Ich bin gar nicht der lockere Typ

Transcription

Ich bin gar nicht der lockere Typ
erschienen in NRZ, Aachener Nachrichten, Frankfurter Rundschau, und taz
"Ich bin gar nicht der lockere Typ"
23.02.2007 / SPORT / MANTEL
HANDBALL. Der Weltmeister und der Mentalcoach des Teams: Michael Kraus und Peter Boltersdorf
über ihre Erfolgsgeheimnisse. AN RHEIN UND RUHR. Bundesliga-Alltag nach dem WM-Triumph der
deutschen Handballer: HSG Düsseldorf gegen Frisch Auf Göppingen. Dynamischer Antreiber der
Schwaben ist Weltmeister Michael "Mimi" Kraus, 23, der umschwärmte Shooting Star (Spitzname "dat
Leckerchen") der Handball-Szene. Auf der Tribüne Peter Boltersdorf aus Aachen, Inhaber der
Beratungsfirma Reiss Profile. Der 54-jährige Diplomsportlehrer und frühere Oberliga-Handballtrainer
ist Mentalcoach des Weltmeisterteams und war bis vor wenigen Monaten auch beim FC Schalke 04
tätig.
NRZ: Herr Kraus, welchen Anteil hat dieser Mann am WM-Titel?
Michael Kraus: "Für mich einen ganz großen. Er hat uns seit einem Jahr intensiv mental vorbereitet.
Ein langer Prozess. Bei mir, und bei vielen anderen Spielern auch, hat er Blockaden gelöst. Peter
gehörte bald genauso zur Mannschaft wie die Trainer und wir Spieler.
NRZ: Was hat er konkret bei Ihnen bewirkt?
Kraus: Wir haben uns zu zweit hingesetzt, und er hat auf einmal gesagt: Mimi, Du kannst die
Entdeckung des Turniers werden. Wortwörtlich. Ich habe gestaunt. Er war sicher. Das hat
Selbstbewusstsein aufgebaut und hemmenden Respekt vor den vielen alteingesessenen Stars der
Gegner abgebaut. Das hat mir wirklich einen Schub gegeben. Und beim ersten Frankreich-Spiel hat
das gleich voll gewirkt.
NRZ: Herr Boltersdorf, Sie haben mit dem Reiss-Test gearbeitet. Was ist das?
Peter Boltersdorf: Dieser Test analysiert anhand von 128 Aussagen die Persönlichkeit eines
Menschen, seine fundamentalen Grundbedürfnisse, die allen seinen Handlungen zugrunde liegen. Es
gilt Sätze zu bewerten wie "Ich schlage zurück, wenn ich angegriffen werde" oder "Ich bestimme
gerne, wo es lang geht!" Mit den Antworten kann dargestellt werden, welche Werte, Ziele, Motive
jemanden wirklich antreiben und ihn bereit machen, Leistung zu bringen. Solche Lebensmotive sind
zum Beispiel Macht, Status, Familie, Ordnung, Ehre usw.
Kraus: Was mich vor allem antreibt, ich will offenbar eine Führungsrolle einnehmen. Ich bin keiner, der
sich verstecken will. Und das als Newcomer. Da war was zu verarbeiten.
Der Prototyp für das Lebensmotiv Status
NRZ: Was hat Sie überrascht?
Kraus: Vor allem, dass ich so viel Anerkennung von außen brauche.
Boltersdorf: Michael ist sogar der Prototyp für das Lebensmotiv Status und also Anerkennung. Damit
ist verbunden das Streben nach Perfektion in allen Lebenslagen. Noch mal trainieren, verbessern,
Bestätigung kriegen.
Kraus: Stimmt. Ich hatte immer gedacht, ich bin so ein lockerer Typ. Aber Peter hat tatsächlich recht.
Wenn das Training zu Ende ist, und irgendwas noch nicht so funktioniert hat - da werd ich verrückt.
Wenn die anderen Ruhe suchen, mach ich weiter.
NRZ: Was gab es über den Reiss-Test hinaus?
Boltersdorf: Ressourcen-Coaching. Das heißt Vieraugengespräche und dieses besonderes
Musikprogramm "Wing Waves", zu deutsch: Flügelschlag. Wissenschaftlich gesagt geht es um
bilaterale Gehirnstimulation. Beide Gehirnhälften gleichzeitig zu aktivieren hilft der psychischen
Erholung. Nach einem Spiel kann eine kleine persönliche Niederlagen unbewusst belasten: Warum
hab ich da nicht aufgepasst oder warum den fünften Siebenmeter nicht reinbekommen? Selbst der
Rausch nach einem tollen Sieg kann die Erholung bremsen.
Kraus: Und der Peter hat anhand der Tests analysiert, dass ich ein Spieler bin, der nach jedem Spiel
noch besonders viel arbeitet im Kopf. Bestimmte Szenen tauchen wieder vor meinen Augen auf und
lassen mir keine Ruhe.
Boltersdorf: Die Musik soll im Wachzustand das Träumen simulieren. Dabei vergesse ich meinen
verworfenen Siebenmeter nicht, aber ich entkopple die negative Emotion vom Ereignis. Die Musik ist
individuell zugeschnitten, aber immer mit einem speziellen Stereo-Wechseleffekt der Töne. Die
psychische Erholung bei zehn WM-Spiele in 16 Tagen musste unbedingt beschleunigt werden. Und
ich behaupte, das konnte man bei unseren Jungs sehen, dass wir in Halbfinale und Endspiel frischer
waren als die anderen. Die waren alle hellwach.
NRZ: Was sind Michael Kraus Lebensmotive?
Boltersdorf: Neben Status ist es ein hohes Machtmotiv. Sein Führungsanspruch kollidiert dabei
vordergründig mit der Tatsache, dass er jung ist. Aber: Das innere Wollen, die Motivation sind da, und
das hat nichts mit dem Lebensalter zu tun. Und also musste man das fördern.
NRZ: Herr Boltersdorf, Sie haben viel mit Fußballern gearbeitet (Schalke, Mainz, Aachen). Sind
Handballer anders?
Boltersdorf: Einige schon. Überraschend war, dass Handballer allgemein ein höheres Lebensmotiv
Status haben. Das betrifft Menschen, für die eine besondere Rolle wichtig ist, die einzigartig und
originell sein wollen in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit. Handballer bekommen ja keine Vergütung
vom DHB. Da hilft so ein Status-Motiv, um all die zusätzlichen Lehrgänge, Trainings und so weiter
wirklich zu wollen. Und Handballer sind, immer im Durchschnitt betrachtet, die etwas intellektuelleren
Menschen.
Fußballer sind eher praktisch orientiert
NRZ: Um das zu ahnen, braucht man keinen Reiss-Test.
Boltersdorf (lacht): Stimmt. Aber wir können es wissenschaftlich etwas fundieren. Fußballer sind eher
praktisch orientiert. Sie wollen etwas lernen, um es nutzen zu können. Das Neugier-Motiv ist niedriger,
sie wollen nicht unbedingt wissen, warum etwas funktioniert, sondern es vor allem erfolgreich
anwenden können.
NRZ: Haben eigentlich Handball-Torhüter eine besonders skurril gestrickte Disposition?
Boltersdorf: Tja, könnte man meinen. Aber es sind sogar weniger außergewöhnliche Persönlichkeiten
als Fußball-Torhüter. Die sind psychisch belastbarer. Bei den Fußballern gehen schon in der Jugend
diejenigen ins Tor, die besonders wenig Angst haben. Beim Handball eher die geschicktesten. Die
Kleinen werfen ja nicht so hart, da brauche ich keine Angst haben. Und Angstfreiheit kann ich lernen.
NRZ: Haben die Handballer skeptisch oder begeistert mitgemacht?
Boltersdorf: Das war wie bei den Fußballern: Anfangs ist da immer etwas Belustigung und Angst, dass
das was Esoterisches ist oder ein Seelenstriptease. Dann war da sehr schnell ein Erstaunen, dass der
Reiss-Test eine ernsthafte und seriöse Sache ist.
NRZ: Aber Reiss wirft keine Tore - und heute, Herr Kraus, die 59. Minute in Düsseldorf: Ihr übereilter
Fehlwurf, der Gegenstoß. Die Weiche zur Niederlage.
Kraus: O ja. Und wie mich das ärgert. Und auch die letzte Szene zehn Sekunden vor Schluss, da
hatten wir noch die Chance auszugleichen. Die hätte ich anders lösen müssen. Das muss ich
verarbeiten. Deswegen würde ich sonst schlecht schlafen. Da bin ich um die Musik heute Nacht sehr
froh.
NRZ: Waren der Titel, Herr Kraus, und Ihre sensationelle Wahl ins WM-Allstar-Team (als einziger
deutscher Feldspieler) eine Bestätigung der Arbeit?
Kraus: Das kann man sagen. Wahnsinn. Das I-Tüpfelchen. Bei mir war vorher das Problem: Als junger
Spieler aus der zweiten Reihe so ein WM-Turnier spielen, all die Erwartungen, da ist viel Druck. Da
war jemand gut, der einem den Rücken stärkt. Und ich wusste anhand meines Reiss-Profils, was zu
tun war.
NRZ: Sind Sie stolz auf sich, Herr Boltersdorf?
Boltersdorf: Naja, bei so einem Erfolg ist man schon stolz. Aber es ist spekulativ, wie groß mein Anteil
war. Jedes Rad, das man dreht, ist nur eines von vielen. Wenn die Physios nicht derart Akkord
gearbeitet hätten, wäre auch die ganze psychische Erholung nutzlos gewesen.
NRZ: Psychisch stabile Halbkrüppel können nicht Weltmeister werden.
Boltersdorf: Genau. Deshalb fand ich so toll, was der Betreuer der Australier gesagt hat: Unsere
Spieler sind psychisch top drauf, nur mit dem Handball haperts halt noch. Bei uns passte alles.
BERND MÜLLENDER
Die Inhalte auf dieser und den übrigen Seiten sowie die Gestaltung der Seiten unterliegen dem
Urheberrecht des Zeitungsverlags Niederrhein GmbH & Co. Die Verbreitung ist nur mit schriftlicher
Genehmigung des Verlages zulässig. Dies gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken
und Vervielfältigung auf CD-ROM.
© NRZ, Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages