in Die HanD neHmen - kbo-Isar-Amper-Klinikum München-Ost

Transcription

in Die HanD neHmen - kbo-Isar-Amper-Klinikum München-Ost
therapie ı therapeutisches Reiten
Die Zügel
in die Hand nehmen
Reiten stärkt Körper und Seele. Das haben inzwischen auch Psychotherapeuten entdeckt:
Auf dem Rücken der Pferde lernen ihre Patienten, sich Ängsten zu stellen und Lebensfreude
­zurückzugewinnen.
Text und fotos: Anja Burkel
42
G&G 11_2007
B
evor er das erste Mal auf der schwarzen
Stute Wichnera saß, hatte Herbert Wessel*
mit Pferden wenig am Hut. Überhaupt interessierte den 59-Jährigen schon lange gar nichts
mehr. Wochenlang verließ der arbeits­lose
Schlosser kaum das Bett, schlief mehr als zwölf
Stunden am Tag und ignorierte jedes Klingeln
des Telefons. Stattdessen grübelte er viel – alles
erschien ihm schrecklich sinnlos. Wessel litt an
einer schweren Depression.
Besorgte Freunde brachten ihn schließlich
in das Bezirkskrankenhaus Haar (heute: Isar­Amper-Klinikum, München-Ost). Als er in eine
stationäre Therapie einwilligte, wünschte er
sich schlicht, »endlich wieder mal guter Stimmung zu sein« und nicht immer nur mit bleischweren Gliedern im Bett »zu ver­sacken«.
Dass ihm dabei ausgerechnet ein Pferd helfen würde, hätte er zu diesem Zeitpunkt für Unsinn gehalten. Doch während seines Klinikaufenthalts sollte sich das ändern: Einmal in der
Woche stieg er gemeinsam mit sieben weiteren
Patienten und einem Betreuer in einen Bus, der
sie zu einem nahen Gestüt brachte.
Seit fast 20 Jahren nimmt der Kleintransporter der Klinik regelmäßig Kurs auf den Spitz­
auer Reiterhof. Damals hatte Michaela Scheidhacker das Psychotherapeutische Reiten am
­Bezirkskrankenhaus Haar eingeführt. Die Fachärztin für Psychotherapie hat in ihrer Promo­
tion nachgewiesen, dass das Reiten hilft, die
Symptome schizophrener Patienten zu mildern. Aktuell untersucht ihre Kollegin, die Psychologin Melanie Kupsch, die Wirksamkeit der
Methode an einer zweiten, größeren Stichprobe (siehe Kasten auf S. 44).
Inzwischen sind die drei Pferde vom Spitz­
auer Hof begehrte Kotherapeuten: Mittwochs
etwa kommen geistig Behinderte, donnerstags
Borderline-Patienten und Suchtkranke. Viele
Besucher leiden wie Herbert Wessel an Depres­
sio­nen, andere an schweren Ängsten, an Schizophrenie oder an traumatischen Erinnerungen
infolge von Kriegserlebnissen oder sexuellem
Missbrauch.
»Prinzipiell ist die Reittherapie für fast alle
psychiatrischen Patienten geeignet«, erklärt
die Medizinerin Scheidhacker, »es sei denn, sie
Nur eine Hand
voll Kliniken
bietet derzeit in Deutsch­
land Psychotherapeu­
tisches Reiten an, schätzt
die Fachgruppe »Arbeit mit
dem Pferd in der Psycho­
therapie« (FAPP). Rund 125
Einrichtungen haben das
Gütesiegel des »Deutschen
Kuratoriums für Therapeu­
tisches Reiten«, arbeiten
in der Mehrzahl aber heilpädagogisch und kranken­
gymnastisch.
Therapeutenduo
Ärztin Michaela Scheidhacker
stellt psychisch kranken Patien­
ten gerne ihren Therapiegehil­
fen vor: die schwarze Stute
Wichnera. Auch wenn das große
Tier manchem zunächst gehö­
rigen Respekt einflößt, weckt es
im Verlauf der Therapie bei den
meisten Sympathie.
www.gehirn-und-geist.de
* Name von der Redaktion geändert
43
Streicheleinheit
Körperkontakt tut Tier- und
Menschenseele gut.
leiden unter akuten Psychosen oder Manien.«
Denn wenn Menschen in Wahnvorstellungen
verstrickt seien oder sich selbst überschätzten,
könnten sie beim Reiten sich und andere in Gefahr bringen.
Die therapeutische Sitzung beginnt im Souterrain des Spitzauer Hofs. Das Zimmer sieht
ganz nach Reitstube aus: Schautafeln an der
Wand zeigen Kutschgeschirre, aus einem Korb
quillt eine Traube von Reithelmen. Schon bei
der Vorbesprechung offenbaren einige Patien­
ten Symptome ihrer Krankheit. Einer fürchtet
sich vor Kellerräumen, ein anderer wiede­rum
argwöhnt, ein Rohr an der Wand sei ein Ab­­
hörgerät.
Die Furcht, vom Pferd
verschlungen zu werden
Hilfe von
Black Beauty
Das Psychotherapeutische
Reiten soll die Behandlung
seelisch kranker Kinder,
Jugendlicher und Erwachsener unterstützen. Laut dem
»Deutschen Kuratorium für
Therapeutisches Reiten« hilft
es besonders bei Essstörungen, Traumafolgen, Depressio­
nen, Ängsten und Beziehungs­
problemen. Der Kontakt mit
dem Pferd ist heilsam, weil
der Patient dabei eigene
Verhaltens- und Beziehungsmuster sowie krisentypische
Körperhaltungen und -bewegungen reflektieren kann.
Mediziner nutzen das Therapeutische Reiten auch physiotherapeutisch: als Krankengymnastik. Dafür hat sich
der Name Hippotherapie
eingebürgert.
44
Die Bedenken werden noch größer, als es in den
Stall zu den Pferden geht. Drei Rösser von beachtlicher Größe stehen im Dienst der Klinik:
der Schimmelwallach Gatango, die Rappstute
Wichnera und der Fuchswallach Al Bundy. Sechs
Tage pro Woche sind sie als Kotherapeuten im
Einsatz. Vor den Tieren spüren viele der Patien­
ten zunächst eine Furcht, die natürlichen Respekt weit überschreitet. Die einen glauben,
vom Pferd regelrecht verschlungen zu werden;
andere sind überzeugt, ihre bloße Anwesenheit
im Stall bringe die Pferde in Gefahr.
Das Therapeutenteam dagegen – neben
Scheidhacker eine weitere Ärztin, eine Psychologin und ein Bewegungspädagoge – ist sich sicher, dass der Kontakt zu Pferden die Psychotherapie unterstützt, weil die Vierbeiner Sym-
pathie und Emotionen wecken sowie ein Gefühl
von Freiheit vermitteln. Gleichzeitig erlebe der
Patient beim Umgang mit den großen Tieren
aber auch eigene Grenzen.
»Für viele ist es etwas völlig Neues, Kör­
perkontakt zuzulassen«, berichtet Melanie
Kupsch, die gemeinsam mit Scheidhacker die
Reitstunden begleitet. Eine Patientin, die es
nicht einmal ertrug, anderen die Hand zu geben, habe sich erst beim Putzen und Streicheln
des Pferds allmählich wieder für menschliche
Nähe geöffnet. Auch ihr Gefühl für den ­eigenen
­Körper entdeckten viele im Kontakt zum Pferd
wieder. Mancher Patient, so Therapeutin
­Scheid­hacker, könne sich beispielsweise erst
auf Atemübungen einlassen, nachdem er
bäuchlings auf dem Pferd liegend dessen Atem
gespürt habe.
Anders als der Mensch kommunizieren Tiere
nicht gleichzeitig über Sprache und Körpersignale wie Gestik und Mimik. Das macht die Beziehung zu einem Tier einfacher als zu Menschen, bei denen diese beiden Kommunika­
tionsformen durchaus im Widerspruch stehen
können – wenn beispielsweise der Satz »Ich hab
dich lieb« mit einem genervten Blick ein­
hergeht. Scheidhacker nimmt außerdem an,
dass der Patient in der Begegnung mit dem
Pferd selbst lernt, Körper und Sprache in Einklang bringen. Will er es zum Laufen bewegen,
reicht es nicht, leise »Komm« zu murmeln. Vor
allem über Betonung und Körpersprache muss
er dem Pferd eindeutige Signale geben.
Das Reiten trainiert aber auch Kompetenzen,
die viele Patienten nach einer Krankheitsphase
Forschung an Ross und Reiter
Fachleute beklagen, dass kontrollierte wissenschaftliche Wirksamkeitsstudien zur Reittherapie
bislang weit gehend fehlen. Die Ärztin Michaela Scheidhacker vom Klinikum München-Ost betont, dass chronisch Kranke damit zwar nicht geheilt werden können. Doch einige Symptome
würden gemildert und die Lebensqualität insgesamt verbessert. Gemeinsam mit Kollegen
zeigte sie in einer Studie von 1991, dass 16 chronisch schizophrene Patienten nach der Reittherapie weniger von Denkstörungen und Feindseligkeit, Ängsten und Depressionen berichteten als
eine zweite Patientengruppe. Folgestudien ergaben, dass sich Patienten kurz nach dem Reiten
ruhiger und heiterer fühlten sowie langfristig selbstständiger lebten.
In einer englischen Untersuchung aus dem Jahr 2003 gewannen psychisch kranke Frauen
an Selbstvertrauen, wenn sie in der Therapie mit Pferden arbeiteten, wie Hannah Burgon von
der University of Exeter berichtete. Die Psychologin Melanie Kupsch von der Ludwig-Maximi­
lians-Universität München überprüft den Effekt der Reitstunden derzeit mit rund 300 Pa­
tienten.
G&G 11_2007
enge beziehung
Einige Patienten lernen erst durch die Nähe
zu einem Tier (hier der Schimmel Gatango),
­Berührungen zu genießen und den eigenen Körper
wiederzuentdecken. Mancher legt sich sogar
bäuch­lings auf den Rücken des Pferds, um dessen
Atembewegungen zu spüren.
erst wiedererlangen müssen: sich auf etwas
konzentrieren, eine Übung zu Ende bringen,
sich durchsetzen. Eine Frau, die Angst vorm
Fahren mit der S-Bahn hatte, erkannte: »So, wie
ich das Pferd führen konnte, kann ich mich
jetzt selbst in die S-Bahn führen.«
Vielen Patienten fällt es außerdem schwer,
sich in eine Gemeinschaft einzufügen oder gar
mit anderen zusammenzuarbeiten. »Schon
beim Putzen und Pflegen der Tiere muss jeder
seinen Platz in der Gruppe finden«, sagt Scheidhacker. Sich mit anderen zu einigen, wer die
Mähne kämmt, die Hufe auskratzt oder das Fell
striegelt, trainiert ihre kommunikativen Fertigkeiten.
Heilsame Effekte haben Forscher auch für
Hunde nachgewiesen. Anke Prothmann, Fachärztin für Psychotherapie an der Universität
Leipzig, beobachtete in einer Studie vom vergangenen Jahr die Behandlung von 100 psychisch kranken Kindern. Sie stellte fest, dass die
jungen Patienten ausgeglichener und kontaktfreudiger waren, wenn ein Hund die Therapie
unterstützte.
Eine Psychotherapie mit Pferden unterscheidet sich von der mit anderen Tieren wie
Hunden und Delfinen laut Scheidhacker vor
allem darin, dass man auf einem Pferd sitzen
kann. Dadurch entstehe ein viel engerer Kontakt als etwa beim Streicheln mit der ausgestreckten Hand, sagt die 54-Jährige: »Man öffnet dem Pferd buchstäblich seine Mitte.«
Gelingt es einem Patienten nicht, seine
Furcht vor dem Reiten abzulegen, bleibt er
beim Putzen und Pflegen. Erst wenn er sich an
www.gehirn-und-geist.de
das Pferd gewöhnt hat, wird er dazu ermutigt
aufzusteigen. Allerdings klettert er nicht in den
Sattel, sondern auf den blanken Pferderücken,
auf dem ein Voltigiergurt Griffe zum Festhalten
bietet. Wenn das Reittier – von einem Betreuer
an einem langen Seil, der Longe, geführt – im
Kreis läuft, empfinden viele Patienten ein erhebendes Gefühl.
Flotte Gangart
bringt die Psyche in Schwung
Schließlich bekommen sie die Zügel in die
Hand, um das Pferd selbst zu dirigieren und anzutreiben. Dabei kann das Verhalten des Tiers
unbewusste Seelenzustände des Patienten widerspiegeln, glauben die Therapeuten. Unter
einem depressiven Reiter etwa, der mit sich hadert und unschlüssig ist, trottet es nur langsam
dahin. Gelingt es dem Reiter, das Pferd doch zu
einem flotten Schritt zu bewegen, kommt zugleich die eigene Psyche in Schwung.
Dieses Phänomen kennt auch Herbert Wessel. Gerät er beim Reiten auf seinem Lieblingspferd ins Grübeln, so schlägt Wichnera seine
Richtungs- und Tempowechsel prompt in den
Wind. Besonders beeindruckt ihn, dass die
Rappstute »ihren eigenen Kopf hat«. Stets signalisiere sie ihm, wenn er unachtsam ist, zu
grob an den Zügeln zieht oder zu fest mit den
Schenkeln klopft. »So habe ich gelernt, mich zu
konzentrieren und mit meinen Gedanken ganz
bei ihr zu bleiben.«
Für den Patienten wirkt die Reitstunde »wie
eine Pause von der Depression«, sagt Bewegungspädagoge Martin Pröttel: Weil er sich
Spürnasen
auf vier Pfoten
Um seelische Erkrankungen
zu diagnostizieren, zieht die
Medizinerin Anke Prothmann
von der Universität Leipzig
Hunde zu Rate. Sie hat beobachtet, dass sich Magersüchtige dem Tier gegenüber
distanziert und gefühlsarm
verhalten, Angstpatienten
dagegen den Hund intensiv
streicheln (siehe G&G 5/2005,
S. 64).
Weblinks
www.dkthr.de
Deutscher Fachverband für
Therapeutisches Reiten
www.fapp.net
Fachgruppe »Arbeit mit dem
Pferd in der Psychotherapie«
www.psychotherapeuti­
sches-reiten.de
Münchner Schule für Psychotherapeutisches Reiten
45
dokument des therapieerfolgs
Im Souterrain des Spitzauer Reiterhofs im bayeri­
schen Parsdorf hängt dieses an Chagall erinnernde
Bild, das eine Traumapatientin nach der Reitstunde
malte. Es markiert einen Wendepunkt in ihrer
Therapie: Die junge Frau, ein Missbrauchsopfer,
hatte zuvor immer nur Kopf und Brust eines Pferds
malen können. Das hellblaue Ross ist dagegen
schon fast komplett.
Literaturtipps
Fachgruppe Arbeit mit dem
Pferd in der Psychotherapie,
Deutsches Kuratorium für
Therapeutisches Reiten (Hg.):
Psychotherapie
mit
dem
Pferd. Warendorf: FN-Verlag
2005.
Elf Psychotherapeuten stellen
ihre Arbeit vor.
Prothmann, A.: Tiergestützte
Kinderpsychotherapie. Theo­
rie und Praxis der tierge­
stützten Psychotherapie bei
Kindern und Jugendlichen.
Frank­furt a. M.: Peter Lang
2006.
Praktische Tipps zur Therapie
mit Tieren
46
konzentrieren muss, um das Pferd am Halfter
zu führen oder zum Trab zu bewegen, bleibt
keine Zeit für düstere Gedanken. »Statt ständig
über die Vergangenheit oder die Zukunft zu
sinnieren, ist er zumindest für eine Weile im
Hier und Jetzt«, meint Pröttel.
Nach der Therapie bekommen die Patienten
regelmäßig die Gelegenheit, ihre Empfindun­
gen künstlerisch umzusetzen. Im Souterrain
des Reiterhofs hängt ein Bild, das an Marc Chagall erinnert: Darauf galoppiert ein hellblaues
Pferd vorbei an einem düsteren Kreuz und einer stachligen Rose – ein Albtraum in schwarz
und pastell, in dessen Mitte das Pferd leuchtet,
als einziger freundlicher Fleck. Eine Trauma­
patientin hat es gemalt. In ihrer Therapie markierte das Bild einen Wendepunkt: Die junge
Frau, die missbraucht worden war, malte anfangs stets nur die vordere Hälfte des Pferds;
den hinteren Teil deutete sie lediglich an oder
ließ ihn ganz weg. Das hellblaue Pferd dagegen
ist fast komplett.
Bei der Begegnung mit den Tieren kommen
lang verdrängte Gefühle hoch – das gehört zum
Konzept des Therapeutischen Reitens dazu.
­Einige Patienten weinen, andere können plötzlich über ihre traumatischen Erlebnisse spre-
chen, andere stellen sie in ihren Bildern dar.
»Viele sind überwältigt, nach langer Zeit überhaupt wieder zu empfinden«, berichtet Scheidhacker.
Auch Wessel hat als Kind traumatische Erfahrungen gemacht. Die Eltern kümmerten
sich kaum um den Jungen. Besonders schwierig
war das Verhältnis zum Vater, einem cholerischen Alkoholiker. Als Herbert neun Jahre alt
war, schlug der Vater ihn brutal mit einer Lederpeitsche.
Dass Beziehungen auch anders – voll Respekt und Zuneigung – ablaufen können, erfährt der 59-Jährige heute in der Reittherapie.
Wichnera ist für ihn in gewisser Weise eine Autoritätsperson, willensstark und sensibel zugleich.
Was er aus der mehrmonatigen Reittherapie
mitnimmt? »Das Gefühl der Ruhe und Gelassenheit – aber ohne, dass ich mich dabei gelähmt fühle.« Und dann spüre er noch etwas,
was er in den langen Stunden allein im Bett fast
verlernt hatte: Lebensfreude. Ÿ
Anja Burkel ist Journalistin in München.
www.gehirn-und-geist.de/audio
G&G 11_2007

Documents pareils