mitmirDiejapanischeJugend

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mitmirDiejapanischeJugend
MeinLeben
mitmir
Die japanische Jugend
verliert die Lust auf Sex und
romantische Beziehungen.
Experten warnen und
machen Arbeitsstress und
Pornografie verantwortlich.
Doch die Singles sehen sich
nicht als Opfer, sondern
als Lifestyle-Avantgarde.
Von Abigail Haworth
A
i Aoyama ist Sexund Paartherapeutin. Ihre Praxis befindet sich in einem
dreistöckigen Haus
in einer der zahlreichen Seitenstrassen
Tokios. Ihr Vorname bedeutet übersetzt «Liebe» – ein Andenken an frühere Zeiten, als sie noch als professionelle Domina arbeitete. Damals, vor 15
Jahren, war sie Queen Ai oder Queen
Love. Im Repertoire hatte sie «alle
üblichen Dinge»; fesseln, auspeitschen, heisses Wachs auf Nippel tropfen lassen. Ihre jetzige Tätigkeit sei
aber eine viel grössere Herausforderung, denn mit ihren 52 Jahren versucht Aoyama, das zu heilen, was die
japanischen Medien «sekkusu shinai
shokogun» oder Zölibatssyndrom
nennen.
Herannahende Katastrophe
Japans unter 40-Jährige scheinen jegliches Interesse an konventionellen
Beziehungen verloren zu haben. Millionen verabreden sich nicht einmal
mehr zu einem romantischen Rendezvous. Und eine erschreckend schnell
wachsende Zahl scheint sich nicht für
Sex zu interessieren. Die japanische
Regierung sieht im Zölibatssyndrom
eine herannahende Katastrophe.
Schon heute ist die Geburtenrate in
Japan eine der tiefsten weltweit. Zwar
gehört das Land mit seinen 126 Millionen Einwohnern zu den zehn bevölkerungsreichsten Nationen, im letzten Jahrzehnt ist die Population aber
signifikant gesunken. Studien prognostizieren, dass Japans Bevölkerung bis 2060 um einen Drittel
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schrumpfen wird. Aoyama ist davon
überzeugt, dass Japan «vor menschlicher Intimität flüchtet» und dass
dies zum Teil die Schuld der Regierung sei.
Aoyama begrüsst mich nonchalant
in Yogahosen. Auf ihrem Arm thront
ihr Peking-Palasthund mit dem
Namen Marilyn Monroe. In ihrer Broschüre schreibt sie wunderbar beiläufig, dass sie in den neunziger Jahren in
Nordkorea war und mit den Hoden
eines hochrangigen Generals gespielt
hat. Die Botschaft an ihre Kunden ist
klar: Sie urteilt nicht. Das erste Therapieziel von Aoyama ist, ihren Klienten
abzugewöhnen, sich für «ihre physische Existenz zu entschuldigen».
Die Zahl alleinstehender Menschen
hat ein Rekordhoch erreicht. 61 Prozent der unverheirateten Männer und
49 Prozent der Single-Frauen zwischen 18 und 34 Jahren sind in keiner
romantischen Beziehung. Ein Drittel
der unter 30-Jährigen hatte noch nie
im Leben ein Date. Und obwohl Japan
– ein Land frei von jeglichen religiösen
Moralvorstellungen – seit langem
Liebe und Sex trennt, sind die Zahlen
zu sexuellen Beziehungen nicht viel
besser. 45 Prozent der Frauen zwischen 16 und 24 Jahren seien nicht an
sexuellen Kontakten interessiert oder
würden sie sogar verabscheuen. Über
ein Viertel der Männer empfinden
gleich.
Noch nie kamen in Japan so wenig
Babys zur Welt wie 2012, in dem Jahr,
in dem auch erstmals mehr Windeln
für Erwachsene als für Kinder verkauft wurden. Kunio Kitamura, Chef
der JFPA, behauptet, dass die demografische Krise ein Ausmass erreicht
habe, dass Japan Gefahr laufe, «voll
und ganz zu verschwinden». Nach 20
Jahren wirtschaftlicher Stagnation
erlebt das Land einen tiefgreifenden
sozialen Wandel. Das Erdbeben von
2011, der Tsunami und die Nuklearkatastrophe haben tiefe Risse hinterlassen. «Männer wie Frauen sagen
mir, dass sie den Sinn der Liebe nicht
erkennen. Sie haben den Glauben
daran verloren, dass sie etwas verändern könnte», sagt Aoyama. «Beziehungen sind zu schwer geworden.»
Die Ehe, ein Minenfeld
Die Ehe erscheint vielen als ein
Minenfeld unattraktiver Entscheidungen. Japans Männer sind weniger karriereorientiert und dementsprechend
weniger solvent. Japans Frauen sind
unabhängiger und anspruchsvoller.
Und dennoch bleiben konservative
Vorstellungen der Rollenaufteilung
zwischen Mann und Frau. Japans
harte Unternehmenswelt ermöglicht
es den Frauen kaum, Karriere und
Familie unter einen Hut zu bringen,
wobei man sich Kinder eigentlich nur
leisten kann, wenn beide Elternteile
arbeiten. Paare, die im Konkubinat
leben, oder unverheiratete Eltern werden verurteilt. Die Regierung missbilligt solche Formen der Partnerschaft.
Aoyama sagt, dass die Geschlechter, vor allem in Japans riesigen Städten, «auseinanderdriften». Ohne
gemeinsame, langfristige Ziele wenden sich viele an das, was Aoyama als
«Instant-Nudel-Liebe» bezeichnet
– unkomplizierte Befriedigung in
Form von Gelegenheits-Sex, KurzzeitRomanzen und den üblichen technischen Verdächtigen wie Online-PorNZZ am Sonntag | 10. November 2013
PHOTONONSTOP / AFP
Auch in der U-Bahn ruhen Japaner lieber aus, als neue Bekanntschaften zu machen.
10. November 2013 | NZZ am Sonntag
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Selten,
dafür
reich an
Ideen
Japaner haben seltener
Sex als der Rest der Welt,
dafür auf originelle Art.
Laut einer Studie aus
dem Jahr 2005 liegt
Japan, was die Häufigkeit
von Geschlechtsverkehr
betrifft, von allen untersuchten Ländern abgeschlagen an letzter Stelle,
noch hinter Singapur.
Ungeschlagen ist Japan
hingegen auf dem Gebiet
der bizarren Sex-Ideen.
Beliebt: Sich als Sexsklave
von einer Domina auf der
Strasse spazieren führen
zu lassen, sich sexuell
durch Kleiderpuppen und
Statuen erregen zu lassen
(Agalmatophilie) sowie
durch «Nyotaimori», eine
Praxis, die Kannibalismus
simuliert, indem Sushi
vom nackten Körper
gegessen wird.
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nografie, «Freundinnen» in der virtuellen Realität. Oder aber sie entfernen
sich vollkommen von jeglicher Vorstellung von Liebe und Sex.
Einige von Aoyamas Klienten gehören zu dieser kleinen Minderheit, die
den sozialen Rückzug auf ein krankhaftes Extrem gebracht hat. Sie sind
genesende «hikikomori» (Ans Haus
Gefesselte oder Einsiedler). Sie sind
«otaku» (Computerfreaks) und Langzeit-«parasaito shingurus» (SingleParasiten), Mittdreissiger, die es noch
nicht geschafft haben, von zu Hause
auszuziehen. Von den geschätzten 13
Millionen Menschen in Japan, die
unverheiratet sind und noch bei den
Eltern leben, sind 3 Millionen über 35
Jahre alt. «Einige Leute können nichts
mit dem anderen Geschlecht anfangen – physisch oder intellektuell. Sie
zucken zusammen, wenn ich sie
berühre.» Meistens handelt es sich
dabei um Männer, immer häufiger
aber auch um Frauen.
Weibliche Roboter
Aoyama erzählt von einem jungen
Mann, der nur sexuell erregt sein
kann, wenn er weibliche Roboter in
einem Computerspiel sieht. «Ich
stütze mich bei meinen Therapien auf
Yoga und Hypnose. So können sich
meine Patienten entspannen, und es
hilft ihnen, zu verstehen, wie der
menschliche Körper funktioniert.»
Für ein paar Yen mehr zieht sie sich
aus und legt sich neben ihre männlichen Klienten – «ohne Geschlechtsverkehr». Sie hilft ihnen, die Formen
des weiblichen Körpers zu entdecken.
Weil sie ihre Nation gedeihen sehen
will, vergleicht sie sich gerne mit den
Kurtisanen aus der Edo-Zeit. Die Aufgabe der «oiran» war es, die SamuraiSöhne in die Geheimnisse der erotischen Verführung einzuführen.
Nicht nur die Liebestherapeutin,
zahlreiche Vereinigungen machen
sich mittlerweile Gedanken, wieso
Japans Jugend sich nicht fortpflanzen
will. Kaum jemand bedenkt dabei
aber die Rolle der Regierung. Wegen
einer Kurzsichtigkeits-Politik ist die
Entscheidung, Single zu sein, nämlich
absolut sinnvoll. Und das gilt für beide
Geschlechter, vor allem aber für
Frauen. «Heirat ist das Begräbnis der
Frau» – so ein altes japanisches
Sprichwort. Früher spielte es vor
allem darauf an, dass die meisten Ehefrauen von den Mätressen ihrer Männer übertrumpft wurden. Heute
besagt es, dass Heirat für Japanerinnen das Begräbnis ihrer hart erarbeiteten Karriere bedeutet.
Ich treffe Eri Tomita, 32, an einem
Samstagmorgen zum Kaffee im eleganten Viertel Ebisu in Tokio. Tomita
arbeitet als Personalmanagerin in
einer französischen Bank. Sie liebt
ihren Job. Sie spricht fliessend Französisch und verfügt über zwei Universitätsabschlüsse. Sie vermeidet
romantische Gefühle, denn sie will
sich auf ihre Arbeit konzentrieren
können. «Mein damaliger Freund hat
mir vor drei Jahren einen Antrag
gemacht. Ich habe ihn abgelehnt. Ich
habe realisiert, dass mir meine Arbeit
wichtiger ist als Liebe. Danach habe
ich jegliches Interesse an romantischen Beziehungen verloren.»
Tomita erklärt mir, dass jegliche
Aufstiegschancen in Japan in dem
Moment verloren gehen, wo man heiratet. «Die Arbeitgeber nehmen an,
dass du schwanger wirst.» Dann fügt
sie hinzu: «Wenn du ein Kind hast,
kannst du die langen, unflexiblen
Arbeitszeiten kaum mehr bewältigen.
Du musst künden. Und dann bist du
Hausfrau ohne eigenes Einkommen.
Das ist absolut keine Option für
Frauen wie mich.»
Ungefähr 70 Prozent aller japanischen Frauen geben ihren Job nach
der Geburt ihres ersten Kindes auf.
Regelmässig stuft das Weltwirtschaftsforum Japan als eines der
schwierigsten Länder ein, wenn es um
Geschlechtergleichstellung geht. In
einer japanischen Ballettproduktion
von Bizets «Carmen» wurde vor einigen Jahren Carmen als Karrierefrau
dargestellt. Bösartig und getrieben
von Grössenwahn, stahl sie die geheimen Akten des Unternehmens und
führte den unschuldigen Sicherheitsmann José hinters Licht. Ihr Ende war
eher unschön.
Erst vor kurzem betonte der Premierminister Shinzo Abe wieder die
Wichtigkeit der Integration von
Frauen in die Wirtschaft. Er präsentierte längst überfällige Pläne für eine
grössere Partizipation der Frauen in
der Berufswelt, sprach über bessere
Arbeitsverhältnisse und mehr Krippenplätze. Tomita sagt aber, dass es
eine weitaus «dramatischere» Verbesserung brauche, um sie davon zu
überzeugen, berufstätige Mutter werden zu wollen. «Mein Leben ist toll.
Ich gehe mit meinen Freundinnen aus
– Karrierefrauen wie ich – wir gehen in
französische und italienische Restaurants. Ich kaufe mir schöne Kleider
und mache an tollen Orten Ferien. Ich
liebe meine Unabhängigkeit.»
Manchmal hat Tomita einen OneNight-Stand mit Männern, die sie in
Bars kennenlernt. Sie sagt aber ganz
klar, dass Sex bei ihr keine Priorität
habe. «Oft fragen mich verheiratete
Männer, ob ich mit ihnen ausgehen
wolle. Männer, die mit mir arbeiten
und eine Affäre möchten. Sie unterstellen mir, verzweifelt zu sein, nur
weil ich Single bin.» Sie verzieht leicht
ihr Gesicht und zuckt mit den Achseln. «Mendokusai.» Frei übersetzt
bedeutet Mendokusai «zu lästig» oder
«dazu habe ich keine Lust». Diesen
«Ich habe gelernt,
ohne Sex zu leben.
Emotionale
Verstrickungen sind
einfach zu
kompliziert.»
Ausdruck höre ich sehr oft von den
Männern und Frauen, die mit mir
über ihre Beziehungs-Phobie sprechen. Romantische Bindungen scheinen lästige, harte Arbeit zu sein. Seien
es die absurd hohen Kosten, die mit
einem Immobilienkauf verbunden
sind, oder die ungewissen Erwartungen vom Ehegatten und den Schwiegereltern. Oder der jahrhundertealte
Glaube, dass der alleinige Zweck einer
Heirat die Vermehrung sei. Japans
Institut für Bevölkerung und Entwicklung berichtet über einen erstaunlich
hohen Anteil junger Frauen, nämlich
90 Prozent, der aussagt, lieber allein
sein zu wollen als das zu haben, «was
sie sich unter Heirat vorstellen».
Dieses Gefühl von erdrückender
Verpflichtung trifft auch auf die Männer zu. Satoru Kishino, 31, gehört zu
einer wachsenden Mehrheit von Männern, die einen stillen Krieg gegen das
traditionelle Bild des japanischen
Mannes führen. Sie finden es unrealistisch, die Rolle des Ernährers zu spielen. Vor allem, wenn man die seit langem anhaltende Rezession und die
unsicheren Löhne in Betracht zieht.
Sie wollen weder beruflichen noch
romantischen Erfolg.
«Es ist einfach zu mühsam», sagt
Kishino, als ich ihn frage, wieso er
kein Interesse an einer Freundin hat.
«Mein Lohn ist nicht hoch genug, um
eine Frau ausführen zu können, die
dann hofft, dies werde in einer Heirat
enden. Ich will diese Verantwortung
nicht tragen.» Die japanischen Medien
haben einen Namen für jeden sozialen
Tick – so bezeichnen sie Männer wie
Kishino als Pflanzenfresser oder
«soshoku danshi» (wortwörtlich: grasfressende Männer). Dieses Etikett
stört Kishino nicht. Es sei im Grunde
ganz banal. Er bezeichnet sich als
einen «heterosexuellen Mann, der
sich weder für Beziehungen noch für
Sex interessiert».
«Mädchenhafte Männer»
Dieses Phänomen kam vor einigen
Jahren mit dem überraschenden
Erfolg einer Manga-TV-Show auf. Die
Hauptfigur in «Otomen» (Mädchenhafte Männer) war ein grossgewachsener Kampfkünstler – der König der
coolen, harten Männer. Aber eigentlich liebte er nichts mehr, als Kuchen
zu backen, «pinke, glitzernde Sachen»
zu sammeln und Kleider für seine
Stofftiere zu stricken. Zum grossen
Schrecken des Ältestenrats war die
Show so erfolgreich, dass sie offenbar
eine ganze Generation von Männern
verzauberte.
Kishino, welcher in der Modebranche als Designer und Manager tätig
ist, strickt nicht. Aber er liebt es, zu
kochen, zu radeln, und platonische
Freundschaften sind seine Leidenschaft. «Natürlich fühle ich mich
gelegentlich zu der einen oder
anderen von meinen Freundinnen
hingezogen. Ich habe aber gelernt,
ohne Sex zu leben. Emotionale Verstrickungen sind einfach zu kompliziert», sagt er, «dazu habe ich keine
NZZ am Sonntag | 10. November 2013
Lust.» Abgesehen von seiner Abneigung romantischen Gefühlen gegenüber beteuert Tomita, dass er sein
aktives Single-Leben sehr geniesst.
Ironischerweise hat das System des
japanischen Angestellten mit der klaren Rollenverteilung – Frauen am
Herd, Männer bei der Arbeit (und das
nicht selten 20 Stunden pro Tag) – das
ideale Umfeld für Alleinstehende
geschaffen. Japans Grossstädte sind
voll von Bequemlichkeiten für Singles. Angefangen bei den Noodle-Bars
über die Kapselhotels bis zum allgegenwärtigen «konbini» (Mini-Markt),
wo die Regale mit einzeln verpackten
Reisbällen und Einweg-Unterwäsche
gefüllt sind. Einst zielte dieses Angebot auf Geschäftsmänner, die oft
unterwegs sind. Inzwischen gibt es
auch Cafés, Hotels und ganze Apartment-Blocks nur für Frauen. Zudem:
In Japans Städten herrscht erschreckend wenig Kriminalität.
Manche Experten sind davon überzeugt, dass die Flucht vor der Heirat
primär nicht nur eine Ablehnung
obsoleter Normen und Geschlechterrollen ist. Es könnte sich auch um eine
bewusste Wahl für die neue Freiheit
handeln. «Früher wurde es als persönliches Versagen angesehen, wenn man
keinen Partner finden konnte», sagt
Tomomi Yamaguchi, Assistenzprofessorin der Anthropologie an der Montana State University. «Immer mehr
Leute aber scheinen diesen Zustand
zu bevorzugen.» Wahl-Single zu sein,
ist, so Yamaguchi, zu einer neuen Realität geworden.
Vorbote unserer Zukunft
Ist Japan der Vorbote unserer aller
Zukunft? Viele dieser Veränderungen
finden auch in anderen Industrieländern statt. In den Städten Asiens,
Europas und Amerikas heiraten die
Leute später oder überhaupt nicht,
die Geburtenrate sinkt, und die Zahl
von Single-Haushalten steigt stetig. In
Ländern, wo die Konjunkturflaute am
stärksten ist, bleiben junge Leute
immer länger bei den Eltern. Der
Demograf Nicholas Eberstadt argumentiert, dass viele typisch japanische Faktoren diesen Trend in Japan
beschleunigen. Wie zum Beispiel das
Fehlen einer Religionsbehörde, die
die Wichtigkeit von Heirat und Familie predigt. Die Erdbebengefahr des
Landes, die alles andere nutzlos
erscheinen lässt, und die im internationalen Vergleich extrem hohen
Lebens- und Erziehungskosten.
«Langsam, aber stetig verwandelt
sich Japan in eine Art Gesellschaft,
deren Gestalt und Mechanismen bisher nur in der Science-Fiction abgehandelt werden», schrieb Eberstadt
letztes Jahr. Mit seiner riesigen Armee
an älteren Menschen und einer
schwindenden jungen Generation
könnte Japan bald zu dem Land werden, wo immer mehr Menschen niemals heiraten.
Vor allem die 20-Jährigen gehören
zu der Gruppe, die besonders aufmerksam beobachtet werden muss.
10. November 2013 | NZZ am Sonntag
Comics
ohne
Tabus
Im japanischen Alltags­
leben herrscht Lustlosig­
keit. Hingegen scheint
den Comiczeichnern und
den Millionen von Lesern
der japanischen Mangas
die Lust auf Sex nicht
vergangen zu sein. Die
pornografischen Mangas,
auch Hentai oder «etchi
na manga» (versaute
Comics) genannt,
erfreuen sich einer
anhaltend hohen Beliebt­
heit. Hentai enthalten
oft surreale Handlungs­
elemente, wie zum
Beispiel Vergewaltigun­
gen von Frauen durch
Monster mit Tentakeln.
Der Konsum von Hentai
unterliegt kaum einer
gesellschaftlichen
Tabuisierung. Auch in der
U­Bahn werden sie ohne
Scham gelesen.
Die meisten sind zwar noch zu jung,
um konkrete Zukunftspläne zu haben,
Prognosen liegen aber schon vor.
Gemäss dem Bevölkerungs-Institut
der Regierung wird ein Viertel der jungen Frauen niemals heiraten. Und
etwa 40 Prozent werden keine Kinder
haben.
Diese Statistik scheint die jungen
Leute aber nicht zu verunsichern. Ich
treffe Emi Kuwahata, 23, und ihre
Freundin Eri Asada, 22, in einem Einkaufsviertel in Shibuya. Das Café, in
dem ich sie treffe, befindet sich im
Untergeschoss einer Kunstgalerie in
der Nähe des Bahnhofs, eingequetscht
zwischen Spielhallen und Sexshops.
Kuwahata hat Mode studiert und ist
in einer offenen Beziehung mit einem
13 Jahre älteren Mann. «Wir treffen
uns einmal die Woche und gehen
zusammen in Klubs», sagt sie. «Ich
habe keine Zeit für einen festen
Freund. Ich will Designerin werden.»
Asada hat Wirtschaft studiert und
interessiert sich nicht für die Liebe.
«Ich habe vor drei Jahren aufgehört,
mich mit Männern zu treffen. Ich
brauche keinen Freund oder Sex. Mir
gefällt es nicht einmal, Händchen zu
halten.»
Keinen Gelegenheits-Sex
Asada sagt, dass nichts Konkretes passiert sei, was ihr die Lust an körperlichem Kontakt genommen haben
könnte. Sie will einfach keine Beziehung, und Gelegenheits-Sex ist keine
Option. Denn: «Mädchen können
keine Liebeleien haben, ohne verurteilt zu werden.» Obwohl Japan in
sexueller Hinsicht sehr offen ist,
bleibt das Bild der perfekten 25-Jährigen das eines zuckersüssen und jungfräulichen Mädchens. An Doppelmoral mangelt es nicht.
In der 2013 veröffentlichten Studie
der japanischen Vereinigung für Familienplanung gab es viel mehr Daten zu
jungen Männern als zu jungen Frauen.
Ich fragte den Präsidenten der Vereinigung, Kunio Kitamura, wieso das so
sei. «Der Sexualtrieb ist eher eine
Männersache», sagt der Mann, der
unter anderem die Regierung berät.
«Frauen haben nicht denselben Drang
nach Intimität.»
Der Eistee wird von einem jungen
Mann in Skinny-Jeans und sorgfältig
zerzaustem Haar serviert. Asada und
Kuwahata sagen, dass sie die gleichen
Freuden des Single-Daseins teilen:
Kleider, Musik, Einkaufen und ein
äusserst aktives Sozialleben. Mit ihren
Smartphones, die immer in Reichweite sind, geben sie zu, dass sie viel
mehr über soziale Netzwerke mit
ihren Freunden kommunizieren als in
der Realität. Asada fügt hinzu, dass sie
die letzten zwei Jahre vollkommen
besessen war von einem Computerspiel. Darin war sie die Besitzerin
eines Süssigkeiten-Ladens.
Der japanisch-amerikanische Autor
Roland Kelts sagt, dass japanische
Beziehungen in Zukunft immer virtueller werden. Dies sei eine unumgängliche Wirklichkeit. «Japan hat
unglaublich ausgeklügelte virtuelle
Welten und Online-Kommunikationssysteme geschaffen. Nirgends auf der
Welt sind die Smartphone-Apps so
kreativ.» Kelt erklärt, dass diese
Flucht in die virtuelle Welt auch daher
kommt, weil die Japaner sehr eng aufeinander leben und nur wenig Privatsphäre haben. Er ist aber auch davon
überzeugt, dass der Rest der Welt
nicht weit davon entfernt ist.
Die ehemalige Domina Ai Aoyama
– Queen Love – besinnt sich wieder
auf das Wesentliche und ist fest entschlossen, ihren Kunden die Wichtigkeit der Haut-an-Haut-und Herz-anHerz-Zweisamkeit zu vermitteln. Sie
akzeptiert die Tatsache, dass Technologie die Zukunft prägen wird, die
Gesellschaft aber müsse sich versichern, dass sie nicht überhandnehme.
«Es kann nicht gesund sein, dass
Menschen sich körperlich voneinander entfernen», sagt sie. «Sex mit
einem anderen Menschen ist ein
natürliches Bedürfnis. Beim Sex
schüttet man Endorphine aus, und er
hilft Menschen, besser im Alltag zu
funktionieren.»
Jeden Tag kommen Leute zu
Aoyama, die sich nach menschlicher
Wärme sehnen, auch wenn sie die
Unannehmlichkeiten einer Heirat
oder Langzeitbeziehung vermeiden
wollen. Aoyama wirft der Regierung
vor, dass sie es den Alleinstehenden
erschwere, so zu leben, wie sie
wollten. Zudem findet sie es kontraproduktiv, dass die Behörden die
Ängste betreffend der fallenden
Geburtenrate dermassen hochpeitschen müssen. «Ängste hochpeitschen», sagt sie, «hilft niemandem.
Und glauben Sie mir, ich kenne mich
mit Peitschen aus.»
Aus dem Englischen übersetzt
von Cécile Maurer.
Copyright «The Guardian».
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