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Inhalt 7 Einführung Erstes Buch EUROPÄISCHE PROPHETEN UND VISIONÄRE Von Sibyllen, »Hexen« und Druiden 12 18 21 32 35 44 52 60 69 79 86 92 99 104 Die Pythen und Sibyllen des Mittelmeerraums Die keltogermanische Seherin Veleda Der britannische Druide Merlin Die isländische Edda Der Tempelritter Johannes von Jerusalem Hildegard von Bingen Mother Shipton Nostradamus Die Sibylle von Prag Der Mühlhiasl Die Seherin von Prevorst Die Schauungen von Fatima Anton Johansson Alois Irlmaier Zweites Buch BLICK AUF DIE ANDEREN KONTINENTE Von Palästina bis zu den Aborigines Erster Teil Jüdischer Kulturkreis 116 124 132 143 725607_Umbr.indd 5 Der biblische Visionär Ezechiel Jeschu von Nazareth Johannes von Patmos Theodor Herzl 22.07.10 08:22 Zweiter Teil Islamischer Kulturkreis 150 160 Mohammed Der Mahdi Hazrat Ahmad Dritter Teil Asiatischer Kulturkreis 164 168 174 Siddharta Gautama, der Buddha Padmasambhava Mirza Husayn Ali Nuri Vierter Teil Amerikanischer Kulturkreis 179 184 188 194 200 Die Weltenende-Stelen der Mayas Prophezeiungen der Azteken und Inka Der Geistertänzer Wovoka Sun Bear Edgar Cayce Fünfter Teil Afrikanischer und australischer Kulturkreis 208 211 217 Das Orakel von Siwa Nicolaas van Rensburg Die Traumzeit der Aborigines 224 226 229 Nachwort Glossar Ausgewählte Literatur 725607_Umbr.indd 6 22.07.10 08:22 Einführung Vor 18.000 Jahren im nördlichen Spanien: In einer riesigen Höhle haben sich altsteinzeitliche Jäger um einen Schamanen versammelt. Lodernde Feuerbrände beleuchten farbige, meisterlich gemalte Tierbilder an den Wänden der Kaverne. Die Bisons, Hirsche, Urpferde und Wildschweine scheinen sich im flackernden Fackelschein zu bewegen, scheinen Leben zu gewinnen. Ein Trommler bemüht sich, das schattenhafte Zucken der Tierleiber akustisch zu untermalen; der in Felle gekleidete Steinzeitschamane beginnt entrückt zu tanzen – und schließlich fällt der Geistführer der Jägersippe in Trance. Der Schamane wird mental zum Wildtier; seine Seele zieht mit den Bisons und Urpferden, mit den Hirschen und Wildschweinen durch die Wälder. Sein Geist wird eins mit ihrem Wesen; sein Herz bittet die Tiere um das Geschenk ihres Fleisches, das für die Menschen überlebensnotwendig ist. Und dann empfängt der Urzeitschamane die ersehnte Gabe. Er erkennt, welche Tierwesen sich den existentiellen Bedürfnissen der Steinzeitsippe opfern wollen – und nachdem sich der Geistführer der Jägergemeinschaft wieder aus seiner Trance gelöst hat, teilt er den anderen stammelnd mit, wann und wo die Jagd auf bestimmte Tiere erfolgreich sein wird. *** Die geschilderte Szene, die in der weltberühmten Höhle von Altamira mit ihren faszinierenden altsteinzeitlichen Wandmalereien spielt, ist fiktiv. Doch sie könnte laut Einschätzung von Archäologen und Anthropologen durchaus so oder so ähnlich stattgefunden haben, und was den spirituellen Charakter der Altamira-Höhle und ähnlicher vorgeschichtlicher Fundstätten betrifft, so sind sich die modernen Wissenschaftler aufgrund von entsprechenden Ausgrabungsergebnissen weitestgehend darin einig, daß die Menschheit bereits seit ihren frühesten Tagen religiöses Bewußtsein besaß. Davon zeugen beispielsweise Beigaben in den Gräbern von Neandertalern, die auf den Glauben an ein Fortleben nach dem Tod schließen lassen, und vermutlich waren es in jener fernen Epoche des Mittelpaläolithikums (ca. 130 000–30 000 v. d. Z.) Schamanen, welche die Unsterblichkeit der Seele oder des Geistes lehrten. Auch in den darauffolgenden Jahrtausenden wirkten diese Jenseitsreisenden, Heiler und Visionäre in Europa und auf den übrigen Kontinenten, und in manchen Regionen der Erde existiert die schamanische Spiritualität bis heute. So etwa bei den Lappen im nördlichen Skandinavien, bei sibirischen Nomadenstämmen, in den überlebenden Naturreligionen Afrikas, Australiens oder Südamerikas und ebenso in den 7 725607_Umbr.indd 7 22.07.10 08:22 USA und Kanada, wo die noch aktiven Schamanen der indianischen Urbevölkerung zumeist als Medizinmänner beziehungsweise Medizinfrauen bezeichnet werden. In dieser ungebrochenen schamanistischen Traditionslinie läßt sich ein Grundelement menschlicher Spiritualität erkennen; ein uralter religiöser und visionärer Strom, der sich sodann im Verlauf der Millennien vielfach verzweigte und weitere Ausformungen des spirituellen Suchens und Erkennens hervorbrachte. So entstanden die polytheistischen Religionen mit ihren Priestern und Priesterinnen, die einer Vielzahl von Gottheiten dienten; später kamen Buddhismus und hebräisch-jüdischer Monotheismus sowie die ebenfalls monotheistisch definierten Glaubensrichtungen des Christentums und des Islam hinzu – doch im Hinduismus, im japanischen Schintoismus* und in den bis in die Gegenwart herauf existierenden Naturreligionen blieb auch polytheistische Spiritualität erhalten. So unterschiedlich diese Glaubensrichtungen auch sind, haben sie doch einige Grundelemente gemeinsam. Zum einen wurden und werden sie – von negativen Ausnahmen abgesehen – durchweg von Menschen mit besonderen mentalen Fähigkeiten repräsentiert: von Schamanen, Priestern, Auslegern sakraler Texte oder sonstigen geistigen Lehrern und Führern. Und zum anderen brachten all die verschiedenen Religionen immer wieder Visionäre und Propheten hervor: Erleuchtete, die in ihrem Kulturkreis und manchmal sogar weit darüber hinaus als Wegbereiter für hohe ideelle Werte oder auch als Warner vor verderblichen politischen, sozialen oder ökologischen Fehlentwicklungen wirkten. Bereits in den ältesten Schriften der Menschheit tauchen solche Meister der Geistreise in verborgene Dimensionen auf; Geistreisende, die jene verschleierten Bereiche betraten, zu denen gewöhnliche Individuen keinen Zugang finden. Schon im sumerischen Gilgamesch-Epos, dessen Ursprünge aus der Mitte des dritten vorchristlichen Jahrtausends stammen, wird geschildert, wie Gilgamesch, der König von Uruk, ins Land der Gottheiten und der Toten vordringt, um dort das Geheimnis der Unsterblichkeit zu enträtseln. Beschreibungen von Jenseitsreisen und Verhaltensmaßregeln für den Aufenthalt in der Götter- und Totenwelt finden sich auch in altägyptischen Texten, wie etwa dem berühmten Totenbuch, wo es beispielsweise unter Bezug auf einen bestimmten Abschnitt der genannten sakralen Schrift heißt: »Wenn der Verstorbene dieses Kapitel kennt, wird er in der Unterwelt zu einem geheiligten Geist werden. Er wird dort nicht zum zweiten Mal sterben. Zu Osiris’ Füßen sitzend, wird er dort seine Nahrung empfangen.« Und aus Irland wiederum ist das keltische Cúchulainn-Epos überliefert, das in seinen ältesten Erzählkernen circa 2000 Jahre alt ist und in dem unter * Erklärungen seltener Begriffe: siehe Glossar. 8 725607_Umbr.indd 8 22.07.10 08:22 anderem geschildert wird, wie der menschgewordene Sonnengott Cúchulainn eine einjährige Reise in die Anderswelt unternimmt, um dort Erfahrungen mit Gottheiten, Feen und Verstorbenen auf spiritueller Ebene zu machen. Das Verborgene zu erschauen oder geistig in neue Dimensionen vorzustoßen – das sind die Ziele, die im Lauf der Menschheitsgeschichte wieder und wieder von Propheten beziehungsweise Visionären angestrebt wurden. Immer von neuem beschritt eine Elite von mental außergewöhnlich hochstehenden Männern und Frauen diesen faszinierenden Erkenntnispfad und führte dadurch oft auch andere Menschen zu Einsichten, die sie sonst nicht hätten erlangen können. Bei den Sehern, welche die Schleier des Zukünftigen lüfteten oder geistig in Dimensionen weit jenseits des Alltäglichen vorstießen, handelte es sich um Begnadete ganz unterschiedlicher Art: teils um Könige, Adlige oder hochrangige Angehörige polytheistischer oder monotheistischer Priesterschaften, teils um sogenannte einfache Leute wie Hirten, Bauern, Handwerker oder scheinbar Entwurzelte. Und eine ganze Reihe dieser Erleuchteten wollen wir nun auf einem Streifzug durch die Jahrtausende und über alle fünf Kontinente der Erde hinweg näher kennenlernen; sie, die Seher, sowie ihre häufig erschütternden Prophezeiungen oder ihre oft für die gesamte Menschheit wegweisenden Visionen. 9 725607_Umbr.indd 9 22.07.10 08:22 725607_Umbr.indd 10 22.07.10 08:22 Erstes Buch EUROPÄISCHE PROPHETEN UND VISIONÄRE Von Sibyllen, »Hexen« und Druiden 725607_Umbr.indd 11 22.07.10 08:22 Die Pythen und Sibyllen des Mittelmeerraums (Ca. 800 v. d. Z. bis spätes 4. Jahrhundert n. d. Z.) Langsam, wie entrückt wirkend, schreitet die Priesterin der Erdgöttin Gaia, der Urmutter allen Lebens, zum Omphalos: dem heiligen Nabelstein, welcher den Mittelpunkt der Welt markiert. Als sie den gerundeten Menhir erreicht hat, kniet die Pythia nieder und ehrt auf diese Weise die Drachenkraft, die auf dem Sakralberg pulst. Dann erhebt sich die Priesterin wieder und setzt ihren Weg zum Tempel der Göttin fort. Im kreisförmigen Sakralbau angelangt, nimmt die Pythia den beißenden Geruch der Dämpfe wahr, die aus einer Felsspalte im Zentrum des Tempelgebäudes aufsteigen. Direkt über dieser Spalte steht ein dreibeiniger Bronzeschemel, und auf ihm nimmt die Priesterin nun Platz. Sofort spürt sie den scharfen Dunst aus dem Erdinneren noch intensiver, und nachdem sie die unter dem Dreibein emporquellenden Dämpfe einige Zeit eingeatmet hat, verändert sich das Bewußtsein der Pythia. Es ist ihr, als würde sich ihr Geist über die Grenzen von Raum und Zeit hinaus ausweiten; sie empfindet die innige Nähe Gaias und fällt gleich darauf in Trance. Jetzt geben andere Priesterinnen einem vor dem Tempel wartenden Mann die Erlaubnis zum Betreten der Weihestätte. Der Ratsuchende, der von edler Geburt ist, begibt sich in das Heiligtum, legt eine Opfergabe zu Füßen der Pythia nieder und stellt die wichtige Frage, die ihn schon seit Monaten bewegt. Um eine von der Göttin inspirierte Antwort zu erhalten, ist er von weither zum Pythentempel gepilgert – und nach einer Weile spricht die entrückte Priesterin mit schwerer Zunge und erteilt dem atemlos lauschenden Adligen den Bescheid Gaias. *** So könnte es vor etwa 2800 Jahren gewesen sein, als der spätere klassischgriechische Orakeltempel von Delphi noch nicht erbaut war. Der Ort, wo der ursprüngliche Göttinnenschrein stand, wurde in jener fernen Zeit Pytho genannt: nach einer geflügelten Drachenschlange, einem Python, welcher nach der Lehre der frühgriechischen Religion von der Erdgöttin Gaia geboren worden war. Der heilige Python besaß präkognitive Fähigkeiten – und dasselbe galt für die Pythen, die Orakelpriesterinnen, die ihm und Gaia dienten. Diese Frauen, die von Generation zu Generation auf dem dreibeinigen Hocker über der Felsspalte saßen, hatten dank ihrer prophetischen Gabe immensen Einfluß auf die altgriechischen Stämme. Und das änderte sich auch später nicht, als im fünften vorchristlichen Jahrhundert aus der PythoWeihestätte ein Apollon-Heiligtum nahe der nunmehr entstandenen Stadt Delphi wurde. Nach wie vor weissagten die Pythen, wie sie noch immer 12 725607_Umbr.indd 12 22.07.10 08:22 genannt wurden, den Pilgern, die jetzt aus dem ganzen Mittelmeerraum zu ihnen kamen. Bei den Ratsuchenden handelte es sich um Könige und Aristokraten aus den mediterranen Stadtrepubliken, um Stammesfürsten und Feldherren, um Philosophen und Dichter, aber auch um Händler, Seeleute, Krieger, Bauern und Handwerker. Und die Pythen gaben ihnen von Jahrhundert zu Jahrhundert Antworten auf ihre Fragen, wobei die Orakelsprüche allerdings oft dunkel und zweideutig waren, wie die folgenden Beispiele zeigen. Im Jahr 546 v. d. Z. plante Krösus, der ungemein reiche König von Lydien, einen Feldzug gegen den persischen Herrscher Kyros II. Ehe er mit seinem Heer in den Krieg zog, befragte er die Pythia von Delphi über den Ausgang des militärischen Unternehmens und erhielt die Auskunft: »Wenn Krösus den Halys überschreitet, wird er ein mächtiges Reich zerstören.« Der Halys ist der heutige Fluß Kizilirmak in der Türkei; er stellte im sechsten vorchristlichen Jahrhundert die Grenze zwischen dem lydischen und dem persischen Reich dar, und Krösus interpretierte den Orakelspruch der Pythia in seinem Sinne: daß er nach der Überquerung des Grenzflusses das Perserreich vernichten würde. Doch dann verlor Krösus die Entscheidungsschlacht gegen Kyros – und die Folge war der Untergang seines eigenen lydischen Königreiches. Einen weisen Rat erhielt der Athener Feldherr Themistokles anno 480 aus dem Mund der Pythia von Delphi. In jenem Jahr bedrohte eine starke persische Flotte den Stadtstaat Athen, und die Orakelpriesterin forderte Themistokles auf: »Athener, verlaßt eure Stadt und verteidigt sie mit hölzernen Mauern.« Der Feldherr setzte daraufhin die starke Kriegsflotte des Stadtstaates im Kampf gegen die Perser ein: Mit einer »Mauer« aus hölzernen Schiffen, und auf dem Höhepunkt des Krieges besiegte er die Feinde in der berühmten Seeschlacht von Salamis. Auch Alexander der Große befragte anno 335 die Pythia. Er wollte wissen, wie der von ihm geplante Feldzug gegen den Perserkönig Dareios III. enden würde und ob er Dareios stürzen könne. Die Orakelpriesterin gab Alexander jedoch zunächst keine Antwort, sondern beschied ihn, daß er zur unrechten Zeit zu ihr gekommen sei und daß sie ihm deshalb keine Auskunft erteilen könne, weil sie nur an den von den Göttern dafür vorgesehenen Tagen weissage. Daraufhin wurde Alexander zornig. Er packte die Pythia an den Haaren und wollte sie gewaltsam in den Apollontempel zerren, damit sie ihm dort trotz der ungünstigen Zeit mit einem Orakelspruch dienstbar sein sollte. Die Priesterin aber wehrte sich und rief aus: »Laß ab von mir! Du bist ja unüberwindlich, Junge!« 13 725607_Umbr.indd 13 22.07.10 08:22 Alexander gehorchte; er gab die Pythia wieder frei und sagte zufrieden: »Nun habe ich meine Auskunft dennoch bekommen.« Und später dann bewahrheiteten sich die Worte der Pythia über die Unbesiegbarkeit Alexanders, denn er schlug Dareios in der Schlacht von Gaugamela und eroberte das Perserreich. Rund 700 Jahre nach dem triumphalen Sieg Alexanders des Großen sagte die Pythia von Delphi den Untergang ihres eigenen Tempelheiligtums vorher. Es geschah im Jahr 362 n. d. Z. Damals wurde das Römische Imperium von Flavius Claudius Julianus regiert, der von den Christen, die seit dem Jahr 313 im Römischen Reich mächtig geworden waren, als Julianus Apostata, Julian der Abtrünnige, bezeichnet wurde, weil er kein Christ war, sondern eine Renaissance des Heidentums anstrebte. Ungeachtet dessen unterdrückte Julian das Christentum nicht; er wünschte sich vielmehr eine friedliche Koexistenz zwischen dem alten Polytheismus und dem neuen Monotheismus, und trotzdem wurde er von den meisten christlichen Patriarchen und Bischöfen haßerfüllt angefeindet. In dieser Situation sandte der Kaiser anno 362 seinen Leibarzt Oribasius nach Delphi. Im Auftrag Julians fragte der Arzt die Orakelpriesterin, ob die heidnischen Riten in einer zunehmend christlicher werdenden Welt noch eine Zukunft hätten, und die Pythia beschied ihn: »Verkünde dem Herrscher: Eingestürzt ist die heilige, schön gefügte Halle. Apollon besitzt keine Zuflucht mehr. Der sakrale Lorbeer ist verwelkt, die Quellen schweigen auf immer, verstummt ist das redende Wasser.« Im darauffolgenden Jahr 363 wurde Kaiser Julian in einer Schlacht gegen die persischen Sassaniden von einem Römer ermordet, und viele Zeitgenossen sowie zahlreiche Historiker späterer Zeiten vermuteten, daß der Attentäter im Auftrag christlicher Kirchenführer handelte. Die uralte Orakelstätte von Delphi wurde schon bald nach dem Tod des Kaisers geschlossen; anno 394 ließ der christliche Imperator Theodosius I. die letzte Pythia vertreiben – und damit hatte sich die Weissagung der Seherin aus dem Jahr 362 erfüllt. *** Den antiken griechischen Pythen entsprachen von ihrer Bedeutung als heidnische Orakelpriesterinnen her die römischen Sibyllen. Sie prophezeiten vorzugsweise in Höhlen, manchmal auch in anderen steinernen Naturheiligtümern, und religionsgeschichtlich läßt sich die südeuropäische Priesterinnenkaste der Sibyllen wahrscheinlich auf den kleinasiatischen Kybele-Kult, eine Erdmutterreligion, zurückführen. Dieser Kult der Kybele ist in Kleinasien bis zurück ins siebte vorchristliche Jahrhundert nachgewiesen; wenig später gelangte er auch nach Italien, und die Priesterinnen der Erdmutter ließen sich zunächst in einer bis heute erhaltenen Grotte bei der Stadt Cumae (unweit von Neapel) nieder. Eine 14 725607_Umbr.indd 14 22.07.10 08:22 dieser Sibyllen, wohl die Oberpriesterin, soll nach einer römischen Legende 520 v. d. Z. mit dem letzten römischen König Tarquinius Superbus zusammengetroffen sein und ihm neun Schriftrollen mit Weissagungen über die Zukunft der Welt zum Kauf angeboten haben. Weil die Sibylle aber einen horrenden Preis für die Buchrollen verlangte, lehnte der König ab. Daraufhin verbrannte die Seherin drei der Bücher und bot Tarquinius Superbus die übrigen sechs für denselben hohen Kaufpreis wie zuvor an. Wieder weigerte sich der König, die Schriftrollen zu erwerben, woraufhin die Sibylle nochmals drei von ihnen ins Feuer warf. Erst dann lenkte Tarquinius Superbus ein; er kaufte die noch übrigen drei Buchrollen zu dem Preis, den die Prophetin von Anfang an gefordert hatte, und verwahrte die Weissagungsbücher im Jupitertempel auf dem Kapitol von Rom. Dort sollen die Schriftrollen mehr als 900 Jahre gelegen haben, bis sie 405 n. d. Z., kurz nachdem das Christentum im Römischen Reich alleinige Staatsreligion geworden war, verbrannt wurden. So gingen die Prophezeiungen, die in den drei Büchern enthalten waren, zum allergrößten Teil verloren; auch die letzten Kybele-Priesterinnen Italiens verschwanden nach dem Sieg der christlichen Religion aus der Geschichte und erlitten damit ein ähnliches Schicksal wie die griechischen Pythen. Die Erinnerung an die Sibyllen blieb aber erhalten. Denn fast ein Jahrtausend lang waren die Sibyllinischen Bücher auf dem Kapitol von den Herrschern Roms bei schwierigen politischen Entscheidungen zu Rate gezogen worden, und darüber hinaus hatten die Kybele-Priesterinnen im Jahr 204 v. d. Z. das Sakralzentrum ihrer Erdmutterreligion von Cumae an den Tiber verlegt. Damals hatten sie einen von ihnen gehüteten heiligen Stein der Kybele in eine Höhle auf dem Gebiet der Stadt Rom gebracht, und von da an hatten sie den Senatoren und Kaisern sowie zahllosen römischen Bürgern geweissagt. Jahrhundert um Jahrhundert waren die Menschen zu den Sibyllen gepilgert, so daß das Andenken an die weisen Frauen auch nach ihrer Vertreibung aus der Tiberstadt bewahrt blieb. Mehr noch: Der nachwirkende Nimbus der heidnischen Sibyllen war so stark, daß Juden und Christen ihn für die Verbreitung ihrer eigenen Lehren zu nutzen versuchten. So entstanden ab dem sechsten Jahrhundert jüdischchristliche »Sibyllinische Bücher«, die, um sie uralt erscheinen zu lassen, in antiken Hexametern verfaßt waren, jedoch frühmittelalterliches monotheistisches Gedankengut verbreiteten. Diese Texte enthalten eine Vielzahl moralischer Ermahnungen sowie apokalyptische Szenarien, wie sie ähnlich in der Bibel und in den Endzeitvisionen des Johannes von Patmos zu finden sind. Mit den echten Sibyllenprophezeiungen haben sie im Regelfall nichts zu tun; einige Weissagungsfragmente aus dem Mund der Kybele-Priesterinnen könnten sich jedoch in den »Sibyllinischen Büchern« der Juden und Chri15 725607_Umbr.indd 15 22.07.10 08:22 sten erhalten haben. Wir werden gleich noch darauf zurückkommen; zuvor aber eine authentische Beschreibung der antiken Prophetinnen, die von dem griechischen Philosophen Heraklit von Ephesos (ca. 550–480) stammt. Heraklit schilderte eine der geheimnisvollen Frauen so: »Die Sibylle spricht mit rasendem Mund, ohne Lachen, ohne Schminke und ohne Myrrhen, und dringt dank göttlicher Hilfe mit ihrer Stimme durch Jahrtausende.« Es handelte sich bei den Prophetinnen also offenbar um Frauen, die sich zum Zweck der Weissagung in Ekstase versetzten und darauf verzichteten, ihre Zuhörer durch kosmetische Tricks oder die Verwendung von Räucherwerk zu blenden, wie es möglicherweise Scharlatane taten. Indem Heraklit dies betont, stellt er den Sibyllen ein positives Zeugnis aus – und was nun wahre antike Sibyllen-Prophezeiungen betrifft, die in die oben erwähnten jüdisch-christlichen Weissagungsbücher Eingang gefunden haben könnten, so lassen sich im dritten Buch jener frühmittelalterlichen Schriften unter anderem die folgenden Textstellen finden: »Es wird auch einstmals unversehens kommen auf den glücklichen Boden von Asien ein Mann, der mit purpurnem Gewand um die Schultern gekleidet ist; wild, ein fremdes Recht habend, flammend. Es erweckte aber zuvor diesen Mann ein Blitzstrahl. Ein böses Joch wird ganz Asien tragen, und die Erde wird sehr viel Blut von Gemordeten trinken. … Durch das Geschlecht, das er ausrotten will, wird sein eigenes Geschlecht vertilgt werden.« In diesen Sätzen könnte man den Mongolenherrscher Dschingis Khan erkennen. Unversehens vereinigte er in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts die bis dahin rivalisierenden Stämme der mongolischen Nomaden und setzte sich als Alleinherrscher (als der er im antiken Rom den Purpur getragen hätte) an ihre Spitze. Er war in der Tat von wilder, »flammender« Eroberungslust und folgte fremdartigen, den Europäern unbekannten Gesetzen. Mit seinen Reiterheeren unterwarf er praktisch ganz Asien, und seine Kriegszüge forderten entsetzlich viele Menschenleben. Zuletzt aber, im Jahr 1227, fand er selbst ein grausames Ende durch die Hand einer jungen tungusischen Adligen, die er sich als Bettsklavin genommen hatte. Die junge Frau entmannte ihn mit einem möglicherweise vergifteten Messer, das sie an ihrem Körper versteckt hatte. So starb Dschingis Khan durch die Angehörige eines Adelsgeschlechts, das er entmachtet hatte, und der Tod traf ihn an seinem eigenen Geschlecht. – Auf diese Weise läßt sich die Prophezeiung Punkt für Punkt interpretieren; im dunkeln bleibt lediglich die Aussage, wonach Dschingis Khan vor seinem Aufstieg zur Herrschaft durch einen Blitzstrahl »erweckt« worden sei. Weiter heißt es im dritten Buch der Sibyllen-Weissagungen: »Italia! Dir wird kein fremder Krieg kommen. Sondern einheimisches Blutvergießen, vielbeklagtes, keineswegs geringes, vielbejammertes, 16 725607_Umbr.indd 16 22.07.10 08:22 wird dich, du Schamlose, verwüsten. Und du selbst, Italia, neben heißer Asche darniederliegend, wirst durch das Unglück, das deinem Herzen nicht vorhersehbar war, zerfleischt werden. Und du wirst nicht Mutter edler Männer, sondern Amme wilder Tiere sein.« Auch diese Prophezeiung enthält keine jüdischen oder christlichen Elemente; vielmehr klingt sie unverfälscht antik. Und von ihrer Aussage her schildert sie eine Entwicklung, die Italien lange nach der Zeit der Sibyllen tatsächlich traf. Nachdem das Weströmische Reich am Ende der Spätantike zusammengebrochen war, tobten in Italien zahlreiche Kriege. Es begann mit den Angriffskriegen der Byzantiner gegen die Ostgoten im sechsten Jahrhundert; später kämpften Langobarden und Franken auf der italienischen Halbinsel um die Macht, und in der Folge zersplitterte das Land in rivalisierende Fürstentümer; darunter der römische Kirchenstaat. Ständige Kämpfe waren über viele Jahrhunderte hinweg an der Tagesordnung, Italien wurde wahrhaftig zur »Amme« kriegslüsterner »wilder Tiere«; erst im 19. Jahrhundert fanden die Menschen auf der Halbinsel zur staatlichen Einheit zurück. Schließlich noch eine Sibyllen-Prophezeiung, in der auf erschreckende Weise die heutige Zeit kenntlich wird: »Wehe, blutrünstiges und arglistiges Geschlecht von Bösen und Gottlosen, von Lügnern und zweizüngigen bösartigen Menschen …, denen ein böser, rasender Trieb im Herzen wohnt, die für sich selber zusammenraffen, schamlosen Sinns. Denn niemand, der da reich ist und hat, wird einem anderen davon abgeben, sondern arge Schlechtigkeit wird bei allen Menschen sein.« Man könnte darin die Raffgier der neokapitalistischen Industriegesellschaften sehen; skrupellose Profitgier, die zu schrecklichem Werteverlust, Zusammenbruch des menschlichen Miteinander und zur Zerstörung der Natur führt. Ganz unverfälscht sibyllinisch-heidnisch scheint diese Weissagung allerdings nicht überall zu sein, denn es wird von »Gottlosen« gesprochen, und dies deutet auf einen monotheistischen, also jüdischen oder christlichen Denkansatz hin. Doch womöglich wurde hier eine ursprünglich heidnische Formulierung, in der von Göttern oder Gottheiten die Rede gewesen sein müßte, lediglich bibelmonotheistisch überformt. *** Die Faszination, die von den griechischen Pythen und italienischen Sibyllen ausgeht, ist bis heute ungebrochen. Dies liegt vermutlich auch daran, daß diese Priesterprophetinnen für die Geheimnisse und die »Magie« des alten, heidnischen Europa stehen. Die Pythen und Sibyllen waren eindeutig hellseherisch veranlagte Frauen, deren Weissagungen offenbar vielfach eintrafen, und aus diesem Grund wurden ihre Heiligtümer über die antiken Jahrhunderte hinweg von zahllosen ratsuchenden Menschen aufgesucht. Doch die Prophetinnen nahmen, wie die Historiker herausfanden, durchaus auch 17 725607_Umbr.indd 17 22.07.10 08:22 gezielten Einfluß auf die Politik ihrer Zeit. Sie nutzten ihren Nimbus, um die Mächtigen in gewisser Weise zu lenken – und wenn so etwas durch geistig hochstehende Menschen aus humanen Erwägungen heraus geschieht, kann es nicht als negativ bezeichnet werden. Die keltogermanische Seherin Veleda (1. Jahrhundert n. d. Z.) Schier endlos dehnen sich die Urwälder Germaniens östlich des Rheins. Bären, Auerochsen und Wölfe durchstreifen die Wildnis; da und dort gibt es Rodungen, wo Einödbauern oder kleine Dorfgemeinschaften ihre Felder bebauen und ihr Vieh hüten. Und irgendwo in den tiefen Wäldern ragt ein turmartiger Fels empor; ein himmelstürmender Monolith, unter dessen Kuppe sich eine Kaverne befindet: die heilige Höhle der Hagedise Veleda. Die Priesterin und Prophetin ist hochgewachsen; ihr herausragender Rang als Verkünderin des Willens der Gottheiten verpflichtet sie zu keuschem und einsamem Leben auf ihrem Felsturm – aber an diesem Tag erfährt ihr kontemplatives Dasein eine Unterbrechung. Eine Schar von Männern nähert sich dem Monolithen. Es sind Adlige des niederrheinischen, von den Römern unterworfenen Volksstammes der Bataver, doch der Edle, der sie zum Steinturm führte, gehört ebenso wie Veleda dem Stamm der Brukterer an. Es handelt sich um einen Blutsverwandten der Seherin, und nun, als die Gruppe am Fuß des Felsens angelangt ist, erklärt er den Batavern, daß sie Veleda nicht von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten dürften. Dies nämlich sei einzig ihm erlaubt, und deshalb sollten sie ihm jetzt die Frage anvertrauen, die sie an die Seherin richten wollten. Daraufhin trägt der Älteste der Bataver dem Verwandten der Hagedise das Anliegen vor, das ihn und seine Gefährten bewog, ins Land der Brukterer zu reisen. Als er die Frage vernimmt, verspannen sich die Gesichtszüge des Vertrauten der Prophetin; dann jedoch nickt er und erklimmt den Felsen. Oben in der Kaverne angekommen, gibt er die Worte, die er vernommen hat, an Veleda weiter. Die großgewachsene Frau lauscht ihm aufmerksam; gleich darauf richtet sie den Blick auf das Feuer, das inmitten der Höhle brennt, und starrt lange in die züngelnden Flammen. Schließlich wendet sie sich wieder ihrem Blutsverwandten zu und spricht: 18 725607_Umbr.indd 18 22.07.10 08:22