Maurice Halbwachs Stätten der Verkündigung im Heiligen Land
Transcription
Maurice Halbwachs Stätten der Verkündigung im Heiligen Land
Maurice Halbwachs Stätten der Verkündigung im Heiligen Land édition discours Klassische und zeitgenössische Texte der französischsprachigen Humanwissenschaften Herausgegeben von Franz Schultheis und Louis Pinto Band 21 Maurice Halbwachs in der édition discours Herausgegeben von Stephan Egger und Franz Schultheis Band 6 Maurice Halbwachs Stätten der Verkündigung im Heiligen Land Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Stephan Egger UVK Verlagsgesellschaft mbH Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des französischen Außenministeriums, vertreten durch die Französische Botschaft in Berlin. Cet ouvrage, publié dans le cadre du programme de participation à la publication, bénéficié du soutien du Ministère des Affaires Etrangères, représenté par le Service culturel de L’Ambassade de France à Berlin. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. ISSN 0943-9021 ISBN 3-89669-894-X © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2003 UVK Universitätsverlag Konstanz GmbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531 9053-98 www.uvk.de Einführung Wer eine Reise ins Heilige Land unternimmt, kann das aus unterschiedlichen Beweggründen tun. Für viele ist es eine Art Wallfahrt. Man möchte jene Orte sehen, an denen die Ereignisse stattgefunden haben, über welche uns die Evangelien berichten, man will sich sammeln und an den Heiligen Stätten beten. Seit jeher haben Christen eine Erinnerung an diese Stätten bewahrt, im Laufe der Jahrhunderte drängten sich Scharen von Gläubigen um Heiligtümer, die man an eben den Orten errichtet hatte, die das christlichen Gedächtnis als bedeutungsvoll empfand. Aber von dem Tag an, da sich solche Erinnerungen auf bestimmte Orte richteten, waren diese auch immer wieder Veränderungen unterworfen. Und umso mehr, als es sich hier nicht nur um bloß geschichtliche Tatbestände handelte, sondern von übernatürlichen Begebenheiten die Rede war. Der örtliche Rahmen, in den man sie einfügte, auch er besitzt diese übernatürlichen Züge, der gläubige Blick meint hinter den sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen eine andere Welt zu erkennen, die jenseits von Zeit und Raum besteht und für einen frommen Christen die einzig wahre ist. Es gibt nun sicher auch Gläubige, die ein anderer Wunsch beseelt. Ihnen genügt es nicht, nur die durch christliche Tradition geweihten Orte aufzusuchen. Denn ist diese Tradition, sind diese Überlieferungen der Heiligen Stätten auch begründet? Ihnen geht es darum, die tatsächlichen Spuren des Weges Jesu wiederzufinden, sie wollen sich versichern, daß es eben diese oder jene Stelle war, an der er dies gesagt, jenes getan, wollen der Orte versichert sein, an denen sich sein menschliches Leben abgespielt hatte. Vielleicht hoffen sie, ihr Glaube möge gestärkt und vertieft werden, wenn sich das, was ihnen bislang als bloße Erzählung gegenwärtig war, der Wirklichkeit eben jener Stätten gegenüber sieht, von denen die Erzählung spricht. Sind also diese überlieferten Ortsbeschreibungen über 13 jeden Einwand erhaben? Die heiligen Stätten werden zu greifbaren Zeugen, vermitteln eine sinnliche Gewißheit, die sich anderen hinzugesellt, vielleicht aber eine der entscheidenden bleibt. Die Vergangenheit wird Teil der Gegenwart: man kann sie berühren, glaubt sie unmittelbar zu erfahren. Wir allerdings werfen hier einen völlig anderen Blick auf diese Zusammenhänge. Mit einer ganzen Reihe von Fragen werden wir uns nicht beschäftigen. War Jesus ein Gott, ein übernatürliches Wesen, oder einfach nur ein Mensch, an den man als Gott oder Gottessohn glaubt? Haben die Evangelien irgendeine geschichtliche Grundlage? In einer Besprechung zu Renans Leben Jesu hat sich Sainte-Beuve über die scharfe Kritik an dessen Buch gewundert und sinngemäß gesagt: »In nicht allzu ferner Zukunft werden Menschen kommen, kleinlich, beharrlich und hart, die dabei sehr viel unbarmherziger zu Werke gehen. Dann wird man sich nach Renan zurücksehnen.« Um es zu wiederholen: wir werden uns mit solchen Auseinandersetzungen nicht beschäftigen, sondern stattdessen versuchen, den Ortsbestimmungen der in den Evangelien berichteten Geschehnisse erst in späterer Zeit, seit dem Beginn des 4. Jahrhunderts nachzugehen. Wie haben sich die Traditionen darüber ausgebildet, was man nun die heiligen Stätten nennt? Welches sind ihre Ursprünge? Es steht hier zwar jedem frei, weitreichende Vermutungen anzustellen, die auch nicht völlig der Wahrscheinlichkeit entbehren. Dennoch bleibt für uns das Wesentliche, daß diese Traditionen in der Zeit, mit der wir uns beschäftigen wollen, bereits vorhanden sind. Wir werden uns also nicht zu klären bemühen, was hinter ihnen steht und ob sie glaubwürdig sind. Sondern wir werden sie selbst untersuchen, als kollektive Glaubensvorstellungen. Wir werden uns dabei ihre Wirkmächtigkeit und Ausbreitung anzusehen haben, ihnen aber vor allem durch den Wandel der Zeiten folgen, sofern uns das die vorhandenen Baudenkmäler, an erster Stelle allerdings die vielen Reisebeschreibungen von Pilgern erlauben. Uns geht es hier darum, anhand dieses in mehr als einer Hinsicht außerordentlichen Falles einiger jener Gesetze inne zu werden, denen das kollektive Gedächtnis gehorcht. 14 Die dazu vorhandene Literatur ist beachtlich. Es gibt hier zunächst Erzählungen von Pilgern und Reisenden, die aus dem 4. Jahrhundert bis in die Gegenwart reichen. Die meisten von ihnen galt es gründlich zu lesen, insbesondere die ältesten, die lateinischen Berichte aus den kritischen Textsammlungen von Geyer (Intinera hierosolymitana, Saeculi IIII-VIII, 1898) und Tobler (Descriptiones terrae sanctae ex saeculo VIII-IX-XII et XV). Man hat diesen alten Schriften zahlreiche Untersuchungen gewidmet, hat sie bewertet, geordnet, Abweichungen festgehalten, hat genaue geographische und historische Einordnungen versucht und Erklärungen angeboten. Es sind eben dies jene Zeugnisse, die uns unmittelbar und für die in Frage stehende Zeit eine Gesamtheit überlieferter Ortsbestimmungen der Heiligen Stätten und damit auch ihren Wandel erkennen lassen. Die Verfasser dieser Schriften erzählen einfach, was sie gesehen und gehört haben. Sie rechten nicht, geben nicht ihre eigene Meinung wieder, sind sich nicht unsicher oder haben irgendwelche Bedenken. Gerade deshalb aber sind diese Zeugnisse umso kostbarer: nicht Überzeugungen Einzelner, sondern ganzer Glaubensgruppen, ursprünglich und lebendig. Nirgendwo der Anflug eines Gedankens, daß man vor ihnen anderes hätte glauben können, etwas, worüber sie nichts mehr wußten, etwas, das man vergessen hatte. Gerade an ihnen läßt sich die unwillkürliche Entwicklung solcher Überlieferungen nachverfolgen, und in bestimmten Fällen auch ihre natürliche Beharrungskraft durch die Zeiten, ohne daß es dafür einen anderen Grund gäbe als jenes religiöse Gespür, jene Bedürfnisse religiöser Vorstellungskraft, die sich in solchen von jeder Zucht der Vernunft und Wissenschaft unberührten Gruppen aussprechen. Viele dieser Pilgerberichte stammen von Unbekannten. Aber selbst bei denen, deren Namen man weiß, deren Lebenslauf uns bekannt ist, fehlt jede persönliche Färbung des Erzählten. Manche drücken sich in einem besseren, gewandteren Latein aus, genauer und klarer. Sie kennen die Lehre vielleicht besser, die Heiligen Schriften, und sind dennoch nur Mitglieder einer gläubigen Masse. Was uns erreicht, ist der Widerhall 15 von Gesprächen in Klöstern, Sätze, die der Pilger dort oder während feierlicher Zeremonien in Kirchen, Kapellen, bei Prozessionen aufgegriffen hat, während seines Besuchs der Heiligen Stätten. Die ganze Geisteshaltung ist dieselbe bei denjenigen, die sie zeigen und über ihre Bedeutung sprechen, und denen, die kommen, um zu sehen und zu hören. Sicher gibt es auch sehr kurze und karge Berichte, erstaunlich trocken, in denen man kaum mehr als eine Aneinanderreihung von Namen von Plätzen und Personen findet, monoton wie eine Nomenklatur, bisweilen rhythmisch wie eine Litanei. Andere geben uns eine Fülle von Erläuterungen, blumigen Beschreibungen, lassen nicht das Geringste aus. Dann wieder schließt sich an die wesentlichen Zeugnisse eine Kette von Legenden an, die ganze Folklore des Alten und Neuen Testaments, lokale Traditionen jüngeren Ursprungs, archaische oder sonstwie exotische Kuriositäten. Die meisten dieser Berichte liest man, ohne sich von Wiederholungen, Widersprüchen, Seltsamkeiten, auch der Schlichtheit und manchmal Belanglosigkeit des Gesagten abschrecken zu lassen: denn dabei treten eben jene Denkströmungen hervor, die sich unter all dieser Verschiedenheit des Ausdrucks wiederfinden und genau das bezeichnen, um was es uns hier geht. Zudem besitzen wir eine Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen, die sich, welchen Gegenstand sie letztlich auch im Blick hatten, ernsthaft um die geschichtlichen Hintergründe bemühen. Überzeugte Christen, die doch der Heiligen Schrift größte Hochachtung entgegenbringen, haben hier nicht gezögert, jener viel gescholtenen historischen Methode zu folgen, die Lanson und seine Schule auf dem Gebiet der Literatur zur Blüte brachten. Die Dominikaner in Jerusalem sind dieser Aufgabe in bewunderungswürdiger Weise gerecht geworden. Jérusalem. Recherches de topographie, d’archéologie et d’histoire von den Dominikanermönchen Vincent und Abel1 ist eine 1 16 Erster Band Jérusalem antique von Vincent, 1912, zweiter Band Jérusalem nouvelle von Vincent und Abel. Abschnitt I und II Aelia Capitolina, Heiliges Grab und Ölberg, S. 1 bis 420, 1914, Abschnitt III Berg Zion und Heiligtümer zweiter Ordnung, S. 421 bis 668 (+ I bis XXXI), 1922, Abschnitt IV Heiligtümer zweiter Ordnung (Ende), S. 669 bis 1035, 1926, mit Bildtafeln I bis XC, Paris. Summe all dessen, was uns die christliche Überlieferung in ihren Handschriften und Büchern, während all der Jahrhunderte, über aller Herren Länder hinweg und in gleich welcher Sprache, über die heiligen Stätten erzählt – ergänzt durch eine genaue Inaugenscheinnahme von Baudenkmälern, von Kirchen und Basiliken, durch topographische, archäologische, kunstgeschichtliche, selbst geologische Untersuchungen der Bodenschichten, der Spuren von Verwerfungen und Erderschütterungen, veranschaulicht auch durch eine Fülle von Schriftauszügen und Abbildungen. Und, was hier vor allem wichtig ist, im andauernden Bemühen um Sachlichkeit. »Trotz allem«, sagen die Patres, »was ihre unbedachten Verteidiger oder unwissenden Verleumder behaupten konnten, ist es doch für jeden besonnenen Geist ersichtlich, daß die Kirche den Glauben an eine heilige Stätte, und sei sie noch so außerordentlich wie das Heilige Grab oder der Kalvarienberg, ihren Kindern niemals zur Pflicht gemacht hat.« Mit anderen Worten: keine der Ortsbestimmungen evangelischer Begebenheiten ist eine Grundfrage des Glaubens. Vincent und Abel konnten also in voller gedanklicher Freiheit ihre Nachforschungen anstellen, ihre Feststellungen treffen, ihre Annahmen erläutern. Damit ist nicht gesagt, daß diese Arbeit alle vorhergehenden überflüssig machen würde. Doch sie vermittelt uns das Beste aller wesentlichen Erkenntnisse über unseren Gegenstand und ist völlig auf der Höhe der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, auch neuester Ergebnisse der – insbesondere von den Amerikanern in letzter Zeit durchgeführten – Ausgrabungen vor Ort. Wir haben uns immer wieder den Reichtum dieser Arbeit zunutze gemacht, uns oft von Abel und Vincent führen lassen. Und wenn wir manchmal andere Auffassungen vertreten, so doch nie, ohne uns zu bemühen, ihre Sicht der Dinge nachzuvollziehen. Ebensoviel verdanken wir einer ganz anders gearteten Arbeit, Orte und Wege Jesu von Dalman, Professor an der Universität von Greifswald und Leiter des Deutschen Archäologischen Instituts in Jerusalem. Dalman ist Protestant und gehört 17 der Glaubensgemeinschaft der Herrnhuter an. Er hat sich lange in Palästina aufgehalten, dort viele Wanderungen unternommen. Er bemüht sich, Jesus wieder auf den »örtlichen und völkischen Mutterboden, den Gott ihm bestimmte und die Geschichte darbot«, zurückzuversetzen und die Spuren seines Lebens auf der Erde, auf dieser Erde wiederzufinden.2 Die christliche Überlieferung hilft uns dabei zweifellos weiter, und Dalman hat auf viele ihrer Ortsangaben hingewiesen, nicht nur in Jerusalem, sondern auch überall dort, wo uns die Evangelien Christi Wirken zeigen, in Bethlehem, in Nazareth, am Ufer des See Genezareth. Er hat all die Erinnerungen wachgerufen, die sich mit seinen Reisen verbinden, zunächst nach Bethlehem vor und nach seiner Geburt, an die Ufer des Jordan und in die Wüste, von Galiläa nach Judäa, von Jericho nach Jerusalem. Aber vor allem hat er sie mit vielen anderen Dingen in Zusammenhang gebracht, die uns den Rahmen dieses Lebens wiederherzustellen erlauben, der damaligen Geschehnisse, der Predigten, des Leidens und Sterbens: jüdisches Recht und jüdischer Ritus, Zeiteinteilung, Landwirtschaft, Handel, Waren, Gewichtsmaße, Preise, Steuern. Darüber hinaus die Witterungsverhältnisse, die Jahreszeiten, die Tierwelt, die verschiedenen Pflanzenarten, den Anblick blühender Felder, ausgetrockneter Berghänge, all das, was sich in den letzten zweitausend Jahren vielleicht am wenigsten verändert hat und von der Gestalt Jesu und seiner ersten Jünger kaum trennen läßt. Schließlich die Sprache, die Schriften des Alten und Neuen Testamentes, Vokabular und Grammatik des Hebräischen, aramäische Dialekte, Ortsnamen und technische Begriffe, Etymologie und etymologische Verwandtschaften – Dalman ist nicht nur Theologe, sondern auch ein Gelehrter semitischer Sprachen. All dies reicht sicher weit über die Pilgerberichte hinaus, über das, was man durch die Jahrhunderte hindurch in Jerusalem den Besuchern erzählte, weit zurück auch hinter die Ver2 18 Gustaf Dalman, Les itinéraires de Jésus. Topographie des évangiles, durchgesehene und ergänzte Auflage. Französische Übersetzung von Jacques Marty nach der 3. Auflage von 1924. Mit 46 Abbildungen und Karten, Paris, 520 Seiten. änderungen, die man an den evangelischen Legenden vornahm und mit denen man sich, statt zu ihrem Ursprung zu gelangen, zu den geschichtlichen Begebenheiten, im Gegenteil vielleicht immer mehr von jenem Umfeld entfernt hat, in dem Jesus lebte und sogar noch von den Verhältnissen, in welchen die Evangelien enstanden. Mit Dalman kommen wir nun nach und nach in immer engere Berührung mit dieser Umgebung, diesem verschwundenen Hintergrund – ein dichtes, umfangreiches und dennoch sehr lebendig geschriebenes Buch, aus dem wir, wie man sehen wird, vieles übernommen haben. Auf andere Arbeiten ist in Fußnoten hingewiesen worden, allerdings wird man bei Vincent und Abel alle nötigen bibliographischen Angaben finden.3 Wenn wir uns vor allem auf diese beiden Bücher gestützt haben, dann weil sie uns das umfangreichste und genaueste Bild unserer Erkenntnisse über die heiligen Stätten in Palästina bieten. Man wird schnell sehen, daß wir immer wieder auf diese Arbeiten zurückgegriffen haben, daß viele Stellen ausführlich und wörtlich wiedergegeben wurden, nicht zuletzt, um dem Leser all dies, die Texte, Dokumente, Monumente, in ihrer ursprünglichen Gestalt zu vermitteln. Was sollte es im Übrigen nützen, sich erneut an einer Arbeit zu versuchen, die doch von kundiger Hand verrichtet wurde? Unser Bestreben geht in eine ganz andere Richtung. Es ist gewiß so, daß die Eigenart und Entwicklung der ersten christlichen Überlieferungen für uns, zumindest in historischer Hinsicht, im Dunkeln bleiben müssen. Man hat etwa behauptet, daß sich die christliche Gemeinde in Jerusalem nicht dauerhaft einrichten konnte, daß sie die Stadt im Jahre 66, vor der römischen Belagerung verließ und sie später zu betreten ihr lange Zeit verwehrt blieb. Daß vor allem die völlige Veränderung der Stadt, ihre Verwandlung in eine römische Kolonie unter Hadrian alle Erinnerungszeichen bis auf die letzten Spuren ausgelöscht haben mußte, all die Stätten unerkennbar 3 Eine Karte Palästinas und des modernen Jerusalem, die man am Ende dieses Buches finden wird, sollen dem Leser nur einige Orientierungshilfen geben. Am besten hält man sich aber an die Stadtpläne Jerusalems bei Abel und Vincent, insbesondere an die Karte LXXXVI, die Jerusalem zur Zeit des lateinischen Kaiserreichs im 12. Jahrhundert zeigt. 19 werden ließ, deren Erinnerung seitdem für lange Zeit verloren gegangen war. Darauf hat schon Renan geantwortet: »Nach 70 war Jerusalem nur noch ein Trümmerhaufen. Plinius spricht darüber wie über eine Stadt, die zu bestehen aufgehört hat. Sicher waren noch einige Alte, einige Frauen dageblieben. Die zehnte Legion unterhielt weiterhin ihre Garnison in einem Viertel der verlassenen Stadt. Zweifellos wurden heimliche Besuche der noch sichtbaren Grundmauern des Tempels von den Soldaten gegen bare Münze geduldet oder erlaubt. Insbesondere die Christen behielten die Erinnerung und den Kult bestimmter Orte. Und da man in der Stadt und ihrer Umgebung nicht wiederaufbaute, blieben die riesenhaften Steine der großen Gebäude unversehrt an ihrem Platz, ebenso wie alle Monumente noch völlig wiedererkennbar waren.«4 Mag sein. Bedauerlicherweise mischt sich in diese Annahmen wohl zu sehr persönliche Einschätzung. Wir werden all dies im Übrigen nicht zu untersuchen haben. Uns geht es nicht darum, ob jene Überlieferungen im Hinblick auf die heiligen Stätten wirklichkeitsgetreu sind, ob sie mit früheren Begebenheiten übereinstimmen. Wir nehmen sie als solche, als geformte Erinnerungen, untersuchen sie von der Zeit an, in der sie zuerst auftauchen und durch den Lauf der Jahrhunderte, die darauf folgen. Wenn, wie wir glauben, das kollektive Gedächtnis 4 20 Über diese Frage hat man viel gestritten. Wurde die Stadt vollständig zerstört? Wurden bestimmte Viertel nicht früh wieder besiedelt? – »Da das Heer«, schreibt der jüdische Geschichtsschreiber Josephus über die Belagerung von 70, »jetzt nichts mehr zu morden und zu rauben hatte, befahl der Caesar, die ganze Stadt und den Tempel zu schleifen. Nur die Türme Phasael, Hippikus und Mariamne, welche die anderen überragten, sowie die westliche Strecke der Ringmauer sollten stehen bleiben: letztere, um ein festes Lager für die künftige Besatzung bilden zu helfen... Alle übrigen Teile der Stadtmauer machten die Sieger dem Erdboden gleich, daß fremde Ankömmlinge kaum hätten glauben sollen, die Stadt sei jemals bewohnt gewesen«, Geschichte des Jüdischen Krieges, VII, 1, 1. Doch eben die dortige Einrichtung einer Legion scheint auch Grundlage für die Neuerstehung der Stadt. »Elende Greise liegen bei der Asche des Tempels, und wenige Weiber, die für die schamlose Lust der Feinde aufbewahrt sind«, ibid., VII, 8, 7. »Dies zeigt zumindest, daß den Juden der Zugang in die Stadt nicht verboten war.« (Vincent, S. 876). Abel und Vincent glauben, daß es kaum einsichtig sei anzunehmen, es habe »unmöglich eine Weitergabe von Erinnerungen« zwischen der Urgemeinde gegeben, die Jerusalem vor seiner Zerstörung zwar verlassen hatte, deren Mitglieder aber zwischen 70 und 135 wieder dorthin zurückkehren konnten, und jener späteren, die ihr nach der Gründung der Aelia folgte. wesentlich eine Rekonstruktion der Vergangenheit bedeutet, wenn es dementsprechend sein Bild früherer Tatsachen den religiösen Überzeugungen und spirituellen Bedürfnissen der Gegenwart anpaßt, wird das Wissen darum, was ursprünglich war, mindestens zweitrangig, wenn nicht ganz und gar überflüssig: die Wirklichkeit der Vergangenheit, eine unveränderliche Vorlage, der man zu entsprechen hätte, gibt es nicht mehr. Stattdessen ist jene Erfahrung, die wir untersuchen, wie tief und wodurch angetrieben sie auch immer gewesen sei, für uns nichts anderes als die Erfahrung einer kollektiven Psychologie, und die Gesetze, welche wir daraus ableiten können, werden von Untersuchungen ähnlicher Art zu bestätigen sein, die ganz andere Tatbestände behandeln. 21