1 Spannungskurve und Notfallkoffer Der Notfallkoffer war

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1 Spannungskurve und Notfallkoffer Der Notfallkoffer war
Spannungskurve und Notfallkoffer Der Notfallkoffer war ursprünglich ein Instrument der Dialektisch‐Behavioralen Therapie von Marsha Linehan. Er soll in Situationen, in denen man sich emotional instabil, nahe an einer Dissoziation oder belastet fühlt, helfen sich zu beruhigen, abzulenken und angemessen mit der Belastung umzugehen. Dies soll unter Aufrechterhaltung bzw. Bildung eines stabilen Selbstwertgefühls geschehen (statt z.B. auf dysfunktionale Handlungen zurückzugreifen, die Schuld‐ und Schamgefühle verstärken können). Der Sinn des Notfallkoffers ist es, innere Anspannung, die sich sonst in impulsiven Handlungen entlädt, schnell anders abzureagieren. Dysfunktionale Handlungen sind Reaktionen auf Belastungen, welche manchmal kurzfristig entlasten, aber langfristig zu negativen Konsequenzen und Ergebnissen führen. Zu dysfunktionalen Handlungen gehören Selbstverletzungen, Fremdaggressivität, Fressanfälle, der Missbrauch von Alkohol, Tabletten, Drogen und anderes Hochrisikoverhalten. Fertigkeiten oder Skills hingegen sind kognitive, emotionale und handlungsbezogene Reaktionen, die sowohl kurz‐ als auch langfristig zu einem Maximum an positiven und zu einem Minimum an negativen Ergebnissen führen (Linehan 1996). Ein Notfallkoffer enthält Gegenstände, die den Betroffenen helfen können, Skills auszubilden und anzuwenden. Es sind Dinge, die einen starken körperlichen Reiz ausüben, was den betroffenen Menschen hilft, sich entweder von innerer Anspannung abzulenken oder diese zu „überdecken“ bis sie nachlässt. Im Koffer befinden sich auch „Werkzeuge“ oder Mittel, die helfen, den Geist zu beruhigen, sich abzulenken usw. Die Inhalte des Koffers sollte man zu Beginn immer gemeinsam mit Patienten erarbeiten. Wenn die Patienten an einer DBT‐Gruppe teilnehmen, sollte man dies tun, bevor sie in die Fertigkeiten‐Gruppe kommen und nachdem Sie sie schon etwas kennen. Bevor der Notfallkoffer zum Einsatz kommt, ist es wichtig, dass der Patient lernt, seinen inneren Stress/die Anspannung/den Schneidedruck einzuschätzen. Dazu wird die Spannungskurve oder ein Spannungsbarometer als Instrument verwendet. Diese dient dazu, den inneren Zustand nach „Außen“ zu bringen und damit „bearbeitbar“ zu machen. Erstellen Sie zunächst gemeinsam mit dem Patienten eine Liste von „Skills“. Greifen Sie dabei auf bekannte Fähigkeiten und Strategien zurück, denn es ist immer eine Leistung, wenn ein Mensch es bereits soweit gebracht hat, sich selbst Alternativen zu bieten. Ruth C. Ahrens, RN, MScN: Schnupperkurs Spannungskurve und Notfallkoffer 18. Internationale Fachtagung Psychotherapie und Psychosomatik in der Pflege „Krisenintervention – Handeln, wenn es ernst wird“
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Wichtig: beim Führen der Spannungskurve geht es nicht darum, die Ursachen für die Spannungen zu erfragen (das wird in der Therapie aufgegriffen), sondern dass die Patienten für sich und zu Hause lernen, Spannung auszuhalten und abzubauen. Die Ursachen können in der Regel nicht behoben werden, aber es kann gelernt werden, mit den Folgen umzugehen. •
Vereinbaren Sie gemeinsames Anschauen der Spannungskurve in regelmäßigen Abständen, drei bis viermal pro Woche ist sinnvoll. •
Lassen Sie sich nicht verunsichern und ärgern Sie sich nicht, wenn die Patienten mit einem leeren Blatt kommen. Helfen Sie dann den Patienten, in dem Sie sie fragen, was hätten z.B. auf dem Blatt stehen können? Auf der Liste für den Spannungsbereich von 0 – 3 (allein aushaltbar) können Dinge stehen wie: telefonieren mit einer guten Freundin, spazieren gehen, Fotos anschauen, Kuscheltiere, Musik hören, einen Kaffee trinken, Schrank aufräumen etc. Hier geht es um das Entwickeln von Achtsamkeit, die hilft, im hier und jetzt zu bleiben. Auf der Liste für den Spannungsbereich von 3 – 7 (nicht lange aushaltbar) können Dinge stehen wie: eine schöne Reise zurückerinnern, Malen, Töpfern, Baden etc. Der Umgang mit Gefühlen kann helfen, innere Balance zurück zu gewinnen, durch das gezielte Erinnern positiver Gefühle können unangenehme und belastende Gefühle besser ertragen werden. Auf der Liste für den Spannungsbereich von 7 – 10 (nicht mehr allein aushaltbar) können Dinge stehen, die starke Auswirkungen haben, wie: •
Joggen, wandern, Lieblingsfilm anschauen. •
Aromaöl, Eiswürfel, Tabasco, Igelball, Gummiband, Drücken von Schmerzpunkten usw. als Alternative zum SVV und bei Dissoziationen, Depersonalisationssymptomen. •
Im klinischen Rahmen stehen hier Notfallgespräche und Kriseninterventionen bei der Bezugspflegekraft und dem Einzeltherapeuten. Hier geht es um das konkrete Einüben von Stresstoleranz. Da Stressoren im Leben nicht herausgelöst werden können, geht es darum, auf solchen Situationen nicht nur reagierend zu begegnen, sondern sich gezielt darauf vorzubereiten. Drei wichtige Punkte: Wichtig ist, dass Sie daran denken, dass Sie unterschiedlich starke Methoden für unterschiedliche Spannungszustände finden. Es macht wenig Sinn, bei einer Spannung von 8 ein Gummiband über das Handgelenk zu schnippen oder ein Coolpack aufzulegen. Hier müsse starke Reize eingesetzt werden. Ruth C. Ahrens, RN, MScN: Schnupperkurs Spannungskurve und Notfallkoffer 18. Internationale Fachtagung Psychotherapie und Psychosomatik in der Pflege „Krisenintervention – Handeln, wenn es ernst wird“
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Ebenfalls wichtig ist es, den „point of no return“ (Punkt ohne Wiederkehr) zu bestimmen, also den Punkt wo alle Energie in destruktive Abläufe umgeleitet wird. Diesen Punkt künftig nicht zu erreichen, die Spannung also dauerhaft darunter zu halten, ist das Ziel bei der Arbeit mit der Spannungskurve. Abwechslung ist der dritte wichtige Punkt. Die Gegenstände und Methoden nutzen sich sehr schnell ab. Daher muss immer wieder überprüft werden, ob die Methoden noch funktionieren oder durch andere ersetzt werden müssen. Notfallkoffer: Dieser Koffer kann ein reales Behältnis sein, in den die Gegenstände, die dann nützlich sind, gepackt werden. Der Koffer kann auch eine Liste sein, wo Notfalltelefonnummern aufgeführt sind, Personen, an die sich die Patientin wenden kann; Dinge die nützlich sind (Igelball) und Medikamente, die in der Vergangenheit schon geholfen haben. Im Wesentlichen enthält der Koffer starke Reize für die man riechen, schmecken, hören, sehen, tasten kann, sowie Gegenstände und Hilfsmittel, die helfen zu beruhigen und abzulenken. Optische Reize: Bilder oder Postkarten helfen ‐ man kann die Abbildung so genau wie möglich in allen Einzelheiten beschreiben. Die Farbe Grün oder der Anblick eines Waldes, einer Wiese hilft, sich zu beruhigen. Körperliche Empfindungen: Alles, was einen intensiven körperlichen Reiz oder gar einen kleinen Schmerz erzeugt ist hier richtig: vom Gummiband am Handgelenk, welches gegen dieses geschnippt wird, ein kleiner Stein im Schuh, eine harte Bürste, eine Wäscheklammer, warmes Wasser, warme, rote Farbe, die über Arme und Hände laufen kann (z.B. rote Lebensmittelfarbe, bekommt man beim Bäcker), ein sehr heißes Bad: 45‐47 C. Igelbälle mit harten Stacheln können über die Innenseiten der Unterarme fest abgerollt werden. Eiswürfel, die über Arme und/oder auf die Stirn direkt zwischen den Augen gepresst werden (> als 3 Minuten erzeugt einen sehr scharfen Schmerzreiz); auch hilfreich kann sein: Gletscherschockmassage mit eisgekühlter Minzöl‐Massageöl‐Mischung von der Stirn beginnend über Schläfen Richtung Ohren und kreisend über Kopfhaut (wichtig: vorher mit Patienten besprechen und ggf. ausprobieren, im hoch angespannten Zustand kann es sein, dass Körperkontakt auf dem Kopf nicht möglich ist oder es würde triggern, weg. Schläge auf den Kopf). Auch hilfreich: barfuss über unebene Gegenstände gehen (z.B. draußen auf dem Gelände, oder Sie halten eine Holzkiste mit spitzen Steinen bereit, in die Patienten sich stellen können und auf der Stelle laufen) oder mit nackten Füßen über einen Besenstiel rollen (alles im Stehen, damit das Körpergewicht wirkt). Sich barfuss auf eine Akupressur‐
Matte zu stellen, hilft. Finalgon‐Salbe auf die Achselbereich, die Leistengegend oder in die Pofalte Ruth C. Ahrens, RN, MScN: Schnupperkurs Spannungskurve und Notfallkoffer 18. Internationale Fachtagung Psychotherapie und Psychosomatik in der Pflege „Krisenintervention – Handeln, wenn es ernst wird“
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aufzutragen und bei Bedarf evt. noch warm duschen, verschafft einen äußerst intensiven Schmerzreiz. Besprechen Sie vorher unbedingt, wie das Finalgon wieder entfernt werden kann: mit Pflegeöl, wie Jojoba‐ oder Mandelöl. Ähnlich schmerzhaft lang anhaltend, aber nicht mehr zu lindern: in einen Ameisenhaufen greifen oder in Brennnesseln fassen. Geschmackliche Reize: Z.B. kann man in eine frische Zitrone beißen, einen Teelöffel scharfen Senf, Tabasco oder andere scharfe Saucen probieren, auch frischer Meerrettich leistet gute Dienste. Eine scharfe Chilischote (Habanero), Brausepulver oder eine Brausetablette im Mund unter der Zunge, scharfe Bonbons, extrem süße, saure oder bittere Speisen (z.B. Endiviensalat, Rhabarber etc.). Auch Gewürze können hier gute Dienste leisten: z.B. eine Gewürznelke oder ein schwarzes Pfefferkorn kauen, Anis oder Kümmel lange im Mund behalten und kauen. Olfaktorische Reize: Das Riechen an Düften kann helfen, sich zu beruhigen, abzulenken oder positive Erinnerungen zu wecken. Gewürze wie Vanille, Anis, Zimt sind sehr beliebt. Starke Aromaessenzen wie z.B. Melisse, Teebaumöl, Rosmarin durften sehr intensiv. Das Fläschchen direkt unter die Nase halten oder etwas auf ein Tuch/Watte/Tupfer tropfen und riechen lassen. Neroli‐öl wirkt angstlösend. Von Ammoniak‐und Chlordämpfen (Bleichmittel) ist abzuraten, da hier gesundheitliche Schäden nicht auszuschließen sind. Weitere Beruhigung und Ablenkung: Gegenstände, die schnell positive Emotionen wecken können und zur Beruhigung beitragen können, sind geeignet: ein Lieblings‐Buch, die Lieblings‐DVD, ein geliebtes Stofftier, eine Postkarte oder ein Foto, ein Brief, eine CD mit der Lieblingsmusik, ein Tagebuch der positiven Ereignisse, etc. Auch wichtig im klinischen Rahmen: Vereinbaren Sie mit der Patientin, was Sie als Pflegekraft wie tun werden, wenn sie in einen dissoziativen Zustand gerät oder depersonalisiert. Z.B.: „Ist es okay, wenn ich Ihnen die Hand auf die Schulter lege/Ihre Hände nehme und Sie anspreche? Ich werde Ihnen dann sagen, wo Sie sich befinden und Ihnen erklären, dass es sicher ist, innerlich wieder zu kommen.“ Wichtig: Probieren Sie das Verhalten auf jedem Fall vorher im normalen Zustand aus, damit die Patientin für sich entscheiden kann, ob sie es in der Situation wird aushalten können. Eine ganz gute Methode ist es auch, die Schuhe auszuziehen und die Füße der Patientin beide fest auf den Boden zu stellen und zu halten und sie dabei auf akustische und visuelle Reize aufmerksam zu machen, „Sie können die Uhr an der Wand ticken hören, den Kühlschrank wie er leise summt, Sie Ruth C. Ahrens, RN, MScN: Schnupperkurs Spannungskurve und Notfallkoffer 18. Internationale Fachtagung Psychotherapie und Psychosomatik in der Pflege „Krisenintervention – Handeln, wenn es ernst wird“
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hören meine Stimme, während ich mit Ihnen spreche, wenn Sie die Augen öffnen können Sie ... sehen.“ Wenn es zu SVV kam, Wundversorgung und dann (wo vorhanden) reizarmen Raum bieten (time out), Patienten dürfen etwas mitnehmen, das ihnen gut tut, z.B. Walkman oder Kuscheltier. Bieten Sie Kontakt und Beziehung nach dem vereinbarten Zeitraum an. Vorher machen Sie deutlich, dass Time out eine Möglichkeit zum Ordnen der Gefühle darstellt und Sie in die eigenen Fähigkeiten des Patienten vertrauen, sich auszuhalten und zu sortieren, was passiert ist. Fragen Sie die Patienten, wie lange das Time out gehen soll, Patienten geben hier meist sehr realistische Einschätzungen ab. Besprechen Sie danach, ob es eine gute Erfahrung war oder beim nächsten Mal anders damit umgegangen werden soll. Denken Sie hier an das validierende Verhalten: wenn die Patienten schlechte Erfahrungen machen, respektieren Sie ihre Erfahrungen. Bagatellisieren Sie unangenehme Erfahrungen nicht (das entspräche einer Wiederholung der pathogenetischen Situation, Erzeugen unkontrollierbarer Belastung). Sie als Pflegekraft sind hier herausgefordert, das dialektische Denken und Verhalten konkret anzuwenden, das von Akzeptanz vor der Notwendigkeit der Veränderung gefragt ist. Das Deuten von Widerständen ist nicht hilfreich, weil es einseitig erfolgt (invalidiert), auch das Aufzeigen dysfunktionalen Verhaltens hilft nicht, weil es die innere Not nicht ausreichend validiert. Halten Sie die Patienten in jedem Fall auf der Erwachsenen‐Ebene durch Wertschätzung, Ermutigung und Ermächtigung (empowerment = Einräumen von Handlungsspielraum zur Stressreduktion). Ruth C. Ahrens, RN, MScN: Schnupperkurs Spannungskurve und Notfallkoffer 18. Internationale Fachtagung Psychotherapie und Psychosomatik in der Pflege „Krisenintervention – Handeln, wenn es ernst wird“
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