Leseprobe

Transcription

Leseprobe
Inhalt
7
Einführung
Erstes Buch
EUROPÄISCHE PROPHETEN UND
VISIONÄRE
Von Sibyllen, »Hexen« und Druiden
12
18
21
32
35
44
52
60
69
79
86
92
99
104
Die Pythen und Sibyllen des Mittelmeerraums
Die keltogermanische Seherin Veleda
Der britannische Druide Merlin
Die isländische Edda
Der Tempelritter Johannes von Jerusalem
Hildegard von Bingen
Mother Shipton
Nostradamus
Die Sibylle von Prag
Der Mühlhiasl
Die Seherin von Prevorst
Die Schauungen von Fatima
Anton Johansson
Alois Irlmaier
Zweites Buch
BLICK AUF DIE ANDEREN KONTINENTE
Von Palästina bis zu den Aborigines
Erster Teil
Jüdischer Kulturkreis
116
124
132
143
725607_Umbr.indd 5
Der biblische Visionär Ezechiel
Jeschu von Nazareth
Johannes von Patmos
Theodor Herzl
22.07.10 08:22
Zweiter Teil
Islamischer Kulturkreis
150
160
Mohammed
Der Mahdi Hazrat Ahmad
Dritter Teil
Asiatischer Kulturkreis
164
168
174
Siddharta Gautama, der Buddha
Padmasambhava
Mirza Husayn Ali Nuri
Vierter Teil
Amerikanischer Kulturkreis
179
184
188
194
200
Die Weltenende-Stelen der Mayas
Prophezeiungen der Azteken und Inka
Der Geistertänzer Wovoka
Sun Bear
Edgar Cayce
Fünfter Teil
Afrikanischer und australischer Kulturkreis
208
211
217
Das Orakel von Siwa
Nicolaas van Rensburg
Die Traumzeit der Aborigines
224
226
229
Nachwort
Glossar
Ausgewählte Literatur
725607_Umbr.indd 6
22.07.10 08:22
Einführung
Vor 18.000 Jahren im nördlichen Spanien: In einer riesigen Höhle haben
sich altsteinzeitliche Jäger um einen Schamanen versammelt. Lodernde
Feuerbrände beleuchten farbige, meisterlich gemalte Tierbilder an den
Wänden der Kaverne. Die Bisons, Hirsche, Urpferde und Wildschweine
scheinen sich im flackernden Fackelschein zu bewegen, scheinen Leben zu
gewinnen. Ein Trommler bemüht sich, das schattenhafte Zucken der Tierleiber akustisch zu untermalen; der in Felle gekleidete Steinzeitschamane
beginnt entrückt zu tanzen – und schließlich fällt der Geistführer der Jägersippe in Trance.
Der Schamane wird mental zum Wildtier; seine Seele zieht mit den Bisons und Urpferden, mit den Hirschen und Wildschweinen durch die Wälder. Sein Geist wird eins mit ihrem Wesen; sein Herz bittet die Tiere um das
Geschenk ihres Fleisches, das für die Menschen überlebensnotwendig ist.
Und dann empfängt der Urzeitschamane die ersehnte Gabe. Er erkennt,
welche Tierwesen sich den existentiellen Bedürfnissen der Steinzeitsippe
opfern wollen – und nachdem sich der Geistführer der Jägergemeinschaft
wieder aus seiner Trance gelöst hat, teilt er den anderen stammelnd mit,
wann und wo die Jagd auf bestimmte Tiere erfolgreich sein wird.
***
Die geschilderte Szene, die in der weltberühmten Höhle von Altamira mit
ihren faszinierenden altsteinzeitlichen Wandmalereien spielt, ist fiktiv.
Doch sie könnte laut Einschätzung von Archäologen und Anthropologen
durchaus so oder so ähnlich stattgefunden haben, und was den spirituellen
Charakter der Altamira-Höhle und ähnlicher vorgeschichtlicher Fundstätten betrifft, so sind sich die modernen Wissenschaftler aufgrund von entsprechenden Ausgrabungsergebnissen weitestgehend darin einig, daß die
Menschheit bereits seit ihren frühesten Tagen religiöses Bewußtsein besaß.
Davon zeugen beispielsweise Beigaben in den Gräbern von Neandertalern, die auf den Glauben an ein Fortleben nach dem Tod schließen lassen,
und vermutlich waren es in jener fernen Epoche des Mittelpaläolithikums
(ca. 130 000–30 000 v. d. Z.) Schamanen, welche die Unsterblichkeit der
Seele oder des Geistes lehrten. Auch in den darauffolgenden Jahrtausenden
wirkten diese Jenseitsreisenden, Heiler und Visionäre in Europa und auf
den übrigen Kontinenten, und in manchen Regionen der Erde existiert die
schamanische Spiritualität bis heute. So etwa bei den Lappen im nördlichen
Skandinavien, bei sibirischen Nomadenstämmen, in den überlebenden Naturreligionen Afrikas, Australiens oder Südamerikas und ebenso in den
7
725607_Umbr.indd 7
22.07.10 08:22
USA und Kanada, wo die noch aktiven Schamanen der indianischen Urbevölkerung zumeist als Medizinmänner beziehungsweise Medizinfrauen bezeichnet werden.
In dieser ungebrochenen schamanistischen Traditionslinie läßt sich ein
Grundelement menschlicher Spiritualität erkennen; ein uralter religiöser
und visionärer Strom, der sich sodann im Verlauf der Millennien vielfach
verzweigte und weitere Ausformungen des spirituellen Suchens und Erkennens hervorbrachte. So entstanden die polytheistischen Religionen mit ihren Priestern und Priesterinnen, die einer Vielzahl von Gottheiten dienten;
später kamen Buddhismus und hebräisch-jüdischer Monotheismus sowie
die ebenfalls monotheistisch definierten Glaubensrichtungen des Christentums und des Islam hinzu – doch im Hinduismus, im japanischen Schintoismus* und in den bis in die Gegenwart herauf existierenden Naturreligionen blieb auch polytheistische Spiritualität erhalten.
So unterschiedlich diese Glaubensrichtungen auch sind, haben sie doch
einige Grundelemente gemeinsam. Zum einen wurden und werden sie –
von negativen Ausnahmen abgesehen – durchweg von Menschen mit besonderen mentalen Fähigkeiten repräsentiert: von Schamanen, Priestern,
Auslegern sakraler Texte oder sonstigen geistigen Lehrern und Führern.
Und zum anderen brachten all die verschiedenen Religionen immer wieder
Visionäre und Propheten hervor: Erleuchtete, die in ihrem Kulturkreis und
manchmal sogar weit darüber hinaus als Wegbereiter für hohe ideelle Werte
oder auch als Warner vor verderblichen politischen, sozialen oder ökologischen Fehlentwicklungen wirkten.
Bereits in den ältesten Schriften der Menschheit tauchen solche Meister
der Geistreise in verborgene Dimensionen auf; Geistreisende, die jene verschleierten Bereiche betraten, zu denen gewöhnliche Individuen keinen
Zugang finden. Schon im sumerischen Gilgamesch-Epos, dessen Ursprünge
aus der Mitte des dritten vorchristlichen Jahrtausends stammen, wird geschildert, wie Gilgamesch, der König von Uruk, ins Land der Gottheiten
und der Toten vordringt, um dort das Geheimnis der Unsterblichkeit zu
enträtseln. Beschreibungen von Jenseitsreisen und Verhaltensmaßregeln für
den Aufenthalt in der Götter- und Totenwelt finden sich auch in altägyptischen Texten, wie etwa dem berühmten Totenbuch, wo es beispielsweise
unter Bezug auf einen bestimmten Abschnitt der genannten sakralen Schrift
heißt: »Wenn der Verstorbene dieses Kapitel kennt, wird er in der Unterwelt
zu einem geheiligten Geist werden. Er wird dort nicht zum zweiten Mal
sterben. Zu Osiris’ Füßen sitzend, wird er dort seine Nahrung empfangen.«
Und aus Irland wiederum ist das keltische Cúchulainn-Epos überliefert, das
in seinen ältesten Erzählkernen circa 2000 Jahre alt ist und in dem unter
*
Erklärungen seltener Begriffe: siehe Glossar.
8
725607_Umbr.indd 8
22.07.10 08:22
anderem geschildert wird, wie der menschgewordene Sonnengott Cúchulainn eine einjährige Reise in die Anderswelt unternimmt, um dort Erfahrungen mit Gottheiten, Feen und Verstorbenen auf spiritueller Ebene zu
machen.
Das Verborgene zu erschauen oder geistig in neue Dimensionen vorzustoßen – das sind die Ziele, die im Lauf der Menschheitsgeschichte wieder
und wieder von Propheten beziehungsweise Visionären angestrebt wurden.
Immer von neuem beschritt eine Elite von mental außergewöhnlich hochstehenden Männern und Frauen diesen faszinierenden Erkenntnispfad und
führte dadurch oft auch andere Menschen zu Einsichten, die sie sonst nicht
hätten erlangen können.
Bei den Sehern, welche die Schleier des Zukünftigen lüfteten oder geistig
in Dimensionen weit jenseits des Alltäglichen vorstießen, handelte es sich
um Begnadete ganz unterschiedlicher Art: teils um Könige, Adlige oder
hochrangige Angehörige polytheistischer oder monotheistischer Priesterschaften, teils um sogenannte einfache Leute wie Hirten, Bauern, Handwerker oder scheinbar Entwurzelte. Und eine ganze Reihe dieser Erleuchteten
wollen wir nun auf einem Streifzug durch die Jahrtausende und über alle
fünf Kontinente der Erde hinweg näher kennenlernen; sie, die Seher, sowie
ihre häufig erschütternden Prophezeiungen oder ihre oft für die gesamte
Menschheit wegweisenden Visionen.
9
725607_Umbr.indd 9
22.07.10 08:22
725607_Umbr.indd 10
22.07.10 08:22
Erstes Buch
EUROPÄISCHE PROPHETEN
UND VISIONÄRE
Von Sibyllen, »Hexen« und Druiden
725607_Umbr.indd 11
22.07.10 08:22
Die Pythen und Sibyllen des Mittelmeerraums
(Ca. 800 v. d. Z. bis spätes 4. Jahrhundert n. d. Z.)
Langsam, wie entrückt wirkend, schreitet die Priesterin der Erdgöttin Gaia,
der Urmutter allen Lebens, zum Omphalos: dem heiligen Nabelstein, welcher den Mittelpunkt der Welt markiert. Als sie den gerundeten Menhir
erreicht hat, kniet die Pythia nieder und ehrt auf diese Weise die Drachenkraft, die auf dem Sakralberg pulst.
Dann erhebt sich die Priesterin wieder und setzt ihren Weg zum Tempel
der Göttin fort. Im kreisförmigen Sakralbau angelangt, nimmt die Pythia
den beißenden Geruch der Dämpfe wahr, die aus einer Felsspalte im Zentrum des Tempelgebäudes aufsteigen. Direkt über dieser Spalte steht ein
dreibeiniger Bronzeschemel, und auf ihm nimmt die Priesterin nun Platz.
Sofort spürt sie den scharfen Dunst aus dem Erdinneren noch intensiver,
und nachdem sie die unter dem Dreibein emporquellenden Dämpfe einige
Zeit eingeatmet hat, verändert sich das Bewußtsein der Pythia. Es ist ihr, als
würde sich ihr Geist über die Grenzen von Raum und Zeit hinaus ausweiten;
sie empfindet die innige Nähe Gaias und fällt gleich darauf in Trance.
Jetzt geben andere Priesterinnen einem vor dem Tempel wartenden
Mann die Erlaubnis zum Betreten der Weihestätte. Der Ratsuchende, der
von edler Geburt ist, begibt sich in das Heiligtum, legt eine Opfergabe zu
Füßen der Pythia nieder und stellt die wichtige Frage, die ihn schon seit
Monaten bewegt. Um eine von der Göttin inspirierte Antwort zu erhalten,
ist er von weither zum Pythentempel gepilgert – und nach einer Weile
spricht die entrückte Priesterin mit schwerer Zunge und erteilt dem atemlos
lauschenden Adligen den Bescheid Gaias.
***
So könnte es vor etwa 2800 Jahren gewesen sein, als der spätere klassischgriechische Orakeltempel von Delphi noch nicht erbaut war. Der Ort, wo
der ursprüngliche Göttinnenschrein stand, wurde in jener fernen Zeit Pytho
genannt: nach einer geflügelten Drachenschlange, einem Python, welcher
nach der Lehre der frühgriechischen Religion von der Erdgöttin Gaia geboren worden war. Der heilige Python besaß präkognitive Fähigkeiten – und
dasselbe galt für die Pythen, die Orakelpriesterinnen, die ihm und Gaia
dienten.
Diese Frauen, die von Generation zu Generation auf dem dreibeinigen
Hocker über der Felsspalte saßen, hatten dank ihrer prophetischen Gabe
immensen Einfluß auf die altgriechischen Stämme. Und das änderte sich
auch später nicht, als im fünften vorchristlichen Jahrhundert aus der PythoWeihestätte ein Apollon-Heiligtum nahe der nunmehr entstandenen Stadt
Delphi wurde. Nach wie vor weissagten die Pythen, wie sie noch immer
12
725607_Umbr.indd 12
22.07.10 08:22
genannt wurden, den Pilgern, die jetzt aus dem ganzen Mittelmeerraum zu
ihnen kamen. Bei den Ratsuchenden handelte es sich um Könige und Aristokraten aus den mediterranen Stadtrepubliken, um Stammesfürsten und
Feldherren, um Philosophen und Dichter, aber auch um Händler, Seeleute,
Krieger, Bauern und Handwerker. Und die Pythen gaben ihnen von Jahrhundert zu Jahrhundert Antworten auf ihre Fragen, wobei die Orakelsprüche allerdings oft dunkel und zweideutig waren, wie die folgenden Beispiele
zeigen.
Im Jahr 546 v. d. Z. plante Krösus, der ungemein reiche König von Lydien,
einen Feldzug gegen den persischen Herrscher Kyros II. Ehe er mit seinem
Heer in den Krieg zog, befragte er die Pythia von Delphi über den Ausgang
des militärischen Unternehmens und erhielt die Auskunft:
»Wenn Krösus den Halys überschreitet, wird er ein mächtiges Reich zerstören.«
Der Halys ist der heutige Fluß Kizilirmak in der Türkei; er stellte im sechsten
vorchristlichen Jahrhundert die Grenze zwischen dem lydischen und dem
persischen Reich dar, und Krösus interpretierte den Orakelspruch der Pythia in seinem Sinne: daß er nach der Überquerung des Grenzflusses das
Perserreich vernichten würde. Doch dann verlor Krösus die Entscheidungsschlacht gegen Kyros – und die Folge war der Untergang seines eigenen lydischen Königreiches.
Einen weisen Rat erhielt der Athener Feldherr Themistokles anno 480 aus
dem Mund der Pythia von Delphi. In jenem Jahr bedrohte eine starke persische Flotte den Stadtstaat Athen, und die Orakelpriesterin forderte Themistokles auf:
»Athener, verlaßt eure Stadt und verteidigt sie mit hölzernen Mauern.«
Der Feldherr setzte daraufhin die starke Kriegsflotte des Stadtstaates im
Kampf gegen die Perser ein: Mit einer »Mauer« aus hölzernen Schiffen, und
auf dem Höhepunkt des Krieges besiegte er die Feinde in der berühmten
Seeschlacht von Salamis.
Auch Alexander der Große befragte anno 335 die Pythia. Er wollte wissen, wie der von ihm geplante Feldzug gegen den Perserkönig Dareios III.
enden würde und ob er Dareios stürzen könne. Die Orakelpriesterin gab
Alexander jedoch zunächst keine Antwort, sondern beschied ihn, daß er zur
unrechten Zeit zu ihr gekommen sei und daß sie ihm deshalb keine Auskunft erteilen könne, weil sie nur an den von den Göttern dafür vorgesehenen Tagen weissage. Daraufhin wurde Alexander zornig. Er packte die Pythia an den Haaren und wollte sie gewaltsam in den Apollontempel zerren,
damit sie ihm dort trotz der ungünstigen Zeit mit einem Orakelspruch
dienstbar sein sollte. Die Priesterin aber wehrte sich und rief aus:
»Laß ab von mir! Du bist ja unüberwindlich, Junge!«
13
725607_Umbr.indd 13
22.07.10 08:22
Alexander gehorchte; er gab die Pythia wieder frei und sagte zufrieden:
»Nun habe ich meine Auskunft dennoch bekommen.« Und später dann bewahrheiteten sich die Worte der Pythia über die Unbesiegbarkeit Alexanders, denn er schlug Dareios in der Schlacht von Gaugamela und eroberte
das Perserreich.
Rund 700 Jahre nach dem triumphalen Sieg Alexanders des Großen sagte
die Pythia von Delphi den Untergang ihres eigenen Tempelheiligtums vorher. Es geschah im Jahr 362 n. d. Z. Damals wurde das Römische Imperium
von Flavius Claudius Julianus regiert, der von den Christen, die seit dem
Jahr 313 im Römischen Reich mächtig geworden waren, als Julianus Apostata, Julian der Abtrünnige, bezeichnet wurde, weil er kein Christ war, sondern eine Renaissance des Heidentums anstrebte. Ungeachtet dessen unterdrückte Julian das Christentum nicht; er wünschte sich vielmehr eine
friedliche Koexistenz zwischen dem alten Polytheismus und dem neuen
Monotheismus, und trotzdem wurde er von den meisten christlichen Patriarchen und Bischöfen haßerfüllt angefeindet.
In dieser Situation sandte der Kaiser anno 362 seinen Leibarzt Oribasius
nach Delphi. Im Auftrag Julians fragte der Arzt die Orakelpriesterin, ob die
heidnischen Riten in einer zunehmend christlicher werdenden Welt noch
eine Zukunft hätten, und die Pythia beschied ihn:
»Verkünde dem Herrscher: Eingestürzt ist die heilige, schön gefügte
Halle. Apollon besitzt keine Zuflucht mehr. Der sakrale Lorbeer ist verwelkt, die Quellen schweigen auf immer, verstummt ist das redende
Wasser.«
Im darauffolgenden Jahr 363 wurde Kaiser Julian in einer Schlacht gegen die
persischen Sassaniden von einem Römer ermordet, und viele Zeitgenossen
sowie zahlreiche Historiker späterer Zeiten vermuteten, daß der Attentäter
im Auftrag christlicher Kirchenführer handelte. Die uralte Orakelstätte von
Delphi wurde schon bald nach dem Tod des Kaisers geschlossen; anno 394
ließ der christliche Imperator Theodosius I. die letzte Pythia vertreiben –
und damit hatte sich die Weissagung der Seherin aus dem Jahr 362 erfüllt.
***
Den antiken griechischen Pythen entsprachen von ihrer Bedeutung als
heidnische Orakelpriesterinnen her die römischen Sibyllen. Sie prophezeiten vorzugsweise in Höhlen, manchmal auch in anderen steinernen Naturheiligtümern, und religionsgeschichtlich läßt sich die südeuropäische
Priesterinnenkaste der Sibyllen wahrscheinlich auf den kleinasiatischen
Kybele-Kult, eine Erdmutterreligion, zurückführen.
Dieser Kult der Kybele ist in Kleinasien bis zurück ins siebte vorchristliche Jahrhundert nachgewiesen; wenig später gelangte er auch nach Italien,
und die Priesterinnen der Erdmutter ließen sich zunächst in einer bis heute
erhaltenen Grotte bei der Stadt Cumae (unweit von Neapel) nieder. Eine
14
725607_Umbr.indd 14
22.07.10 08:22
dieser Sibyllen, wohl die Oberpriesterin, soll nach einer römischen Legende
520 v. d. Z. mit dem letzten römischen König Tarquinius Superbus zusammengetroffen sein und ihm neun Schriftrollen mit Weissagungen über die
Zukunft der Welt zum Kauf angeboten haben. Weil die Sibylle aber einen
horrenden Preis für die Buchrollen verlangte, lehnte der König ab. Daraufhin verbrannte die Seherin drei der Bücher und bot Tarquinius Superbus die
übrigen sechs für denselben hohen Kaufpreis wie zuvor an. Wieder weigerte
sich der König, die Schriftrollen zu erwerben, woraufhin die Sibylle nochmals drei von ihnen ins Feuer warf. Erst dann lenkte Tarquinius Superbus
ein; er kaufte die noch übrigen drei Buchrollen zu dem Preis, den die Prophetin von Anfang an gefordert hatte, und verwahrte die Weissagungsbücher im Jupitertempel auf dem Kapitol von Rom.
Dort sollen die Schriftrollen mehr als 900 Jahre gelegen haben, bis sie 405
n. d. Z., kurz nachdem das Christentum im Römischen Reich alleinige
Staatsreligion geworden war, verbrannt wurden. So gingen die Prophezeiungen, die in den drei Büchern enthalten waren, zum allergrößten Teil verloren; auch die letzten Kybele-Priesterinnen Italiens verschwanden nach
dem Sieg der christlichen Religion aus der Geschichte und erlitten damit ein
ähnliches Schicksal wie die griechischen Pythen.
Die Erinnerung an die Sibyllen blieb aber erhalten. Denn fast ein Jahrtausend lang waren die Sibyllinischen Bücher auf dem Kapitol von den Herrschern Roms bei schwierigen politischen Entscheidungen zu Rate gezogen
worden, und darüber hinaus hatten die Kybele-Priesterinnen im Jahr 204
v. d. Z. das Sakralzentrum ihrer Erdmutterreligion von Cumae an den Tiber
verlegt. Damals hatten sie einen von ihnen gehüteten heiligen Stein der Kybele in eine Höhle auf dem Gebiet der Stadt Rom gebracht, und von da an
hatten sie den Senatoren und Kaisern sowie zahllosen römischen Bürgern
geweissagt. Jahrhundert um Jahrhundert waren die Menschen zu den Sibyllen gepilgert, so daß das Andenken an die weisen Frauen auch nach ihrer
Vertreibung aus der Tiberstadt bewahrt blieb.
Mehr noch: Der nachwirkende Nimbus der heidnischen Sibyllen war so
stark, daß Juden und Christen ihn für die Verbreitung ihrer eigenen Lehren
zu nutzen versuchten. So entstanden ab dem sechsten Jahrhundert jüdischchristliche »Sibyllinische Bücher«, die, um sie uralt erscheinen zu lassen, in
antiken Hexametern verfaßt waren, jedoch frühmittelalterliches monotheistisches Gedankengut verbreiteten. Diese Texte enthalten eine Vielzahl moralischer Ermahnungen sowie apokalyptische Szenarien, wie sie ähnlich in
der Bibel und in den Endzeitvisionen des Johannes von Patmos zu finden
sind.
Mit den echten Sibyllenprophezeiungen haben sie im Regelfall nichts zu
tun; einige Weissagungsfragmente aus dem Mund der Kybele-Priesterinnen
könnten sich jedoch in den »Sibyllinischen Büchern« der Juden und Chri15
725607_Umbr.indd 15
22.07.10 08:22
sten erhalten haben. Wir werden gleich noch darauf zurückkommen; zuvor
aber eine authentische Beschreibung der antiken Prophetinnen, die von
dem griechischen Philosophen Heraklit von Ephesos (ca. 550–480) stammt.
Heraklit schilderte eine der geheimnisvollen Frauen so: »Die Sibylle
spricht mit rasendem Mund, ohne Lachen, ohne Schminke und ohne Myrrhen, und dringt dank göttlicher Hilfe mit ihrer Stimme durch Jahrtausende.«
Es handelte sich bei den Prophetinnen also offenbar um Frauen, die sich
zum Zweck der Weissagung in Ekstase versetzten und darauf verzichteten,
ihre Zuhörer durch kosmetische Tricks oder die Verwendung von Räucherwerk zu blenden, wie es möglicherweise Scharlatane taten. Indem Heraklit
dies betont, stellt er den Sibyllen ein positives Zeugnis aus – und was nun
wahre antike Sibyllen-Prophezeiungen betrifft, die in die oben erwähnten
jüdisch-christlichen Weissagungsbücher Eingang gefunden haben könnten,
so lassen sich im dritten Buch jener frühmittelalterlichen Schriften unter
anderem die folgenden Textstellen finden:
»Es wird auch einstmals unversehens kommen auf den glücklichen Boden von Asien ein Mann, der mit purpurnem Gewand um die Schultern
gekleidet ist; wild, ein fremdes Recht habend, flammend. Es erweckte
aber zuvor diesen Mann ein Blitzstrahl. Ein böses Joch wird ganz Asien
tragen, und die Erde wird sehr viel Blut von Gemordeten trinken. …
Durch das Geschlecht, das er ausrotten will, wird sein eigenes Geschlecht
vertilgt werden.«
In diesen Sätzen könnte man den Mongolenherrscher Dschingis Khan erkennen. Unversehens vereinigte er in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts die bis dahin rivalisierenden Stämme der mongolischen Nomaden
und setzte sich als Alleinherrscher (als der er im antiken Rom den Purpur
getragen hätte) an ihre Spitze. Er war in der Tat von wilder, »flammender«
Eroberungslust und folgte fremdartigen, den Europäern unbekannten Gesetzen. Mit seinen Reiterheeren unterwarf er praktisch ganz Asien, und
seine Kriegszüge forderten entsetzlich viele Menschenleben. Zuletzt aber,
im Jahr 1227, fand er selbst ein grausames Ende durch die Hand einer jungen tungusischen Adligen, die er sich als Bettsklavin genommen hatte. Die
junge Frau entmannte ihn mit einem möglicherweise vergifteten Messer,
das sie an ihrem Körper versteckt hatte. So starb Dschingis Khan durch die
Angehörige eines Adelsgeschlechts, das er entmachtet hatte, und der Tod
traf ihn an seinem eigenen Geschlecht. – Auf diese Weise läßt sich die Prophezeiung Punkt für Punkt interpretieren; im dunkeln bleibt lediglich die
Aussage, wonach Dschingis Khan vor seinem Aufstieg zur Herrschaft durch
einen Blitzstrahl »erweckt« worden sei.
Weiter heißt es im dritten Buch der Sibyllen-Weissagungen:
»Italia! Dir wird kein fremder Krieg kommen. Sondern einheimisches
Blutvergießen, vielbeklagtes, keineswegs geringes, vielbejammertes,
16
725607_Umbr.indd 16
22.07.10 08:22
wird dich, du Schamlose, verwüsten. Und du selbst, Italia, neben heißer
Asche darniederliegend, wirst durch das Unglück, das deinem Herzen
nicht vorhersehbar war, zerfleischt werden. Und du wirst nicht Mutter
edler Männer, sondern Amme wilder Tiere sein.«
Auch diese Prophezeiung enthält keine jüdischen oder christlichen Elemente; vielmehr klingt sie unverfälscht antik. Und von ihrer Aussage her
schildert sie eine Entwicklung, die Italien lange nach der Zeit der Sibyllen
tatsächlich traf. Nachdem das Weströmische Reich am Ende der Spätantike
zusammengebrochen war, tobten in Italien zahlreiche Kriege. Es begann mit
den Angriffskriegen der Byzantiner gegen die Ostgoten im sechsten Jahrhundert; später kämpften Langobarden und Franken auf der italienischen
Halbinsel um die Macht, und in der Folge zersplitterte das Land in rivalisierende Fürstentümer; darunter der römische Kirchenstaat. Ständige Kämpfe
waren über viele Jahrhunderte hinweg an der Tagesordnung, Italien wurde
wahrhaftig zur »Amme« kriegslüsterner »wilder Tiere«; erst im 19. Jahrhundert fanden die Menschen auf der Halbinsel zur staatlichen Einheit zurück.
Schließlich noch eine Sibyllen-Prophezeiung, in der auf erschreckende
Weise die heutige Zeit kenntlich wird:
»Wehe, blutrünstiges und arglistiges Geschlecht von Bösen und Gottlosen, von Lügnern und zweizüngigen bösartigen Menschen …, denen ein
böser, rasender Trieb im Herzen wohnt, die für sich selber zusammenraffen, schamlosen Sinns. Denn niemand, der da reich ist und hat, wird
einem anderen davon abgeben, sondern arge Schlechtigkeit wird bei
allen Menschen sein.«
Man könnte darin die Raffgier der neokapitalistischen Industriegesellschaften sehen; skrupellose Profitgier, die zu schrecklichem Werteverlust, Zusammenbruch des menschlichen Miteinander und zur Zerstörung der Natur führt. Ganz unverfälscht sibyllinisch-heidnisch scheint diese Weissagung
allerdings nicht überall zu sein, denn es wird von »Gottlosen« gesprochen,
und dies deutet auf einen monotheistischen, also jüdischen oder christlichen Denkansatz hin. Doch womöglich wurde hier eine ursprünglich heidnische Formulierung, in der von Göttern oder Gottheiten die Rede gewesen
sein müßte, lediglich bibelmonotheistisch überformt.
***
Die Faszination, die von den griechischen Pythen und italienischen Sibyllen
ausgeht, ist bis heute ungebrochen. Dies liegt vermutlich auch daran, daß
diese Priesterprophetinnen für die Geheimnisse und die »Magie« des alten,
heidnischen Europa stehen. Die Pythen und Sibyllen waren eindeutig hellseherisch veranlagte Frauen, deren Weissagungen offenbar vielfach eintrafen, und aus diesem Grund wurden ihre Heiligtümer über die antiken Jahrhunderte hinweg von zahllosen ratsuchenden Menschen aufgesucht. Doch
die Prophetinnen nahmen, wie die Historiker herausfanden, durchaus auch
17
725607_Umbr.indd 17
22.07.10 08:22
gezielten Einfluß auf die Politik ihrer Zeit. Sie nutzten ihren Nimbus, um die
Mächtigen in gewisser Weise zu lenken – und wenn so etwas durch geistig
hochstehende Menschen aus humanen Erwägungen heraus geschieht, kann
es nicht als negativ bezeichnet werden.
Die keltogermanische Seherin Veleda
(1. Jahrhundert n. d. Z.)
Schier endlos dehnen sich die Urwälder Germaniens östlich des Rheins.
Bären, Auerochsen und Wölfe durchstreifen die Wildnis; da und dort gibt
es Rodungen, wo Einödbauern oder kleine Dorfgemeinschaften ihre Felder
bebauen und ihr Vieh hüten. Und irgendwo in den tiefen Wäldern ragt ein
turmartiger Fels empor; ein himmelstürmender Monolith, unter dessen
Kuppe sich eine Kaverne befindet: die heilige Höhle der Hagedise Veleda.
Die Priesterin und Prophetin ist hochgewachsen; ihr herausragender
Rang als Verkünderin des Willens der Gottheiten verpflichtet sie zu keuschem und einsamem Leben auf ihrem Felsturm – aber an diesem Tag erfährt ihr kontemplatives Dasein eine Unterbrechung.
Eine Schar von Männern nähert sich dem Monolithen. Es sind Adlige des
niederrheinischen, von den Römern unterworfenen Volksstammes der Bataver, doch der Edle, der sie zum Steinturm führte, gehört ebenso wie Veleda
dem Stamm der Brukterer an. Es handelt sich um einen Blutsverwandten
der Seherin, und nun, als die Gruppe am Fuß des Felsens angelangt ist, erklärt er den Batavern, daß sie Veleda nicht von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten dürften. Dies nämlich sei einzig ihm erlaubt, und deshalb
sollten sie ihm jetzt die Frage anvertrauen, die sie an die Seherin richten
wollten.
Daraufhin trägt der Älteste der Bataver dem Verwandten der Hagedise
das Anliegen vor, das ihn und seine Gefährten bewog, ins Land der Brukterer zu reisen. Als er die Frage vernimmt, verspannen sich die Gesichtszüge
des Vertrauten der Prophetin; dann jedoch nickt er und erklimmt den
Felsen.
Oben in der Kaverne angekommen, gibt er die Worte, die er vernommen
hat, an Veleda weiter. Die großgewachsene Frau lauscht ihm aufmerksam;
gleich darauf richtet sie den Blick auf das Feuer, das inmitten der Höhle
brennt, und starrt lange in die züngelnden Flammen. Schließlich wendet sie
sich wieder ihrem Blutsverwandten zu und spricht:
18
725607_Umbr.indd 18
22.07.10 08:22

Documents pareils