BB 42 2004 BB-Forum Einkommensteuerreform Flat Tax oder Dual

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BB 42 2004 BB-Forum Einkommensteuerreform Flat Tax oder Dual
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STEUERRECHT
Betriebs-Berater (BB) I 59.lg. I Heft 42 118. Oktober 2004
Seer I BB-Forum: Einkommensteuerreform - Flat Tax oder Duallncome Tax?
und vorlagepflichtig. Eine Verpflichtung zur Vorlage einer solchen Studie könnte sich dann ergeben, wenn sie zur Beschreibung und Ausgestaltung der zukünftigen Istbeziehung herangezogen wurde (z. B. wenn aufgrund einer solchen Studie die Verrechnungspreissystematiken angepasst werden).
der Natur sind (Schwachstellenanalyse, Risikobeurteilungen, Konzernsteuerplanung etc.). Diese dienen der ureigenen Aufgabe der
Steuerpflichtigen zur Beurteilung der eigenen Steuersituation und
sind allein der Würdigung der Sollbeziehung zuzurechnen. Eine
Aufzeichnungspflicht nach § 90 Abs. 3 AO existiert nicht.
Ebenfalls keine Aufzeichnungs- und Vorlagepflicht besteht für
Gutachten des Steuerberaters aller Art, die sachverhaltswürdigen-
Den befürchteten "Zugriff ohne Ende" - ein Schreckgespenst unserer Zeit - es gibt ihn nicht.
Professor Dr. Roman Seer! Bochum *
BB-Forum: Einkommensteuerreform - Flat Tax oder Duallncome Tax?
I. Bedürfnis nach einer grundlegenden Rechtsreform
Die derzeitige Einkommensbesteuerung befindet sich in einem
desolaten Zustand l . Sie hat sich nach dem 2. Weltkrieg fehlentwickelt. Die Einkommensteuer ist als Mittel sozialer Gestaltung,
Lenkung und Umverteilung missbraucht worden. Das Einkommensteuergesetz weist demzufolge ein zerklüftetes Einkunftsartenrecht auf, das die einzelnen Einkünfte unvollständig erfasst,
unterschiedlich quantifiziert und unterschiedlich steuerlich belastet2 . Das vor allem inflationsbedingte Wachstum der Steuerlast 3
fördert den Steuerwiderstand und steuerminimierende Gestaltungen, auf die der Gesetzgeber mit sog. Buchstabenparagraphen in
Bandwurmlänge reagiert. Dies geschieht dabei in einer Geschwindigkeit, auf die sich die Akteure nicht mehr einstellen können4 .
Die ertragsteuerlichen Vorschriften haben so mittlerweile eine
Komplexität erhalten, die weder von FinanzbeamtenS noch von
den Steuerpflichtigen und ihren Beratern beherrscht werden
kann 6. Das Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht ist dadurch
zu einer unüberschaubaren Materie verkommen, die selbst für
SpeZialisten kaum mehr verständlich ist.
der haben auf den Verfall der Körperschaftsteuersätze mit einer
dualen Einkommensteuer (sog. dual income tax) reagiert. Bei einer
dualen Einkommensteuer unterliegen Kapitaleinkommen, gleichgültig, ob es sich um Gewinne, Zinsen, Mieten oder Pachten handelt, entweder dem Körperschaftsteuersatz oder einern gleich hohen proportionalen Einkommensteuersatz für Unternehmensgewinne und private Kapitaleinkommen. Nur noch das Arbeitseinkommen wird progressiv besteuert und umfasst vor allem Löhne
einschließlich kalkulatorischer Unternehmerlöhne, Pensionen
und gesetzlicher Altersrenten. So besteuern etwa Finnland, litauen, Norwegen und Schweden Kapital- und Unternehmensein-
Vor diesem Hintergrund besteht das dringende Bedürfnis nach einer Rechtsreform. Sie sollte das Einkommensteuergesetz von Lenkungs- und Subventionsnormen befreien und auf seine systemtragenden Fiskalprinzipien 7 zurückführen. Das Fundamentalprinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit 8 ist innerhalb der Bemessungsgnmdlage konsequent umzusetzen. Gleichzeitig bedarf es aber bei gleichgelagerten Massenphänomenen Typisierungen, welche die Bemessungsgrundlage
im Steuervollzug operabel machen 9 . Eine praxisgerechte und effiziente Ausgestaltung des Besteuerungsverfahrens hat die Vollziehbarkeit des materiellen Einkommensteuerrechts zu gewährleisten lO • Das gesetzte Recht muss auch durchsetzbar sein, sonst
bleibt es bloßes "Paper Law" und verliert seinen inneren Geltungsanspruch. Schließlich ist der Steuertarif abzusenken, um die
durch die kalte Steuerprogression stetig gewachsene Belastungsintensität zurückzuführen.
11. Gebot gleichmäßiger Besteuerung:
Synthetische Einkommensteuer
Eine Einkommensteuer lässt sich als synthetische Einheitssteuer
(global income tax, unitary income tax, synthetic income tax)
oder als analytische Schedulensteuer ausgestalten ll . Bisher wurde
weithin konsentiert, dass das Konzept einer synthetischen, alle
Arten von Einkommen gleichmäßig erfassenden und belastenden
Einkommensteuer das international anzustrebende Ideal darsteIIt l2 . Unter dem Druck des internationalen Steuerwettbewerbs,
der zur deutlichen Absenkung der Körperschaftsteuersätzegeführt
hat 13 , ist diese überzeugung erodiert. Die skandinavischen Län-
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Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Steuerrecht an der Ruhr Universität Bochum. Mehr über ihn erfahren Sie auf S. XJl. Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den der Verfasser am 22. 6. 2004 vor der Evangelischen Akademie Loccum
(Generalthema "Um-Steuern! Die Reform des Steuer- und Abgabensystems") gehalten hat.
Über das Reformbedürfnis besteht weithin Einigkeit, siehe nur Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, 2. Aufl., Köln 2003, 6121.; Lang, Prinzipien und Systeme
der Besteuerung von Einkommen, DStJG Bd. 24 (2001), 49, 73ff.; Kirchhof, Einkommensteuer-Gesetzbuch, Ein Vorschlag zur Reform der Einkommen- und
Körperschaftsteuer, Schriftenreihe des Instituts für Finanz- und Steuerrecht,
Forschungsgruppe Bundessteuergesetzbuch. Bd. 2, Heidelberg 2003, passim
(unter Mitarbeit von Bippus, Eisgruber, Ehrhardt-Rauch, Fischer, Knaupp, Kube,
Pa/m, Peuker, Rauch, Seiler, Statkiewicz).
Siehe nur Lang, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 1i. AufL, Köln 2002, § 9 Rz. 4ii ff.;
das., a. a. O. (Fn. 1).
Zum Problem der sog. kalten Steuerprogression s. Stern, Der Tarif muss auf Räder
- Heimliche Steuererhöhungen vermeiden, in: Karl-Bräuer-Institut des Bundes
der Steuerzahler, Heft 95, Wiesbaden 2002; ders., DStZ 2003,294.
Für das Jahr 2003 lassen sich allein 13 (!) Gesetze zählen, die das Einkommensteuergesetz in mehr oder minder starker Weise verändert haben, s. Wendt, in:
HerrmannlHeuer/Raupach,Jahresband 2004, Einf., Anm. J03-1 (April 2004).
So weisen etwa die südbayerischen Finanzamtsvorsteher in der sog. Burghausener Erklärung v. 22. 2. 2002 öffentlich darauf hin, dass sie die Gesetzmäßigkeit
der Besteuerung nicht mehr gewährleisten können.
Zustandsbeschreibung bei Kirchhof, Der sanfte Verlust der Freiheit, Münchenl
Wien 2004, 3: "Die Steuerberater hetzen dem ständigen Wechsel und Wirrwarr
der Gesetzgebung hinterher. Ihnen fehlt die Planungssicherheit, die innere Folgerichtigkeit und Widerspruchsfreiheit der Regelungen, die Plausibilität des
Rechtsrnaßstabes, den sie in der Beratung ihren Mandanten zu vermitteln haben. Das Steuergesetz und seine Erläutemngen werden zur Wegwerfware."
Zur Bedeutung des Systemgedankens im Steuerrecht s. Lang. in: Tipke/Lang
(Fn. 2), § 4 Rz, iOff.
Dazu grundlegend Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, 2. Aufl., Köln 2000,
4i9 ff.
Zum Postulat "Steuergerechtigkeit durch Steuervereinfachung" s. Lang, in: Festschrift für Meyding, Heidelberg 1994, 33, 34 f.; Fischer (Hrsg.), Steuervereinfachung, DStJG, Bd, 21 (1998) mit Beiträgen v. Kirchhof, Ruppe, Friauf, Ault, Quantschnigg, Lang, Raupach, Meyding, Stolter(ohtu. Fischer.
Ausführlich Seer, StuW 2003,40,44.
Siehe nur Tipke, StRO Il (Fn. 1),668 ff.
Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, Habil. Köln 1981/88,
218 ff., m. w. N.; Bums/Krever, Individuallncome Tax, in: Thuronyi (Ed.), Tax
LawDesign and Drafting, Vol. 2, Washington 1998, 495, 496 f.
Dieser Trend hat sich durch den Beitritt der zehn neuen Mitgliedsländer in die
EU zum 1. 5. 2004 noch verstärkt, s. BMF, Die wiChtigsten Steuern im internationalen Vergleich, Berlin, Ausgabe 2003, 13-19; Jacobs/Spengel/Finkenzeller/Roche,
Company Taxation in the New EU Member States, Frankfurt a. M,fMannheim
2003,10 f.
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kommen mit niedrigen Proportionalsteuersätzen von 15-30 %14,
während sie das Arbeitseinkommen progressiv bis zu 57% belasten.
Diesen Vorbildern möchte der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung nach einer lesenswerten Analyse einzelner Steuerreformkonzepte in allerdings für
Deutschland deutlich modifizierter Form nachfolgen 15. Er hat erkannt, dass proportionale/lineare Tarife unter Effizienzgesichtspunkten den direkt-progressiven Tarifen deutlich überlegen sind
und zugleich einen wesentlichen Beitrag zur Steuervereinfachung
leisten (dazu näher unten VI!.). Allerdings sieht er sowohl das
gleichheitsrechtliche Defizit als auch das Abgrenzungsproblem
und will deshalb - abweichend von den nordischen Staaten - die
Spreizung zwischen dem proportionalen Kapitaleinkommensteuersatz und der progressiven Besteuerung des Arbeitseinkommens
auf 5 Prozentpunkte begrenzen 16. Zudem darf zur Wahrung der
Gleichmäßigkeit der Besteuerung die Steuerbelastung des Arbeitseinkommens nicht davon abhängen, ob es im Rahmen einer unternehmerischen oder einer abhängigen Tätigkeit erwirtschaftet
wird. Dies bedeutet, dass der Gesamtgewinn eines Unternehmens
für steuerliche Zwecke in zwei Komponenten zerlegt werden
muss: in die proportional besteuerte Rendite des investierten Kapitals und in den Wert der eingesetzten Arbeitskraft des Unternehmers (Unternehmerlohn). Die damit verbundenen Fragestellungen sind - so führt der Sachverständigenrat selbst zutreffend aus
- äußerst komplex und gelten als ,,Achillesferse" der dualen Einkommensteuer 17 . Bisher stellt sich die Frage der Angemessenheit
von Geschäftsführergehältern nur im Zusammenhang mit der
verdeckten Gewinnausschüttung nach § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG. Die
hierzu ergangene, uferlose Kasuistik 18 '''IÜrde um eine deutlich
größere Dimension - allerdings mit umgekehrten Vorzeichen 19 "bereichert". Des weiteren ist fraglich, ob es eine Verlustverrechnung zwischen beiden Einkunftsarten geben kann. Will man dies
zur weitgehenden VerWirklichung des objektiven Nettoprinzips
gewährleisten, bedarf es Anpassungen aufgrund des unterschiedlichen Tarifniveaus2o . Grundfreibeträge und sonstige persönliche
Entlastungsbeträge sollen dagegen ausschließlich dem Arbeitseinkommen zugerechnet werden 21 . Dies ~rde bedeuten, dass bei
Steuerpflichtigen, die ausschließlich von Kapitaleinkommen leben, das persönliche Familienexistenzminimum (subjektives Nettoprinzip) unberücksichtigt bliebe. Angesichts der vom BVerfG
formulierten verfassungsrechtlichen Vorgaben 22 wäre solchen
Steuerpflichtigen aber wohl ein Optionsrecht zur Anwendung der
progressiven Einkommensteuer einzuräumen.
Die sog. duale Einkommensteuer wird nach alledem keinen echten Beitrag zur Vereinfachung des deutschen Steuersystems leisten können 23 . Überhaupt fragt es sich, warum sich der verkomplizierende Aufwand eines neuen Einkünftedualismus lohnt, wenn
die Spreizung der Steuersätze auf 5 % begrenzt werden S011 24 • Deshalb ist es richtig, wenn sowohl der sog. Karlsruher Entwurf25 als
auch der sog. Kölner Entwure6 an der Gleichbehandlung der Einkunftsarten im Sinne einer synthetischen Einkommensteuer festhalten. Letzteres entspricht dem verfassungsrechtlichen Postulat
der Gleichmäßigkeit der Besteuerung (Art. 3 Abs. 1 GG). Wenn
sich steuerliche Leistungsfähigkeit im Ist-Einkommen ausdrückt,
dann muss grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass
10000 €, die ein Gewerbetreibender einnimmt, nicht anders zu
behandeln sind als 10000 €, die ein Arbeitnehmer, Rentner oder
Aktionär beziehtZ7 •
11I. Kapitalorientierte versus konsumorientierte Besteuerung
Die traditionell kapitalorientierte Einkommensteuer setzt die Besteuerung bereits im Zeitpunkt des Vermögenszugangs an. Besteuert wird schon das konsumierbare Einkommen, auf die Ein-
kommensverwendung, d. h. darauf, ob das erwirtschaftete Einkommen auch tatsächlich konsumiert wird, kommt es nicht an 28 .
Die Grundthese der finanzwissenschaftlichen Vertreter konsumorientierter Besteuerung lautet, dass die endgültige Reallast einer
Steuer immer ein Konsumopfer sei. Folglich seien auch die Steuertatbestände "konsumbasiert" zu formulieren, um tatsächliche
und angestrebte Steuerwirkungen in Einklang zu bringen 29 • Allerdings ist Ziel allen Wirtschaftens nicht nur der Konsum, sondern
auch die Vermehrung des Wohlstands, der sich nicht nur im Konsum, sondern gerade in der Ansammlung von Vermögen ausdrückt 30 . Das Hauptargument für eine konsumorientierte Besteuerung besteht in der Inflationsbereinigl.lng. Infolge der Periodenbesteuerung wird das Lebenseinkommen des sparenden gegenüber dem sofort konsumierenden Steuerpflichtigen stärker belastet 31 . Um dem zu begegnen, schlagen die Befürworter einer
konsumorientierten Einkommensteuer entweder die Freistellung
der Zinsen (Kapitaleinkünfte) oder eine sog. sparbereinigte (nachgelagerte) Besteuerung32 vor. Die völlige Freistellung der Kapital14 Siehe dazu Sachverständigenrat zur Begutachtung da gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsfinanzen konsolidieren - Steuersystem reformieren, Berlin, Dezember 2003, 351 (vereinfachende Tabelle 63); außerdem Kesti (International Bureau ofFisral Documentation), European Tax Handbook 2004, Amsterdam: Finnland '" 29 % proportional auf Kapitaleinkommen/29 - ca. 52 % progressiv
einschl. einer kommunalen Einkommensteuer auf Arbeitseinkommen; Litauen
= 15 % proportional auf Kapitaleinkommen/33 % proportional auf Arbeitseinkommen; Norwegen = 28 % proportional auf Kapitaleinkommen/28 - ca. 55,3 %
progressiv einschl. einer kommunalen Einkommensteuer auf Arbeitseinkommen; Schweden =30% proportional auf Kapitaleinkommen/30 - ca. 57% progressiv einschl. einer kommunalen Einkommensteuer auf Arbeitseinkommen.
lS Sachverständigenrat(Fn. 14), Tz. 558fl. (S. 324ff.).
16 Sachverständigenrat(Fn. 14), Tz. 584, 594(S. 334/338).
17 Sachverständigenrat (Fn. 14), Tz. 591 (S. 336).
18 Siehe etwa Lange/Janssen, Verdeckte Gewinnausschüttungen, 8. Aufl., Herne/
Berlin 2003, passim.
19 Da der Spitzensteuersatz für das Arbeitseinkommen über dem proportionalen
Kapitaleinkommensteuersatz liegt, wird das Interesse des Unternehmers regelmäßig darauf gerichtet sein, statt Arbeits- Kapitaleinkommen zu gerieren.
20 Der Sachverstiindigenrat (Fn. 14), Tz. 596 (S, 338), schlägt für ein negatives Kapi'
taleinkommen eine Steuergutschrift in Höhe des Produkts aus Steuersatz für das
Kapitaleinkommen und dem Verlust vor. Nicht genutzte Steuergutschriften sol,
len überperiodisch vortragsfähig sein.
21 So der Sachverständigenrat(Fn. 14), Tz. 595 (S. 338).
22 BVerfG v. 29.5.1990 -1 BvL 20/86 u. a., BVerfGE 82,60, 82ff., BB 1990, 1750
(Kindergeld/Kinderfreibetrag); BVerfG v. 25. 9. 1992 - 2 BvF 4, 5/89, BVerfGE
87, 153, 169 ff., BB 1992, 2124, 2341 m. Anm. Sangmeister (Grundfreibetrag);
BVerfGv. 10. 11. 1998-2BvR 1057/91 u.a., BVerfGE99, 216, 231ff., BB1999,
Beil. 3 zu H. 6 (Kinderbetreuungskosten); BVerfG v. 10.11. 1998 - 211vR 1220/
93, BVerfGE 99,246, 260ff., BB 1999, Beil. 3 zu H. 6 (Kinderfreibetrag); BVerfG
v. 10. 11. 1998 - 2 BvR 1220/93 u. a., BVerfGE 99, 268 fl., 273 ff., BB 1999, Beil. 3
zu H. 6 (Kinderfreibetrag).
23 Zumindest im Ergebnis ebenfalls ablehnend Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, Flat Tax oder Duale Einkommensleuer - Zwei Entwürfe zur Reform der deutschen Einkommensteuer, Gutachten, Berlin, Juli
2004, 14 ff., 30 f.
24 Ebenso nun auch Wissensclwft/icher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen
(Fn. 23), 18.
2S Kirchhof/Altelwefer/Arndt;Bareh/Eckrnann/Freudenberg/Hahnemann/KopeilLangl
Liickhardt/Schiitter, Karlsruher Entwurf zur Reform des Einkommensteuergeset,
zes, DStR 2001, 917. Der Kar/smher Entwurf ist nun in dem Entwurf eines Einkommensteuergesetzbuches (Fn. 1) aufgegangen.
26 Lang/Herzig/Hey!Horlemann/Pelka!Pezzer/Seer(Tipke, Kötner Entwurf eines Ein·
kommensleuergesetzes, erscheint demnächst im Otto-Schmidt-Verlag, Köln.
27 Plastisch Tipke, StRO 11 (Fn. 1), 671; siehe auch Kirchhof(Fn. 6), 139.
28 Zur Unterscheidung s. Tipke (Fn. 1),638 ff.
29 Rose, Plädoyer für ein komumlJasiertes Steuersystem, in: Rose (Hrsg.), Konsumorientierte Neuordnung des Steuersystems, Heidelberg 1991, 7, 14 ff.
30 Zutreffend Tipke, StRO Il (Fn. I), 640. Das in Deutschland vorhandene Sparvermögen wird auf ca. 3,7 Billionen € geschätzt.
31 Siehe Beispiele bei Rose, Konsumorientierung des Steuersystems - theoretische
Konzepte im Lichte empirischer Erfahrungen, in: Krause-Junk (Hrsg.), Steuersys.
teme der Zukunft, Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik 1996, Bertin 1998,
247,249 ff.; Dorenkamp, Unternehmenssteuerreform und partiell nachgelagerte
Besteuerung, StuW 2000,121,125 f.; Lang (Fn. 1), DStJG M. 24 (2001), 49, 67.
32 Siehe dazu Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs, BMF.Schriftenreihe, Heft 49,
Bonn 1993, Rz. 560, 580ff.; Mitscllke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts, Saarbrücken 2003, Tz. 20, 23 ff. (noch unveröffentlichtes Manuskript); ausf. nun Dorel1kamp, Nachgelagerte Besteuerung von Einkommen - Be-
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einkünfte geht jedoch über die bloße Inflationsbereinigung hinaus 33 . Dazu wäre allenfalls der marktübliche Zins 34 (besser noch:
die Inflationsrate), bezogen auf das gesparte Einkommen, von der
Bemessungsgrundlage abzuziehen. Bei der sparbereinigten Einkommensteuer werden alle Investitionen einschließlich der Ersparnisse bei der Einkünfteermittlung abgezogen; dafür sind die
späteren Bezüge aus den Investitionen voll anzusetzen.
Bei diesem Modell unterscheiden sich kapital- und konsumorientierte Einkommensteuer nicht durch den Umfang der Bemessungsgrundlage, sondern nur durch den Besteuerungszeitpunkf s.
Um den Grundsatz der Individualbesteuerung zu verwirklichen
und akkumulierte Vermögen dem Fiskus nicht auf Dauer zu entziehen, bedarf es dabei einer Lebensendbesteuerung 36 . Der Aufwand ist insgesamt beträchtlich 37 : Die Vermögensbewegungen
des Sparens und Entsparens einschließlich der Kreditaufnahme
bzw. -tilgung sind zu kontrollieren. Um den fiskalischen Bedürfnissen gerecht zu werden, müsste den nachgelagertBesteuerten
eine Wegzugsteuer treffen 38 . Soll das Steueraufkommen nicht dra·
matisch wegbrechen, kann ein Paradigmenwechsel zur nachgelagerten Einkommensteuer nur langfristig angelegt sein und nur
schrittweise unter der Ägide eines Übergangsrechts vorgenommen werden 39 . Bei realistischer Betrachtung wird die nachgela.
gerte Besteuerung auf absehbare Zeit woW nur im Bereich der Besteuerung von Alterseinkünften mit langfristig angelegter Zukunftsvorsorge umsetzbar sein 4o . Zusätzlich sind die steuerlichen
Freibeträge und die Steuertarifstufen automatisch an die Lohn·
bzw. Preisentwicklung durch Indexierung anzupassen, um die
kalte (heimliche) Steuerprogression 41 zu vermeiden.
spricht es, die Aufwendung in einen durch den Erwerb und in ei·
nen durch die Privatsphäre veranlassten Teil aufzuteilen50 . Dies
hat die Finanzverwaltung im Zweifel durch eine Schätzung (§ 162
AO) zu tun. Wo menschliche Grundbedürfnisse (z. B. Wohnen,
Essen, Geselligkeiten) betroffen sind, kann der durch die Erwerbs·
tätigkeit veranlasste Mehraufwand indessen nur pauschaliert werden. Deshalb ist der gesamte Bereich von Bewirtungs-, Verpflegungs·, übernachtungskosten typisierungsfähig. Dasselbe gilt für
die Kosten, die Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte,
Umzüge, doppelte Haushaltsführung oder das häusliche Arbeitszimmer verursachen. Wandelt sich die Einkommensteuer durch
eine deutliche Tarifsenkung zu einer sog. flat tax (dazu unten
VII.), sollte auch ein Abzugsverbot für die genannten Aun-vendungen, die typischerweise wesentlich privat mitveranlasst sind, diskutabel sein51 . Auch wenn rechtsdogmatisch zwischen der Messfunktion der Steuerbemessungsgrundlage und der Belastungs·
funktion des Steuertarifs unterschieden werden muss52, besteht
hinsichtlich der Belastungswirkung eine Interdependenz zwischen beiden Besteuerungsgrößen, aus der Konsequenzen für das
Ausmaß der Typisierungsbefugnis gezogen werden können: Je
schwächer die Eingriffsintensität auf der Belastungsebene ist, um
so größer wird der Typisierungsspielraum des Gesetzgebers auf
der Ebene der Bemessungsgrundlage 53 . Das Recht zur gesetzlichen
Typisierung steht aber weiterhin unter dem Vorbehalt der reali-
33
34
IV. Überperiodische Ausrichtung der Besteuerung
Die Einkommensteuer bemisst sich traditionell nach dem innerhalb eines bestimmten Zeitabschnitts (regelmäßig: innerhalb eines Kalenoojahres) erwirtschafteten Einkommen. Entgegen der
Auffassung von Paul Kirchhot 2 ist das Periodizitätsprinzip kein.
ethisch·materielles, sondern nur ein technisch-budgetäres Prinzip, das allerdings erhebliche materielle Wirkungen auslöst. Die
Fraktionierung des Lebenseinkommens in Zeitabschnitte hat immer etwas Willkürliches. Das Steuersubjekt erwirbt nicht für den
Periodenbedarf Einkommen, sondern unabhängig davon 43 . Das
systemtragende Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (siehe oben H.) fordert daher eine über·
periodische Sicht, die das Lebenseinkommen ins Visier nimmt44 .
Vor diesem Hintergrund ist der überperiodische Verlustabzug nach
§ IOd EStG keine Steuervergünstigung oder Subvention, sondern
eine das objektive Nettoprinzip verwirklichende Fiskalzwecknorm 45 .
V. Vereinfachung durch Typisierung
Das Eillkommensteuergesetz erfasst Massenvorgänge. Bei der Ord·
nung von Massenerscheinungen besitzt der Gesetzgeber einen
Spielraum für generalisierende, typisierende und pauschalisierende Regelungen. Gerade die jährlich wiederkehrenden Massenverwaltungsverfahren des Einkommensteuergesetzes bedürfen ein·
fach begreif- und beweisbarer Anknüpfungspunkte 46 . Die persön·
lichen existenzsichemden Aufwendungen sind nur durch eine
Typisierung im Massenfallvollzug verarbeitbar 47 . Erwerbsaufwen·
dungen sind in einer hinreichenden Dimension so zu pauschalieren, dass damit der tatsächlich angefallene Aufwand in der über·
wiegenden Zahl der Fälle erfasst wird 48 .
Eine Typisierungsbefugnis besteht insbesondere dort, wo die Erwerbssphäre von der Privatsphäre abgegrenzt werden muss 49 . Der
Verwirklichung des objektiven Nettoprinzips als Konkretisierung
der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ent-
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steuerungsaufschub für investierte Reinvermögensmehrungen, Diss. Köln, Ber!in 2004, passim.
Zum Unterschied zwischen der sog. Zins- und der sog. Sparbereinigung s. Dorenkamp (Pn. 32), 79 ff.
Vorschlag etwa von Rose, Die Einfachsteuer: "Das Gesetz", in ders. (Hrsg.), Reform der Einkommensbesteuerung in Deutschland, Heidelberg 2002, 150 ff.
(§ 2 zur Zins· und Sparbereinigung).
Siehe Lang (Fn. 1), DStJG Bd. 24 (2001), 49.77: Dormkamp (Pn. 32), 60ff.
Siehe Dorenkamp (Pn. 32), 5 7f., 264 ff.
Tipke, StRO 11 (Fn. 1),644; a. A. Dorenkamp (Fn. 32), 271 ff.
Eine Wegzugsteuer steht innerhalb der EU allerdings im Verdacht, Grundfreiheiten des EG-Vertrages zu verletzen, s. EuGH v. 11. 3. 2004 - C·9/02, RIW 2004,
392, EWS 2004, 180 (Hughes de Lasteyrie du Saillant). Dorenkamp (Fn. 32),
237 ff., will die Wegzugsteuer auf Fälle beschränken, in denen der Vorgang des
"Entsparens" im Zuzugstaat keiner Besteuerung unterliegt und deshalb das gesparte/investierte Einkommen, das beim Wegzugstaat wegen des Systems nach·
gelagerter Besteuerung bisher nicht erfasst worden ist, auch supranational an,
sonsten keiner Besteuerung zugeführt werden würde.
Dorenkamp (Fn. 32), 279 ff.; siehe nur die bis in das Jahr 2040 (!) reichenden
Übergangs- bzw. Anpassungsregelungen im Gesetz zur Neuordnung der einkommensteuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und
Altersbezügen (Alterseinkünftegesetz-AltEinkG) v. 5.7.2004, BGBl.I, 1427.
Den Einstieg in die nachgelagerte Besteuerung hat jüngst das sog. Alterseinkünftegesetz (Fn. 39) vollzogen. §§ 15, 16 des Entwurfs eines Eillkommensteuergesetzbuchs (Pn. 1, dazu dort S. 244 ff.) beschränken die nachge!agerte Besteuerung
aufLeibrenten; weitergehend §§ 8, 30, 31 des Kölner Entwllr(s (Fn. 26).
Siehe oben Fn. 3.
Kirchhof, in Kirchhof (Hrsg.), EStG, Kompaktkommentar, 4. Aufl., Heidelberg
2004, § 2 Rz. 17.
43 Lang(fn.l),DStJGBd.24(2001),49,65.
44 Ausführlich Hackmann, Die Besteuerung des Lebenseinkommens, Habil. BerEn,
Tübingen 1979, 47ff.; Mitschke, Lebenseinkommensbesteuerung durch interperiodischen Progressionsausgleich, StuW 1980, 122 ff.; Dorenkamp (Fn.32),
120 ff.
45 Tipke, StRO [[ (Fn. 1),759 f.; ebenso Sachverständigenrat(Fn. 14), Tz. 596 (5.338);
Wissenschaftlicher Beirat beimBMF (Fn. 23), S. 15, 22f.
46 Kirchho((Fn. 42), Ein!., Rz. 45.
47 Siehe Kirchhof, Steuergleichheit durch Steuervereinfachung, DStJG Bd.21
(1998),10,22.
48 Grundlegend Ruppe, Steuergleichheit als Grenze der Steuervereinfachung,
DStJG Bd. 21 (1998),29, SOff., mit der Unterscheidung zwischen widerlegbaren
und unwiderlegbaren PauschaEerungen.
49 Zu den Grenzen der Typisierung s. Tipke, StRO I (Fn. 8),349 ff.
50 Tipke, StRO I! (Fn. 1), 769; vg!. auch Drenseck, Gedanken zum Aufteilungs-und
Abzugsverbot - § 12 NI. 1Satz 2EStG im Wandel, Festschrift für Offerhaus, Köln
1999,497 ff.
51 So etwa § 4 des Entwurfs eines Einkommensteuergesetzbuchs (Pn. 1) LV. mit § 31
des Entwurfs einer Rechtsverordnung zum ESt-Gesetzbuch; Wissenschaftlicher
Beirat beim BMF (Fn. 23), S. 9 f.
52 Siehe.Seer, StuW 1997, 283, 286, 298.
53 A. A. wohl Tipke, StRO I! (Fn. 1),843.
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Betriebs-Berater (BB) I 59. [g. I Heft 42 118. Oktober2004
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tätsgerechten Erfassung der Wirklichkeit (Gebot der Typengerechtigkeit). Die Typisierung muss sich auch dann am Durchschnittsfall ausrichten und darf nicht den atypischen Grenzfall zum Typus erheben.
VI. Ausschluss nichtsteuerlicher Sozialzwecknormen
Das Einkommensteuergesetz ist nicht unerheblich durchsetzt mit
Lenkungs- und Umverteilungsnormen (sog. Sozialzwecknormen)S4, die nicht fiskalisch als Lastenaus(ver-)teilungsnormen ss ,
sondern z. B. wirtschafts-, sozial-, kultur-, forschungs-, umweltoder gesundheitspolitisch motiviert sind. Sachlich gehören die Sozialzwecknormen nicht zum Steuerrecht, sondern zum Wirtschafts-, Sozialrecht oder zu anderen Rechtshereichen. Bereits 1988
forderte der 57. Deutsche ]uristentag, Steuervergünstigungen und
andere außersteuerlich motivierte Sonderregelungen zu streichen s6 . Dieses Postulat wird mittlerweile in der Steuerrechtswissenschaft weithin geteilt s7 . Beschränkt man den Einkommensteuertatbestand auf das sog. Markteinkommen 58 , kann der völlig ungeordnete, zufällig aneinandergereihte Befreiungskatalog der §§ 3-3b
EStG gänzlich abgeschafft werden 59 • Transferleistungen, die als
staatliche Nettoleistungen gedacht sind, brauchen apriori nicht erfasst zu werden. Als Ausdruck einer einheitlichen Rechtsordnung
achtet so der Einkommensteuergesetzgeber die Bedürftigkeitsentscheidung des Transfergesetzgebers 6o. Dementsprechend sind Direktsubventionen wie das Kindergeld (§§ 62-78 EStG) und die Altersvorsorgezulage (§§ 79-99 EStG) im Einkommensteuergesetz deplatziert 61 . Dasselbe gilt für die systematische Verknüpfung von Kindergeld und Kinderfreibetrag in dem sog. Familienleistungsausgleich
(§ 31 EStG)62. Die staatlichen Transferleistungen sind einkommensteuerlich nur insoweit relevant, als sie den eigenen Aufwand des
Steuerpflichtigen für das Familienexistenzminimum mindern. Deshalb sollten nicht steuerbare Transferleistungen (z. B. Arbeitslosengeld, -hilfe, Sozialhilfe, Kindergeld) auf das steuerliche Familienexistenzminimum angerechnet werden (sog. Abschmelzlösung)63.
Der einzurichtende elektronische Datenaustausch zwischen Steuerund Sozialbehörden einschließlich der Arbeitsverwaltung muss gewährleisten, dass die Finanzbehörden Kenntnis über staatliche
Transferleistungen erhalten.
VII. Steuertarif
Das deutsche Einkommensteuergesetz enthält seit 1955 anstelle
eines Stufentarifs einen progressiven Formeltarif4. Der Unterschied
besteht darin, dass ein Formeltarif die Steuerhöhe in einer komplexen mathematischen Formel (z. B. einem Polynom höheren
Grades) ausdrücken kann, während den anderen Tarifformen nur
lineare Beziehungen zur Verfügung stehen6s . Der in dieser Form
(§ 3Za Abs. 1 EStG) auf der Welt wohl einzigartige Tarif ist
intransparent und lässt die Höhe der Grenzsteuerbelastung nicht
erkennen. Im internationalen Vergleich enthalten die meisten
Einkommensteuergesetze statt dessen leicht durchschaubare Teilmengenstaffeltarife (sog. Stufengrenzsatz-IAnstoßtarife 66). Im Unterschied zu einem Vollmengenstaffeltarif (Shlfendurchschnittsatztarif)67 zerlegt ein Teilmengenstaffeltarif das zu versteuernde
Einkommen in Teilerwerbe, die jeweils unterschiedlichen (nach
Stufen gestaffelten) Steuersätzen unterliegen 68 , Der Vorteil eines
Formeltarifs mit linear-progressiver Tari{zone liegt dagegen darin,
dass er eventuelle Leistungshemmungen an den Stufeneingängen
vermeidet69 . Gleichwohl haben sich jüngere Reformentwürfe wegen seiner Transparenz für einen Teilmengenstaffeltarif mit Tarif·
zonen von 15% bis 35% ausgesprochen 7o . Unabhängig davon,
welcher Tarifausgestaltung man zuneigen will, bedarf es eines
wirksamen Inflationsschutzes gegen die kalte Steuerprogression 71 .
Deshalb sieht der sog. Kölner Entwurf in Anlehnung an die USamerikanische Lösung 72 in § 3 Abs. 2 eine automatische Anpas·
sung der Tarifstufen an die Entwicklung des Verbraucherpreisindexes des Statistischen Bundesamts vor.
Opfertheoretisch wird der progressive Steuertarif mit einer überproportionalen Steigerung der individuellen wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit bei steigendem Einkommen begründet. Ent·
sprechend der Dringlichkeit der Einkommensteile für die freiheitliche Entfaltung der Person und deren menschenwürdiges Dasein
sei die Steuer mit steigender Höhe der Bemessungsgrundlage progressiv zu gestalten 73 . Es bedeute eine gleiche relative Einbuße
der Bedürfnisbefriedigung, wenn mit steigendem Einkommen ein
wachsender Anteil des Einkommens von der Steuer erfasst werde.
Ein überzeugender Beweis für die Richtigkeit dieser These ist den
Vertretern der sog. Opfer- oder Grenznutzentheorie jedoch nicht
gelungen 74 . Der opfertheoretischen Grundlage entsprach vielleicht noch der ESt-Tarif 1958. Ausweislich der Gesetzesbegründung 7S war er darauf angelegt, dass annähernd 95 % aller zu besteuernden Personen zum Proportionalsatz von 20% besteuert
wurden. Die Proportionalbesteuerung sollte der Normalfall sein
(im Ergebnis also eine sog. ßat tax!). Nur die bestverdienenden
5% der Steuerpflichtigen sollten überhaupt der progressiven Besteuerung unterfallen. Die obere Proportionalzone (der Spitzensteuersatz) setzte demgemäß erst bei einer Größenordnung ein,
54 Zur Abgrenzung s. Tipke, StRO I(Fn. 8),77 ff.
55 Treffender Begriff von Vogel, StuW 1977, 97,107.
56 5itzungsbericht N zum 57. Deutschen ]uristentag, Mainz 1988, München,
S. 211, unter m.l.
57 Sowohl der sog. Karlsruher Entwurf (Fn. 25) als auch der sog. Kö!ner Entwurf
(Fn. 26) verbannen Lenkungs· und Sozialzwccknormen aus der Bemessungs·
grundlage der Einkommensteuer. Plastisch formuliert Kirchho((Fn. 6), S, den
Kernsatz: "Steuern sollen finanzieren, nicht steuern."
58 Die Markteinkommenstheorie beschränkt auf praktikable und verfassungs·
rechtlich fundierte Weise die Reinvermögenstheorie auf das erwirtschaftete, am
Markt realisierte Einkommen, s. Lang, in: Tipke/Lang (Fn. 2), § 4Rz. 108. Entgegen Kirchhof, in: KirchhoflSöhnf1:lellinghoff (Hrsg.), EStG, Kommentar, § 2
Rz. A365, folgt die Beschränkung auf das sog. Markteinkommen jedoch nicht
bereits aus der Verfassung, ausf. Kritik von Tipke, StRO 11 (Fn. 1),629 ff.
59 50 geschehen sowohl im sog. Karlsmher Entwurf(Fn. 25) als auch im sog. Kölner
Entwurf (Fn. 26). Der Entwurf eines ESt-Gesetzbuchs (Fn. 1), Vor § 3 Tz. 99-258,
hat im Einzelnen analysiert, warum die einzelnen Steuerbefreiungen der geltenden §§ 3-3 b EStG obsolet werden können.
60 Ob die Transferleistung gerechtfertigt ist, ist keine Frage des Steuerrechts, sondern des Transfer·, insbesondere des Sozialrechts.
61 Einen umgekehrten Weg schlägt dagegen Mitschke (Fn. 32) vor, der in §§ 46-60
seines Entwurfs zur Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts die Sozialhilfe in Gestalt eines sog. Bürgergeldes (Negativsteuer) in das Einkommensteuergesetz integrieren wili (zur Begründung ders., a. a. 0., Tz. 241 ff.).
62 Dazu bereits kritisch Seer/Wcndt, N]W 2000. 1904, 1905 f.
63 So etwa vorgenommen in § 27 Abs. 2 des sog. Berliner Entwurfs der FDP, Die neue
Einkommensteuer, hrsg. v. Solms, Berlin 2003; in § 6 Satz 2 des sog. Entvmrfs ei·
nes ESt·Gesetzbucils (Fn. 1); in § 36 Abs. 7des sog. Kölner Entwurfs (Fn. 26).
64 Zur RechtsentwickJung instruktiv Siegel. in Herrmann/Heuer/Raupach, EStGI
KStG, Kommentar, Köln, § 32 a EStG Tz. 3 ff. (fanuar 2002).
65 Siegel (Fn. 64). § 32a EStG Tz. 8 (fanuar 2002).
66 Zu dieser Begrifflichkeit s. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, Zur Reform des Einkommensteuertarifs, BMF-Schriftenreihe. Heft 60,
Bonn 1996, 16.
67 So ist etwa der deutsche Erbschaft- und Schenkungsteuertarif ein Vollmengenstaffeltarif!Stufendurchschnittsatztarif, s. Seer, in: Tipke/Lang (Fn. 2), § 13
Rz.I73f.
68 Seer, RIW 2001, 664.
69 Wissenschaftlicher Beirat (Fn. 66),25.
70 Sog. Berliner Entwurf der FD? (Fn. 63), § 30 des Entwurfs: IS-25-35 % (3 Stufen·
Tarif); sog. Kölner Entwurf (Fn. 26), § 3 Abs. 1 des Entwurfs: 15-20-25-30-35 %
(5-Stufen-Tarif).
71 Siehe oben Pn. 3.
72 Seer (Fn. 68).
73 Neumark, Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik, Tübingen 1970, 177f.
74 Die Fragwürdigkeit der These hat bereits Haller, Bemerkungen zur progressiven
Besteuerung und zur Leistungsfähigkeit, FinArch. n.F. Bd. 20 (1959/60), 35ff.,
aufgezeigt: aus jüngster Zeit s. Elicker, StuW2000,3, 11 ff., m. w. N.
75 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung steuerlicher Vorschriften auf dem Gebiet
der Steuern vom Einkommen und Ertrag und des Verfahrensrechts, BT-Drucks.
3/260,37,43.
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STEUERRECHT
Betriebs-Berater (BB) I 59. [g·1 Heft 42 118. Oktober 2004
Seer I BB-Forum: Einkommensteuerreform - Flat Tax oder Ouallncome Tax?
die dem 21-fachen Cl) des Durchschnittseinkommens entsprach 76 •
Die Tarifgrenze für den Spitzensteuersatz ist seit 1958 (damals
110040 DM) über vier Jahrzehnte jedoch nominal unverändert
geblieben, letztlich sogar noch gesenkt worden (Veranlagungszeitraum 2005: nur 52152 €). Wenn sogar Durchschnittsverdiener
aufgrund mangelnder Anpassung der Tarifgrenzen bereits von der
Progression erfasst werden und der Spitzensteuersatz bereits beim
l,3-fachen Durchschnittsverclienst (1)77 ansetzt, hat dies mit einem abnehmenden Grenznutzen nichts mehr zu tun 78 . Ebenso
wenig vermag das Sozialstaatsprinzip79 das "Hineinwachsen" von
Durchschnittsverdienern in die kalte Steuerprogression zu rechtfertigen.
Das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verlangt keinen progressiven SteuertariFo. Der Steuergleichheit entspricht vielmehr auch und gerade ein proportionaler
Fiskalzwecksteuersati 1• Der progressive Steuertarif führt im ZusammenVl~rken mit der Abschnittsbesteuerung (dem Periodizitätsprinzip) zu Ungleichbehandlungen im Zeitablauf82• Der progressive Tarifbelastet das Lebenseinkommen (siehe oben IV.) ungleich und erfordert bei Veräußerungseinkünften (sog. capital gains) regelmäßig
Sondertarifierungen (wie z. B. § 34 EStG)83. Die Progression setzt
ökonomisch unsinnige Anreize zu Steuergestaltungen und reizt an,
durch Steuersparmadelle und andere Gestaltungen (z.B. Verlage.
rung von Einkunftsquellen auf Familienangehörige) den Progressionseffekt zu glätten. Eine Einkommensteuer mit hoher Progression bewirkt unweigerlich verkomplizierende, die Bemessungsgrundlage verfälschende Sondertatbestände (11Atemlöcher"), weil
eine hohe Grenzbelastung das Bemühen der Lobbyisten um Gruppenvorteile ebenso begünstigt wie ganz allgemein die Verteilung
von Steuervergünstigungen durchdie Politik84 .
Aufgrund dieser Erkenntnis sind Vorschläge, einen Proportionaltarif einzuführen, auf dem Vormarsch. Vor allem die osteuropäischen Staaten haben sich an die Spitze einer Bewegung gesetzt,
die in den USA schon seit längerem als sog. {lat tax 8S diskutiert
wird. So beträgt die Einkommensteuer in Russland grundsätzlich
nur noch 13%!86 Die Slowakei hat eine umfassende Steuerreform
ins Werk gesetzt, bei der die Löhne von Arbeitnehmern nicht anders als die Gewinne von Unternehmen einheitlich mit 19% besteuert werden8? Lettland und Estland wenden einen proportionalen Steuersatz von 25 bzw. 26% an 88 . In diesem Zuge wird die
Idee eines flachen, proportionalen Tarifs nun auch in Deutschland hoffähig. So schlagen die Heidelberger Steuerwissenschaftler
Manfred Rose und Paul Kirchhof in ihren Entwürfen einen Proportionalsteuersatz von 25% vor 89 . Da die konkrete Höhe des Steuersatzes erst nach Berechnungen des jeweiligen Gesamtmodells fest·
gelegt werden kann, befürwortet Michael Elicker zwar einen linearen Tarif, ohne ihn aber zu quantifizieren 9o . Jüngst hat sich nun
auch der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium für
eine sog. flat tax mit einem Proportionalsteuersatz von 30 % ausgesprochen 9J . Allen Vorschlägen gemein ist allerdings, dass sie
unter Beachtung der Rechtsprechung des BVerfG92 das Familienexistenzminimum freistellen wollen. Zu diesem Zweck gewähren
alle Entwürfe einen Grundfreibetrag93 . Paul Kirchhof will darüber
hinaus noch einen stufenweise nach Abzug des Grundfreibetrages
oder der Grundfreibeträge einsetzenden Sozialausgleichsbetrag
zum Abzug bringen 94 . Letztlich bewirkte diese auf der Ebene der
Bemessungsgrundlage angewandte Technik nichts anderes als ein
3-stufiger Teilmengenstaffeltarif mit den Größen 15-20-25 %95.
Nicht weit davon entfernt hält sich auch der gebrochen-lineare Tarif von Joachim Mitschke, der einer 20%igen Eingangszone einen
Proportionalsatz von 30% folgen lässt, auf 6• Letztlich bleibt bei
den Vorschlägen eines Proportionaltarifs durch die Umsetzung
des sog. subjektiven Nettoprinzips innerhalb der Bemessungsgrundlage zumindest eine indirekte Progression.
Ein Proportionaltarif besitzt den großen Charme einer ganz erheblichen Steuervereinfachung. Ein bedeutsamer Fortschritt läge
darin, die Spreizung zwischen Einkommen· und Körperschaftsteuersatz zu beseitigen oder wenigstens deutlich zu reduzieren. Der
durch den sog. Wettbewerb der Steuersysteme ausgehende Druck
zwingt den Steuergesetzgeber nur dann zu einer Spreizung, wenn
man an der traditionell progressiven Einkommensteuer mit einem extensiven Verständnis des sog, Nettoprinzips festhält 97 . Das
verfassungsrechtlich fundierte Prinzip rechtsformneutraler Besteuerung erfordert es jedoch grundsätzlich, den Körperschaftsteuersatz am Grenzsteuersatz der Einkommensteuer zu orientieren 98 . Deshalb schlägt der von Paul Kirchhof vorgelegte sog. Entwurf eines Einkommensteuergesetzbuchs vor, die Körperschaftsteuer
in die Einkommensteuer zu integrieren99 . Möglich wird dies aufgrund des einheitlichen Proportiona!steuersatzes von 25 %. Die
Vereinfachung geht sogar so weit, dass Dividenden und andere
Ausschüttungen nach § 12 Abs. 1 des Entwurfs vollständig steuerfrei bleiben 100, weil der ausgeschüttete Gewinn bereits auf der Gesellschaftsebene in derselben Höhe vorbelastet wird lOl . Allerdings
führt diese Technik dazu, dass auch Dividenden, die ausländische
Kapitalgesellschaften an in Deutschland ansässige Anteilseigner
(natürliche Personen) ausschütten, in Abweichung vom Welteinkommensprinzip nicht mehr steuerbar sind. Gleichzeitig ist fraglich, ob die Höhe der Einkommensteuer durch die Integration der
Körperschaftsteuer sich nach dem internationalen Steuersatzwettbewerb richten sollte. Wenn man aus diesen Gründen an der tra76 Esser, Die neuen Einkommensteuertarife 2000 bis 2005, Institut "Finanzen und
Steuern" e. V., IFSt-Schrift Nr. 383, Bonn 2000,19.
77 Siehe Esser (Fn. 76), 20,
78 Anders aber weiterhin der Tarif des US·amerikanischen Internal Revenue Code,
s. Seer (Fn. 68).
79 Tipke (Fn. 8), 403 ff., rechtfertigt die Progression mit dem Sozialstaatsprinzip:
Die Progression ist ein zulässiges und mögliches, nicht aber ein zwingendes Mit~
tel der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit.
80 Tipke (Fn. 8), 403 ff.; ders. (Fn. 1),837.
81 Lang, in: Tipke/Lang (Fn. 2), § 9 Rz. 741.
82 Sigloch, StuW 1990, 229, 235 f.; Elicker(Fn. 74).
83 Zur schwer überschaubaren Besteuerung der capital gains in den USA s, Seer
(Fn.68).
84 Zu den Nachteilen des progressiven Tarifs zutreffend Kirchhof (Fn. 1), § 2 des
Entwurfs, Tz. 38 ff.
85 Grundlegend Hal/JRabushka, The FlatTax, 2. Aufl., Stanford University 1995.
86 lBFD (Fn. 14), European Tax Handbook 2004, "Russia".
87 Siehe Kischel, übersicht über das Steuerrecht der Siowakischen Republik, lWB
NI. 1 V. 14. 1. 2004, Fach 5, "Slowakei", Gruppe 2, S. 3; lBFD (Fn, 14), European
Tax Handbook 2004, "Slovac Republic",
88 Siehe Schmitt, übersicht über das Steuerrecht Lettlands, lWB NI. 5 V. 10.3.2004,
Fach 5 "Lettland", Gruppe 2, S. 9ff.; Kischel, übersicht über das Steuerrecht Estlands, IWB NI. 4v. 25. 2. 2004, Fach 5 "Estland", Gruppe 2, S. 33 ff.
89 Rose (Hrsg,j, Reform der Einkommensbesteuerung in Deutschland. Konzept,
Auswirkungen und Rechtsgrundlagen der Einfachsteuer des Heidelberger Steuerkreises, Heidelberg 2002, § 8 Abs. 1 des Entwurfs, S. 126, 157; KiTchhof(Fn. 1),
§ 2Abs, 4des Entwurfs, Tz. B ff.
90 Elicker, Entwurl einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, Saarbrücken
2003, § 12 des Entwurfs, S. 130ff. (noch unveröffentlichtes Manuskript).
91 Wisset7.5chaftlicherBeirat beim BMF (Fn. 23), 7ff.
91 Nachweise in Fn. 22.
93 Rose (Fn. 89), § 24 des Entwurfs: 10.000 € pro Familienmitglied; ebenso Wissen·
schaftlicher Beirat beim BMF (Fn. 23); Kirchhof (Fn. 1): § 6 des Entwurfs: 8000 €
pro Familienmitglied; Elicker (Fn. 90), § 9 Abs. 1 des Entwurfs: 8500 € pro Fami·
lienmitglied.
94 Kirchhof (Fn. 1), § 7 des Entwurfs: 40% für die ersten steuerpflichtigen 5000 €;
20 % für die zweiten steuerpflichtigen 5000 €.
95 Siehe Kirchhof(Fn. 1), § 7des Entwurfs, Tz. 6.
96 Mitschke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts, Saarbrücken
2003, § 27 Tz. 187 (noch unveröffentlichtes Manuskript).
97 Davon geht Lang (Fn. 1), DStJG Bd. 24 (2001), 49, 901., aus,
98 Hey, Besteuerung von Unternehmensgewinnen und Rechtsformneutralität,
DSt]G Bd. 24 (2001), ISS, 181 ff. (187 fl.).
99 Siehe §§ 11 ff. des Entwurfs (Fn. 1): Erweiterung der Steuersubjekte des Einkommensteuergesetzes um die sog. steueriuristische Person.
100 Ebenso nun Wissenschaftlicher Beirat beim BMF (Fn. 23), 19.
101 In der Begründung zum Entwurf eines sog. ESt-Gesetzbuchs (Fn. I), Vor §§ 12, 13
Tz, 7, wird die grundlegende Bedeutung des einheitlichen Steuersatzes (§ 2
Abs. 4 des Entwurfs: 25 %) betont.
STEUERRECHT •
Betriebs-Berater (RB) I 59. Jg. I Heft 42 118. Oktober 2004
BB·Forum: Einkommensteuerreform - Flat Tax oder Ouallncome Tax? I Seer
ditionellen Unterscheidung zwischen Körperschaft- und Einkommensteuer festhalten will, wäre aber gleichwohl die Angleichung
der Steuersätze ein fundamentaler Fortschritt. Die mit der Einführung einer sog. f1at tax verbundenen Steuervereinfachungseffekte
rechtfertigen es, im Bereich der sog. gemischten Aufwendungen
das objektive Nettoprinzip durch ein Aufteilungsverbot einzuschränken (siehe bereits unter V.). Überlegungen einer rechtsformneutralen Unternehmen- und Inhabersteuer 102, die wenigstens Thesaurierungsneutralität herstellt, wären nicht mehr erforderlich. Ebenso wenig bedürfte es eines Optionsrechts für Personenunternehmen zur Körperschaftsteuer lO3 .
Des Weiteren würde sich bei Einführung eines Proportionaltarifs
der teilweise ideologisch geführte Streit um das Ehegatten-Splitting erledigen 104. Ohne das System der synthetischen Einkommensteuer zu durchbrechen, könnte dem Steuerabzug in Höhe
des Proportionaltarifs bei Kapitaleinkünften abgeltende Wirkunio s
beigemessen werden. Ein Veranlagungswahlrecht würde für den
Steuerpflichtigen sicherstellen, dass an Stelle des rohen Bruttoabzugs auch der individuelle Durchschnittsteuersatz zur Anwendung gelangt. Ein bürokratisch deutlich aufwendigeres Kontrollmitteilungssystem ließe sich so ohne wesentliche Einbuße an
Steuergleichheit und Systemkonsequenz vermeiden. Ganz allgemein könnten die Steuerabzugsverfahren in Höhe des Proportionalsteuersatzes pauschaliert werden. Aufgrund des Bruttocharakters des Steuerabzugs blieben dann aber sowohl Erwerbsaufwendungen (objektives Nettoprinzip) als auch Aufwendungen zur
Existenzsicherung und Vorsorge (subjektives Nettoprinzip) unberücksichtigt. Zur Kompensation wäre es kaum ausreichend, lediglich pauschalierte Freibeträge in das Steuerabzugsverfahren zu integrieren, ansonsten aber das Steuerabzugsverfahren (insbesondere das Lohnsteuerverfahren) unverändert zu lassen 106 . Ein deutlicher Fortschritt bestünde vielmehr darin, die elektronische Steueranmeldung und -bescheinigung so auszubauen, dass bereits im
Steuerabzugsverfahren der individuell zutreffende Durchschnittsteuersatz zur Anwendung gelangt (dazu VIIL).
VIII. Effektuierung des Steuerabzugsverfahrens
Vor diesem Hintergrund schlägt der sog. Kölner Entwurf107 zunächst einen festen Steuersatz (20%) vor, der generell für den
Steuerabzug gilt. Der Entwurf dehnt den Kreis der steuerabzugspflichtigen Einkünfte über Arbeitslohn und Kapitalerträge hinaus
auf Renteneinkünfte und andere Einkünfte aus, die der sog. nachgelagerten Besteuenmg (dazu unter m.) unterliegen 108 . Der Kölner
Entwur(vereinfacht den Steuerabzug, indem er alle quellensteuerpflichtigen Einkünfte (Arbeitslohn, Renten, Pensionen, Kapitalerträge u. a.) denselben Regeln unterwirft. Dabei sieht er optional die
Anwendung eines individuellen Durchschnittsteuersatzes auf der
Grundlage einer vom Wohnsitzfinanzamt auszustellenden Steuerabzugsbescheinigung vor l09 . Damit hat es der Steuerpflichtige in
der Hand, eine Steuerabzugsbescheinigung zu beantragen und
seine individuellen Einkommensverhältnisse bereits im Lohnsteuerverfahren berücksichtigen zu lassen. Dies gilt nicht nur für Arbeitslohn, sondern auch für alle anderen quellensteuerpflichtigen
Einkünfte (insb. Renteneinkünfte). Umgekehrt kann die Finanzbehörde jederzeit durch Erteilung einer Steuerabzugsbescheinigung die Anwendung des allgemeinen Proportionalsteuersatzes
von 20% zugunsten der individuellen Verhältnisse ausschließen,
wenn es z. B. ein Steuersicherungsbedürfnis erkennt. Der weitgezogene Kreis der Steuerabzugspflichtigen (Arbeitgeber, Sozialversicherungsträger, Kreditinstitute, Versicherer u. a.) und die elektronische Mitteilungspflicht gewährleisten, dass die Finanzverwaltung über ein hinreichend aussagekräftiges Zahlenmaterial
verfügt, um den individuellen Durchschnittsteuersatz für den jeweiligen Steuerpflichtigen zu berechnen. Die an die Stelle der ver-
dichteten Steueranmeldung tretende, unter der bundeseinheitlichen Steuernummer individualisierte Datenerfassung und -übermittlung bewirkt zudem dessen zeitnahe Aktualisierung.
Dieses Informationssystem lässt gleich mehrere verfahrensaufwendige Maßnahmen überflüssig werden: Es brauchen keine
Lohnsteuerkarten von den Gemeinden mehr ausgestellt zu werden. Die Differenzierung nach Steuerklassen erübrigt sich. Die
Frage nach der richtigen Steuerklassenwahl (Kombination III(V
oder IVIIV) stellt sich nicht mehr. Auf das Einkommen der zusammenveranlagten Ehegatten wird derselbe (gemeinsame) individuelle Durchschnittsatz unabhängig davon angewendet, ob die
Einkommen der Ehegatten wenig oder stark auseinanderfallen.
Dadurch entfällt auch die überwiegend Frauen treffende Prohibitivwirkung der Steuerklasse VllO • Bei mehrfachen Arbeitsverhältnissen braucht keine weitere, ebenfalls tendenziell prohibitiv wirkende Steuerklasse (derzeit Steuerklasse VI) angewandt zu werden,
weil mehrere Steuerabzugsbescheinigungen über den jeweils gültigen Durchschnittsteuersatz ausgestellt werden können. So werden mit dem Wegfall des Steuerklassen- und Lohnsteuerkartensystems den Arbeitsmarkt hemmende steuerliche Barrieren beseitigt und gleichzeitig den persönlichen Verhältnissen der Steuerpflichtigen Rechnung getragen.
Dem Arbeitgeber bürdet das Verfahren keine weiteren Lasten auf.
Er muss - wie bereits heute in § 41 EStG vorgesehen - unter der
elektronischen Steuernummer des Arbeitnehmers ein Lohnkonto
führen. Anstatt nun alle Lohnkonten in einer separaten Lohnsteueranmeldung - wie heute in § 41a EStG verankert - monatlich
zusammenzufassen, hat der Arbeitgeber den monatlichen Zugang
auf dem Lohnkonto des Arbeitnehmers individualisiert unter dessen jeweiliger Steuernummer an das Betriebsstättenfinanzamt
elektronisch weiterzuleiten. Einer elektronischen Lohnsteuerjahresbescheinigung bedarf es dann grundsätzlich ebenfalls nicht
mehr. Sie besitzt als ]ahresübersicht des Lohnkontos nur noch
eine Informationsfunktion für den Arbeitnehmer, der ihn mit
den Daten des vom Finanzamt elektronisch gefertigten Steuererklärungsentwurfs (dazu im folgenden IX.) abgleichen wird.
IX. Vernetzung zwischen Steuerabzug und Selbstveranlagung
Die Individualisierung des Steuerabzugs und die elektronische Datenüberrnittlung bewirken, dass die 5teuerabzugsverfahren mit
dem Veranlagungsverfahren vernetzt werden. Die Ausweitung des
Quellensteuerabzugs, verbunden mit elektronischen Mitteilungspflichten der Steuerabzugspflichtigen, bildet die Basis für die Verwirklichung der Kooperationsmaxirne 1m Steuerrecht durch eine
sog. Tax Compliance-Strategie 1ll . Tax Compliance steht als Kürzel
schlicht für die Einhaltung und Erfüllung steuerlicher Pflichten.
102 Den Entwurf einer rechtsformneutralen Untemehmensteuer enthält Lang, Ent-
103
104
105
106
107
108
109
110
111
wurf eines Steuergesetzbuchs (Fn. 32), Tz. 640 H.; zur sog. Inhabersteuer s. ders.,
in: Brühler Empfehlungen zur Reform der Unternehmembesteuerung, BMFSchriftenreihe, Heft 66, Bann 1999, AnhangNr. 1, S.19ff.
Vorschlag im Bericht der Kommission zur Reform der Unternehmensbesteuenmg,
Brühler Empfehlungen (Fn. 102), S. 72 H.
Dazu Seer, Das Ehegatten.Splitting als typisiertes Realsplitting, in: Festschrift für
Kruse, Köln 2001, 357, 363 ff.; Tipke (Fn. 1), 813 H.
Siehe dazu den gescheiterten Referentenentwurf v. 17. 3. 2003 eines "Gesetzes
zur Neuregelung der Zinsbesteuerung und zur Förderung der Steuerehrlichkeit
(Zinsabgeltungssteuergesetz -ZinsAbG) .
So aber KirchilO((Fn. 1), § 2 des Entwurfs, Tz. 49.
Fn.26.
Darunter fallen Einkünfte aus Zukunftssicherung (§ 8 EStG-Kölner Entwurf).
Dabei handelt es sich insbesondere um Einkünfte aus gesetzlicher Rentenversicherung, anderen obligatorischen Versorgungssystemen, Zusatzversorgungen
und Einkünfte aus zertifizierter Zukunftssicherung (aus Pensionsplänen etc.).
Siehe auch § 37 Ahs. 3, 4 des Entwurfs von Mitschke (Fn. 32), wo das Fin.anzamt
ebenfalls einen Durchschnittsteuersatz für den Lohnsteuerabzug bescheInIgt.
Es erübrigen sich so die gegen das Splittingverfahren vorgebrachten Bedenken
vonSaksofsky, N]W 2000,1896,1898 f.
DazuSeer(Fn. 10).
BI
STEUERRECHT
Betriebs-Berater (BB) I 59. !g. I Heft 42 118. Oktober 2004
Einkommensteuer
Ziel der Strategie ist es, den Steuerpflichtigen zu einer verbesserten Einhaltung der Steuergesetze zu motivieren, den Kontrollbedarf nachhaltig zu senken und den Gesetzesvollzug zu effektuieren. Dazu ist zum einen ein wirksames Risiko-Management aufzubauen 112, zu deren Säulen der Ausbau des Steuerabzugsverfahrens
unter Einschluss eines elektronischen Informationssystems gehört ll3 . Zum anderen stellt die Finanzverwaltung ein deutlich
verbessertes Service-Angebot bereit, das die Compliance-Bereitschaft der Steuerpflichtigen steigert. Werden auf der einen Seite
die Mitteilungspflichten Dritter im Interesse eines wirksamen Risiko-Managements ausgeweitet, so kann das dadurch gewonnene
Informationsmaterial als Service-Element zur Erleichterung des
Steuererklärungsaufwandes zugunsten des Bürgers eingesetzt werden 114 . Das Finanzamt tritt ihm so vertrauensbildend mit offenem Visier gegenÜber und arbeitet das Datenmaterial, über das es
verfügt, bereits in einen Steuererklärungsentwurf ein.
Damit entfällt für den Steuerpflichtigen ein ganz erheblicher
Steuererklärungsaufwand, Sowohl seine Grunddaten als auch
seine dem Finanzamt aufgrund des Datenaustausches bekannten
Besteuerungsgrundlagen sind in dem Steuererklärungsentwurf bereits maschinell eingearbeitet. Der Steuerpflichtige erhält zudem
eine vorläufige Steuerberechnung, so dass ihm die steuerlichen
Auswirkungen transparent werden. Im besten Fall bestätigt er den
Steuererklärungsentwurf per Mausklick und erfüllt so seine Steuererklärungspflicht. Soweit Besteuerungsgrundlagen unvollständig
oder fehlerhaft sind, hat er sie zu ergänzen bzw. zu korrigieren.
Selbst dann aber verringert sich der Arbeitsaufwand für den Steuerpflichtigen erheblich. Durch die Einbindung des Steuerabzugs
in das Veranlagungsverfahren wird der Eingriffsakt des Steuerabzuges um ein Leistungselement erweitert. Das Steuerabzugsverfahren erhält so eine dialogische Struktur.
Die Idee der Selbstveranlagung setzt auf Kooperation mit dem Steuerpflichtigen. An die Stelle des konfrontativen tritt der kooperative
Steuerstaat llS . Der kooperative Steuerstaat ist kein schwacher
Staat. Vielmehr erkennt er lediglich seine faktischen Grenzen und
setzt zur höchstmöglichen Verwirklichung der Gesetz- und
Gleichmäßigkeit der Besteuerung konsequent auf die Mitwirkung
der Steuerpflichtigen. Den Gesetzesvollzugsrealitäten entsprechend flankiert er die Untersuchungsmaxime um die Kooperationsmaxime 1l6 . Zugleich ist er kein naiver Staat. Er geht davon
aus, dass niemand gern Steuern zahlt und nur wenige von sich
aus freiwillig mitwirken. Deshalb schafft er sowohl Anreize zur
Kooperation als auch Sanktionen für den Fall der Nichtkooperation 117. Bei dem in Deutschland bereits für die Umsatzsteuer
praktiZierten Selbstveranlagungssystem berechnen die Steuerpflichtigen die von ihnen geschuldete Steuer selbst, melden sie
bei der Finanzbehörde an und entrichten sie bis zu einem gesetzlich festgelegten Fälligkeitstermin. Sie erfüllen insoweit Aufgaben
des Ermittlungs- und Festsetzungsverfahrens in einem Arbeitsgang 118 . Die Steuererklärungen sind Steueranmeldungen, die
nach §§ 167, 168 AO unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehen. Eine obligatorische Prüfung der jeweiligen Steuererklärung
entfällt. An dessen Stelle tritt ein computergestütztes Risiko-Management in Gestalt nachträglicher Kontrolle ll9 . Ein solches Verfahren wenden vor allem die USA (außerdem z. B. Kanada, Großbritannien und Spanien) auch auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer an. Kurze Abgabefristen (z. B. in den USA: 15. 4. des
Folgejahres) gewährleisten, dass die massenhaften Steuerfälle zügig abgeWickelt werden können. Da die Steuern bereits mit Ablauf
der kurzen Abgabefrist fällig werden, wird der Fiskalbedarf des
Staates ohne längere Verzögerung befriedigt. Eine lückenlose Verzinsung und Steuerzuschläge bewirken, dass säumige oder pflichtwidrige Steuerpflichtige keine Vorteile genießen, sondern Nachteile verspüren. Die deutlich ausgedehnten Informationspflichten
stellen sicher, dass der Finanzverwaltung hinreichendes Informationsmaterial zur Verfügung steht, um die Steuererklärungen
durch Datenabgleich verifizieren zu können. Die Steuerpflichtigen treffen zudem Aufzeichnungs- und Aufbewahrungspflichten
nicht nur für unternehmerische, sondern für alle Einkünfte 120 •
Auf der anderen Seite steht der deutliche Ausbau von Serviceleishmgen, zu denen insbesondere der Steuererklärungsentwurf
gehört. Gleichzeitig drängen die Steuerzuschläge die Strafbarkeitszone im Zuge einer Entpönalisienmg des Steuerrechts zugunsten
der Steuerpflichtigen deutlich zurück.
112 DazuSeer(Fn.10).
113 Die Effizienz des computergesteuerten Kontrollsystems hängt in den USA ganz
wesentlich von sog, information returns Dritter ab, s, R. Seer, Besteuerungsverfah·
ren: Rechtsvergleich USA-Deutschland, Heidelberg 2002, Tz. S2 ff., irrsb. S6,
114 R. Seer (Fn. 10).
115 So Eckhof(. StuW 1996, 106, 110ff.
116 Sm. in: Tipke/Lang (Fn. 2), § 21 Rz. 4, 170ff.
117 Eckhof(. Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, Habil. Münster, Köln
1999,456, spricht plastisch von der "Rute im Fenster",
118 Seer, in: Tipke/Lang (Fn. 2), § 21 Rz. 185.
119 Zum Kontrollsystem ausf, Seer (Fn. 113), Tz. 51ff. (USA); ders. (Fn. 10), ausf. Vorschlag de lege ferenda; Nagel, Selbstveranlagung im britischen und amerikanischen Steuerrecht. Diss. Bochum, Frankfurt a. M. u. a. 2003. 78 ff. (USA), 195 ff.
(Großbritannien).
120 Die derzeit ungleich verteilten Aufzeichnungs- und Aufbewahrungspflichten
verletzen den Gleichheitssatz, s. Tipke, Steuerliche Ungleichbelastung durch
einkunfts- und vennögensartendifferente Bemessungsgrundlagenermittlung
und Sachverhaltsverifizierung, in Festschrift H. W.Kruse, Köln 2001, 215, 226 ff.
EINKOMMENSTEUER
Schuldzinsen für die Zeit zwischen Gefahrübergang
und Fälligkeit des Kaufpreises können
Werbungskosten sein
BF", Urteil vom 27. 7. 2004 - IX R32/01
VORINSTANI: FG Köln vom 6. 3. 2001 - 8 K7847/94
(EFG 2001, 964)
LEITSATZ:
Schuldzinsen, die der Erwerber eines zum Vennieten bestimmten Grundstücks vereinbarungsgemäß für den Zeitraum nach
dem Übergang von Besitz, Nutzen, Lasten und Gefahren bis zur
später eintTetenden Fälligkeit des Kaufpreises an den Veräußerererstattet, sind als Werbungskosten abziehbar.
EStG § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 und Nr. 7; HGB § 255 Abs. 1
SACHVERHALT: Die Klägerin ist eine GbR. Ihr Zweck ist der Erwerb eines
Grundstücks, dessen Bebauung mit einem Einkaufszentrum und die
Vermietung an gewerbliche Mieter. Sie erwarb das vorgesehene
Grundstück mit unfertigen Gebäuden für 4,3 Mio. DM. Besitz, Nutzen, Lasten und Gefahr gingen vertragsgemäß am 1. 11. 1991 auf die
Klägerin über. Der Kaufpreis war am 31. 10. 1991 fällig, frühestens
jedoch binnen fünf Bankarbeitstagen nach dem Zugang der schriftlichen Mitteilung des Notars über die Erfüllung folgender Vorausset·
zungen:
- Vorliegen der erforderlichen Erklärungen und Genehmigungen,
u. a. nach dem Grundstücksverkehrsgesetz,
- Zeugnis der Gemeinde, dass ein öffentlich-rechtliches Vorkaufsrecht nicht besteht,