Matrix in Bil`in

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Matrix in Bil`in
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Gadi Algazi
Matrix in Bil'in**
Kapital, Kolonialismus und ziviler Widerstand in der Westbank1
Die ehrfürchtigen Reporter kamen einer nach dem anderen, um einem Wunder beizuwohnen.
Anschließend quollen die Zeitungen über mit ihren Berichten. Endlich - so schrieben sie haben wir High Tech für die Gläubigen, ein Rezept gegen Arbeitslosigkeit und respektable
Arbeit für ultraorthodoxe Frauen.
Software-Unternehmen wie Imagestore und CityBook rekrutieren ultraorthodoxe jüdische
Frauen zur Arbeit. Den Trend führt das Software-Unternehmen Matrix an, eines der größten
in Israel, das ein Entwicklungszentrum namens Talpiot - offensichtlich benannt nach der
Eliteeinheit der israelischen Armee - eröffnet hat und ultraorthodoxe Frauen einstellt. Ihre
Anzahl beträgt bereits 150 und es wird erwartet, dass sich diese Zahl bis Ende 2006 auf 500
erhöht. „Dies ist ein Entwicklungszentrum in der Nähe des Zuhauses, in einem homogenen
Umfeld, und aufgeschlossen gegenüber den besonderen Bedürfnissen der Frauen", schreibt
der CEO von Matrix auf der Webseite des Unternehmens.2 Dort werden die Regeln des
Kaschrut befolgt und man findet hier sogar getrennte Küchen für Männer und Frauen. Es gibt
auch einen „Abpumpraum" für Frauen, die ihre Babys stillen, was Neugier bei den Journalisten und Peinlichkeit bei den „Mädchen" - wie man sie dort nennt - hervorruft. Das
Ministerium für Industrie, Handel und Arbeit hat einen Schulungskurs für 35 Frauen
genehmigt und das Finanzministerium subventioniert das Projekt mit 1.000 Shekel (215$) pro
Monat für jeden Arbeiter.3 „Wenn Sie daran gewöhnt sind, an HighTech Arbeiter als säkulare
Yuppies zu denken, die mindestens das Doppelte des Mindestlohns verdienen, dann sollten
Sie die technologischen Entwicklungsprojekte in der ultraorthodoxen Stadt sehen," schrieb
ein orthodoxer Reporter, der eindeutig im Bann der High Tech stand: Hier „beschäftigen sie
ultraorthodoxe Frauen in technologischen Jobs, einige davon ziemlich ,HighTech`, wie
beispielsweise Programmieren und Code-Entwicklung"4 - wobei er nicht erwähnt, wie viel
diese Frauen eigentlich verdienen.
1. Modi'in Illit gegen Bil'in
Wo ist dieser wundervolle Ort, an dem - als sei es nicht schon genug - zwei Unternehmer mit
spezieller Regierungsunterstüt-
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Gadi Algazi arbeitet als Mediävist und associate professor am Department of History, Tel Aviv
University.
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Dieser Aufsatz wurde deutschsprachig veröffentlicht in der Zeitschrift Historische Anthropologie
(Böhlau, 14. Jg.) 2006, Heft 3, S. 441-456
1
Die erste, hebräische Version dieses Artikels wurde auf der HaOkets Webseite veröffentlicht
(www.haokets.org) und von Daniel Breslau ins Englische übersetzt, dem ich wärmstens danken
möchte (http://www.taayush.org/new/fence/matrix-bilin-en.html). Dies ist eine modifizierte und
korrigierte Fassung.
2
Mordechai Gutman, Off Shore in Israel - The New Direction in Developing Software for
Organizations at High Quality and Low Cost, in: http://www.matrix.co.il/Matrix/heIL/Contents/Articles/OffShore.htm (8.8.06).
3
Galit Yemini, Indian Labor? Matrix is hiring Orthodox Women, in: Haaretz, 17.1.2005.
4
Eli Shim'oni, Who can Find an Orthodox Java Wife?, in: YNet, 23.9.2005.
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zung versuchen, Kindertagesstätten am Arbeitsplatz zu gründen?5 Anderswo in Israel können
Arbeiter nur davon träumen, über eine Tagesstätte am Arbeitsplatz zu verfügen. In Modi'in
Illit sind diese Träume wahr geworden.
All das geschieht in den besetzten Gebieten. Die begeisterten Presseberichte, von PRAgenturen geschickt initiiert, ignorieren ausnahmslos diese simple Tatsache: Modi'in Illit ist
eine Siedlung, die sich in der besetzten Westbank und auf dem Boden von fünf
palästinensischen Dörfern befindet: Ni'lin, Kharbata, Saffa, Bil'in und Dir Qadis.6 Sie ist
sogar diejenige große Siedlung der Westbank, die momentan am schnellsten wächst; sie wird
zudem bald den Status einer Stadt erhalten. Heute beträgt ihre Einwohnerzahl mehr als
30.000, für das Jahr 2020 rechnet das Ministerium für Wohnungsbau mit 150.000
Einwohnern. Die Expansion von Modi'in Illit brachte den Ruin für die palästinensischen
Bauern des Dorfes Bil'in. Die Zaunanlage, die zwischen Modi'in Illit und Bil'in gebaut wird,
trennt die anliegenden Dörfer von fast der Hälfte ihres Landes, etwa 2000 dunums (1 dunum
= 1000 m2), zuzüglich der Ländereien, die bereits früher weggenommen wurden. Die Bauern
von Bil'in werden um der geplanten Expansion der Kolonie willen enteignet.7
Seit Februar 2005 führen die Bewohner von Bil'in eine gewaltlose Protestkampagne gegen
den Separationszaun, der ihr Land verschlingt. Gemeinsam mit israelischen
Friedensaktivisten und internationalen Volontären haben sie jede Woche Hand in Hand vor
den Bulldozern und Soldaten demonstriert. Damit schließen sie sich einer Reihe von
palästinensischen Dörfern an - Jayyous, Biddu, Dir Ballut, Budrus, um nur einige zu nennen,
die in den letzten paar Jahren hartnäckige Kampagnen gewaltlosen Widerstands gegen die
Mauer geführt haben. Diese in der Regel von lokalen Volkskomitees gegen den Zaun
koordinierten Kampagnen sind außerhalb Palästinas nahezu unbekannt geblieben, haben
jedoch bescheidene, aber bedeutende Teilerfolge erzielt. Sie haben das Voranschreiten des
Zaunes, der ihre Felder verschlingt und sie zu einem Leben in kleinen und mittelgroßen
Enklaven verdammt, verhindert oder verlangsamt; in manchen Fällen musste auch der Verlauf
des schon bestehenden Zauns geändert werden und die Dorfbewohner gewannen einige ihrer
Weinberge und Felder zurück - was wenige für möglich hielten. Schließlich, und auf lange
Sicht vielleicht noch wichtiger: Unter ständig sich verschlimmernden Bedingungen haben
diese Kampagnen den gewaltlosen populären Widerstand und den gemeinsamen israelischpalästinensischen Kampf zu einer ernst zu nehmenden politischen Option gemacht.
Mehr als zweihundert Menschen wurden in der gewaltsamen Auflösung von gemeinsamen
israelisch-palästinensischen Demonstrationen in Bil'in verletzt und zahlreiche unter
verschiedenen Vorwänden festgenommen. Streitkräfte der israelischen Armee,
Grenzschutzsoldaten, Sondereinheiten der israelischen Polizei und private Sicherheitsfirmen
wurden gegen die Protestierenden eingesetzt. Polizeiknüppel, Tränengas, Gummigeschosse
und Scharfschüsse strapazierten die Demonstranten. Mit nächtlichen Räumungen und
Festnahmen versuchten israelische Streitkräfte, die Mitglieder des Volkskomitees von Bil'in
abzuschrecken, die selbst in diesen Tagen des Hasses und der Angst standhaft den
5
Ruth Sinai, Will Day-Care Centers Solve the Problem of Working Women?, in: Haaretz, 25.9.2005.
Nir Shalev, The Wall in Bil'in and the Eastward Expansion of Modi'in lllit, in: http://www.kibush.co.il/show_file.asp?num=8767 (11.9.2005).
7
Siehe den vorherigen Bericht: Gadi Algazi, „Zwischen den Mauern", in: Historische Anthropologie 11
(2003) H. 3, 460-468.
6
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Prinzipien gewaltlosen Widerstands und offener Kooperation mit israelischen Gegnern der
Besatzung treu blieben.8 Es wurden sogar Spezialkräfte eingesetzt (die Massada-Einheit) - als
Araber verkleidete Provokateure, die während der Demonstrationen versuchten, die
Demonstranten dazu anzustacheln, Gewalt gegen die Soldaten anzuwenden.9 Allein die
Entschlossenheit der Mitglieder des Volkskomitees von Bil'in verhinderte eine unkontrollierte
Eskalation der Gewalt als Folge dieser Provokation, die tödlich hätte enden können. Der Zaun
braucht also auch Schutz - und zwar nicht zuletzt vor dem gewaltlosen Protest der
palästinensischen Dorfbewohner und ihrer Alliierten. Der Zaun selbst wiederum dient dem
Schutz eines kolonialen Projektes: Modi'in Illit.
Schließlich ist der Zaun auf den Ländereien von Bil'in gebaut worden, um die zukünftige
Expansion der Siedlung für die Errichtung neuer Viertel zu gewährleisten, für die es meist
nicht einmal einen Bewilligungsplan gibt. Hier, an Israels wilder Grenze, ist es möglich,
Tausende von Wohneinheiten ohne Baugenehmigung oder einen gültigen Bebauungsplan zu
errichten. Nicht weniger bedeutend ist die Tatsache, dass die Siedlung Modi'in Illit kein
Projekt der nationalistischen messianischen Siedler und ihrer politischen Repräsentanten ist.
Es ist das Produkt einer heterogenen sozial-politischen Allianz, bestehend aus mächtigen
Bauunternehmern, Investoren, die die Chance ergreifen, von Landkonfiszierungen und
Regierungssubventionen zu profitieren, und Politikern, die das Kolonialprojekt unter dem
Banner von Sharons „Disengagement Plan" vorantreiben - und die dem allem ausgelieferten
Menschen.
2. Siedlungen und Immobilien
Die an der Expansion von Modi'in Illit beteiligten Firmen verdienen genauere Betrachtung.
Die maßgeblichen Unternehmen sind die Firma Danya Cebus (eine Tochtergesellschaft der
Africa-Israel Corporation, die einem der mächtigsten Geschäftsleute Israels, Lev Leviev,
gehört, der auch an der Konstruktion vieler anderer Siedlungen beteiligt ist),10 der Geschäftsmann und ehemalige Kopf der Bauunternehmer-Vereinigung, Mordechai Yona, der orthodoxe
Geschäftsmann Pinchas Salzman und Tzifcha International. Im Kampf um das Land in Bil'in
spielen handfeste Finanzinteressen also eine wichtige Rolle. Es steckt Profit im Zaun: Die
Investoren bestanden auf einem bestimmten Verlauf des Zaunes, der die Bewohner von Bil'in
von ihrem Land trennt, um die eigenen Investitionen zu sichern.
Modi'in Illit wurde 1996 auf Initiative von Privatunternehmern gegründet, ursprünglich
unter dem Namen Kiryat Sefer; die verschiedenen Viertel wurden später zu-sammengelegt als
Modi'in Illit (auf Hebräisch: Oberes Modi'in). Wie bei manchen anderen Siedlungen führt der
Name in die Irre, da er suggeriert, dass sie nicht im Westjordanland, sondern direkt bei der
Stadt Modi'in, innerhalb der Grenzen Israels vor 1967 liege. Viele Israelis haben erst kürzlich
- in Folge der anhaltenden Proteste der Bewohner von Bil'in und dem Skandal über die
Methoden der Investoren, sich deren
8
Meron Rapaport, Symbol of Struggles, in: Haaretz, 10.9.2005.
Ders., Bil'in Residents: Undercover Troops Provoked Stone Throwing, in: Haaretz, 14.10.2005;
David Ratner, Bil'in Protesters Say Bean Bags are latest Riot Control Weapon, in: Haaretz, 7.11.2005.
10
Auf ihren Webseiten unterschlagen die Africa-Israel Corporation und Danya Cebus ihre Beteiligung
an der Errichtung von Siedlungen in den besetzten Gebieten und erwähnen nur ihre Projekte
„innerhalb des Staates Israel". Siehe
http://www.standardpoor.co.il/standardpoor/doa_iis.dll/Serve/item/English/1.1.1.1.html (8.8.06);
http://www.danya-cebus.co.iI/Eng/B_E.asp (8.8.06).
9
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Land anzueignen - entdeckt, dass Modi'in Illit tatsächlich eine Siedlung ist.11 Ihre Gründer
waren zwei Unternehmer, Anhänger des Rabbiners Shach, die kostengünstige Unterkünfte für
orthodoxe Familien bereitstellen wollten. Die enge Kooperation zwischen dem Stadtrat von
Modi'in Illit und mächtigen Privatunternehmern, die spezielle Zuschüsse und Verträge ohne
Ausschreibung bekamen, ist im Bericht des staatlichen Kontrolleurs genau dokumentiert:
Immer wieder versuchte der Stadtrat seine enge Kooperation mit den Investoren zu
rechtfertigen und argumentierte, dass der private Auftraggeber „bereits Wohneinheiten und
andere Projekte in der Gegend gebaut hat" und „dass ein dringender Bedarf besteht, das
Projekt fertig zu stellen".12 In Israels wildem Osten gibt die Politik der vollendeten Tatsachen
den Bauunternehmern freie Hand; die politische Dringlichkeit des Kolonisierungsprojekts und
die Bemühungen der Investoren, sich schnelle Profite zu sichern, fließen ineinander.
Der staatliche Kontrolleur etwa hat ermittelt, dass der Stadtrat von Modi'in Illit lediglich
10% der Steuern eintrieb, die ihm die Unternehmer auf den Ländereien schuldeten und dass
der Stadtrat „die Schulden, die ihm (von Seiten der zwei Hauptbauunternehmer der Siedlung)
zustanden, aufhob", und zwar „durch dubiose Buchhaltung, die auch zukünftige Bauprojekte
einschließt, noch bevor sie die erforderlichen Genehmigungen für den Bau erhalten haben".
Tausende der Wohneinheiten Modi'in Illits wurden in der Tat unter Missachtung der Gesetze
gebaut - und dies mit der post facto-Bewilligung des Stadtrats.13 In einem Siedlungsareal
bemühte sich der Stadtrat den illegalen Bau schön zu färben, indem er rückwirkende
Korrekturen des Flächennutzungsplans vornahm. Gemäß einer Untersuchung aus dem Jahr
1998 war die gesamte Brachfeld-Wohnanlage auf dem Boden von Bil'in ohne
Baugenehmigungen bebaut worden. Bedarf es der Erwähnung, dass nicht ein einziges der hier
entstandenen Häuser abgerissen wurde?14
All dies ist nicht lediglich eine Frage der Korruption oder des Missmanagements, sondern
ein strukturelles Charakteristikum des kolonialen Grenzraums. Unkontrollierte
Besiedlungsaktivität eröffnet Chancen, immense Profite auf Kosten des menschlichen und
natürlichen Umfelds zu erwirtschaften. In der Klage der Bewohner von Bil'in vor Israels
Hohem Gerichtshof erklärten diese, dass ein Großteil der Abwässer aus den Vierteln von
Modi'in Illit in den dortigen Fluss fließt und die Wasserreservoirs der Gegend verschmutzt.
Die Siedlung selbst jedoch wird sauber gehalten. Als gut gepflegte Stadt hat Modi'in Illit den
„Beauty Star" Preis des Vereins für ein schönes Israel gewonnen. Beamte in einem der
zentralen Viertel versicherten einem Journalisten, dass „prinzipiell und aus Sicherheitsgründen" keine Araber angestellt worden seien.15
Die Bewohner von Bil'in sind offensichtlich mit einer mächtigen Allianz von politischen
und wirtschaftlichen Interessen
11
Akiva Eldar, Official: Mofaz Approves Construction in West Bank Settlements, in: Haaretz,
14.12.2005.
12
Siehe: Israel's State Comptroller's Report 51a (2000), 201-218.
13
Ebd.
14
Im Dezember 2005 errichteten Bil'in-Aktivisten zudem ein kleines Haus auf einem palästinensischen
Grundstück, das hinter dem Zaun liegt, und erklärten, dass, solange kein einziges der illegalen
Bauprojekte in der Siedlung abgerissen wird, sie ein Recht hätten, auf ihrem Land zu bauen. Das
kleine Haus wurde „Zentrum für den gemeinsamen Kampf für Frieden" genannt und ermöglichte den
Bauern die Ländereien zu erreichen, die sie bald mit der Fertigstellung des Zauns verlieren werden.
Meron Rapaport, IDF Completes Evacuation of Bil'in „Outpost", in: Haaretz, 23.12.2005.
15
Tamar Rotem, The Price is Right, in: Haaretz, 23.9.2003.
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konfrontiert. Die zwei Viertel, die auf ihren Ländereien gebaut werden sollen, umfassen
insgesamt 5.500 Wohneinheiten. Das „Green Park" Projekt wird von der Firma Danya Cebus
gebaut, die von Lev Leviev und seinem Geschäftspartner, dem amerikanischen
Grundstücksinvestor und Lubawitsch-Anhänger Shaya Boymelgreen, kontrolliert wird. Es ist
ein riesiges Projekt, mit 5.800 geplanten Wohnungen, ein 230Millionen-DollarUnterfangen.16 Bezüglich der Einkünfte von Africa-Israel, der Grundstücksinvestment-Firma,
die Leviev gehört, konnte 2005 ein starker Zuwachs verbucht werden; seine Betriebsgewinne
stiegen um 129 % an und liegen nun bei 1.1 Milliarden israelischen Schekel (etwa 240
Millionen Dollar) in den ersten drei Quartalen des Jahres.17
Doch es lohnt sich auch zu fragen, wer genau die seltsamen Unternehmer sind, die
behaupten, legale Besitzer der Grundstücke zu sein, auf denen die neuen Viertel errichtet
werden: Es sind Israels Treuhänder des Bodens Abwesender18 und die kaum bekannte LandEinlösungs-Stiftung der Siedler (Land Redemption Fund, LRF). Diese vor circa zwanzig
Jahren gegründete Stiftung koordiniert die Übernahme palästinensischen Bodens in einer
Reihe von Schlüsselgegenden, die für die Expansion der Siedlungen vorgemerkt sind. Sie
wurde etabliert von einigen der ideologischen Führer der radikalen Siedler: Zvi Slonim,
ehemaliger Generalsekretär der Siedlerbewegung Gush Emunim; Avraham Mintz, ehemaliger
enger Mitarbeiter von Ariel Sharon, als dieser noch Wohnungsbauminister war, und Ira
Rapaport. Rapaport, ein Siedler aus Brooklyn, war einer der Gründer des Terrornetzwerks der
Siedler, das im Westjordanland in den frühen 1980ern operierte. Wegen seiner persönlichen
Beteiligung an dem Mordanschlag gegen Bassam a-Shak'a, Bürgermeister von Nablus, der
beide Beine dabei verlor, wurde Rapaport zu mehreren Jahren Haftstrafe verurteilt.19
Die Aneignungsmethoden der LRF sind in einer detaillierten Untersuchung zweier
israelischer Journalisten beschrieben:
„Das Spionage-Netzwerk der Stiftung besteht aus ehemaligen (palästinensischen)
Kollaborateuren, die nach ihrer Entlarvung in ihre Dörfer zurückkehrten, sowie israelischen
Angestellten des Allgemeinen Sicherheitsdienstes in Pension, die Informationen gegen Geld
liefern (sie können beispielsweise herausfinden, wem ein Stück Land eigentlich
16
Sharon Kedmi, Danya Cebus is to build in Modi'in Illit, in: Globes, 15.8.2004.
Neueste Daten: http://maariv.bizportal.co.il/bizportalnew/bizcomparticle.shtml?c_id=611&
mid=108302&IdDB=l&srvr=http:\\www.honline.co.il\ (8.8.06).
18
Dieses Regierungsorgan, das offiziell mit der Verwaltung des Besitzes Abwesender betraut ist,
spielt eine Schlüsselrolle in der Aneignung palästinensischen Landes - insbesondere desjenigen, das
Flüchtlingen innerhalb Israels gehört - und kürzlich auch in den besetzten Gebieten. Während der
Diskussion über den Einspruch von Bil'in-Bewohnern gegen den Verlauf des Zauns, den diese Israels
Hohem Gerichtshof vortrugen, wurde offenbar, dass der staatliche Treuhänder als Strohpuppe für die
Land-Einlösungs-Stiftung diente, um ihre Identität zu verschleiern. In einem Spezialbericht haben zwei
israelische Menschenrechtsorganisationen diese „revolvierende Transaktionen" aufgedeckt: Die
Siedler „transferieren das Land, das sie gekauft haben, an den Treuhänder, der es zu Staatsboden
erklärt. Dies ermöglicht es, den Planungsprozess in Gang zu setzen. Der Treuhänder teilt das Land
dem Käufer im Rahmen des Planungsgenehmigungs-Abkommens zu und gibt es dann zur
Entwicklung frei - ohne Entgelt." Siehe Yehezkel Lein/Alon Cohen-Lifshitz, Under the Guise of
Security: Routing the Separation Barrier to Enable the Expansion of Israeli Settlements in the West
Bank, hrsg. v. Bimkom (Planners for Planning Rights) und B'Tselem (The Israeli Information Center for
Human Rights in the Occupied Territories), in:
http://www.btselem.org/Download/200512_Under_the_Guise_of_Security_Eng.doc (8.8.06).
19
Shalom Yerushalmi, Every Prime-Minister who Gave away Eretz Yisrael - was hurt (an Interview
with Era Rapaport), in: Ma'ariv, 5.4.2002.
17
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gehört und wer es bebaut) und ehemaligen Militärgouverneuren, wie zum Beispiel der
kürzlich verstorbene Yehoshua Bar-Tikva, der ehemalige Militärgouverneur von Tulkarem,
dessen Beziehungen in den Dörfern nach seiner Pensionierung vom LRF eingesetzt
wurden."
Arabische Strohmänner agieren als Vermittler in diesen Transaktionen; sie geben sich
gewöhnlich als die Käufer aus, bevor die Grundstücke an die Siedler weiter gegeben werden.
Die Operationen werden finanziert „von rechten jüdischen Millionären wie Lev Leviev oder
dem Schweizer Tycoon Nissan Khakshouri."20 In Bil'in fanden ähnliche Methoden
Verwendung, als es darum ging, des Landes habhaft zu werden.21
Das Projekt ist daher auf unentwirrbare Weise zugleich ökonomisch wie politisch: Die
Förderung von Annexion und Kolonisierung bringt fette Profite ein. Unter den
Hauptsponsoren der Land-EinlösungsStiftung finden sich dieselben Kapitalisten, die auch in
anderen Kontexten als Siedlungsbauer und Grundstücksinvestoren auftauchen. Sie schenken
den radikalen Siedlern beträchtliche Summen, und dies nicht allein aus politischer
Überzeugung - schließlich lässt sich Profit aus der Sache schlagen. Dieselbe Allianz findet
man auch andernorts in der Westbank. Die Land-Einlösungs-Stiftung beispielsweise ist zugleich der Investor, der hinter der massiven Expansion der Siedlung Tzufin steckt, die auf
dem Boden von Jayyous liegt - einem weiteren palästinensischen Dorf, das die meisten seiner
Ressourcen durch den Separationszaun verliert. Hier ist die elffache Erweiterung der Siedlung
im Gange. Auch in diesem Fall handelt es sich beim verantwortlichen Bauunternehmer um
eine Immobilienfirma, die von demselben Lev Leviev kontrolliert wird.22
Die Gebiete, die sich die Stiftung ausgesucht hat - Nirit, Alfei Menashe, Tzufin und Modi'in
Illit - sind ebenfalls bedeutend: „Ihr Hauptanliegen ist es, die Grüne Linie (Israels Grenze vor
1967) zu verwischen, indem die neuen Siedlungen an Gemeinschaften innerhalb der Grünen
Linie gekoppelt und Gemeinden innerhalb der Grünen Linie in Richtung der neuen Territorien
ausgeweitet werden", um „vollendete Tatsachen zu schaffen".23 Diese Siedlungen sind Teil
eines umfassenderen Projekts, das in den 1980ern begonnen wurde, um die Grüne Linie
aufzulösen, indem man Kolonien für nicht-ideologische Siedler der Oberschicht errichtete.
Das Projekt litt unter den Folgen der Intifada, doch um 2003 herum wurde es nach der
Fertigstellung von Teilen des Separationszauns wieder aufgenommen, was zur de factoAnnektierung von Teilen der Westbank führte, die zwischen dem Zaun und Israel liegen. In
diesen Gebieten konnte man nun einen höheren Lebensstandard versprechen, in einer Region,
die für Investoren und Siedler in dem Maße sicher gemacht wurde, wie palästinensische
Gemeinschaften hinter der Mauer verschwanden.24
Israels Siedlungen in der Nähe der Grünen Linie und im Schatten des Zauns haben
demzufolge eine strategische Bedeutung: Sie ergänzen das Projekt der Errichtung eines
Zaunsystems, indem sie effektiv Teile
20
Shosh Mula/Ofer Petersburg, The Settler National Fund, in: Yedioth Achronoth, 27.1.2005;
englische Übersetzung: http://www.peacenow.org/hot.asp?cid=247 (8.8.06).
21
Akiva Eldar, Documents Reveal West Bank Settlement Modi'in Illit Built illegally, in: Haaretz,
3.1.2006; ders., State Mulls Criminal Probe into Illegal Settlement Construction, in: Haaretz, 8.1.2006.
22
Ada Ushpiz, Fenced out, in: Haaretz, 16.9.2005.
23
Mula/Petersburg, The Settler National Fund.
24
Gadi Algazi, The Upper-Class Fence, in: HaOkets 15.6.2005; englische Übersetzung:
http://www.kibush.co.il/show_file.asp?num=5086 (8.8.06).
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des Westjordanlandes für Israel annektieren. Aber sie sind zugleich der soziale Ort, an dem
eine mächtige politische und ökonomische Allianz zwischen Kapital, Siedlern und Politikern
Form annimmt.
3. Die Zaunkoalition schreitet voran
Die Pro-Zaun-Koalition kristallisiert sich momentan um Sharon und dessen politische
Erben - eine Allianz der Anhänger gradueller Annexion („Israel sollte die Siedlungsblöcke
behalten") und „vernünftiger" kolonialer Expansion (die nur dann so vernünftig erscheint,
wenn sie ihren Freunden und Rivalen gegenüber gestellt werden, den „schlechten",
hemmungslosen Siedlern). Sie sind allesamt vereint unter dem Banner der ethnischen
Trennung und der ökonomischen Privatisierung. Diese Allianz verspricht Israel Frieden sprich: unilaterale Befriedung - und partielle Annektierung durch Zerstückelung der
Westbank in eingezäunte Enklaven.
Erst 2006 betrat die Zaunkoalition förmlich die politische Bühne-wobei nicht vergessen
werden darf, dass ihre Anhänger auch außerhalb der Partei Kadima, die um Sharons
Vermächtnis herum geformt wurde, zu finden sind. Aber in Modi'in Il-lit und anderswo auf
den Hügeln der Westbank konnte man schon vor einiger Zeit ihr soziales und ökonomisches
Gegenstück am Werk sehen: Dessen Kern besteht aus einer unheiligen Allianz zwischen
Siedlern und Staatsorganen, die den Ausbau der Zaunsysteme und Siedlungen vorantreiben,
Grundstücksfirmen sowie HighTech-Unternehmer - die „old" und „new economy". Die im
Schatten des Zauns expandierenden Siedlungen sind der Ort, an dem diese wichtigen
Bündnisse geschmiedet werden, genau deshalb, weil sie nicht allein auf dem missionarischen
Eifer der Hardliner fußen, sondern auch Antworten auf reale soziale Bedürfnisse liefern - Lebensqualität für die obere Mittelschicht oder Jobs und subventioniertes Wohnen für die
Armen. Diese Siedlungen erweitern daher die soziale Machtbasis der Kolonisationsbewegung und binden zusätzliche soziale Gruppen an sie: zu vorderst die echten
Zaunprofiteure, Bauunternehmer, Investoren und Oberschichtensiedler, die Lebensqualität in
neuen „gated communities" suchen, fern der Armen und abgeschirmt von den Palästinensern.
Doch vor allem binden sie diejenigen an das Kolonisierungsprojekt, die einen Weg aus der
Misere suchen: Großfamilien, die billigen Wohnraum brauchen oder neue Immigranten, die
am Tropf der Regierungssubventionen hängen und soziale Anerkennung suchen. Sie sind es
auch, die den Preis zahlen - die Feindschaft und der Hass, die der Zaun hervorruft, und die
völlige Abhängigkeit von Kapitalisten und Politikern.
In Modi'in Illit trifft die Old Economy der Bauunternehmer und Entwickler auf die New
Economy des High Tech. Beide sind eng mit dem Staat verwoben: Im Juni 2004 hat
Mordechai Gutman, CEO von Matrix, in einer Diskussion mit dem Finanzminister Benjamin
Netanyahu im Wissenschafts- und Technik-Ausschuss der Knesset Staatshilfe gefordert, um
der Konkurrenz von Billigprogrammierern aus Indien zu begegnen.25 Staatssubventionen
unterstützen in der Tat das Projekt von Matrix in Modi' in Illit.26 „Wie der Finanzminister",
sagte die Vorsitzende des parlamentarischen Ausschusses zu den versammelten Vertretern der
High-Tech-Industrie, „so denke auch ich, dass die Bandbreite der Interessen, die Sie hier am
Tisch vertreten, zugleich das Interesse des Staates ist." Sowohl die Bauunternehmer als auch
die High-Tech-Fir-
25
Protokolle des Knesset-Ausschusses für Wissenschaft und Technik, 29.6.2004.
Die Regierung Israels subventioniert die Löhne für fünf Jahre:
http://www.tamas.gov.il/NR/exeres/IBEE7B98-AC24-46E7-83C6-DF7FDEC4CD25.htm (8.8.06).
26
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men profitieren vom Kolonialprojekt, das ihnen billiges gestohlenes Land zur Verfügung
stellt, sowie von Staatssubventionen und öffentlichen Ressourcen, Polizisten und Soldaten,
die ihre Investments sichern - und von disziplinierten Arbeitskräften. Denn es sind diese
Kolonien wie Modi'in Illit, 25 Minuten von Tel Aviv entfernt, in denen Matrix eine
Alternative zu den billigen indischen Arbeitskräften gefunden hat. Die Lösung heißt
„offshoring at home"; es findet ganz in der Nähe statt, in Israels kolonialem Hinterhof.
Israelischer Kapitalismus schwebt nicht ortlos in einer digitalen Welt. Er wird zunehmend
integriert in einen globalen Markt - und erneuert sich selbst zugleich durch die Einbeziehung
in das koloniale Projekt und schöpft daraus Ressourcen und Unterstützung.
Es wird gelegentlich behauptet, dass es mit der Modernisierung des israelischen
Kapitalismus möglich - und vielleicht sogar notwendig - werde, seine Bindung an den alten
Kolonialismus aufzugeben. Der Fall Matrix in Bil'in demonstriert, dass israelischer
Kapitalismus zugleich kolonial und digital sein kann, zwischen globalen Märkten und
kolonialen Siedlungen, Kampagnen ungezügelter Privatisierung und massiven
Regierungssubventionen hin und her oszillieren kann. Sich selbst überlassen, ist er weder in
der Lage noch empfänglich dafür, sich aus dem kolonialen Sumpf zu ziehen - zumindest
solange Israels koloniales Projekt nicht unwiderruflich zu einer Belastung wird oder der
Widerstand der Kolonisierten und ihrer Alliierten einen Kurswechsel erzwingt.
4. Global, digital und kolonial
Wie viel zahlen die Unternehmer den Frauen, die für das Entwicklungszentrum von Matrix in
Modi'in Illit arbeiten? Sie werden als fleißige, effiziente und außergewöhnlich produktive
Arbeiterinnen beschrieben: „Was ein Programmierer woanders in einer verrückten Woche
voller Druck und Schlaf am Arbeitsplatz tun kann, schaffen diese Mädchen hier locker in drei
Tagen," berichtet der Leiter des Matrix-Zentrums in Modi'in Illit einem Journalisten.27 Doch
ihre Löhne betragen die Hälfte des Lohns eines Programmierers in Israels Zentrum. Für ihre
Dienste verlangt Matrix von ihren Kunden 18 bis 20 Dollar die Stunde. Ein Anfänger im
Matrix-Entwicklungszentrum bekommt einen Mindestlohn - etwa vier Dollar - für eine
Arbeitsstunde. Ein israelischer Journalist, Yoni Shadmi, hat ausgerechnet:
„Die Mädchen im Matrix Entwicklungszentrum spezialisieren sich in den Programmiersprachen Java und dot.net. Um einen Vergleich anzustellen: ein AnfängerProgrammierer mit denselben Fähigkeiten kann in Israel 10.000 israelische Schekel im
Monat verdienen [2.175$]. Ein geringfügig mehr erfahrener Programmierer, der nicht davor
zurückschreckt, seinen Lohn auszuhandeln, von denen es sicherlich mehr als einen in den
bescheidenen Büroräumen von Modi'in Illit gibt, sollte, ohne viel Anstrengung, mehr als
20.000 Schekel [4.350 $] im Monat verdienen. Im Matrix Entwicklungszentrum in Modi'in
Il-lit, das in den Genuss von Arbeitern kommt, die fast japanische Standards an
Pünktlichkeit, Fleiß und Mühe aufweisen, werden Frauen mit weniger als 5.000 Shekel
(1.085$) bezahlt.
Während ihres ersten Halbjahres am Arbeitsplatz, das einen umfassenden
Ausbildungskurs enthält, der sie auf den Job als Programmierer vorbereitet, verdienen die
Mädchen 2.000 Schekel [435$] im Monat. Danach bekommen sie den Mindestlohn, der im
Oktober 2005 3.335 Schekel [725$] zuzüglich
27
Yoni Shadmi, Globalization Killed the High-Tech Star, in: Ma'ariv, 11.11.2005.
449
Auslagen betrug. Zu Beginn ihres zweiten Jahres bekommen die Mädchen 4.800 Schekel
[1.045$] im Monat. Der Staat zahlt der Firma 1.000 Schekel [215$] im Monat für jeden
Arbeiter [...] und finanziert somit einen Teil der Löhne der Mädchen. Darüber hinaus sind
sie an die Firma für mindestens zwei Jahre gebunden. Sie möchten gehen? Dann zahlen sie
ein Bußgeld, das zwei Monatsgehältern entspricht. Es gibt auch keine Prämien."28
Einer der Führer der Ultraorthodoxen in Israel erklärte einem anderen Reporter: „Die
ultraorthodoxe Gemeinde ist daran gewöhnt, von nichts zu leben, daher ist es schon viel für
sie, wenig zu verdienen."29
Die Pressesprecher der Firma sind darauf bedacht, den Journalisten zu erklären, ihr
Vorgehen habe nichts mit der Ausbeutung billiger Arbeitskräfte zu tun. Die Löhne, die den
ultraorthodoxen Frauen von Modi'in Illit gezahlt werden, so argumentieren sie, reflektieren
nicht deren relative Produktivität oder den Wert ihrer Dienstleistungen auf dem
internationalen Markt, sondern eher „deren niedrige Lebenshaltungskosten" (eine
bemerkenswerte, wenngleich nicht gänzlich unbekannte WertTheorie!).30 Das Leben ist billig
in den Kolonien; dies ist die israelische Antwort auf die Globalisierung. Doch wenn sie
Kunden ansprechen oder mit ihren Erfolgen gegenüber ausländischen Geschäftsleuten
prahlen, sprechen Matrix-Manager klar und deutlich von ultraorthodoxen Frauen als „einer
billigen lokalen Arbeitskraft".31 Sie stellen das gesamte Projekt als ihre Antwort auf die
schnelle Globalisierung der High-Tech-Industrie dar, eine erfinderische Antwort auf die
Konkurrenz der billigen Arbeitskräfte aus Indien oder Rumänien: „offshore outsourcing at
home" lautet ihre Formel. Programmierer in der Ferne einzustellen, die Arbeitseinsätze für
Kunden jenseits des Meeres übernehmen sollen, um die Produktionskosten zu senken, wird zu
einer gängigen Lösung in der neuen globalen Wirtschaft. Doch diese Art „Offshore
Outsourcing" bringt spezielle Schwierigkeiten mit sich, argumentieren sie, „aufgrund der
geographischen und kulturellen Distanz" zwischen den Kunden, den Arbeitgebern und den
Angestellten: unterschiedliche Arbeitstage, verschiedene Sprachen und eine andere
„Arbeitskultur". Hier, so behaupten Matrix-Manager, werden dagegen nicht nur die
Reisekosten gespart. Die Firma bietet Dienste zu einem „ähnlichen Preis wie diejenigen, die
in asiatischen Ländern zur Verfügung stehen, aber mit den Vorteilen des Arbeitens mit einem
lokalen Entwicklungszentrum in geographischer und kultureller Nähe." Doch das ist nicht
ganz korrekt. Die Rede von der „geographischen Nähe" verschleiert die speziellen Vorteile
der Lokalisierung des Projekts in einem kolonialen Setting und es ist genau die „kulturelle
Differenz", die hier ausgenutzt wird, um den größtmöglichen Profit aus der Arbeitskraft
herauszuholen.
5. Raub und Disziplin
„Der Herr geht ins Gericht mit den Ältesten seines Volks und mit seinen Fürsten: Ihr habt
den Weinberg abgeweidet, und was ihr den Armen geraubt (gzelat heAni), ist in eurem
Hause." (Jesaja 3:14)
Das Matrix-Entwicklungszentrum ist streng koscher. Zwei Rabbiner aus dem Ort - einer
davon ist mit der Matrix-Angestellten verheiratet, die das Projekt initiierte – be28
Ebd.
Yemini, Indian Labor?
30
Gutman, Off Shore in Israel.
31
Efrat Neuman, No Reason for Envy: The Irish Model is based on Low Taxes and Cheap Labor
Force, in: Haaretz, 5.9.2005.
29
450
treuen das Gelände. Das Siegel des Rabbiners ist wichtig: „Wir halten hier sorgfältig jede
koschere Regel ein", sagt der Firmendirektor, „damit wir die Genehmigung der Rabbiner
nicht verlieren." Jenseits der legitimen und unerlässlichen Berücksichtigung der Lebensweise
und Werte der Arbeiter spielt rabbinische Unterstützung eine besondere Rolle in diesem
kapitalistischen Unternehmen: Die arbeitenden Frauen „leben gemäß einem komplexen
religiösen und professionellen Kode", der praktisch „in der Luft" liegt.32 Die Reporter
berichten von der außergewöhnlichen Arbeitsdisziplin der Frauen in den verschiedenen
Software-Entwicklungszentren: „Obwohl viele Mütter von sechs Kindern sind, lassen sie
weniger Arbeitstage aus als es eine Mutter von zweien in Tel Aviv tut", erklärte eine
Imagestore-Projektdirektorin in Modi'in Illit einem Journalisten:
„Diese Frauen haben keinen Unfug im Kopf. Sie arbeiten einfach. Keine Rauchpausen,
Kaffeepausen, kein Plaudern am Telefon oder Schauen nach Ferienangeboten in der Türkei.
Pausen sind nur zum Essen da, oder um Milch im Spezialraum abzupumpen. Einige der
Mütter schaffen es sogar, nach Hause zu gehen, zu stillen und zurückzukommen."33
Journalisten waren beeindruckt von der Stille am Arbeitsplatz:
„Persönliche Unterhaltungen in den Arbeitsräumen des Matrix Entwicklungszentrums sind
verboten, nicht nur zwischen Männern und Frauen, sondern auch unter den Frauen. Sie
bezahlen dich für acht Stunden Arbeit. Wenn eine zuviel spricht oder im Web surft, wird jemand anderes ihr sagen, hey, das ist Raub [gezel]', als ob wir der Firma was wegnehmen
würden. Einmal fragten wir, ob wir eine Pause von fünf Minuten machen dürften, um zu
beten, aber der Rabbiner sagte, dass die alten Weisen keine Pausen machten, sondern das
Schma (das tägliche Hauptgebet) sprachen während sie weiterarbeiteten; deshalb könnten
wir das Gebet auf den Feierabend verschieben.' Alles in allem, sind die Mädchen der Traum
eines jeden Personalmanagers, wie Hila Tal erzählt: , Sie kamen zu mir und fragten , ist es
uns erlaubt, miteinander zu sprechen? Dürfen wir uns am Telefon unterhalten?' Das
Management erwiderte, dass sie es dürften, jedoch nur begrenzt. Die Regeln werden sogar
dann eingehalten, wenn die Chefs nicht da sind.' Der Gruppenleiter von Esti [einer anderen
Arbeiterin] ist für gewöhnlich in Petach Tikva. Aber selbst dann, in der Atmosphäre gegenseitigen Drucks unter den Mädchen, werden die Regeln befolgt. Wir sind an Strenge und
Gehorsam gewöhnt', sagt sie mit einem halben Lächeln, wir haben uns daran gewöhnt,
nichts Verbotenes zu tun, sogar wenn niemand guckt, weil nämlich von oben jemand
zuschaut.34
Im Tausch mit dein rabbinischen Siegel erhalten die Investoren disziplinierte, koschere
Mädchen. Der Rabbiner ist dazu da, kapitalistische Zeitdisziplin durchzusetzen. Der
unheilvolle Begriff gezel - ein überladener moralischer Begriff in der jüdischen religiösen
Tradition, der „gewaltsam Wegnehmen" und „Raub" bedeutet, wird nicht auf die geraubten
Ländereien von Bil'in angewendet, sondern dazu, die den Arbeitgebern entwendete Zeit zu
bezeichnen.
Eine Allianz von privatem Kapital und chassidischen Entrepreneurs bewerkstel-
32
Shadmi, Globalization.
Ruth Sinai, Modi'in Illit: The Zionist Response to Off-Shoring, in: Haaretz, 19.9.2005.
34
Shadmi, Globalization.
33
451
ligte den Zugriff auf den palästinensischen Boden für die Expansion von Modi'in Illit; im
Betrieb findet man ein nicht weniger faszinierendes Bündnis zwischen der New Economy und
traditioneller Autorität. Wie die Rabbiner, die den Landraub guthießen, stellen auch die
Matrix-Rabbiner zweifelsohne wichtige religiöse Regeln auf: Die Unterhaltung untereinander
während der Arbeitszeit ist Diebstahl, da Geld Zeit ist, und Zeit gehört der Firma. Bei Matrix
experimentiert man mit neuen Kombinationen - ein Mix aus gegenseitiger sozialer Kontrolle
unter den Arbeitern, Überwachung und Disziplin, gepaart mit rabbinischer Autorität.
Liest man die Presseberichte über das Matrix-Entwicklungszentrum in Modi 'in Illit,
bekommt man den Eindruck einer Begegnung mit einer fernen und exotischen Kultur: Die ihr
angehörigen Frauen erscheinen jung und liebenswürdig, doch ihre Bräuche muten seltsam an;
sie folgen einem strengen Ritualkodex und haben viele Kinder. Trotz ihrer vermeintlich
seltsamen Art können sie, so die Presseberichte, dennoch zu produktiver Arbeit erzogen werden: Sie sind mit wenigem zufrieden; sie sind diszipliniert und gehorsam, nicht zuletzt dank
ihrer Priester, die ihre Autorität der Herrschaft der Arbeitgeber hinzugefügt haben. Es besteht
kein Zweifel: Groß ist das Glück von Israels Kapitalisten: Angesichts der Herausforderungen
der Globalisierung brauchen sie nicht weiter nach Stämmen in fernen Kolonien zu suchen.
Ihre Kundschafter haben sie bereits gefunden im nahen, kolonialen Hinterhof.
Diese Beschreibungen erinnern eindeutig an die Debatten über das religiöse Ethos der
Arbeiter und deren Arbeitsdisziplin zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sollte man Max Webers
kurzen Einschub über fromme Arbeiterinnen in seiner Protestantischen Ethik und der Geist
des Kapitalismus zitieren? Diese idealisierte Repräsentation - eine Mischung von PublicRelations-Prospekten, interessierten Selbstbeschreibungen von Arbeitern und den exotisierten
Darstellungen von Journalisten - nimmt man lieber nicht für bare Münze. Die ultraorthodoxen
Frauen, die für Matrix and die anderen Firmen arbeiten, würden sicherlich Wege finden,
sowohl die Verfügungen der Matrix-Rabbiner als auch die Kontrolle am Arbeitsplatz zu
umgehen. Darüber hinaus sollte man nicht vergessen, dass es auch materielle Gründe für die
starke Motivation der Arbeiterinnen gibt. Wo sonst könnten sie arbeiten? Eine der weiblichen
Managerinnen des Projekts gibt unumwunden zu: „Es gibt keine Arbeit in Modi'in Illit, und
Frauen haben keine Autos, um woanders hin zu fahren. Die meisten haben nicht einmal einen
Führerschein, was es erforderlich macht, dass es einen Arbeitsplatz gibt, der sich in der Nähe
ihres Zuhauses befindet." Die öffentlichen Verkehrsmittel sind unterentwickelt und die Quote
an Autobesitzern in Modi'in Illit ist in der Tat unter den niedrigsten im ganzen Land;
Industriegebiete sind zudem nicht vorhanden.35
Ignorieren wir für einen Moment die High-Tech-Aura, die mit der Transformation der
High-Tech-Industrie bereits verblasst ist - neue Sweatshops entstehen zur Zeit überall36 - und
konzentrieren wir uns auf die repressiven Arbeitsbedingungen, die Abhängigkeit gegenüber
einer engen Al-lianz aus Bauunternehmern und Arbeitgebern (eine der Auftragsfirmen prahlt
damit, den Kontakt zwischen Grundstücksentwicklern und High-Tech-Firmen berge
35
Shim'oni, Orthodox Java Wife.
Über einen weiteren kreativen Versuch, „offshoring near home" anzubieten - diesmal, indische
Programmier auf einem Schiff vor den Küsten Kaliforniens einzusetzen - siehe Patrick Thibodeau, For
SeaCode, Offshoring Means Three Miles off the Coast: Founders Promise, the Price of India with the
Proximity of the United States, in: Computerworld, 11.7.2005:
http://itreports.computerworld.com/managementtopies/outsourcing/story/0,10801,103089,00.html
(8.8.06).
36
452
stellt zu haben),37 das Fehlen von alternativen Erwerbsquellen und die Anwendung
„traditioneller" sozialer Kontrolle - erinnert all dies nicht an die Arbeitsbedingungen in den
„Entwicklungsstädten" in der Peripherie Israels der fünfziger Jahre, an die Fabriken, die als
das ersehnte Heil der rückständigen neuen Immigranten hingestellt wurden? In beiden Fällen
stellen die Einbindung in Israels Kolonialprojekt und die Besiedlung seiner Grenzen die
Vorbedingungen für den Zugang zu sozialen Grundrechten. Damals wurden neue Immigranten aus der arabischen Welt als ungelernte Arbeiter dargestellt, denen es an Kompetenz
fehle; genau so werden ultraorthodoxe Frauen zur Zeit beschrieben, wie sie sich aus der
Dunkelheit ins Licht begeben, vom Haushalt zu den Wundern moderner kapitalistischer
Unternehmen. Dabei werden sowohl der tatsächliche Bildungsgrad der Frauen als auch die
Tatsache unterschlagen, dass ultraorthodoxe Frauen schon längst ihre Familien ernähren und
dabei auch den Haushalt führen, während ihre Männer - im Rahmen einer besonderen
Arbeitsteilung - sich dem Torah-Studium widmen.38 Im heutigen Israel wurde den neuen
Siedlern gegen ihren Willen ein hoher Preis abverlangt. Der neue Kolonialismus im Schatten
der Mauer verstärkt die Abhängigkeitsbeziehungen und die Unterordnung unter den Staat,
politische Patrone und Unternehmer.
6. Kanonenfutter für das Kolonialprojekt
Die meisten Bewohner von Modi'in Illit sind ultraorthodox und haben viele Kinder. Vor zwei
Jahren, als einige von ihnen mit einem Reporter von Haaretz sprachen, betonten sie, dass sie
sich selbst nicht als Siedler ansähen. Es ist die Wohnungsnot, die ultraorthodoxe
Großfamilien ins Siedlungsprojekt gedrängt hat. Dort bekommen sie Regierungsunterstützung
und Sozialwohnungen, die es innerhalb Israels nicht mehr gibt. In der anderen
ultraorthodoxen großen Siedlung Betar Illit (das voraussichtlich der nächste Schauplatz für
den Kampf um den Bau der Zaunanlage sein wird) und in Modi' in Illit kostet eine
Dreiraumwohnung weniger als 100.000$. „Und was sollten sie denn auch machen? Nach Tel
Aviv gehen, in ein Oberschichtenviertel ziehen?", fragte Professor Menachem Friedman, ein
Experte der ultraorthodoxen Bevölkerung, einen Haaretz-Reporter: „Ihre Situation war so
ausweglos, dass sie bereit waren, überall hinzuziehen." Das ist genau das, worauf die
Anführer der Siedler spekulieren. „Selbst wenn sie nicht aus ideologischen Gründen hierher
kämen," sagte ein Wortführer des Siedlerrates voller Zuversicht - „würden sie ihre Häuser
nicht so einfach aufgeben."39 An manchen Etappen des Kolonisierungsprozesses wird über
den Mechanismus, der Menschen darin eingliedert und sie gegen ihren Willen zu Siedlern
macht, offen gesprochen. Im Jahr 2003 ging der Bürgermeister von Betar Illit, Yitzhak
Pindrus, so weit zu sagen, dass die Ultraorthodoxen gegen ihren Willen als „Kanonenfutter"
in die besetzten Gebiete geschickt wurden.
Ihre Bedeutung darf nicht unterschätzt werden. Diese zwei ultraorthodoxen Siedlungen
allein - Betar Illit und Modi'in Illit - beherbergen zusammen mehr als ein Viertel aller
jüdischen Siedler in der Westbank - und wachsen ständig weiter. Verglichen mit jüdischen
Gemeinden in Israel
37
Siehe deren Webseite: http://www.ahuzatbrachfeld.com/he/ahuzat-brachfeld.php (8.8.06).
Ultraorthodoxe Frauen wurden kürzlich als „Agenten sozialen Wandels" beschrieben, die traditionelle Hierarchien unterwandern, indem sie neue Berufe ergreifen. Siehe Menahem Friedman, The
Ultra-Orthodox Woman, in: Yael Atzmon (Hg.), A View into the Lives of Women in Jewish Societies,
Jerusalem 1995, 273-290; Yossef Shalhav, Ultra-Orthodox Women between Two Worlds, in: Mifne
46-47 (2005), 53-55.
39
Zitiert nach Rotem, The Price.
38
453
und allen Siedlungen im Westjordanland, sind sie aber auch die zwei ärmsten Ge
meinden.40
7. Matrix in Modi'in Illit
Matrix ist eine der größten Software-Firmen in Israel; sie wird an der Börse von Tel Aviv mit
einem Wert von einer halben Milliarde Schekel gehandelt und beschäftigt etwa 2.300
Arbeiter. Laut Berichten stiegen ihre Profite um 61 % im ersten Quartal 2005 und um 76% im
dritten Quartal, jeweils verglichen mit demselben Quartal des vorangegangenen Jahres.41
Unter ihren israelischen Kunden befinden sich Banken, öffentliche Institutionen,
Sicherheitsdienste und Privatkunden. Matrix IT wird kontrolliert von Formula Systems von
der Formula Group, die weltweit 500 Millionen Dollar Umsatz macht.42
Matrix ist somit ziemlich angreifbar durch öffentliche Kritik und Boykott. Globale
Unternehmer haben einen empfindlichen Nerv. Matrix ist zum Beispiel der Hauptlieferant
einer der beliebtesten kommerziellen Versionen des Linux Betriebssystems - Red Hat. Was
wäre, wenn LinuxAnwender Matrix boykottierten und forderten, dass es seine Investitionen
aus den besetzten Gebieten abzieht, oder Druck ausüben auf die öffentlichen Einrichtungen,
die es unter ihren Kunden gibt (unter anderem haben die Hebrew University, das Weitzman
Institut für Wissenschaft, die Ben Gurion Universität und die Universität Tel Aviv, an der ich
arbeite, alle Red Hat von Matrix gekauft)?43 Was würde passieren, wenn Anwender den
Firmen wie Oracle44, die die Dienste des Entwicklungszentrums von Modi'in Illit nutzen, mit
Boykott drohten? Das betrifft nicht allein Israel: Matrix repräsentiert einige der wichtigsten
internationalen Firmen;45 alle sind empfänglich für öffentlichen Druck von Gegnern der
Siedlungen. Und was ist mit Formula Systems, denen Matrix gehört? Formula Systems ist
sehr bedacht auf sein öffentliches Image. Das Unternehmen bemüht sich um eine
Selbstdarstellung als eine Firma, die etwas zur Gesellschaft beiträgt; zudem unterstützt es das
Zentrum zur Förderung der sozialen und umweltpoliti-schen Verantwortung der Unternehmen
in Israel. Auch die Kunden von Formula Systems könnten verlangen, dass Formula aufhört
den Bau und die Expansion der Siedlungen in der besetzten Westbank zu unterstützen.
8. Zuckerbrot und Peitsche
Und was ist mit den Frauen von Modi'in Illit? Es ist nur einige Jahre her, da haben die
ultraorthodoxen Siedler in Betar Illit wider Willen sich selbst als „Kanonenfutter" gesehen,
doch nun, mit dem näher rückenden Zaun, würden sie wahrscheinlich eher ihre Hoffnungen
auf die Mauer setzen, Sicherheit in ihrem Schatten suchen und sich mit dem
Enteignungsprojekt identifizieren.46 Auf ähnliche Weise sehen manche Frauen
40
The Israel Central Bureau of Statistics, Characterizing Local Councils and. Ranking them according
to the Socio-Economic Position of their Population, Februar 2004.
41
Daten auf http://web.bizportal.co.il/web/biznews02.shtml?mid=103203 (8.8.06).
42
Vgl. http://www.formulasystems.com/ (8.8.06).
43
Quelle: http://www.johnbryce.co.il/newsletters/mabatJan05.htm (8.8.06).
44
„Oracle Invests in Talpiot Development Center", in:
http://www.johnbryce.co.il/shuld_know.asp?query=press&id=196 (8.8.06).
45
Einige dieser Firmen werden auf der Webseite von Matrix angeführt: PeopleSoft, BMC Software,
Red Hat, Compuware, Business Objects Verity, Vignette, IONA, WebMethods, BindView.
http://www.matrix.co.il/Matrix/he-IL/CompanyProfile.htms. (8.8.06).
46
Tamar Avraham/Efrat Ben-Ze'ev, Batir Hussan, Wadi Fukin and Nahalin: Four Palestinian Villages
soon to be encircled by Fences, in: http://taayush.tripod.com/new/batir-texts/duaj-batir.htm (8.8.06).
454
von Modi'in Illit Matrix eher als Retter an, der ihren Lebensunterhalt sichert. Das ist das
Gesetz von Zuckerbrot und Peitsche. Und die Peitsche ist dieselbe Peitsche - Arbeitslosigkeit
und Armut -, die auch arabische Arbeiter, in Israel und den besetzten Gebieten, dazu bringt,
sich als Tagelöhner am Bau der Siedlungen und der Zaunanlagen zu beteiligen!
Nichtsdestotrotz sind diese Siedler Opfer des kolonialen Kapitalismus, wie viele andere auch,
die in den Kolonialprozess durch die Ausnutzung ihrer sozialen Misere einbezogen wurden.
Doch welche Zukunft erwartet sie und ihre Kinder, solange ihre Existenz auf Landraub
beruht, wenn sie selbst zur Menschenmauer werden, eine Zielscheibe für den Hass der
enteigneten Palästinenser? Worin besteht die Würde in der Unterordnung unter SoftwareGiganten, die ihre Lage ausnutzen? Schließlich würden diese Korporationen ihre
Investitionen ohne weiteres verlagern, wenn sich billigere Alternativen anböten.
Der Fall Matrix in Bil'in deckt somit nicht nur die soziale Allianz auf, die vom
Separationszaun und der Expansion der Kolonien profitiert, sondern sollte auch den Gegnern
der israelischen Besatzung Stoff zum Nachdenken geben. Sollten sie gegen die
Arbeitsbedingungen der Frauen von Modi'in Illit kämpfen? Sie sind schließlich Siedler, die
auf dem Land von Bil'in und den Nachbardörfern leben - Instrumente des Kolonialismus und
seine Opfer zugleich. Es ist diese Mehrschichtigkeit, die die gängige politische Diskussion
nicht einfangen kann. Einfache Lösungen für diese Fragen gibt es nicht. Es ist dennoch einer
der klarsten Fälle, der die Verknüpfung zwischen Kapital und Siedlung und zwischen diesen
und dem politischen Establishment sichtbar macht. Dadurch verdeutlicht er ebenfalls die
übersehene Verbindung zwischen dem antikolonialen Kampf - gegen die Enteignung der
Palästinenser und die Expansion der Siedlungen - und dem Kampf für soziale Gerechtigkeit
innerhalb der Grenzen Israels. Subventionierte Sozialwohnungen für Familien mit niedrigem
Einkommen würden in Israel einen drastischen Rückgang in der Bereitschaft mit sich bringen,
in Siedlungen wie Modi'in -lit einzuziehen. Es gibt auch Alternativen zu den Kursen, die
Matrix für ihre Angestellten organisiert - und sie dadurch an die Firma bindet. Wenn der Staat
professionelle Kurse bereitstellt und Ausbildung für alle anbietet, ohne Bedingungen daran zu
knüpfen - ohne, dass man sich am Siedlungsprojekt beteiligen muss, ohne die Erniedrigung
von Pflichtprogrammen für Arbeitslose, ohne notwendigerweise die richtige ethnische
Herkunft oder das passende Geschlecht haben zu müssen bzw. im richtigen Elternhaus
geboren worden zu sein - würde der soziale Mechanismus, der die Matrix-Arbeiter an die
Arbeitgeber bindet und sie der Gnade des Firmenmanagements ausliefert, ernsthaft
unterlaufen werden. Die Erneuerung des Wohlfahrtsstaats in Israel dezimierte die
Einwohnerzahl der Hauptsiedlungen wie Modi'in Illit und Betar Illit sowie Teile von Maple
Adumim und Ariel. Niemand würde sein Haus auf dem Boden anderer bauen wollen und Teil
einer lebenden Menschenmauer werden. Dann bräuchten auch palästinensische Bürger von
Israel nicht länger auf den Bulldozern, die den Zaun errichten, oder als Subunternehmer für
die Siedlungsexpansion arbeiten.
Wenn die ultraorthodoxen Arbeiterinnen sogar einen Teil dessen einzufordern beginnen, der
ihnen zusteht, werden wir die Herren von Matrix erblassen sehen. Bei all ihrer sozialen Sorge
und nationalen Verantwortung werden sie ihre Projekte mit einem Augenzwinkern nach
Indien verlegen oder wo auch immer sie billige Arbeitskräfte finden werden. Nur ein
ständiges Fordern von sozialer Gerechtigkeit kann die politischsoziale Allianz zwischen
Kapital und Siedlungen, zwischen den neuen Oligarchen und den alten landgierigen
Nationalisten durchbrechen und eine Chance für alle Enteigneten innerhalb der israelischen
Gesellschaft eröffnen, sich vom Griff von Matrix,
455
Immobilientycoons und nationalistischen Rittern der Landeinlösung zu befreien.
Globalisiertes Kapital transformiert nicht nur die Landschaft der besetzten Westbank,
sondern auch Israels soziale Landschaft, ja die beiden Prozesse sind eng verknüpft. Nehmen
wir Lev Leviev - einer der Hauptinvestoren in Modi'in Illit - als konkretes Beispiel: Ein
mächtiger Kapitalist, der sich selbst als einen ultraorthodoxen Anhänger der modernen,
globalisierten jüdischen religiösen Sekte Chabad präsentiert, gründete sein Vermögen auf der
Ausbeutung der Diamantenschätze in Afrika und dem Leid seiner Bewohner.47 Denken wir
nur an die Millionen Menschen, die in der Provinz Lunda in Angola leben und mit bloßen
Händen nach Diamanten graben, in den unter der Herrschaft von Privatarmeen der
Diamantenfirmen stehenden Regionen, wie es in einem Bericht des Menschenrechtlers Rafael
Marques beschrieben ist.48 Leviev hat jetzt auch Kontrolle über die politische Repräsentation
der jüdischen Gemeinschaften von Russland erlangt.49 Seine Firma, Africa-Israel, preist sich
auch als „Pionier der Errichtung von gated communities" in Israel an - Oberschicht-Enklaven,
die den öffentlichen Raum zerstückeln und dazu da sind, „die Bedürfnisse des anspruchsvollen Wohnens in Sicherheit und innerer Ruhe" zu erfüllen.50 Er ist ferner direkt an
der Errichtung von Siedlungen und an der Finanzierung radikaler Siedlerassoziationen in den
besetzten Gebieten beteiligt, betreibt aber auch Einkaufsmeilen. Demnächst wird er das erste
Privatgefängnis in Israel errichten.51 Separationszäune und Privatisierungskampagnen gehen
in Israel Hand in Hand. Der soziale Widerstand gegen beides ist sowohl durch Israels koloniale Vergangenheit als auch durch den heutigen kolonialen Prozess geschwächt. Daher die
Bedeutung des jetzigen Augenblicks, in dem die Zaunkoalition und die Privatisierungslobby
konvergieren. Darin liegt eine kritische Herausforderung für Sozialaktivisten in Israel. Es geht
nicht nur darum, diejenigen bloßzustellen, die ihr Vermögen aus der Produktion von Leid und
dessen Ausbeutung schöpfen, sondern auch darum, die Allianz zwischen Politikern und
Kapital ins Visier zu nehmen, um den Herren von Arbeitslosigkeit und Privatisierung ihre
Legitimation zu entziehen.
Ohne Zweifel wäre es für Besatzungsgegner und Friedensaktivisten in Israel einfacher, sich
vorzustellen, dass sie allein fanatischen, nationalistischen Siedlern gegenüber stehen, während
sie selbst die Aufklärung und den Fortschritt verkörpern. Doch in der Realität steht ihnen eine
komplizierte Koalition von harten und weichen, wilden und zivilisierten Kolonialisten gegenüber. Sie reicht von der messianischen nationalistischen Rechten bis zur Waffenindustrie
und vernünftigen Kapitalisten, von den radikalen ideologischen Siedlern bis hin zu den
„Lebensqualitäts-Siedlern", die in isolierten und sauberen Städtchen auf beiden Seiten der
Grünen Linie leben. Hier ist der Kampf schwieriger, genau deshalb, weil die soziale Herkunft
und Klassenposition derjenigen, die auf beiden Seiten der Konfrontationslinie stehen, sich
kaum unterscheidet.
Doch die Herausforderung ist sogar noch komplexer. Der Kolonisationsprozess gründet auf
der sozialen Misere und den drängenden Bedürfnissen armer Leute, so wie
47
Boaz Gaon, Black Diamonds, in: Maariv 24.10.2005; Yossi Melman/Assaf Carmel, Diamonds in the
Rough, in: Haaretz, 24.3.2005.
48
Rafael Marques, Lundas - The Stones of Death: Angola's Deadly Diamonds, in:
http://www.niza.n1/docs/200503141357095990.pdf (8.8.06).
49
Über Levievs Patronage der Föderation der Jüdischen Gemeinschaften in Russland, siehe Yossi
Melman, No Love Lost, in: Haaretz, 12.8.2005.
50
Zit. nach: http://www.africa-israel.com/megurim/eng/index.asp (8.8.06).
51
Aryeh Dayan, Leviev Promises to Treat his Prisons nicely, in: Haaretz, 28.11.2005.
456
der Separationszaun auf Ängsten beruht - realen wie imaginierten-, die täglich weiter
aufgebaut und geschürt werden. Er zieht junge Paare aus den Slums von Jerusalem an und
gliedert neue Immigranten aus der Russischen Föderation ein, die sich plötzlich inmitten der
Westbank wiederfinden, zur kolonialen Front geschickt, genau wie die Immigranten während
der fünfziger Jahre; daneben auch die ultraorthodoxen Großfamilien, die Zugang zu
angemessenem subventioniertem Wohnraum allein dadurch erhalten, dass sie am
Siedlungsprojekt und der Eroberung der Westbank teilnehmen. All jene könnten die
Besatzung verteidigen, um doch nur sich selbst zu verteidigen, bzw. die fragile soziale
Existenz, die sie sich unter der Obhut von Regierungsbehörden, der Siedlerbewegung und des
Privatkapitals errichtet haben. Doch sie sind nicht der Feind der Besatzungsgegner, sondern
selbst Opfer des kolonialen Prozesses, in den sie hineingezogen wurden, Instrumente im
Prozess der organisierten Enteignung, der ihre eigene Zukunft bedroht. Für eine antikoloniale
Friedensbewegung stellt dies eine echte politische Herausforderung dar: Wie kann man
Brücken bauen zwischen all den Opfern des Kolonialismus, Palästinensern und Israelis, Juden
und Arabern, um ihm Einhalt zu gebieten und eine andere Zukunft für alle zu errichten? Das
ist die alles entscheidende Frage.
Übersetzung aus dem Englischen von
Devrim Karahasan

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