Brief von Annette Deutschle - Partnerschaftsverein Tübingen
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Brief von Annette Deutschle - Partnerschaftsverein Tübingen
Gesendet Von: "Annette Deutschle" <[email protected]> An: Betreff: Villa El Salvador Liebe Freunde, seit März wohne und arbeite ich nun schon in Villa El Salvador und inzwischen habe ich mich ganz gut eingelebt. Es war eine Zeit voller Erfahrungen und gerade die ersten Wochen waren nicht nur einfach. Dazu kamen Magen-Darm Probleme und eine heftige Erkältung. Aber ich kann glücklich sagen, dass es mir bisher gesundheitlich sehr gut ging. Natürlich war der erste Eindruck von der Stadt besonders krass, weil ich direkt aus Cusco kam und es dort, bedingt durch die vielen Regengüsse so grün und landschaftlich so wunderschön war. Villa El Salvador, eine Stadt in der Küstenwüste erbaut, bietet ein ganz anderes Bild. Auf den ersten Blick eine unglaublich triste Gegend mit viel Verkehr, Müll und sehr vielen Straßenhunden. Sehr gefreut hat mich, das Anna eine Freundin die ich vom Partnerschaftsverein her kenne, mich bei meiner Ankunft aus Cusco von Lima nach Villa El Salvador begleitet hat. Zusammen sind wir dann zuerst zum Colegio Fe y Alegria, der Partnerschule des Uhland Gymnasiums Tübingen, gefahren. Dort wurden wir von der Schulleiterin Hermana Ines und von Antonio, der auch für die Freiwilligen aus Tübingen zuständig ist, begrüßt. Danach lernte ich mein neues Zuhause für die nächsten Monate kennen: das Kinderhaus Casa Hogar de "Corazon de Jesus". Die erste Zeit in Villa wurde ich von Hermana Ines und vier anderen Schwestern begleitet und sehr freundlich aufgenommen. Sie haben mich auch über die Situation vor Ort aufgeklärt und mir wurde schnell klar, dass ich mich nicht mehr so frei bewegen konnte wie in Cusco. Das empfand ich am Anfang als große Einschränkung. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt und spreche mich mit meinen Mitbewohnern vor dem Verlassen des Hauses ab, wohin ich gehe und wann ich ungefähr wieder zurückkomme, einfach zu meiner eigenen Sicherheit. Ansonsten finde ich mich in der Stadt gut zurecht, da die Straßen in Schachbrettform angelegt sind. Sogar die vielen Straßenhunde in meinem Viertel haben mich jetzt akzeptiert. Zurzeit ist es tagsüber noch angenehm sonnig und warm, aber man spürt schon deutlich den Übergang zum peruanischen "Winter". Viele Einheimische erzählen, dass der Sommer dieses Jahr extrem heiß war und die Temperaturen im Mai/Juni normalerweise nicht mehr so hoch sind. Da Peru südlich des Äquators liegt, sind die Jahreszeiten denen in Mitteleuropa entgegengesetzt. Man unterscheidet jedoch nur zwei Jahreszeiten: Als Sommer bezeichnet man die Zeit von Dezember bis April/Mai und im Winter, ab Mai, bildet sich durch den Humbold-Strom oft Nebel entlang der Küste. Durch das kalte Tiefseewasser wird die Luft abgekühlt und die Tropische Sonne bildet wärmere Luftmassen und lässt die kalte Luft nicht aufsteigen. So erreicht allenfalls im Winter ein leichter Nieselregen die Erde, aber es kommt nie zum Regnen. Villa El Salvador liegt ca.20 km südlich vom Zentrum der Hauptstadt Lima entfernt am Pazifischen Ozean. Die Hauptstadt Lima ist nach Kairo die zweitgrößte Wüstenstadt der Erde mit über 9 Mio. Einwohnern. Täglich kommen weitere Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben hier an. Die Armutssiedlungen rund um Lima, die hoffnungsvoll und zugleich ironisch Pueblos jovenes´(junge Dörfer) genannt werden, wachsen weiterhin ungebremst. Vor allem in der Zeit von 1980-2000 sind viele Menschen aus dem Hochland vor der Gewalt der Terrororganisation Sendero Luminoso (leuchtender Pfad) geflohen, auch nach Villa El Salvador. Heute dürfen hier Leute aus allen Regionen Perus wohnen, die mit Ihren Bräuchen und kulturellen Identitäten zusammen leben. Auf Sandflächen erbaut wird das Stadtbild geprägt von meist dreistöckigen Häusern mit Flachdach oder einfach nur behelfsmäßig mit Eternit Platten abgedeckt. Viele Gebäude befinden sich in einem provisorischen Zustand. Sobald wieder Geld zur Verfügung steht wird weiter gebaut. In den sehr armen Vierteln leben die Menschen in Hütten aus Holz mit Wellblechdächern, ohne fließendes Wasser und Strom. Hier fehlt es an allem. Zweimal pro Woche kommt ein Tanklastwagen bei dem die Bevölkerung das dringend benötigte Trinkwasser kaufen kann. Das Kinderhaus Casa Hogar (Heim, Zuhause) in dem ich wohne, wurde über einen Zeitraum von 5 Jahren mit Spendengeldern aus Spanien erbaut. Wegen fehlender Spenden musste der Bau immer wieder eingestellt werden. Nach seiner Fertigstellung stand das Haus zunächst leer, da die Genehmigung der zuständigen Behörden für die Inbetriebnahme noch fehlte. Bis zu meiner Ankunft wohnte nur ein peruanisches Ehepaar mit drei Töchtern im obersten Stockwerk. Es ist ein sehr schönes großes Haus und es können bis zu 35 Kinder aufgenommen werden. Am Anfang musste ich verschiedene Behörden in Villa und in Lima aufsuchen, so z.B. die Polizei und das Hospital, um Gesundheitstests zu machen. Dies alles war notwendig, um im Kinderhaus mit den Kindern zu wohnen und Sie zu betreuen. Zwei Wochen später wurde das erste Kind aufgenommen. Inzwischen leben hier 16 Kinder im Alter von 3 bis 13 Jahren. Es sind Kinder die aus verschiedenen Gründen nicht mehr bei Ihren Eltern bleiben können. Sie waren dort oft täglicher Gewalt ausgesetzt und wurden zum Teil schwer misshandelt. Einige sind daher entsprechend traumatisiert und bräuchten dringend fachgerechte Betreuung. Zu Beginn war es schwierig, weil Personal fehlte. Inzwischen haben wir jedoch Verstärkung von Sozialarbeitern und Freiwilligen bekommen. Morgens sind wir zu zweit um die Kinder zu wecken, beim Waschen, Anziehen und Frühstücken zu helfen. Ein Teil der Kinder geht in die Schule (Colegio) und die Kleinen in den Kindergarten(Inicial). Meistens fahren wir am Morgen mit einem Moto Taxi (dreiräderiges Vehikel) zum Colegio und treffen uns zum Mittagessen in der Mensa von Fe y Alegria wieder. Mittags werden zuerst die Hausaufgaben gemacht, danach bleibt noch Zeit zum Spielen, Basteln oder zum nahe gelegenen Basketballplatz zu gehen. Direkt an das Colegio Fe y Alegria angrenzend liegt das Ausbildungszentrum CEO in dem ich die Möglichkeit habe zu unterrichten. Meine Arbeit dort ist an fünf Tagen der Woche von 8.00-13.00 Uhr. Zwanzig Frauen nehmen am Projekt teil. Zusammen mit dem Partnerschaftsverein hatte ich geplant, den Unterricht auf eine Vor- und eine Nachmittagsgruppe aufzuteilen, aber vor Ort war es letztendlich so nicht möglich. Am Nachmittag steht kein freies Klassenzimmer zur Verfügung. Zudem ist es für einen Großteil der Teilnehmerinnen einfacher am Vormittag zu kommen, so lange ihre Kinder im Kindergarten sind. Anfangs ist es mir nicht leicht gefallen vor der Klasse zu stehen und die vielen Fragen zu beantworten. Inzwischen macht es mir viel Spaß und finde richtig Gefallen daran. Die ersten Theorieunterrichtsstunden habe ich mit Hilfe von Kopien und Zeichnungen an der Tafel gegeben. Ich erklärte die Werkzeuge sowie deren Pflege und Reinigung, die notwendige Hygiene, den Umgang mit der Schere und der Haarschneidemaschine, die Hand-und Kammhaltung beim Schneiden, usw. Nach kurzer Zeit begann ich an Modellen zu erklären und zu schneiden. So kann ich einfacher die verschiedenen Abteillinien, die Kopfhaltung und die Problemzonen wie Wirbel erklären, die wichtig sind, um einen entsprechenden Schnitt zu verwirklichen. Sehr bald wollten die Auszubildenden jedoch ihren ersten Haarschnitt am eigenen Modell machen. Vier der Auszubildenden durften zunächst damit beginnen. So fand also der erste Haarschnitt gleich am "lebenden" Model statt, da wir hier keine Übungsköpfe zur Verfügung haben. Das war eine echte Herausforderung, zumal Sie mit dem Abschneiden nicht so zimperlich sind- Haare gibt es hier schließlich im Überfluss! Ich hoffe, Euch einen ersten Überblick über meine Arbeit, Erlebnisse und die vielen Eindrücke gegeben zu haben. Danke an alle, für die Hilfe und Unterstützung, die Ihr mir bis jetzt gegeben habt. Muchos saludos Eure Annette