The final dotted line suggests that reconsidering the definition of success can happen directly from an activity.“ Die Geschichten werden von den Menschen erzählt, die in den Netzwerken und Communities involviert sind: „Usually those who can tell the story are the people involved in networking and communities. They are the ones who have both done the learning and taken it into practice. In other words they are both the carriers and the witnesses of the process of value creation across cycles. But they may not have thought through that process and need some framing to articulate the connections among the cycles of value creation.“ Die Autor/innen schlagen folgende Fragen als Struktur vor, um die Geschichten darzustellen: 1. What meaningful activities did you participate in? 2. What specific insights did you gain? What access to useful information or material? 3. How did this influence your practice? What did it enable that would not have happened otherwise? 4a. What difference did it make to your performance? How did this contribute to your personal/professional development? 5. Has this changed your or some other stakeholder’s understanding of what matters? Diese Grundstruktur kann eine Basis für eine Formulierung von persönlichen Wirkungsgeschichten bilden, die auf den Bereich des Leadership Developments anpassbar/adaptierbar sind. Je nach Kontext und Zielgruppe kann die individuelle Wirkungsgeschichte eher formal bzw. faktenbasiert oder ansprechend-narrativ formuliert werden werden. Anregungen zur Gestaltung ansprechender und gut lesbarer Geschichten werden im Anhang gegeben. Auch wenn die Sprache der Geschichten variieren kann, sollten in persönlichen Wirkungsgeschichten immer Kausalitäten dargestellt werden: D.h. es sollte darauf eingegangen werden, an welcher Maßnahme die Personen teilgenommen haben, was sie daraus gelernt haben, wie dies ihre Praxis beeinflusst hat, welchen Einfluss dies auf ihre berufliche Entwicklung genommen hat und wie sich dies auf ihr Umfeld ausgewirkt hat. 40 Anhang: Vorstellung konkreter Storytelling-Tools 1. Methode zur Wirkungserzeugung: Story of self, us and now 2. Methode/n zur Wirkungserfassung: Qualitativ-narrative Methode/n 3. Methodische Anregungen zur Wirkungsdarstellung 3.1 Digital Storytelling 3.2 Elemente wirksamer Geschichten Literaturverzeichnis • Aronson, E./ Wilson, T. D. Wilson/ Akert, R.M.: Sozialpsychologie. Pearson Studium. 4. Auflage 2004. • Arthur, Mary Alice/Hanna, David (2011): Group Harvesting of AoH Practise Stories. 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