Mehr Mitgefühl! – Sexuell missbrauchte Jungen

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Mehr Mitgefühl! – Sexuell missbrauchte Jungen
Mehr Mitgefühl! – Sexuell missbrauchte Jungen
©Rainer Neutzling, Köln 2010
Der Vortrag ist die gekürzte Fassung des gleichnamigen Kapitels aus den
„Kleine Helden in Not“, das im Februar 2011 in einer komplett überarbeiteten
Neuausgabe erscheint.
Bis Mitte der 1980 er Jahre war der sexuelle Missbrauch an Kindern kein
Thema, das gesellschaftlich besonders hohe Wellen schlug, sieht man von
spektakulären Fällen wie Jürgen Bartsch Ende der 1960er Jahre ab. Dabei
wurden in den 1950er und 1960er Jahren keineswegs wenige Fälle sexuellen
Missbrauchs zur Anzeige gebracht. Als Jürgen Bartsch verurteilt wurde,
meldete die bundesweite Polizeistatistik für das Jahr 1967 mehr als 18.000
angezeigte Fälle. Vierzig Jahre später, 2007, zählte man rund 12.800 Fälle
(bei natürlich deutlich weniger Kindern unter 18 Jahren). Gewiss waren in
den 1960er Jahren die Sorgen der Eltern um das Wohl ihrer Kinder nicht
kleiner als heute, doch von einer Alarmstimmung, wie wir sie bei diesem
Thema zuerst Mitte der 1980er Jahre und dann wieder Anfang 2010 hatten,
war die Gesellschaft damals doch weit entfernt. Es fehlte das
nachachtundsechziger Einvernehmen darüber, dass Kinder als eigenständige
Persönlichkeiten zu respektieren und zu beschützen sind – notfalls vor den
eigenen Eltern. Dass selbstbewusste, über ihren Körper und sexuelle Themen
altersgemäß informierte Kinder prinzipiell besser geschützt sind als
unwissende und untertänige Kinder, war noch kein konsensfähiger Gedanke.
Die Gesellschaft sträubte sich vehement gegen die Tatsache, dass Familie
keineswegs nur ein Hort der Liebe ist, sondern manchmal auch ein Ort des
Schreckens und des Leids. 1967 hatte sich die Öffentlichkeit, das Gericht und
auch die überwiegende Mehrheit der psychiatrischen Gutachter darauf
verständigt, dass „die Bestie” Jürgen Bartsch eine „Fehlentwicklung der
Natur“ und seine bedauernswerten Eltern rechtschaffene Bürger waren. Wer
darüber nachdachte, dass es einem seelisch kranken jungen Mann wie Jürgen
Bartsch an Liebe und angemessener Zuwendung gefehlt haben könnte,
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befand sich in einer gegen moralische Angriffe sehr ungeschützten
Minderheitenposition.
Im Laufe der 1980er Jahre setzten dann vor allem feministische
Selbsthilfeprojekte wie „Wildwasser” und „Zartbitter” eine Diskussion über
den sexuellen Missbrauch an Mädchen in Gang. Bis dahin hatte die
Frauenbewegung über zwei Jahrzehnte hinweg einen öffentlichen Raum
erarbeitet, in dem männliche sexuelle Gewalt und weibliche Opferschaft
skandalisiert, eingeordnet und in Grenzen verstanden werden konnte.
Deshalb ging es damals weniger um Kinder denn um Mädchen, die Opfer
männlicher Gewalt wurden, was schließlich der Logik der allgemein
angeprangerten patriarchalischen Verhältnisse entsprach. Für Jungen als
Opfer war in diesem sozial-ideologischen Setting kein Platz – obwohl in allen
Nachkriegsjahrzehnten etliche Tausend pädo-sexuelle Männer verurteilt
worden waren und aus den Statistiken des Bundeskriminalamtes hervorging,
dass Jungen damals mindestens 10 Prozent der bekannt gewordenen
Missbrauchsopfer waren.
Im Laufe der 1990er Jahre setzte in Deutschland eine US-amerikanische
Entwicklung um einige Jahre zeitversetzt ein: Plötzlich tauchten vermehrt
sexuell missbrauchte Jungen auf, das heißt, die Fachkreise konnten sie mit
einem Mal als Opfer sozusagen zulassen. Allerdings wurde die pädagogischtherapeutische Arbeit mit ihnen zumeist unter den Bereich „Prävention”
gefasst, da es zu verhindern gelte, dass aus einem sexuell missbrauchten
Jungen später einmal ein Täter werde. Obwohl aller Erfahrung nach die
deutliche Mehrheit der betroffenen Jungen diese Entwicklung nicht einschlägt,
fiel und fällt es offenbar schwer, in einem sexuell missbrauchten Jungen
zunächst einmal nur ein Opfer und nicht schon immer auch einen potenziellen
Täter zu sehen.
Verlässliche Zahlen über das Ausmaß an sexueller Gewalt gegen Mädchen
und Jungen gibt es bis heute nicht. Aus diesem Grund weiß man auch nicht
genau zu sagen, wie viele der sexuell Missbrauchten Kinder (später) selbst
sexuell übergriffig werden. In Studien variieren die Opferzahlen von 7,5 bis
30 Prozent aller Mädchen und 2,3 bis 20 Prozent aller Jungen, die sexuellen
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Missbrauch in jeglicher Form erleben. Die Zahlen schwanken so stark, weil
den Studien unterschiedliche Definitionen von sexuellem Missbrauch
zugrunde liegen. Beschränkt man zum Beispiel den sexuellen Missbrauch auf
erzwungene Erlebnisse mit Körperkontakt – zählt also die Opfer von
Exhibitionisten nicht hinzu – verringern sich die ermittelten Fälle sexuellen
Missbrauchs in der Regel um mehr als die Hälfte.
Allgemein wird davon ausgegangen, dass Jungen anders als Mädchen
häufiger außerhalb des Familienkreises missbraucht werden. Die Täter sind
überwiegend heterosexuell oder zölibatär lebende Männer. Keineswegs
Fremde, sondern Erwachsene, denen die Jungen Vertrauen schenken:
Freunde der Eltern, Lehrer, Pastoren, Jugendgruppenleiter, wichtige
Bezugspersonen, die das vitale Bedürfnis der Kinder nach Zuwendung und
Nähe ausnutzen. Bei Kindern unter sechs Jahren, heißt es in Fachkreisen,
sind Mädchen und Jungen fast gleich häufig betroffen, während Mädchen von
der Einschulung an bis zum Jugendalter deutlich gefährdeter sind.
Einige Jahre, nachdem auch sexuell missbrauchte Jungen in Deutschland
Thema werden durften, tauchten zudem Missbraucherinnen auf: Mütter,
Schwestern, Tanten, Erzieherinnen, Nonnen und Babysitter. Wie hoch ihr
Anteil ist, lässt sich nicht sagen. David Finkelhor ermittelte in den 1980er
Jahren 10 bis 16 Prozent, Jörg Fegert ging Ende der 1980er Jahre von „weit
unter zehn Prozent” aus. Barbara Kavemann – eine Frau der Ersten Stunde in
der gesellschaftlichen Debatte um den sexuellen Missbrauch – sprach Mitte
der 1990er Jahre von „etwas mehr als zehn Prozent”. Auch hier kommt es
darauf an, welche Handlungen zum sexuellen Missbrauch gezählt werden.
Barbara Kavemann bekannte damals bemerkenswert freimütig, dass die
missbrauchenden Frauen ihr Weltbild gehörig durcheinander gebracht hätten.
Das Ausblenden dieses aggressiven Aspekts weiblicher Sexualität und die
Fokussierung der Patriarchatskritik auf die Frauenunterdrückung habe gewiss
zum Nichtwahrhabenwollen männlicher Opfer beigetragen. In Gesprächen mit
Männern, die sich in Selbsthilfegruppen zusammenfinden, zeigt sich, dass der
sexuelle Missbrauch durch eine Frau einen Jungen ebenso seelisch verletzen
kann wie der Missbrauch durch einen Mann. Sexuell missbrauchende Frauen
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sind in jeder Hinsicht nicht weniger gewalttätig als sexuell missbrauchende
Männer. Das gilt für genitale Verletzungen ebenso wie für seelische
Grausamkeiten und Prügelstrafen.
Kollektives Entsetzen
Zu Beginn des Jahres 2010 wurde bekannt, dass am Berliner Canisius-Kolleg
in den 1970er und 1980er Jahren zig Schüler sexuell missbraucht wurden. Als
sich in der Folge immer mehr ehemals Schutzbefohlene meldeten, die als
Kinder sexuelle Übergriffe erlebt haben, brandete eine öffentliche Debatte
über das Thema sexueller Missbrauch auf, deren Ausmaß die fachlichen
Debatten der 1980er und 1990er Jahre bei weitem übertraf. Im Fokus des
breiten und bemerkenswert sachlichen medialen Interesses stand zunächst
die katholische Kirche, wo sie sich deshalb befand, weil bei Institutionen mit
höchsten moralischen Ansprüchen die Fallhöhe nun mal besonders groß ist.
Schadenfreude spielte gewiss ebenfalls eine Rolle, aus demselben Grund.
Dass auch einige konfessionsfreie Reformschulen von ehemaligen Schülern
gezwungen wurden, Vergangenheitsbewältigung zu betreiben, zeigt, wie gut
sexueller Missbrauch in geschlossenen Systemen gedeiht: In der Familie, in
Institutionen und Gruppen, die ausgefeilte Machtstrukturen und hohen
Loyalitätsdruck im Innern erzeugen und tendenziell rigide
Abgrenzungsstrategien nach außen verfolgen. Die Neigung geschlossener
Institutionen, sich gegenüber dem hohen Außendruck ihrer Kritiker, Neider
und Gegner abzuschotten und durch kultivierte innere Distanzlosigkeit ein
moralgetränktes „Wir-Gefühl“ zu schaffen, ist ideal für sexuellen Missbrauch:
Wer etwas Besonderes sein will, muss die Geheimnisse dieses Besonderen
wahren – und sei es unstatthafter zerstörender Sex. Auch vom Sockel des
dezidierten Humanismus der Reformpädagogik war der Fall lang und tief.
Unterdessen wurde sich die Gesellschaft darüber einig, ihre Kinder besser vor
Pädosexuellen und falschen Heiligen schützen zu wollen. Der Zölibat war zum
wiederholten Mal Gegenstand der Diskussion, auch mussten sich einige grüne
Achtundsechziger und einst mit „Stadtindianern“ sympathisierende Exspontis
wegen ihrer einst krude-libertinären Befürwortung „einvernehmlicher
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Sexualkontakte“ zwischen Kindern und Erwachsenen rechtfertigen. Nun hieß
es: Kinder sollen weiterhin stark gemacht, die Erziehenden sensibilisiert und
fortgebildet und die Kirchenoberen angehalten werden, sich einfach mal an
die Gesetze zu halten. Doch dass in diesen ersten Monaten des Jahre 2010
mehrheitlich sexuell missbrauchte Jungen zum Vorschein kamen, war auf
seltsame Weise das Nichtthema der allgemeinen Auseinandersetzungen. Man
war empört ob der fürchterlichen Ereignisse, die da bekannt wurden, doch die
für viele Menschen eigentlich neue, nun sozusagen offizielle Tatsache, dass
auch Jungen massenhaft sexuell missbraucht werden, wurde nicht der
Analyse unterzogen. Von unsäglichem Leid war die Rede, von Martyrien und
lebenslangen Spätfolgen, alles schlimm, schrecklich und unverzeihlich. Doch
das Geschlecht der Opfer schien nicht auf.
Die Gesellschaft hat ein Problem mit männlichen Opfern. Wenn jene sich erst
nach vielen Jahren melden, hat das triftige Gründe. Die liegen zum einen im
perfiden Macht- und Abhängigkeitsgefüge, das Täter und Täterinnen um ein
Missbrauchsgeschehen bilden. Zum anderen ist es für Traumaopfer nicht
ungewöhnlich, denn zu den Überlebensstrategien gehört immer auch das
Verdrängen. Zudem werden die meisten von ihnen (wie die betroffenen
Mädchen) früh die Erfahrung gemacht haben, dass niemand ihnen Gehör
geschenkt oder geglaubt hat. Oftmals hat man ihr Opfersein trotz
offensichtlicher Hinweise einfach übersehen, weil männliche Opfer im Katalog
möglicher Opferschaften nun mal nicht vorkommen.
Männer unter sich
Anders als in den 1980er Jahren war in der Missbrauchdebatte 2010 immerzu
von Kindern die Rede, oder es wurden Formulierungen gewählt wie „Schüler“
oder „Zöglinge“, die das maskuline Geschlecht der Opfer grammatikalisch
zwar korrekt benannten, es im umgangssprachlichen Kontext aber zugleich
neutralisierten – wie der „Schülerduden“ sich nun mal an beide Geschlechter
richtet. Im März 2010 titelte der „stern“ mit elf Porträts von Erwachsenen, die
als Kinder sexuell missbraucht worden waren. Acht dieser elf Erwachsenen
waren Männer. Der fachlich einwandfreie Artikel „Ich war elf Jahre alt, als es
geschah“ sprach jedoch ausschließlich geschlechtsneutral von „Opfern“.
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Auch die Täter hatten in dieser Phase der Diskussion kein klar benanntes
Geschlecht. Am Pranger standen weniger Einzelpersonen als die
Reformpädagogik und die katholische Kirche als Institution. Dass zur
Geschlechtslosigkeit verurteilte Priester natürlich doch eines haben, war
einerseits klar, doch galt die öffentliche Beschäftigung weniger dem Mann,
der sich an Kindern vergriff, als der vermeintlichen Vertrauensperson, der
nicht integren Respektsperson.
Man muss niemanden in dieser Sache böse Absichten, bewusste
Ausblendungen oder versteckte Jungen- oder Männerfeindlichkeit
unterstellen. Und doch schien es, als wären in den bekannt gewordenen
Fällen die Jungen und Männer als Opfer und Täter gleichen Geschlechts
sozusagen unter ihres Gleichen gewesen. Kein ungewöhnliches Phänomen,
sind Jungen und Männer laut Polizeistatistik doch auch häufiger Opfer der
allgemeinen (männlichen) Gewalt. Das allerdings hat nie jemanden wirklich
aufgeregt, im Gegensatz zur sexuellen Gewalt, der deutlich mehr Frauen zum
Opfer fallen. Zynisch formuliert: Dass Männer Jungen und anderen Männern
Gewalt antun, nun ja, das ist nicht schön, aber das tun sie sich ja
gewissermaßen gegenseitig an. Offenbar verspielen Jungen als das
„Tätergeschlecht“ in gewisser Weise ihr Anrecht auf Mitgefühl, zumal die
Gewalt, die sie erleiden, nicht mädchen- oder frauenverachtend ist. Doch was
ist sie stattdessen? Schweigen.
Was man immer schon munkelte ...
In welcher Männerunde auch immer ich damals über dieses Thema redete,
hieß es mit einem Mal: Klar, da gab es diesen oder jenen Mann, von dem alle
wussten, der kann seine Finger nicht bei sich behalten... Wer Messdiener
war, bei den Pfadfindern und irgendeiner bündischen oder kirchlichen
Jugendgruppe angehörte, der kennt solche Geschichten. Öffentliches Thema
war jedoch nie, was man immer schon munkelte.
Auch der Runde Tisch „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“, an dem
jahrelang um die Verantwortung der beiden großen Kirchen für die Zustände
in den damaligen katholischen und evangelischen Kinderheimen gestritten
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wurde, vermochte den sexuellen Missbrauch nicht so weit nach oben zu
spülen wie dies 2010 der Fall war. Kaum jemand hat je wirklich so genau
wissen wollen, dass Heimkind zu sein nie ein Zuckerschlecken war. Eigentlich
wussten es alle, nur hingeschaut hat niemand. Mehr als eine Million Mädchen
und Jungen erlebten in Nachkriegsdeutschland bis in die 1970er Jahre hinein
als Kriegswaisen, Verlassene, Verwahrloste oder aus anderen Gründen neben
der Spur Laufende zuhauf öffentlich geduldete Entrechtung, Erniedrigung,
Zwangsarbeit, Misshandlung und sexuelle Gewalt. Die Täter und Täterinnen:
Pater und Nonnen. Dass nicht schon die Heimkinder, sondern 2010 erst
ehemalige Schüler konfessioneller und reformpädagogischer
Renommierinternate als Opfer sexuellen Missbrauchs gehört wurden, hatte
den einfachen Grund, dass sich nun Angehörige der gesellschaftlichen Eliten
Gehör verschafften, und um die sorgt sich eine Gesellschaft nun einmal
mehr. Zum anderen brach sich offenbar mit einem Mal auch das heimliche
Wissen der Allgemeinheit um Missbrauch und Misshandlung Bahn. In die
Schadenfreude über den moralischen Absturz der Kirchen und falscher
Reformpädagogik mischte sich wohl auch eine gehörige Portion kollektives
schlechtes Gewissen.
... und nicht wahr sein darf
Warum sich die Gesellschaft so schwer tut mit männlichen Opfern, hat
verschiedene Gründe. Jedem Opfer haftet etwas Negatives an. Anderenfalls
würden Jugendliche „Du Opfer!“ nicht so gern als Schimpfwort gebrauchen:
Zu schwach zur Gegenwehr, aus Bedürftigkeit manipulierbar, verängstigt,
hilflos und zutiefst verletzlich. Das alles und mehr ist mit Opfersein
verbunden – und unmännlich. Ich glaube allerdings, dieses Stigma ist
weniger der Grund für das Schweigen missbrauchter Jungen, als es die
Wahrnehmung der Erwachsenenwelt blockiert. Die Gesellschaft will keine
schwachen, unmännlichen männlichen Opfer. Mit Jungen und Männern als
Täter kommt sie viel besser zurecht. Worauf ist denn noch Verlass, wenn
Jungen nicht wehrhaft sind?
Und wie männlich und selbstbewusst darf ein Opfer sein, dass wir noch mit
ihm fühlen wollen? So souverän wie Bodo Kirchhoff, der im März 2010 im
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Spiegel sehr abgeklärt wirkend seinen Missbrauch als Zwölfjähriger literarisch
durchdrang? Und auch noch berichtete, dass der Missbraucher ihn bis zum
Orgasmus erregt hatte? Darf das denn sein? Melden sich da nicht bei allen,
die die ungeheuren emotionalen Verstrickungen des Missbrauchssyndroms
nicht kennen, Gedanken an eine gewisse Mitschuld des Opfers?
Nicht zuletzt: Wer sexuellen Missbrauch öffentlich macht, stellt immer Macht
infrage. Die des Täters oder der Täterin und die der Familie, des
Kindergartens, der Schule, der Kirche oder einer anderen in Bedrängnis
geratenen Institution. Wie verbissen aber und effektiv sowohl Täter oder
Täterin, als auch angeblich nichtsahnende Ehefrauen und Ehemänner,
Kolleginnen und Kollegen, Vorgesetze und sonstige Repräsentanten
Missbrauch decken, ignorieren oder behaupten, dies könne alles gar nicht
wahr sein, weil es einen Skandal abzuwenden und die Macht zu erhalten gilt,
das alles ist integraler Bestandteil der kindlichen Missbrauchserfahrung.
Ein heute 60jährigen Mannes erzählte mir von seinen Erlebnissen als
Achtjähriger. Er war ein kränklicher Junge, weshalb ihn seine Eltern zur
Luftveränderung in eine andere Stadt zur Familie seines Patenonkels
schickten. Dort traf er auf seinen drei Jahre älteren Vetter:
„Wir haben viele schöne Dinge unternommen wie Streifzüge durch die
Umgebung und Seifenkisten bauen, aber bald fing mein Vetter an, mich zu
schlagen, wenn seine Eltern nicht da waren. Wenn die Tante und der Onkel
abends ins Kino gingen, wusste ich schon, was auf mich zukam: Ich musste
mich über den Sessel legen, und mein Vetter schlug mit allen möglichen
Gegenständen, einmal auch mit einem Schürhaken, auf mich ein. Einmal
sagte er: ‚Ich hab da neulich so was Komisches erlebt mit meinem Vater, das
möchte ich dir mal zeigen. Wir haben eine Show gesehen, in der die Leute
nackt rumliefen und sich die Pimmel in den Hintern steckten. Ich fand das
zwar ziemlich eklig, aber wir können das ja auch mal machen.‘ Die
Vorstellung, dass er sein Glied in meinen Hintern stecken würde, war
schrecklich, aber ich hatte Angst vor seinen Schlägen, falls ich nicht
mitmachen würde.”
Als seine Tante die Striemen an seinem Körper bemerkte, gab sie sich mit
der Erklärung zufrieden, dass ein Junge aus der Schule ihn geschlagen habe.
Heute glaubt er, dass die Tante damals ihren Sohn gedeckt hat. Acht Monate
blieb er bei seinen Verwandten, ohne jemandem von seinen Qualen zu
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erzählen. Er war davon überzeugt, dass ihm niemand glauben würde.
Gewehrt hat er sich gegen seinen Vetter nicht:
„Zum einen war er ein ziemlich kräftiger Junge, und ich war so ein kleiner
Schmachthaken, und dann, ja, mein Vetter war auch der einzige Spielfreund,
den ich damals hatte, und für mich war klar: Ich bin jetzt hier und muss das
irgendwie durchhalten.”
Viele sexuell missbrauchte Jungen müssen ebenso wie missbrauchte Mädchen
mit dem Schock fertig werden, dass ein Mensch ihnen Leid antut, der ihnen
viel bedeutet oder den sie sogar lieben. Aus Angst, die Zuneigung zu
verlieren, aus dem Schuldgefühl, den Täter oder die Täterin zu einer
verbotenen Handlung verführt zu haben, aus Hilflosigkeit, aus Angst vor den
Reaktionen der Umwelt oder weil der Täter oder die Täterin mit Gewalt oder
anderen Strafen droht – aus all diesen Gründen schweigen die Kinder und
Jugendlichen.
Ein Junge, der sich hilfesuchend an Erwachsene wendet, wird nicht nur Angst
davor haben, dass ihn die Eltern zukünftig an die kurze Leine nehmen und
möglicherweise aus seinem Freundeskreis herausbrechen – ein von
betroffenen Jungen häufig genannter Grund, weshalb sie lange nichts von
den Übergriffen erzählen. Nicht wenige missbrauchte Jungen plagt zudem die
Angst, homosexuell zu sein, besonders, wenn ihnen die Zuwendung des
männlichen Anderen gefallen hat und die Stimulationen sie sexuell erregt
haben. Ist der Täter verheiratet und hat er Kinder, kann er in den Augen des
Jungen nicht homosexuell sein, weshalb der Junge dies von sich selbst
annehmen muss, hat er den Täter doch offenbar zu seiner Tat provoziert.
Wurde der Junge von einer Frau missbraucht und hat möglicherweise keine
sexuelle Erregung sondern Ekel empfunden, wird er möglicherweise zum
gleichen Schluss kommen. Die Freiburger Diplompsychologin Nele Glöer
schreibt: „Die Jungen fürchten sich vor dem Stigma der Homosexualität,
wenn sie von sexuellen Missbrauchshandlungen berichten. Eltern leugnen den
Missbrauch ihres Sohnes aus Angst, ihr Sohn gelte als homosexuell, und
selbst Tätern scheint es leichter zu fallen, den sexuellen Missbrauch von
Mädchen zuzugeben als den Missbrauch von Jungen.”
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Der Mann, der als Achtjähriger von seinem Vetter misshandelt wurde,
schilderte auch die seelischen Folgen seines Missbrauchs:
„Ich habe erst sehr spät gelernt, dass ich für mich unerträgliche Situationen
nicht unbedingt lange aushalten muss und ich auch mal sagen kann: ‚Jetzt ist
Schluss, Ende, ich will nicht mehr.‘ Ohnmachtsituationen und das Gefühl,
jemandem ausgeliefert zu sein, waren für mich immer ein Alptraum. Ich
wollte mich zum Beispiel auch als Erwachsener bei einer Schneeballschlacht
nie einseifen lassen, weil ich es nicht ertrug, noch mal der Unterlegene zu
sein. Ich habe dann immer ganz scharf reagiert, und die Leute, die ja nur mit
mir spielen wollten, verstanden überhaupt nicht, dass das für mich gleich
eine Ernstsituation war.”
Einige Täter und Täterinnen machen ihre Opfer mit Gewalt und Drohung
gefügig und demütigen sie auch in nichtsexuellen Situationen ohne Unterlass.
Andere begegnen den Jungen überaus freundlich. Sie erkaufen sich ihr
Vertrauen etwa durch besondere Privilegien (rauchen, Alkohol trinken,
Pornofilme anschauen etc.) und verstricken sie in ein Netz aus Geheimnis,
Geheimhaltungspflicht und Kumpanei. Kommt es dann zu sexuellen
Übergriffen, sitzen die Jungen in der Falle.
Zu den möglichen Folgen eines sexuellen Missbrauchs zählen alle Arten von
Verhaltensauffälligkeiten, die anzeigen, dass ein Junge oder Mädchen sich in
einer Notsituation befindet: Angstzustände, Depressionen,
Selbstmordversuche, Schulschwierigkeiten und vielfältige psychosomatische
Erkrankungen. Eine ausgesprochen missbrauchsspezifische Reaktion gibt es
nicht. Gleichwohl finden sich beispielsweise unter Strichern viele Jungen, die
etwa eine „Heimkarriere” hinter sich haben und in oft erdrückendem Maße
Trennung, Einsamkeit und (sexueller) Gewalt ausgesetzt gewesen sind. Die
Prostitution ist für die Jungen, von denen einige schon im Alter von neun,
zehn Jahren auf dem Strich gehandelt werden, dann die Fortsetzung von
dem, was sie zu Hause erlebt haben. Nun aber bekommen sie Geld dafür.
Manchen Strichern bedeutet der „Job” die einzige Möglichkeit, sich gegenüber
einem Erwachsenen einmal überlegen zu fühlen und dabei vielleicht auch ein
wenig Zuwendung abzubekommen.
Ich möchte noch ein drittes Beispiel eines sexuellen Missbrauchs geben, das
ich dem Buch „Frauen als Täterinnen: sexueller Missbrauch an Mädchen und
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Jungen” von Michele Elliott entnommen habe. In diesem in jeder Hinsicht
beeindruckenden Buch erzählen Frauen und Männer, wie sie als Kind von
einer Frau sexuell missbraucht und misshandelt wurden.
Das folgende Zitat stammt von einem Mann namens Richard, der im Alter
von sieben Jahren von seinen Eltern zu seiner Tante und seinem Onkel (der
viel unterwegs war) gegeben wurde. Die Tante, Ende zwanzig, schlug ihn bei
jeder Gelegenheit, auch aus den nichtigsten Anlässen, und zog ihm vorher
immer die Hose aus. Mit der Zeit führte sie nicht nur ein regelrechtes
Terrorregime über ihn aus permanenter Kontrolle, perfiden Regeln und
Strafen, sondern zwang ihn auch Schritt für Schritt zu sexuellen Handlungen
– zuerst in der Badewanne, später dann bei ihr im Bett. Er wagte nie, zu
widersprechen oder gar sich zu verweigern:
„Sie sagte, ich müsse ihr jetzt zeigen, wie sehr ich sie liebte. Frauen hätten
auch einen Penis, aber er wäre nur klein, und wenn ich sie liebte, würde ich
ihr zuliebe daran saugen. Sie legte sich hin und gab mir Anweisungen. Dann
legte sie mir ihre Hand auf den Kopf und sagte, sie würde mir ein Zeichen
geben, wenn ich aufhören solle. Das tat sie natürlich nicht; stattdessen
drückte sie mich immer fester herunter. Ich glaubte zu ersticken und
versuchte, mich aufzurichten. Jetzt weiß ich, dass sie einen Orgasmus hatte,
aber damals dachte ich, sie hätte Pipi in meinen Mund gemacht. Das war
zuviel, und ich erbrach mich über ihre Oberschenkel. Natürlich bekam ich
Schläge und ich musste wieder von vorn anfangen, nachdem sie noch einmal
gebadet hatte. Ich musste ihr oft zeigen, wie sehr ich sie liebte.”
Wenig später kam es wiederholt zum Koitus. Die Tante bläute dem Jungen
ein, dass er sie vergewaltigt habe. Wenn er das weiterhin nur bei ihr mache,
werde sie ihn jedoch nicht verraten. Jedes Mal wenn er eine Erektion
verspüre, müsse er zu ihr kommen und sagen: „Ich muss dich wieder
vergewaltigen Tantchen.” Hatte die Tante aus irgendeinem Grund keine Lust
dazu, schickte sie den Jungen weg mit der Aufforderung, jemand anderen zu
vergewaltigen. Der Junge versteckte sich dann und kam fast um vor Angst,
ins Gefängnis gebracht zu werden. Mit dreizehn Jahren durfte er wieder
zurück zu seinen Eltern. Mit vierzehn trat er den Hell Angels bei und lief
mehrmals von zu Hause weg... Erst sehr spät, als erwachsener Mann, fand er
den Weg zu einer therapeutischen Einrichtung, die ihm helfen konnte.
Sexuell übergriffige Kinder und Jugendliche
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Manche Jungen (und Mädchen) werden als Jugendliche oder Erwachsene
selbst zu Missbrauchern (oder Missbraucherinnen). Sie werden gegenüber
den Kindern oft in gleicher Weise übergriffig, wie sie es selbst erlebt haben:
die gleichen sexuellen Handlungen, ähnliche Orte, der gleiche
Altersunterschied. Im therapeutischen Gespräch fällt es ihnen oft sehr
schwer, den am eigenen Leib erfahrenen Missbrauch einzugestehen. Häufig
können sie sich in keiner Weise in ihre Opfer einfühlen. Tatsächlich finden
sich unter Tätern viele, die als Kinder selbst missbraucht wurden. In aller
Regel wurde ihr frühes Trauma in keiner Form bearbeitet, behandelt, geheilt.
Betont sei jedoch, dass nur ein Teil der missbrauchten Kinder diesen Weg
einschlägt. Wie groß ihr Anteil ist, lässt sich zwar nicht genau sagen, da es im
gesamten Feld keine verlässlichen Zahlen gibt. Die Erfahrung zeigt jedoch,
dass sehr viele diesen Weg nicht gehen, über das Erlebte hinwegkommen
oder lange Jahre (oft ein Leben lang) stumm und passiv leiden.
Psychodynamisch versuchen viele Missbraucher, mit ihrer pädo-sexuellen
Handlung den an ihnen einmal angerichteten Schaden auszugleichen, was
ihnen nur gegenüber Kleineren und Schwächeren möglich erscheint. Dabei
wird die Persönlichkeitsstörung bei weitem nicht immer durch einen sexuellen
Missbrauch verursacht. Jede länger anhaltende Lebenssituation, die von
Missachtung, Demütigung, Vernachlässigung und/oder Misshandlung geprägt
ist, kann zu späteren (aggressiven) Machtdemonstrationen führen, zumal die
Übergänge von körperlicher Misshandlung und sexuellem Missbrauch oft
fließend sind oder sich überlappen. Die späteren Täter bieten ihren meist
gezielt ausgewählten Kindern dann etwas an, das die Opfer oft schmerzlich
entbehren: Zärtlichkeit, liebevolle Zuwendung, soziale Anerkennung,
Bestätigung und überhaupt Interesse an ihrer Person.
Werner Meyer-Deters, Kindertherapeut und Leiter der Bochumer
Beratungsstelle „Neue Wege“, geht nach vieljähriger Erfahrung in der
Behandlung sexuell übergriffiger Kinder und Jugendlicher (zumeist Jungen)
davon aus, dass etwa die Hälfte aller erwachsener Sexualstraftäter schon als
Jugendliche sexuell übergriffig waren – häufig in Form eines
Geschwisterinzests. Im Jugendalter bestünden jedoch noch große Chancen zu
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verhindern, dass sie in ein chronisch sexualisiert-gewalttätiges Verhalten
hineinwüchsen und dann nur noch schwer therapierbar seien. Außerdem
zeige sich, dass der Großteil der sexuell übergriffigen Minderjährigen eine
durchaus amtlich dokumentierte Vorgeschichte habe, in der sie jedoch nur
selten als sexuelle Täter in Erscheinung treten, sondern als Opfer desaströser
Lebensverhältnisse. Ihr oft viele Jahre währendes Leiden an massiver Gewalt,
emotionaler Misshandlung, Vernachlässigung und Verwahrlosung führte in
den meisten Fällen jedoch zu keiner nachhaltigen Intervention, so dass in der
Regel erst das sexuell strafwürdige Verhalten die Aufsichts- und
Fürsorgeinstitutionen entschlossen auf den Plan gerufen hat.
Werner Meyer-Deters kommt wie viele seiner Kollegen und Kolleginnen
(allein in Nordrhein-Westfalen gibt es ein gutes Dutzend ähnlicher Stellen)
aus der Opferhilfe und kennt daher nicht nur beide Seiten des
Missbrauchsgeschehens, sondern weiß auch von der Doppelbelastung vieler
seiner Klienten als Opfer und Täter. Ziel der Arbeit mit ihnen sei es, dass sie
lernen, jene Krisen und Probleme zu bewältigen, die ihrem strafwürdigen
Verhalten zugrunde liegen. Dafür braucht es allerdings Therapeuten, die
bereit sind, den Jugendlichen wohlgesonnen zu begegnen und ihnen ihrer
selbst willen Hilfe anzubieten. Das kann und will nicht jeder leisten.
„Ich gehe von der These aus“, schreibt er in einem Aufsatz, „dass das sexuell
übergriffige Verhalten einen nicht immer bewusst wahrnehmbaren Sinn für
den Minderjährigen hat und er subjektiv im Moment der Tat keine Alternative
sieht, um sein wie auch immer geartetes Bedürfnis angemessen zu erfüllen
oder aufzuschieben. Weiter gehe ich davon aus (es sein denn, seinen
Lustgewinn zieht er aus dem Leiden seines Opfers ), dass er es vorziehen
würde, seine mit aktiver Sexualität verbundenen biologischen, psychischen
und sozialen Bedürfnisse auf sozial angemessene Weise zu befriedigen. Es
würde ihm dann selbst besser gehen, er würde niemand schädigen und sein
tiefes Bedürfnis nach Anerkennung und Verbindung mit anderen Menschen
würde nicht konterkariert. Wenn er sich nur subjektiv dazu in der Lage sähe,
sein Bedürfnis so zu befriedigen, ohne zugleich andere zu beeinträchtigen,
dann würde er dies vorziehen. Genau dazu sieht er sich aber nicht in der
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Lage.“
Beim sexuellen Übergriff spielten sowohl sexuelle Lust als auch der Wunsch
nach Nähe und Beziehung eine wichtige Rolle: „Der junge Mensch glaubt, den
Zustand einer Zufriedenheit so in besonders effektiver Weise zu erreichen,
mindestens für den Moment der Tat. Das intensive sexuelle Selbsterleben ist
der Kick, der die Illusion nährt, mit der Tat träte der Zustand einer Sättigung
und Entspannung ein.“ – Ein Versuch, so Werner Meyer-Deters, den eigenen
schweren Belastungen zu entkommen und sie zumindest für einen Moment
ungeschehen zu machen. Vor diesem Hintergrund erscheine die Tat als ein
hoch effektiver Ausweg aus innerer Not und Anspannung.
Da sich kaum ein Jugendlicher freiwillig in eine Therapie begibt und in der
Regel von staatlicher Aufsichtsseite geschickt werden muss, sitzen die
meisten im Erstgespräch mit der festen Erwartung und Furcht vor Ablehnung
und Verurteilung vor ihrem Therapeuten. Nun komme es darauf an, so
Werner Meyer-Deters – und nur dann bestehe Aussicht auf eine erfolgreiche
Therapie – den Jugendlichen in einen Prozess der Konfrontation mit seinem
schädigenden Verhalten und zugleich der Einfühlung in seine eigene Not zu
bringen. „Beispielsweise könnte man einem Minderjährigen sagen, der seine
kleine Schwester regelmäßig vergewaltigt: ‚Ich gehe davon aus, dass dir
daran liegt, sexuelle Erlebnisse in einer Weise zu haben, dass es dir gut
damit geht, es keinem schadet, sich niemand Sorgen macht und du mit dem
Gesetz nicht in Konflikt kommst. Dabei unterstütze ich dich gerne, darum
geht es hier, was meinst du dazu?’ So wird dem Jugendlichen eine positive
Perspektive angeboten. Er hört keine Forderung, sondern eher eine
Einladung; keine Drohung, sondern ein Unterstützungsangebot.“
In den meisten Fällen, sagt Werner Meyer-Deters, sei es möglich, die
betroffenen jungen Menschen dazu zu bewegen, ihr Leugnen, Bagatellisieren
und ihre Schuldverschiebungen auf die Opfer recht zügig aufzugeben und
sich auf eine nicht selten langjährige therapeutische Arbeit einzulassen, um
ihr sexuell übergriffiges Verhalten nachhaltig zu überwinden.
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Und:
Ist sexueller Missbrauch sexuelle Gewalt und gewalttätige Sexualität? Macht
dies für die Opfer einen Unterschied? In der Helfer-Szene herrscht darüber
keine Einigkeit. Fachlich unklar ist zuweilen auch die Frage, wie groß das
Gewaltpotenzial der gewöhnlichen Hetero- und Homosexualität ist und ob
sexuelle Gewalt nicht vor allem sozial entregulierte Sexualität ist, gleich
welcher Orientierung? Eine Begriffsklärung tut Not.
Nicht vergessen sollten wir außerdem die Stricher, ob vorpubertär oder
jugendlich. Und auch nicht die Abertausenden, die für kinderpornographische
oder jugendliches Frischfleisch verherrlichende Medien (aus)geschlachtet
werden. Unser gelegentliches Entsetzen reicht nicht aus. Es nützt ihnen
nichts. Sie bedürfen unseres Mitgefühls. Weil wir uns sonst nicht für sie
regen.
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