Texte zum Thema "Gegenwartssprache"

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Texte zum Thema "Gegenwartssprache"
Texte zum Thema „Gegenwartssprache“
gk d22 (Jg. 2007/09)
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ANGLIZISMEN
Nichts ist impossible
Englisch hat das Deutsche wie keine andere Sprache ver€ndert. Das ist nicht unbedingt schlecht –
zumindest, wenn Fremdw‚rter sinnvoll angewandt werden.
VON BERND M. SAMLAND
Gehen Sie auch im Sommer Brettsegeln und
im Winter Schneebrettern? Das klingt ziemlich
verschroben. Dabei war der erste Begriff
tats€chlich ein realsozialistischer DDRTerminus f•r Windsurfen und so wirkt er wohl
auch. Vieles klingt in Englisch besser, aber
nicht alles muss ins Englische •bersetzt
werden. Deutsch ist eine lebendige Sprache,
das hei‚t eine Sprache, die sich st€ndig
weiterentwickelt, die neue Wƒrter bildet,
integriert und andere sterben l€sst.
Waren es im 18. und 19. Jahrhundert vor allem
franzƒsische Importe wie Trottoir, Etage oder
RECHTSCHREIBSCHWƒCHE: Falsch gebrauchte
Portemonnaie, ist es seit dem fr•hen 20.
Fremdw‚rter wirken unfreiwillig komisch.
Foto: Sch‚ning/imago
Jahrhundert vor allem die englische Sprache,
die unseren Wortschatz und sogar unsere
Grammatik bereichert. Man kann mit Recht sagen, dass wir ein regelrechtes Liebesverh€ltnis zur
englischen Sprache entwickelt haben. Wir lieben diese Sprache so sehr, dass wir sogar st€ndig neue
englische Vokabeln erfinden. Das begann mit dem Oldtimer, den es im Englischen nicht gibt, und
wird durch eine F•lle sogenannter Scheinanglizismen st€ndig erg€nzt, wie etwa Smoking, Pullunder
und Showmaster bis hin zum Beamer, der in Englisch •brigens einfach projector hei‚t. Das ist auch
nicht weiter schlimm, zumal einige dieser Begriffe kompakter und vielleicht auch schƒner klingen
als das Original: Wirkt das Wort Handy nicht einfacher als mobile phone oder gar cellular phone,
wie die offiziellen englischen Ausdr•cke f•r ein Mobiltelefon lauten?
Peinlich wird es nur, wenn wir im „berschwang dieser Liebe zum Englischen •ber das Ziel
hinausschie‚en und uns Wƒrter zusammenreimen, die in der Originalsprache vƒllig abwegige
Bedeutungen haben. Dazu f€llt einem im Nachklang zur Fu‚ball-EM nat•rlich der uns€gliche
Begriff Public Viewing ein. Damit bezeichnet man in den USA die ƒffentliche Aufbahrung eines
Verstorbenen.
Die unreflektierte „bernahme derartiger Begriffe f•hrt schnell zu einer Phobie gegen Anglizismen,
mit der wir vielen guten Importwƒrtern Unrecht tun. Englisch macht vieles einfacher und
angenehmer. Oder was w•rden Sie lieber benutzen: eine Anti-Alterungsfl•ssigkeit oder ein Anti
Aging Fluid? Und macht ein Facility Manager nicht mehr her als ein einfacher Hausmeister? Mit
Englisch kann man auch Produkte interessanter machen, wie das Mountainbike, das einfach
vielversprechender klingt als Bergfahrrad – besonders im Flachland.
Bei vielen Vokabeln f€llt uns gar nicht mehr auf, dass sie eigentlich englisch sind, weil eine ad€quate
„bersetzung umst€ndlich w€re; oder wie w•rden Sie die Wƒrter smart und clever •bersetzen? Oft
sind die englischen Begriffe k•rzer: So wirkt Toast einfach kompakter als Rƒstbrot und Ticket
einfacher als Fahr- oder Eintrittskarte.
Und klingen nicht Ausverkauf, Schlussverkauf und Sonderangebot auch ein klein wenig nach
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Ramsch? Das mag einer der Gr•nde sein, warum wir von Flensburg bis Garmisch •berall das Wort
Sale in den Schaufenstern deutscher Modegesch€fte sehen.
Dabei dr€ngt sich allerdings der leise Verdacht auf, dass sich hier eher eine gewisse
Phantasielosigkeit der Marketingverantwortlichen breitmacht als eine Verbesserung der
Kommunikation. Zumal eine Hauptaufgabe jeder Markenkommunikation darin liegt, sich von
anderen zu unterscheiden. Beim Gang durch die Kƒlner Schildergasse in der vorigen Woche war
zumindest im textilen Einzelhandel kaum ein Schaufenster auszumachen, in dem das Wort Sale
fehlte. Da ist die Sprache dann fast egal: Inflation€r genutzte Begriffe wirken in der Werbung nicht.
Die Werbesprache mag in vielen F€llen dazu beitragen, Vorbehalte gegen die englische Sprache zu
verst€rken. Insbesondere dann, wenn sie vƒllig unnƒtig oder gar falsch eingesetzt wird. Viele
englische Begriffe bereichern unsere Sprache, aber zu viele englische Versatzst•cke in deutscher
Werbung •berfordern oder verdummen ihre Zielgruppen.
„Drive alive“ zum Beispiel, ein seit mehreren Jahren benutzter Werbespruch von Mitsubishi, wird
laut einer viel zitierten, von der Naming-Agentur Endmark durchgef•hrten Studie in Deutschland
mehrheitlich als „lebend fahren“ oder „die Fahrt •berleben“ •bersetzt. Ob man so erfolgreich f•r
Automobile werben kann, darf bezweifelt werden, denn gemeint ist damit „lebendiges Fahren“. Mit
derartigen Claims (aus dem Englischen stammender Fachterminus f•r Werbespruch/Slogan)
•bersch€tzt man die Fremdsprachenkenntnisse der deutschen Durchschnittszielgruppen.
ˆhnliche Verst€ndnisprobleme erzeugten Spr•che wie „Make the most of now“ (Vodafone) oder
„Gorgeous deserves your immediate attention“ (Jaguar XK). W€hrend man den letzten Spruch
eventuell mit einer bewussten elit€ren Abgrenzung begr•nden kƒnnte, f•hren andere leicht zu
Missverst€ndnissen. In der zuvor zitierten Claimstudie gab es auch F€lle, in denen ein Gro‚teil der
Befragten zwar glaubte, eine englische Werbung verstanden zu haben, tats€chlich aber mit der
eigenen Interpretation reichlich danebenlag. So •bersetzte etwa ein Drittel der Befragten den
(inzwischen ver€nderten) Claim der Parf•merie Douglas „Come in and find out“ mit „Komm rein
und finde wieder raus“ (gemeint war „komm herein und entdecke“). ˆhnlich beim (immer noch
aktuellen) Claim der Marke Beck’s „Welcome to the Beck’s experience“; diesen Satz •bersetzte
ebenfalls knapp ein Drittel mit „Willkommen beim Beck’s-Experiment“ (gemeint war:
„Willkommen beim Beck’s-Erlebnis“).
Nun ist es weder Aufgabe der Werbung, Englisch zu lehren, noch Aufgabe der Kunden, zum
Verst€ndnis dieser Werbung Wƒrterb•cher zu w€lzen. Auf diese Weise schaden die
Werbetreibenden weniger der deutschen Sprachkultur als vielmehr sich selbst. Die Muttersprache in
der Werbung ist meistens wesentlich emotionaler und authentischer als das beste Englisch. Ein „Ich
liebe dich“ kann viel eher eine G€nsehaut erzeugen als ein „I love you“, und Toyotas Werbespruch
„Nichts ist unmƒglich“ ist um L€ngen besser als der inhaltlich gleiche Spruch „Impossible is
nothing“ des Sportartikelherstellers Adidas.
Vermeintliche Internationalit€t k•nstlich durch Englisch zu erzeugen, geht „nach hinten“ los. Heute
gibt es in fast jeder deutschen Stadt anstelle einer B€ckerei mindestens einen Backshop. Ein
englischer Muttersprachler wird sich fragen, ob es sich dabei eher um einen Laden f•r seine
R•ckseite oder um einen Hinterhofladen handelt. Das ist nat•rlich weniger relevant, wenn es in der
betreffenden Gemeinde kaum Engl€nder oder Amerikaner gibt. Aber dann kƒnnten wir es doch
einfach B€ckerei nennen – oder?
Englische Ausdr•cke sind dann hilfreich und gut, wenn sie nicht gerade hei‚e Luft kaschieren sollen,
sondern wenn sie uns helfen, Dinge einfacher und vielleicht auch eleganter darzustellen. Ein Briefing
ist eben k•rzer und konkreter als eine Kurzeinweisung, aber ob ein Meeting in jedem Fall besser ist
als ein Treffen, darf mit Recht bezweifelt werden.
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Englisch „macht dann Sinn“ – ƒbrigens auch eine aus dem Englischen ƒbernommene Grammatik:
analog zu „to make sense“ – , wenn es keine treffenden und vergleichbar kompakten deutschen
Begriffe gibt. Das betrifft insbesondere Dinge, die aus der englischsprachigen Welt zu uns kommen,
wie der Link im Internet, der kƒrzer ist als die Verknƒpfung, oder W„rter wie nonstop, die einfacher
von der Zunge gehen als ununterbrochen.
Allerdings ist Englisch nicht immer kƒrzer und kompakter: Am Frankfurter Flughafen findet man
zum Beispiel zweisprachige Hinweisschilder, die in Deutsch den Weg zum Fernbahnhof anzeigen
und das in Englisch mit Long Distance Railway Station beschreiben. Englisch ist auch nicht immer
smarter als Deutsch. Der Titel der M…nnerzeitschrift „Mens’ Health“ klingt in vielen deutschen
Ohren eher nach Halskrankheit; und das neulich in einem auf amerikanisch getrimmten Steakhaus in
Hamburg entgegengenommene „enjoy your meal“ klingt kƒnstlich gegenƒber einem herzlichen
„guten Appetit“.
Damit Englisch nicht zum Flop wird, sollte man dort, wo gute deutsche Vokabeln existieren, diese
auch nutzen: also nicht voten, sondern w…hlen, nicht phonen, sondern anrufen und auch nicht
meeten, sondern treffen. Da gehen andere deutschsprachige L…nder selbstbewusster mit der eigenen
Muttersprache um. So hei‡t es am Flughafen Zƒrich einsteigen statt boarden auf den Anzeigetafeln
und man erh…lt auch eine Einsteigekarte statt einer Boardingcard, die auf deutschen Flugh…fen ƒblich
ist.
Von gesetzlich vorgeschriebenen Sprachregeln wie in Frankreich, wo in der publizierten
Kommunikation der Computer ordinateur hei‡en muss, ist allerdings dringend abzuraten. Wird
dadurch doch die freie Entwicklung einer Sprache blockiert. Kulturpessimisten, die uns allen in der
n…chsten Generation nur noch eine Art Pidgin-Denglisch als Muttersprache prognostizieren, sei
gesagt, dass es auch Selbstheilungskr…fte des Sprachmarktes gibt. Wenn alle in Englisch werben,
bietet beispielsweise Deutsch wieder die Chance zur Differenzierung.
Deshalb sollten wir etwas gelassener mit dem Thema Anglizismen umgehen. Wer sich unbedingt
meeten will, soll dies weiterhin tun. Und ich habe mich auch schon so an meine Airbags im
Auto gew„hnt, dass ich sie nur ungern gegen Lufts…cke austauschen m„chte. Ebenso wie ich mein
Internet nicht gegen ein Weltnetz tauschen und meine Lotion nicht durch eine Tinktur ersetzt wissen
m„chte.
Und wenn ich an die Rezyklierung meiner alten Schneebretter denke, die nach dem letzten
Kampierungsurlaub herumliegen, finde ich ein paar sch„ne Anglizismen ganz okay. Womit wir
ƒbrigens bei einem sch„nen Beispiel fƒr einen Sprachkreislauf w…ren. Wissen Sie, woher der
Ausdruck okay stammt? Er beruht auf dem Kƒrzel o. k., das die vornehmlich deutschen Drucker in
den USA auf ihre Druckfahnen schrieben, wenn diese „ohne Korrektur“ – also in Ordnung waren.
Bernd M. Samland (49) ist Gr„nder und Gesch€ftsf„hrer der Naming-Agentur Endmark. Sein
Unternehmen untersucht die Wirkung englischer Werbung in Deutschland. Sein aktuelles
Buch „Unverwechselbar. Name, Claim & Marke“ ist im Haufe Verlag erschienen.
‡ Rheinischer Merkur Nr. 31, 31.07.2008
5. August 2008 <http://www.rheinischer-merkur.de/index.php?id=29370>
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Das Streiflicht
(SZ) Groˆe Dinge sprechen sich am besten durch Schweigen aus, sagt ein polnisches Sprichwort.
Und wer schwieg am sch‚nsten und am weihevollsten? Die Indianer. Allerdings ist es ein
Trugschluss zu glauben, nur, weil sie so viel schwiegen, h€tten ihnen zu wenig Worte zur
Verf„gung gestanden. Im Gegenteil: In der Zeit der Entdeckung Amerikas gab es 550
Indianersprachen. Ein Stamm konnte dem anderen nicht folgen, jedenfalls, solange man redete:
Apachen und Sioux, Comanchen und Seminolen (oder, um ein paar weniger bekannte St€mme ins
Spiel zu bringen: Choctaws, Osagen, Chickasaws, Assiniboins) mussten sich anderweitig
verst€ndigen, wenn sie sich bei der B„ffeljagd oder bei der Landesverteidigung begegneten. So
entstanden die wundervollsten Geb€rden. Strich sich ein Hurone mit dem Zeigefinger „ber die Stirn,
wie um sich einen Hut hochzuschieben, wusste auch ein Cherokee, dass sein roter Bruder den
nahenden weiˆen Mann meinte. Oder das Symbol f„r Frau: Man fuhr sich mit gespreizten Fingern
durchs Haar, als ob man sich k€mmen w„rde. Und sofort konnte man gegeneinander k€mpfen um
die Frau, oder man lieˆ es bleiben, egal, es geht jetzt um Zeichen, um die unglaubliche Perfektion,
sich auszudr„cken. Um Einfallsreichtum: Die Indianer „bermittelten sich auch Nachrichten durch die
Art, wie sie mit einem Pferd Kreise beschrieben; und sie manipulierten die Flugbewegungen der
Aasv‚gel, indem sie Kadaver nach einem bestimmten Muster auslegten, so wurden sogar Geier zu
ihren Botschaftern.
Am liebsten aber gaben sie sich Rauchsignale. Sie streuten nasses Gras ins Feuer, da kriegten sie
mehr Dunst, als heute jedem Ballonseidetrainingshosentr€ger aus dem Bratwurstgrill f€hrt. Dann
hielten sie eine Decke dar„ber, und dann nutzten sie noch verschiedene Materialien, mit denen sie
die Farbe des Rauchs beeinflussen konnten, und nun zogen sie die Decke unterschiedlich oft und
lange weg, und schon hatten Freund und mitunter auch Feind alle Informationen. Nat„rlich sind
andere V‚lker auf €hnliche Ideen gekommen. Wenn die Karthager an fremden Str€nden landeten,
luden sie Waren ab, gingen wieder auf ihre Schiffe und lieˆen Rauch aufsteigen, und bald wussten
die Einheimischen, dass es an der Zeit war, jetzt schnell etwas Gold hinzulegen. Oder die R‚mer:
Um 150 n. Chr. unterhielten sie ein Rauchmeldesystem mit hunderten T„rmen, das sich „ber 4500
Kilometer erstreckte. Bald wird es wieder qualmen in Rom, erst schwarz, dann weiˆ, aus einem
Ofenrohr, und die katholische Welt wird rufen Habemus papam. Die Indianer aber, die am
Lagerfeuer alles auf CNN verfolgen, werden an ihre eigene mythische Geschichte erinnert werden,
und aus der unendlichen Vielfalt ihrer Worte werden sie eines w€hlen und in die weite Pr€rie
hinausrufen:
Uff!
Quelle: S„ddeutsche Zeitung
Nr.76, Montag, den 04. April 2005 , Seite 1
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Ich sach ma …
Finden Sie auch, dass Politiker heute unglaublich viel Mist reden?
Und nicht nur Politiker? Bevor Sie es richtig machen und immerhin schon mal selbst
verstummen, sollten Sie noch wissen, warum das alles so kommen musste. Eine
Sprachhaufenanalyse.
Kurt Kister
Manchmal hat man sogar in der Bundespressekonferenz sch€ne Erlebnisse, wenn auch nur f•r
einen Moment. Neulich sa‚en Schr€der und M•ntefering vor der BPK. Der eine sagte sinngemƒ‚, dass er keine Lust
mehr habe, SPD-Parteivorsitzender zu sein. Der andere versuchte zu erlƒutern, warum er eben darauf nun Lust habe.
Dann sprach jener Franz M•ntefering die folgenden Sƒtze: „Deutschland muss sich neu aufstellen. Deutschland muss
wissen, dass wir nicht automatisch an der richtigen Kr•mmung des Flusses liegen, sondern dass wir uns anstrengen
m•ssen, um vorne zu bleiben, um Wohlstandsland zu bleiben und um ein wichtiges, entscheidendes Land in Europa zu
bleiben.“
Der Wortlaut ist getreulich wiedergegeben einschlie‚lich der Verb-Trippelung. Er stammt aus dem Protokoll der
Bundespressekonferenz. In meinem Notizblock, benutzt an eben diesem historischen Freitag, findet sich das Zitat so
aber nicht.
In meinem Block steht hingekritzelt: M•nte: Deutschl neu aufstellen; Deutschl nicht
richtige Kr•mmung Fluss . . . Dann brechen die Worte ab, es folgt die kleine Skizze, die Sie
faksimiliert hier rechts sehen, ein Ausriss aus meinem Notizblock:
Der Rest der Pressekonferenz war auch irgendwie interessant, aber wenn ich ehrlich bin,
habe ich, abgesehen von meinem eigenen Elend, nur noch an Deutschl nicht richtige
Kr•mmung Fluss gedacht. Mir fiel erst mal das wunderbare Buch von V. S. Naipaul – „An
der Biegung des gro‚en Flusses“ – ein, in dem sich der Inder Salim aus Ostafrika einen
Laden in Kisangani am Kongo kauft, und dann erleben muss, wie das Land und in der Folge
auch sein Laden unter Mobutu allmƒhlich zerfƒllt. Als Salim, pleite und ziemlich gebrochen,
am Ende des Romans die Stadt an der Kr•mmung des Flusses verlƒsst, sagt ihm ein Freund: „Niemand gelangt
irgendwohin. Wir fahren alle zur H€lle.“
Salims Laden lag eindeutig an der falschen Kr•mmung des falschen Flusses. Deutschl wiederum liegt, so sagt
M•ntefering, zwar an einem Fluss, aber nicht automatisch an der richtigen Kr•mmung. Wenn man sich ernsthaft damit
auseinander setzt, ob wirklich das ganze Deutschl an einem Fluss liegen kann, fƒllt einem Philip Jos‡ Farmer ein. Der
hat 1971 in einem mehrbƒndigen Fantasyzyklus die Flusswelt beschrieben. Farmers Bestseller-Idee: Alle Menschen,
die jemals gestorben sind, finden sich pl€tzlich wieder belebt auf einem Planeten wieder, •ber dessen Oberflƒche sich
ein gigantischer Fluss windet. Am Ufer dieses Riesenflusses bilden sich zahllose Gemeinschaften und Staaten, in denen
so unterschiedliche Leute wie Wilhelm der Eroberer, Mark Twain, Hermann G€ring und Richard Burton bedeutende
Rollen spielen.
Zwar liest Franz M•ntefering gelegentlich B•cher, aber es ist unwahrscheinlich, dass er den Flussweltzyklus gelesen
hat, obwohl der fast alles Wichtige •ber das Leben und Sterben an den Kr•mmungen des Flusses sagt. Jenseits von
Naipaul und Farmer jedenfalls lƒsst M•nteferings Aussage einen Schluss zu und wirft Fragen auf. Der Schluss: Man
kann Deutschl zumindest am Fluss entlang verschieben. Die Fragen: Wer kann es verschieben? Was ist der Fluss?
Wieso ist man „vorne“ (siehe BPK-Protokoll), wenn man an der richtigen Kr•mmung liegt? Ist vorne nicht da, wo der
Fluss anfƒngt oder vielleicht auch da, wo er aufh€rt? Wƒre es nicht •berhaupt gescheiter, man stellte Deutschl nicht in
der Flussbiegung neu auf, wo Hochwasser droht? Sondern weiter oben, weg vom Fluss?
Die wichtigste Frage aber lautet: Warum redet der M•ntefering so krauses Zeug daher, wenn er doch nur begr•nden
will, dass die SPD und Deutschl mit ihm als Parteichef besseren Zeiten entgegengehen?
Die Antwort ist einfach und zerfƒllt, wie so viele Antworten, in einen individuellen und in einen allgemeinen Teil. Die
individuelle Antwort auf die Frage, warum der M•ntefering krauses Zeug daherredet lautet: weil er der M•ntefering ist.
Der Mann macht nicht Politik, weil er gerne viel redet oder sch€n spricht, sondern er redet so viel, weil er gern Politik
macht. Ungl•cklicherweise f•r die vielen wackeren M•nteferings besteht Politik machen aber immer mehr aus Reden.
Es wƒre gemein, sagte man, M•ntefering sei ein schlechter Politiker, weil seine Fƒhigkeit, Sachverhalte in Worte zu
packen, ƒhnlich ausgeprƒgt ist wie die Fƒhigkeit Manfred Stolpes, Worte in Handeln umzusetzen. Auch das ist jetzt
wieder gemein. Mehr gegen•ber M•ntefering als gegen•ber Stolpe, denn Stolpes Haupttugend – Mann der Kirche, der
er ist – besteht ja darin, mit Worten zu begr•nden, dass •ber uns allen etwas schwebt, das gr€‚er ist als wir und nicht
Toll Collect hei‚t, sondern, wenn man nur richtig lebt, den Weg in die ewige Seligkeit garantiert. (F•r Agnostiker:
Gemeint sind nicht die SPD und Gerhard Schr€der, gemeint sind Gott und das Himmelreich.)
M•ntefering also redet kraus, weil er der M•ntefering ist. Daf•r allerdings muss man ihn auch wieder loben, denn die
Sezierung seiner Sprachbilder kann, M•he und Willen vorausgesetzt, die erstaunlichsten Ergebnisse zeitigen, wie
Deutschl und die Kr•mmung Fluss beweisen. F•r viele andere Menschen, nicht nur Politiker , trifft leider zu, dass sich
selbst eine sorgfƒltige Autopsie ihrer Sprachbilder nicht lohnt. Legt man zum Beispiel eine normale Bundestagsrede –
Merkel, Gerhardt, Sager – auf den Obduktionstisch, findet man fast nie interessante Wucherungen oder unbekannte
Knochen. Aus den Bestandteilen dieser rhetorischen W•rmer flie‚t unter dem Skalpell meist nur gr•nliches
Leichenwasser. Zu Ehren des Franz M•ntefering also, der au‚erdem auch ein netter Kerl ist, soll der individuelle Anteil
an der gro‚en Sprachverschwurbelung nun f•r alle Zeiten der M•ntefering-Faktor genannt werden.
Abseits vom M•ntefering-Faktor erfordert die allgemeine Antwort auf die Frage, warum die politische Sprache ƒhnlich
der afrikanischen Sahel-Zone einer rasenden Desertifikation ausgesetzt ist, tieferes Nachdenken. Ein paar Gr•nde
liegen auf der Hand und werden immer wieder, sogar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, genannt. (Nein, die
Rechtschreibreform hat damit nichts zu tun.) Leute, die viel sprechen, aber oft wenig sagen k€nnen oder wollen,
benutzen den Hirn-Schallerzeugungs-Komplex als Stanzmaschine. Beispiele daf•r: So gut wie alle Generalsekretƒre
der Parteien, f•hrend Cornelia Pieper sowie der demnƒchst in die General•berholung gehende Scholzomat der SPD.
Der Satzstanzung („ . . . haben ein freundschaftliches Gesprƒch •ber Themen von gegenseitigem Interesse gef•hrt“)
nah verwandt ist das Zutodereiten von, bei einmaligem Gebrauch wom€glich noch witzigen, Bildern oder
Redewendungen. Dazu geh€ren neben vielen anderen: Und das ist gut so – Ich bin ein Dideldum, holt mich hier raus!
– Das Wunder von Dideldum – undsoweiter. Ebenso doof wie unausrottbar ist die Anwendung verbotener Floskeln, die,
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wƒre dies bei W€rtern nur m€glich, in Sicherungsverwahrung geh€rten. Wer immer noch von irgendetwas ausgeht
oder ich sag mal sagt; wer in jedem dritten Satz etwas nicht ausschlie‚t und gleich darauf beteuert, offen gesagt,
ganz ehrlich und unter uns zu reden, der vers•ndigt sich an unseren Kindern, weil die nachplappern, was wir sagen,
und sich dieser Blƒhunsinn so vererbt.
Schuld an der gro‚en Sprachverschwurbelung in der Politik haben auch Manager und Redenschreiber. Die
dynamischen Manager haben sich eine eigene Sprache geschaffen, die changiert zwischen dem Yu-gi-O-Jargon der
Siebenjƒhrigen und dem rasanten Geplapper eines 31-jƒhrigen Roland-Berger-Beraters, der ein Verhƒltnis mit Jil
Sander hat. Da wird forgecastet und outgesourct, Arbeiter hei‚en human resources und etwas neu zu machen hei‚t
gleich mal change management. Politiker finden diesen Sprech toll. Sie bauen ihn in ihre Reden ein, wenn sie vor der
Mittelstandsvereinigung sprechen. Irgendwann internalisieren sie den Sprech und reden auch in der Kneipe so.
Redenschreiber wiederum sind eigentlich arme Schweine, weil sie ihren Chefs brillante Dinge aufschreiben sollen, die
aber so klingen m•ssen, als habe sie der Chef selbst gerade spontan erfunden, weswegen sie andererseits nie wirklich
brillant sein k€nnen. Sagt jener Chef also pl€tzlich interessante Sachen, wundert sich der professionelle Beobachter,
weil er doch wei‚, dass der Politiker Habermas nie gelesen hat, aber ihn dennoch jetzt paraphrasiert. Das ist
unglaubw•rdig. Die meisten Redenschreiber in Berlin sind ohnehin Beamtenseelen, und deswegen klingen die meisten
Reden, als seien sie aus den Geschƒftsordnungen diverser Ministerien entnommen worden, gew•rzt mit einer Prise
Referentenentwurfshumor. Wenn zum Beispiel ein amtstragender Politiker statt Vereinte Nationen oder UN nur noch
VN („das ist unsere Positionierung im Vauenn-Sicherheitsrat“) sagt, dann wei‚ man, dass er sich endg•ltig der Macht
des Faktischen, also der Ministerialwahrnehmung und -sprache, unterworfen hat.
Soweit die vielschichtige Analyse, die gewisslich wahr ist. Die wirkliche Erklƒrung f•r die gro‚e Sprachverschwurbelung
aber ist das alles nicht. Die ist viel einfacher. Ich glaube, dass Sprache ein Verbrauchsgut ist. (Weil es sich im
Folgenden um eine sehr pers€nliche Theorie handelt, ist der Gebrauch der ersten Person Singular hier nicht der
Eitelkeit geschuldet, sondern der Redlichkeit.)
Nach dem Prozess des Spracherwerbs, der Sozialisation in der Familie und der anschlie‚enden Ausbildung hat der
Mensch einen gewissen Wortschatz sowie eine je individuell ausgeprƒgte Fƒhigkeit, mit diesen Worten Dinge zu sagen,
die er sagen will. Ich stelle mir das so vor: Die Worte liegen auf einem gro‚en Haufen und der Sprechende klaubt sie
sich nach seiner Kenntnis der Grammatik, der Redekunst und nach seinem Sprachgef•hl zusammen. Da aber im Leben
jeder Haufen bei stetigem Gebrauch seiner Bestandteile kleiner wird, kleiner werden muss, nimmt auch der
Worthaufen bei jedem Einzelnen im Laufe seines Lebens ab. Dies ist eine gute Erklƒrung daf•r, warum zum Beispiel
Mƒnner mit zunehmendem Alter immer weniger reden. (Bei Frauen ist das ƒhnlich. Nur wenn Frauen mit Frauen
reden, sprechen sie sehr viel. Vielleicht gibt es da einen dem mƒnnlichen Verstƒndnis unzugƒnglichen Worthaufen.)
Andererseits erklƒrt die Theorie des abnehmenden Worthaufens auch, warum Politiker umso krauser reden, je lƒnger
sie Politiker sind.
Politiker m•ssen, das haben wir bereits bewiesen, sehr viel reden, zumal, wenn sie Bundeskanzler, Parteichef oder
Generalsekretƒr sind. Ein Generalsekretƒr, der unablƒssig vor der Partei, in Talkshows und im Deutschlandfunk labern
muss, verbraucht in sechs Monaten so viele Worte wie ein Bundestagshinterbƒnkler in drei Legislaturperioden. F•r den
Bundeskanzler und Minister trifft dies eigentlich auch zu, aber das Gefƒlle zwischen Clement und Scholz ist auch der
Tatsache geschuldet, dass sich ein Minister viele Reden aufschreiben lƒsst, wƒhrend ein Generalsekretƒr dauernd
selber redet. Schr€der also verbraucht die Worte seiner Redenschreiber und nicht nur seine eigenen. Dies muss so
sein, denn wenn Schr€der nur seine eigenen Worte verbrauchen w•rde, wƒre er bereits stumm, und au‚erdem
bemerkt der, der Schr€ders Redenschreiber kennt, dass die sich in den letzten Jahren verƒndert haben. Manchmal
wirken sie irgendwie wortentleert, wenn auch nicht so deutlich wie bei Laurenz Mayer oder bei Scholzomat. Wenn aber
die Theorie des allmƒhlichen Verschwindens der Worte zutrifft, warum sprechen dann Leute wie Ursula Engelen-Kefer,
Hans-Olaf Henkel oder Dietrich Austermann •berhaupt noch? Auch das kann ich erklƒren.
Ich glaube, es gibt zwei Geschlechter, zwei gro‚e Arten von W€rtern, so wie es zwei Geschlechter beim Menschen gibt.
Die eine Art sind die guten, die originellen, die sch€nen, die lustigen, die tollen W€rter. Die verbrauchen sich, so wie
sich alles Sch€ne im Leben leider verbraucht. Die anderen aber sind die Alltagsw€rter, die garstigen Ministerialw€rter,
die auf -ung endenden W€rter, die Subjekt-Prƒdikat-Objekt-W€rter, die stimmungslosen W€rter, die kalten,
gr•nlichen, rumƒnischen, wasserlosen W€rter. Die verbrauchen sich nicht. Im Gegenteil: diese W€rter wuchern nach
der Art des Krebses. Sie lassen sich nicht verbrauchen, sie wehren sich wie Einzeller durch stetige Vermehrung. Je
mehr einer spricht, desto seltener findet er auf seinem Sprachhaufen unter den wachsenden, wuchernden, wabernden
Molluskenw€rtern die sch€nen, klingenden, warmen Ausdr•cke.
Der Kanzler zum Beispiel suchte an jenem historischen Deutschl-Freitag vielleicht nach einem Satz wie: „Ich habe
eingesehen, dass es f•r einen Menschen eine zu schwere B•rde ist, gleichzeitig an der Spitze einer •ber ihre
Grundwerte debattierenden Partei und einer ins Straucheln geratenen Regierung zu stehen.“ Das Verb „einsehen“ fand
er nicht, wohl weil es schon lange nicht mehr in seinem Worthaufen liegt. Als er nach „zu schwere B•rde“ suchte, fiel
ihm das glitschige, albanische „Vermittlungsproblem“ in die Hand und dann in den Mund. Als er nach „ein Mensch“
fahndete, -ungte und -keite es heftigst von seinem Sprachhaufen und heraus kam der Satz: „Das ist ein Prozess, von
dessen Notwendigkeit und der Notwendigkeit seiner Weiterf•hrung – unbedingter Weiterf•hrung – ich •berzeugt bin.“
Ung! Keit! Basta!
Die Theorie vom Verschwinden der sch€nen und vom Wuchern der hƒsslichen Worte erklƒrt jenseits der Politik so gut
wie jede menschliche Kommunikation. Sie erklƒrt, warum die meisten Schriftsteller in ihrem Leben nur ein einziges
gutes Buch schreiben; sie erklƒrt, warum aus den guten Gesprƒchen am Anfang einer Liebe der karge Ehedialog wird;
sie erklƒrt, warum Dieter Bohlen so viel und was er spricht; sie erklƒrt, warum es keine guten Talkshows geben kann.
Und sie erklƒrt auch Franz M•ntefering. Die Kr•mmung des Flusses nƒmlich ist im Grunde ein sehr sch€nes Bild.
M•ntefering ist schlau genug, um selbst darauf gekommen zu sein, dass er sich in Gefahr befindet: nƒmlich
gleichzeitig sprachlos und geschwƒtzig zu werden. Deswegen geht er so sparsam mit seinen Worten um, und
deswegen sagt er: „Ich kann nur kurze Sƒtze.“
Franz M•ntefering steht also an der richtigen Kr•mmung des Flusses. Mal sehen, ob er auch Deutschl dahin bringt.
http://www.sueddeutsche.de/sz/wochenende/red-artikel1146/ (21/22 Feb 2004)
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Er gibt an, sie gibt auf
Warum sich Frauen in Bewerbungsgespr€chen schlechter verkaufen als M€ nner
Eine Frau, die dasselbe sagen will wie ein Mann, dr•ckt dies oft anders aus. Aufgrund der
geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Sprache haben Frauen in Bewerbungsgesprƒchen Nachteile, hat
Daniela Wawra in ihrer Doktorarbeit an der Universitƒt Passau herausgefunden. "Frauen stellen ihre Leistungen
und Kompetenzen nicht adƒquat heraus. Sie sind zu bescheiden", sagt die Sprachwissenschaftlerin.
Um an authentische Daten zu kommen, f•hrte Wawra 18 Einstellungsgesprƒche mit neun Frauen und neun
Mƒnnern, die sich bei ihr um eine Tutorenstelle bewarben. Die mƒnnlichen Bewerber wirkten dabei
kompetenter als die Bewerberinnen, was unter anderem daran lag, dass sie ihre Stƒrken wie etwa
Teamfƒhigkeit direkt ansprachen. Die Frauen gaben dagegen doppelt so viele Schwƒchen zu wie die Mƒnner,
zum Beispiel Sch•chternheit. Die mƒnnlichen Bewerber werteten ihre Stƒrken zudem sprachlich auf: Einer
erklƒrte nicht nur, er habe kein Problem, vor gro‚em Publikum zu sprechen, sondern betonte, er f•hle sich in
dieser Situation sehr wohl. Die interviewten Frauen werteten ihre Kompetenzen hingegen sprachlich eher ab:
Eine erzƒhlte von einem Praktikum im Ausland, f•gte aber hinzu: "Aber das waren nur sechs Wochen und
eigentlich habe ich da auch nicht genau das gemacht, was ich in dem Job machen soll."
Die Frauen dr•ckten sich zudem pers€nlicher und emotionaler aus als die Mƒnner, indem sie Ausdr•cke
benutzten wie "Ich mag . . .". Die Mƒnner verwendeten dagegen oft das unpers€nliche "man" und stellten ihre
Aussage so als allgemein g•ltig hin. "Im beruflichen Kontext wird Sachlichkeit in der Regel mehr geschƒtzt",
sagt Wawra. Zudem benutzten die mƒnnlichen Bewerber viele sprachliche Mittel, die Sicherheit ausdr•cken
("Ich bin mir sicher, dass ich die Aufgaben bewƒltigen kann"). Insgesamt sprachen die Mƒnner in den
Interviews, die durchschnittlich 15 Minuten dauerten, mehr als die Frauen.
Eine m€gliche Erklƒrung ist die unterschiedliche Sozialisation von Mƒnnern und Frauen. "Frauen werden auch
heute noch eher so sozialisiert, sich selbst zur•ckzunehmen und es ist verp€nt, die eigenen Vorz•ge allzu
deutlich herauszustellen, wƒhrend Mƒnner im Gegenteil gerade dazu sozialisiert werden, dies zu tun und somit
diesbez•glich keine Hemmungen haben", schreibt Wawra. Die Sprachwissenschaftlerin ging aber in ihrer
Dissertation noch einen Schritt weiter und fragte sich, warum das so ist. Ihrer Ansicht nach ist der
geschlechtsspezifische Sprachgebrauch in unseren Genen verankert. Die Unterschiede seien im Laufe der
Evolution aufgrund verschiedener Reproduktionsstrategien von Mƒnnern und Frauen entstanden.
Erbe aus Urzeiten
"Im menschlichen Reproduktionssystem ist die Frau die Wƒhlende, der Mann der Werbende", sagt Wawra. Und
eine M€glichkeit, sich selbst in einem guten Licht darzustellen, sei Sprache. Bei der Partnerwerbung preise der
Mann sich selbst und seine Fitness an wie ein Verkƒufer. Denn Frauen suchen einen im Sinne der
Evolutionstheorie fitten Mann -- ein Erbe aus Urzeiten, in denen sie auf einen Partner angewiesen waren, der in
der Lage war, die ganze Familie mit Nahrung zu versorgen. Da ein Mann bei den Frauen umso erfolgreicher
war, je fitter er sich prƒsentierte, verbesserte sich im Lauf der Zeit die Fƒhigkeit zur Sprachproduktion, das
Talent, sich gut zu verkaufen. Im Interesse de r Frauen lag es, falsche Werbung m€glichst sofort zu erkennen.
Deshalb hat sich bei ihnen ein besseres Sprachverstƒndnis entwickelt, was viele Untersuchungen zeigen.
Mƒnner, die sich anders als Frauen nie ganz sicher sein k€nnen, dass der Nachwuchs, f•r den sie sich
abrackern, wirklich von ihnen ist, suchen eine m€glichst treue Frau. Frauen signalisieren diese Eigenschaft
durch Zur•ckhaltung, die auch auf sexuelle Zur•ckhaltung schlie‚en lƒsst. Aber auch eine emotionale,
pers€nliche Sprache sei f•r Mƒnner ein Hinweis auf diese Eigenschaft, sagt Wawra.
Diese genetischen Anpassungen an fr•here Lebensbedingungen sind tief in uns verwurzelt, obwohl sie in der
heutigen Gesellschaft meistens gar nicht mehr sinnvoll sind. Um nicht in die Evolutionsfalle zu tappen,
empfiehlt Wawra, bei Einstellungsgesprƒchen mit Bewerberinnen eine Frau hinzuzuziehen, wenn das Interview
von einem Mann gef•hrt wird. Frauen einen Ratschlag zu geben, wie sie sich in solchen Situationen verhalten
sollen, ist aber schwierig. Denn als Frau aufzutreten wie ein Mann, ist keine L€sung. Das zeigte erst k•rzlich
wieder eine Studie der Pittsburgher Wirtschaftsprofessorin Linda Babcock: Sie f•hrte 200 Medizinstudenten vier
Videos vor, auf denen Gehaltsverhandlungen zu sehen waren. Auf dem ersten sagte eine Frau offen, wie viel
Geld sie verdienen m€chte, auf dem zweiten verschwieg sie zur•ckhaltend ihre Gehaltsvorstellungen. Video
Nummer drei und vier zeigten entsprechende Szenen mit einem Mann. Die Studenten sollten beschreiben,
welche Wirkung die verschiedenen Personen auf sie hatten. Der fordernde Mann wurde von den meisten positiv
beurteilt. Die fordernde Frau haben dagegen viele als unweiblich und aggressiv empfunden. Tina Baier
(SZ vom 6.4.2005)
http://www.sueddeutsche.de/sz/2005-04-06/wissen/artikel/sz-2005-04-06-011-tiba_bewerbung.tina/ (6. April 05)

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