Contra Punctus - Health Academy

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Contra Punctus - Health Academy
Contra Punctus
Health Academy 12
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Die Sibylla Delphica – Von einer heidnischen
Seherin im christlichen Bild
K. Giese
Urbanstraße 175, D-10967 Berlin
1. Die Sibylla Delphica in der Sixtinischen Kapelle
Die mythische Sibylla Delphica Michelangelos (Abb. 1) gehört fraglos zu den bekannten und vielfach abgebildeten Frauengestalten der europäischen Kunst. Als Teil des
gigantischen Deckenfreskos Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle ordnet sie
sich in ein bis heute nicht abschließend gedeutetes ikonographisches Programm ein,
das die christliche Vorgeschichte – von der Erschaffung der Welt bis hin zur Sintflut –
thematisiert. Es handelt sich damit um die erste der drei theologischen Perioden, die
das „Buch Genesis“ im Alten Testament beschreibt und – da sie jene Zeitspanne vor
dem Empfang der Gesetzestafeln durch Moses umfasst – auch als „ante legem“ bezeichnet wird. Michelangelo, der dieses monumentale Werk zwischen 1509 und 1512
im Auftrag des Papstes Julius II. schuf, verwandelt diese Welt vor dem so genannten
„Alten Bund“ in einen Kosmos der frühen Menschheitsgeschichte (Abb. 2).
In der mittleren Zone, ausgehend vom Gewölbescheitel der Decke, entrollt sich in
neun aufeinanderfolgenden Szenen die Schöpfungsgeschichte der Welt: von der Erschaffung des Menschen und dessen Sündenfall über die Sintflut bis hin zur Trunkenheit Noahs als Neuanfang der Menschheit. Gerahmt werden diese zentralen Stationen
biblischer Geschichte von einem illusionistisch-architektonischen Gerüst aus Gurtbögen, Gesimsen und Konsolen, deren Vorsprünge, Absätze und Nischen durch Ignudi
sowie ein abwechselndes Aufgebot alttestamentarischer Propheten und heidnischer
Sibyllen bevölkert werden. An der nördlichen Längsachse sind dies die Delphische Sibylle, der Prophet Jesaja, die Cumäische Sibylle, der Prophet Daniel und die Libysche
Sibylle, gefolgt von dem Propheten Jonas auf der Altarseite, weiterführend entlang
der Südachse mit dem Propheten Jeremias, der Persischen Sibylle, dem Propheten
 Abb. 1 Michelangelo Buonarotti (1475–1564), Die Delphische Sybille, Ausschnitt aus dem Deckenfresko der
Sixtinischen Kapelle in Rom, 1509. © Vatikanische Museen, Rom.
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Giese: Die Sibylla Delphica
Abb. 2 Blick in die Sixtinische Kapelle im Vatikan zu Rom. © Vatikanische Museen, Rom.
Ezechiel, der Erythräischen Sibylle und dem Propheten Joel, um schließlich mit dem
Propheten Sacharja auf der Westseite gegenüber dem Altar den Kreis zu schließen.
In ihrer Bedeutung stark hervorgehoben, sind die Sibyllen neben den Propheten die
größten Figuren der Komposition. Sie beherrschen das Deckengemälde und lassen
die Szenen biblischer Geschichte in den Hintergrund treten. Als anscheinend real Anwesende nehmen sie eine Vermittlerrolle zwischen den narrativen Darstellungen und
dem Betrachter ein und knüpfen darüber hinaus eine Verbindung zu den unteren
Fresken an den Längswänden der Kapelle. Diese wiederum – ebenfalls von bekannten Künstlern der Renaissance und noch vor dem Deckenfresko geschaffen – schildern
den Fortgang der biblischen Heilsgeschichte. Szenen des Alten und des Neuen Testaments stehen sich hier typologisch gegenüber. Mit ihnen verbinden sich nicht minder
bedeutende florentinische und umbrische Künstlerpersönlichkeiten wie Botticelli, Penturicchio, Ghirlandajo, Perugino und Signorelli, die zu den besten ihrer Zeit gehörten.
Abgeschlossen wird das Bildprogramm der Sixtinischen Kapelle – einer Bibel in Bildern
gleich – von dem gewaltigen Inferno des Jüngsten Gerichtes an der Altarwand, das
wiederum von Michelangelo zwischen 1535 und 1541 geschaffen wurde.
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Abb. 3
Michelangelo Buonarotti (1475–1564),
Die Delphische Sybille, Ausschnitt aus
dem Deckenfresko der Sixtinischen
Kapelle in Rom, 1509.
© Vatikanische Museen, Rom.
Die Sibylla Delphica ist unter den Sibyllen als besonders schöne und nahezu madonnenhafte junge Frau charakterisiert (Abb. 3). Im Profil sitzend, dem Betrachter leicht
zugewandt, hat sie den Kopf erhoben und den Mund leicht geöffnet. Mit weit aufgerissenen Augen blickt sie entrückt in eine visionäre Welt jenseits von Zeit und Raum.
Im Moment ihrer seherischen Eingebung liegt ihre Rechte kraftlos auf ihrem Schoß,
selbst die Schriftrolle als Attribut ihrer Weisheit in der linken Hand lässt sie in der Anstrengung sinken.
2. Sibyllen im christlichen Bild?
Unter der Bezeichnung „Sibyllen“ subsumiert man weissagende Frauen des Altertums, die Ratsuchenden in Schicksalsentscheidungen göttlichen Willen offenbarten.
In der Antike waren diese Seherinnen integraler Bestandteil der Religionsausübung.
Durch ihre prophetischen Visionen übten sie großen Einfluss auf das gesellschaftliche und politische Geschehen aus.
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Abb. 4 Meister der Goslarer Sibyllen (tätig Ende 15./Anfang 16. Jh.), Malerei auf der Täfelung des Huldigungssaals
im Rathaus von Goslar, 1505–1510. © Karl Müller Verlag, Erlangen.
Michelangelo war nicht der erste Künstler, der Sibyllen zur Darstellung brachte. Sie
lassen sich bereits seit dem 12. Jahrhundert in der christlichen Kunst nachweisen. Ein
bedeutendes Beispiel sind die Cumäische und Erythräische Sibylle – zusammen mit
den Propheten Micha und Sacharja – auf dem 1432 vollendeten Genter Altar der Gebrüder Hubert und Jan van Eyck. Am Chorgestühl des Ulmer Münsters (1469–1474)
finden sich wiederum zehn Sibyllen als Bildwerke des Meisters Jörg Syrlin d. Ä. (um
1425–1491). Auch sie sind im Zusammenhang mit biblischen Propheten und darüber hinaus mit griechischen Philosophen dargestellt. Ein weiteres Beispiel, das hier
stellvertretend für viele andere stehen mag, bietet der zwischen 1505 und 1510 entstandene Huldigungssaal des Goslarer Rathauses (Abb. 4). Auf dessen Wandvertäfelungen hat der so genannte Sibyllenmeister, der im Umkreis von Dürer ausgebildet
wurde, drei dieser Frauengestalten im Kontext deutscher Kaiser veranschaulicht. Ihre
größte Beliebtheit erlangten die Sibyllendarstellungen jedoch in der Renaissance.
Michelangelos imposante Prophetinnen sind nicht zuletzt ein Ausdruck dafür.
Bei aller Bewunderung für die Delphische Sibylle des Sixtinischen Deckenfreskos, die
hier exemplarisch für alle anderen Sibyllen stehen soll, stellt sich jedoch die Frage:
Welche Rolle spielt eine heidnische Seherin im Kosmos biblischer Heilsgeschichte?
Wer war diese legendäre Seherin? Welche Bedeutung kommt ihr an einem so zentralen christlichen Ort wie der Sixtinischen Kapelle zu? Was prädestiniert sie, dass unter
ihren prophetischen Augen unzählige Päpste gewählt wurden? Ein Exkurs an die historische Stätte ihres Wirkens mag vielleicht Klärung bringen.
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Abb. 5
Omphalus, Der Nabel der Welt.
Steinerner Schrein des
Heiligtums von Delphi,
5. Jh. v. Chr.
© Athenaion Verlag.
3. Von Apollon und dem Nabel der Welt
Wenn sprichwörtlich „alle Wege nach Rom führen“ und damit gemeint ist, dass diese
Stadt den Mittelpunkt der christlichen Welt markiert, dann steht ihr Delphi in der
Vorstellung der Antike in nichts nach. Zeus selbst soll der Legende nach zwei Adler
an beiden entgegengesetzten Enden der Welt, im Osten und Westen, ausgeschickt
haben, um deren Zentrum zu bestimmen. Am Treffpunkt beider Greifen bestimmte
der Göttervater den Omphalus, den Nabel der Welt (Abb. 5). Delphi galt in der griechischen Antike als eines der bedeutendsten kultischen Zentren und als allgemeiner, verbindender kultureller Bezugspunkt der politisch zerstrittenen hellenischen Staaten.
Die erhabene Lage am Fuße des Parnass, zwischen schroffen Felshängen gelegen,
prädestinierten Delphi schon frühzeitig für einen mythischen Ort, an dem einer Naturgöttin gehuldigt wurde. Funde kleiner weiblicher Idole aus dem 13. Jahrhundert
vor Christus belegen diesen bestehenden archaischen Kult in mykenischer Zeit. Noch
bevor das jüngere Göttergeschlecht unter der Vorherrschaft des Zeus vom Olymp
herabstieg, war Delphi der Erdmutter Gaia geweiht. Ihr folgte Apollon nach. Als Heiligtum des Sonnengottes, der zugleich als Gott der Weisheit und des Orakels galt,
erlebte der Ort ab 800 v. Chr. eine unvergleichliche Blütezeit und wurde nunmehr
zum Nabel der Welt.
Den größten Einfluss erreichte Delphi zwischen 550 bis 480 v. Chr. Ein reger Ausbau
des Tempelbezirkes schloss sich an und dauerte bis in die Zeit um 200 v. Chr. an.
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Danach folgte eine Phase der Konsolidierung. Seine Anziehung und Ausstrahlungskraft behielt das Heiligtum aber durch die ganze Antike bis in die römische Kaiserzeit
und damit in die Zeit des frühen Christentums bei.
4. Von der Seherin und dem delphischen Orakel
Mit dem Aufstieg zum Apollonheiligtum entwickelte sich ein differenzierter Weissagungskult, der von den delphischen Sibyllen, den so genannten Pythien ausgeübt
wurde. Als Tempelpriesterinnen oblag ihnen die zentrale Funktion, den Hilfe suchenden Pilgern als Medien des Apollon in Form von Orakelsprüchen Rat in ihren
Schicksalsentscheidungen zu erteilen. Die Seherinnen wurden von Priestern und
Kultdienern unterstützt, die mit der formalen Organisation und Verwaltung der heiligen Stätte betraut waren. In ihre Hände fiel die logistische Aufgabe, die Pilgerströme
zu lenken und für einen ordnungsgemäßen Ablauf des Rituals zu sorgen. Darüber
hinaus legten die Priester gemeinsam mit den Hosoi, einem Rat von fünf aus Delphi
stammenden, geheiligten Männern, die Tage der Befragungen fest. In der Anfangszeit des Orakels wurden nur einmal jährlich am Geburtstag des Apollon Ratsuchende
vorgelassen. Später fanden die Weissagungen an jedem siebenten Tag eines Monats
statt und in den Sommermonaten auch an den Folgetagen.
Das eigentliche Orakelgeschehen vollzog sich im Tempel des Apollon. Zuvor hatten
sich die Pilger einer rituellen Reinigung zu unterziehen und Opfer darzubringen.
Sie bestanden in der Anfangszeit des Orakelwesens aus Opferkuchen, später aus
Geldgaben. Darüber hinaus waren Tiere als Brandopfer vorgesehen. Die strenge Einhaltung des festgelegten Rituals übernahm einer der so genannten Prophetes, ein
Orakelkünder, der die Ratsuchenden begleitete, wie im Drama „Ion“ des Europides
zu lesen ist. Ein anderer assistierte der Pythia und war im Tempel bei der Befragung
anwesend. Beide gehörten zur Priesterschaft.
Wie aber gestaltete sich der eigentliche Akt der Weissagung? Die spärlichen antiken
Quellen sind ungenau. Nach den Angaben z. B. von Platon und Plutarch lässt sich das
Prozedere etwa wie folgt rekonstruieren: In der Cella traten die Konsulenten vor das
Allerheiligste, das Adyton, wo sie die Pythia empfing. Auf einem Dreifuß sitzend, den
sie zuvor berührte, was als „Schütteln“ bezeichnet wurde, versetzte sich die Seherin
in eine visionäre Trance. In einer Hand hielt sie einen Lorbeerzweig, in der anderen
eine Schale. Das Innenbild einer attischen Trinkschale aus der Zeit um 440–430 v.
Chr. bestätigt diese Situation (Abb. 6). Sie ist die einzige gesicherte Darstellung einer
Pythia aus der griechischen Antike. Allerdings zeigt die Abbildung keine zeitgenössische, sondern eine legendäre Befragung, die den König Aigeius darstellt, der die
Göttin Themis, die hier als Pythia agiert, um seiner Kinderlosigkeit willen befragt.
Abb. 6
Themis als Pythia auf dem Dreifuß
prophezeit Aigus einen Sohn.
Attische Trinkschale aus Vulci,
um 440–430 v. Chr.
© Berlin, Antikenmuseum
Inwieweit die Szenerie also die historische Befragungspraxis in Delphi widerspiegelt,
bleibt unklar. Noch vor der Befragung hatte die Pythia sich selbst einem rituellen Bad
in der Quelle Kastalia unterzogen und vom Wasser der Kasotisquelle genossen, sodann Weihrauch entzündet und Blätter des Lorbeers, einem dem Apollon geweihten
Baum, gekaut. Dies alles diente der göttlichen Inspiration. Vermutlich richtete der
Konsulent seine Fragen nicht direkt an die Pythia, sondern wandte sich an den beiwohnenden Prophetes, der die Frage weitergab. Ob die Seherin dabei hinter einem
Vorhang verborgen war, gar Dämpfe aus einer Erdspalte atmete, um in Trance zu
fallen, wie einige Quellen berichten, konnte bis heute nicht bewiesen werden. Sicher ist, dass die Seherin ihren Ratschlag als einfache Ja- oder Nein-Antwort geben
konnte oder aber als komplexen, zuweilen verschlüsselten Orakelspruch formulierte.
Dabei sprach sie zumeist in der ersten Person. Gewissermaßen als Medium des Apollon sprach der Gott direkt aus ihr heraus, sich ihrer Stimme bedienend. Da die meisten als authentisch angesehenen überlieferten Orakelsprüche in Versform vorliegen,
stellt sich die Frage, ob der anwesende Prophetes das von der Pythia Gesagte in Versform übersetzte oder als Protokollant der Weissagung den Orakelspruch erst für das
delphische Archiv übertrug. Sprach die Pythia gar selbst in Versen? Diese Fragen sind
heute ebenso wenig zu beantworten, wie die Vermutung, ob der Orakelkünder die
Weissagung durch Ausdeutung gegenüber dem Konsulenten beeinflusste.
In welcher Form die Pythia auch immer ihre Weissagung übermittelte, geblieben ist eine
umfangreiche Überlieferung von Orakelsprüchen, die von der großen Bedeutung des
delphischen Orakels in der Antike zeugen. Die besondere Stellung, die das Heiligtum
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die überragende Bedeutung des Orakels. Bis in die christliche Zeit hinein konsultierte
man die Seherin. Sogar nachdem Konstantin der Große das Christentum zur offiziellen Staatsreligion des Römischen Imperiums erhob, kam es zu einem berühmten als
historisch authentisch angesehenen Orakelspruch. Er gilt als die „letzte Weissagung“
der delphischen Pythia.
Der Neffe Konstantins, Kaiser Julian, versuchte den Glauben an die alten Götter wiederzubeleben und erklärte den alten Kult erneut zur Staatsreligion (361 n. Chr.). Als
er seinen Vertrauten Oreibasios nach Delphi schickte, um das Orakel zu rehabilitieren, soll er folgende Antwort von der Pythia erhalten haben:
Abb. 7
Die Ruine des Apollon-Tempels
in Delphi.
© Foto: Johann H. Addicks.
gegenüber den anderen Orakelstätten einnahm, war der große Einfluss auf politische,
religiöse und gesellschaftliche Entscheidungen in Griechenland und darüber hinaus.
So konsultierte man das Orakel, wenn es um ganz allgemeine Fragen des Gemeinwesens ging, wenn Kultreformen angestrebt wurden, wenn sich eine Stadt eine neue
Verfassung gab oder wenn städtische Neugründungen vorgenommen wurden.
Ihre größte Blüte und Macht entfaltete das Heiligtum während der Expansion und
Kolonisationszeit Griechenlands (ca. 750–530 v. Chr.), in der unzählige griechische
Siedlungen im gesamten Mittelmeerraum gegründet wurden. Jede dieser Städte unterhielt Gesandte, die regelmäßig in Delphi Rat einholten. Delphi war nun endgültig zum Nabel der Welt geworden. Erst mit dem Verlust der Freiheit der griechischen
Stadtstaaten an die hellenistischen Könige und später durch die Vorherrschaft Roms
büßte das Orakel die politische Vormachtstellung ein, ohne jedoch seinen Einfluss
ganz zu verlieren. Eine Nachblüte stellte sich nochmals um die Jahrtausendwende
zur römischen Kaiserzeit ein und reichte damit in die Zeit des frühen Christentums.
5. Das delphische Orakel in christlicher Zeit und die
Prophetinnen des neuen Glaubens
Wenn man sich in der Antike des geflügelten Ausspruchs „vom Dreifuß“ – in Anspielung auf den Sitz der Pythia – im Zusammenhang einer Aussage bediente, so drückte
das, ähnlich dem Begriff „ex cathedra“ der römisch-katholischen Kirche, eine unumstößliche Wahrheit aus. Auch darin manifestiert sich die allgemeine Gültigkeit und
Saget dem Herrscher, zerstört liegt die kunstgesegnete Stätte,
Phoibos besitzt kein Dach mehr und keinen prophetischen Lorbeer;
Verstummt ist der sprechende Quell, es schweigt das murmelnde Wasser.
Der alte Gott Apollon war sprachlos geworden. Bereits nach dem Tod Julians (363 n.
Chr.) kehrte sein Nachfolger zum christlichen Glauben zurück.
Es verwundert daher nicht, dass die frühen Christen sich bei der Popularität der Institution das Orakel zu Nutze machten. Sie forcierten „delphische Orakelsprüche“ als
politisches Instrument, um ihren neuen Glauben zu rechtfertigen. Eine Legende berichtet, dass sich Kaiser Augustus (um 12 n. Chr.) nach Delphi begab, um die Pythia
zu befragen, wer nach ihm Kaiser werden würde. Als die Seherin stumm blieb und er
nach ihrem Schweigen fragte, erwiderte sie:
Ein hebräischer Knabe, größer als alle Götter befiehlt mir,
dieses Haus zu verlassen, in den Hades zurückzukehren.
Verlass also schweigend unsere Altäre.
Die Zeit der alten Götter neigte sich dem Ende zu. Heute gelten diese Orakelsprüche, die von der Ankunft Christi künden, als Erfindungen, die später zur Wahrheit
erklärt wurden. Ihre nachhaltige Wirkung für das junge Christentum lag darin, eine
unüberwindbar scheinende Brücke zwischen dem heidnischen und dem christlichen
Glauben zu schlagen. Die Weissagungen verhalfen dazu – über die Propheten des
alten Testaments hinaus – eine geschichtliche Kontinuität herzustellen. Die Welt der
Heiden konnte sich nun bruchlos mit der neuen Zeit verbinden. In diesem Zusammenhang wird verständlich, warum die Christen die Delphische Sibylle und ihre antiken Schwestern, denen man vergleichbare Visionen nachsagte, später in den Rang
von Prophetinnen des neuen Glaubens erhob und sie fast gleichrangig neben die
Propheten des Alten Testaments stellte. War zuerst nur die griechische Herophile
von Erythräa als Ankünderin des Gottessohnes bekannt, kamen später die Sibylle
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von Cumä, die von Samos, die Tiburtinische und nicht zuletzt die Delphische hinzu.
Später wurde die Zahl analog zu den alttestamentarischen Propheten auf die Zahl
zwölf erhöht. Damit hatte sich die Theologie heidnische Seherinnen zu christlichen
Prophetinnen anverwandelt und über die jüdische Überlieferung hinaus den männlichen biblischen Propheten weibliche Pendants zur Seite gestellt.
In der Frührenaissance gewann die Darstellung der Sibyllen neue Aktualität. Mit dem
sich entwickelnden Humanismus, der die antike Kultur zum Vorbild und den Mensch
zum Maßstab aller Dinge erklärte, wurden antike Sujets bzw. christliche Themen in
antikem Gewand zu einem wichtigen Leitmotiv in der abendländischen Kunst. Zwar
waren das antike Schrifttum und die Philosophie durch das ganze Mittelalter hindurch nicht vergessen und in die theologischen Diskurse einbezogen worden, das
neue Weltbild der Humanisten unterschied sich nun aber wesentlich von dem der
scholastischen Theologen. In einer emanzipierten Sicht auf die antike Kultur und
durch deren Wiederbelebung entwickelte sich ein neues Wertesystem, das dem Individuum eine bis dahin ungeahnte Stellung einräumte. Ein gewaltiger Paradigmenwechsel erschütterte das alte christliche Weltbild.
Doch die Auseinandersetzung mit dem neuen „antiken“ Gedankengut blieb gefährlich. Unter dem einsetzenden Druck der Reformation, welche die Autorität des Papsttums als Nachfolger Petris in Frage stellte, verschärfte sich die römisch-katholische
Reaktion und mündete in der Gegenreformation. Wenn man sich vergegenwärtigt,
dass bereits 23 Jahre nach der Enthüllung des „Jüngsten Gerichts“ Michelangelos –
noch in dessem Todesjahr – die Nacktheit seiner dargestellten Figuren derartigen Anstoß erregte, dass ein Schüler des Meisters, der so genannte „Höschenmaler“, die Blößen 1564 übermalen musste, wird dies umso deutlicher. Schon der niederländische
Papst Hadrian IV., der 1522 sein Amt antrat, hatte die ausgemalte Kapelle als vulgäres
Badehaus bezeichnet und drohte sogar damit, die Deckenfresken herauszuschlagen.
Neben der vorbehaltslosen und anhaltenden Bewunderung für die Fresken gab es
also schon früh kritische Stimmen. Spätestens jedoch nach der Fertigstellung des
Jüngstens Gerichts, dessen Entstehung in der Reformationszeit lag, waren die Proteste um so lauter geworden.
Die Rezeption und Verwendung antiker (zumal bekleideter) Sibyllen mit ihrem christlichen Bezug musste dagegen unverfänglich erscheinen. Vielleicht erklärt sich auch
daraus ihre Beliebtheit in der Kunst seit der Frührenaissance. Ihr vermehrtes Auftreten
zu dieser Zeit – wie die erwähnten Beispiele der Goslarer Sibyllen und jene des Ulmer
Chorgestühls in der Nachbarschaft von griechischen Philosophen – muss im Kontext
des aufkommenden Humanismus gesehen werden. Die Darstellungen der fünf Sibyllen Michelangelos am Gewölbe der Sixtinischen Kapelle gelten zweifellos als deren
kunstgeschichtlicher Höhepunkt. Sie schlagen symbolisch wie theologisch nicht
nur eine Brücke zwischen Antike und Christentum (also zwischen Vergangenheit
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und Gegenwart), sondern waren – wie alle Figuren Michelangelos in der Sixtina – in
ihrer künstlerisch-formalen Gestaltung auch zukunftsweisend. Beispielhaft mag dies
die antithetische Haltung und Physiognomie der Sibylla Delphica vermitteln: In der
gedrehten Haltung ihres Körpers, die Beine nach links zeigend, den Oberkörper wendend und die Augen nach rechts aus dem Bild schweifend, ist der innere Prozess der
Prophetie, der von der Vergangenheit ausgehend in der Gegenwart die Zukunft deutet, meisterhaft umgesetzt. Jene expressive Art der Darstellung, die über die bewegte
Körpersprache nach einem Ausdruck des inneren Zustandes der menschlichen Seele
trachtete, war neu. In der Sibylla Delphica hat Michelangelo jenes stilistische Moment vorformuliert, was später viele Künstler zur „figura serpentina“ steigerten, die
zum Repertoire des so genannten Manierismus gehören sollte.
6. Literatur
[1]
[2]
[3]
[4]
[5]
[6]
[7]
Bestmann L: Michelangelos Sixtinische Kapelle, München 1999.
Maaß M (Hrsg.): Delphi – Orakel am Nabel der Welt. Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Badischen Landesmuseums Karlsruhe.
Sigmaringen 1996.
Flaum E, Pandy D (Hrsg.): Enzyklopädie der Mythologie – Götter, Helden und
Legenden der Griechen und Römer von A–Z, Essen o. J.
Giebel M: Das Orakel von Delphi – Geschichte und Texte, Griechisch/Deutsch,
Stuttgart 2001.
King R: Michelangelo und die Fresken des Papstes, München 2003.
Honour H , Fleming J: Weltgeschichte der Kunst, München 1983.
Wolf R, Millen R: Die Geburt der Neuzeit, Baden-Baden 1968.