Israels Krieg im Nahen Osten – Wer hat begonnen? (Von Gideon

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Israels Krieg im Nahen Osten – Wer hat begonnen? (Von Gideon
46 10625 Palästina - Auf der Suche nach Frieden
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Israels Krieg im Nahen Osten – Wer hat begonnen? (Von Gideon Levy)
"Wir sind aus dem Gazastreifen abgezogen und nun feuern sie Qassams". Es gibt keine genauere
Formulierung der vorherrschenden Ansicht über die augenblickliche Runde des Konfliktes. "Sie
haben begonnen", ist die Routineantwort gegenüber jedem, der zu behaupten versucht, dass z.B.
Stunden bevor die 1. Qassam[-Rakete] auf die Schule in Ashkalon fiel (und keinen Schaden
verursachte), Israel an der Islamischen Universität in Gaza viel Zerstörung anrichtete.
Israel verursachte Stromausfall, belagert, bombardiert und beschießt mit Artillerie, mordet und
verhaftet, tötet und verwundet Zivilisten, einschließlich Kinder und Babys in erschreckender Zahl –
aber "sie haben begonnen".
Sie "brechen auch die Regeln", die von Israel festgelegt wurden: Uns ist es erlaubt, alles zu
bombardieren, wie es uns gefällt – ihnen ist es nicht erlaubt, eine Qassam abzuschießen. Wenn sie
eine Qassam nach Ashkalon abfeuern, dann ist dies eine "Eskalation des Konfliktes", und wenn wir
eine Universität und eine Schule bombardieren, ist das völlig in Ordnung. Warum? Weil sie
angefangen haben. Deshalb denkt die Mehrheit, dass alle Gerechtigkeit auf unserer Seite ist. Wie
bei einem Kampf auf dem Schulhof ist das Argument darüber, wer begonnen hat, Israels
entscheidendes moralisches Argument, um jede Ungerechtigkeit zu rechtfertigen.
Wer hat also wirklich begonnen? Und haben wir (wirklich) "Gaza verlassen"?
Israel hat Gaza nur teilweise verlassen – und zwar in einer verzerrten Weise. Der Abzugsplan, der
mit phantastischen Bezeichnungen versehen wurde wie „Teilung“ und „Ende der Besatzung“ hat zur
Folge, dass Siedlungen aufgelöst wurden und die IDF [Israel Defense Forces] aus dem Gazastreifen
sich zurückzog, aber es änderte sich fast nichts an den Lebensbedingungen der Bewohner des
Streifens. Gaza ist noch immer ein Gefängnis und seine Bewohner sind dazu verurteilt, in Armut und
Unterdrückung zu leben. Israel schloss sie vom Meer, aus der Luft und vom Lande ab – abgesehen
von einer Sicherheitsklappe am Rafah-Übergang. Sie können ihre Verwandten in der Westbank nicht
besuchen und nicht nach Arbeit in Israel schauen, von dem die Wirtschaft des Gazastreifens 40
Jahre lang abhängig war. Manchmal werden Waren transportiert, manchmal nicht. Gaza hat unter
diesen Umständen keine Chance, aus seiner Armut herauszukommen. Keiner wird dort investieren,
keiner kann es wirtschaftlich entwickeln, keiner kann sich dort frei fühlen. Israel verließ den Käfig,
warf die Schlüssel weg und überließ die Bewohner ihrem traurigen Schicksal. Nun – weniger als ein
Jahr nach dem Abzug kehrt Israel mit Gewalt und Macht zurück.
Hat man etwas anderes erwartet? Dass sich Israel unilateral zurückzieht, brutal und empörend die
Palästinenser mit ihrer Not ignoriert – und sie ruhig ihr bitteres Schicksal tragen und nicht ihren
Kampf für Freiheit, Leben und Würde fortführen würden? Wir versprachen eine sichere Passage in
die Westbank und hielten unser Versprechen nicht. Wir versprachen, Gefangene zu befreien und
hielten auch dieses Versprechen nicht. Wir unterstützen demokratische Wahlen und boykottierten
dann die legal gewählte Führung, konfiszierten Geldmittel, die ihr gehört und erklärten ihr den Krieg.
Wir hätten uns mit Verhandlungen und Koordination aus dem Gazastreifen zurückziehen können und
dabei die vorhandene palästinensische Führung stärken können – aber wir verweigerten dies. Und
nun beklagen wir uns über "einen Mangel an Führung"? Wir taten alles, um ihre Gesellschaft und
Führung zu untergraben, um sicher zu gehen, dass der Abzug nicht ein neues Kapitel in unseren
Beziehungen zum benachbarten Volk ermöglicht. Und nun sind wir verwundert über die Gewalt und
den Hass, den wir mit unsern eigenen Händen gesät haben.
Was wäre wohl geschehen, wenn die Palästinenser nicht die Qassams abgeschossen hätten? Hätte
Israel dann die wirtschaftliche Belagerung, die es über den Gazastreifen verhängt hat, aufgehoben?
Hätte es die Grenzen für palästinensische Arbeiter geöffnet? Die Gefangenen befreit? Sich mit der
gewählten Führung getroffen und Verhandlungen durchgeführt? Zu Investment im Gazastreifen
ermutigt? Unsinn. Wenn die Bewohner des Gazastreifens ruhig geblieben wären, wie es Israel von
ihnen erwartet hatte, dann würde ihr Fall von der Agenda verschwinden – hier wie auf der ganzen
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Welt. Israel würde mit der Konvergenz fortfahren, die nur seinen eigenen Zielen dient und ihre
dringenden
Bedürfnisse ignorieren. Keiner würde einen Gedanken über das Schicksal der Menschen von Gaza
verlieren, wenn sie sich nicht gewaltsam rühren würden. Das ist eine sehr bittere Wahrheit. Die
ersten 20 Jahre der Besatzung verliefen ruhig – und wir rührten keinen Finger, um sie zu beenden.
Stattdessen bauten wir unter dem Deckmantel der Ruhe das enorme, kriminelle
Siedlungsunternehmen (auf palästinensischem Land). Mit unsern eigenen Händen bringen wir die
Palästinenser dahin, ihre armseligen Waffen zu benützen; als Antwort gebrauchen wir das ganze
uns zur Verfügung stehende militärische Arsenal und beklagen uns weiterhin, dass "sie angefangen
hätten".
Wir haben begonnen. Wir haben mit der Besatzung begonnen, und wir sind verpflichtet, sie zu
beenden, und zwar wirklich und vollständig. Wir begannen mit der Gewalt. Es gibt keine schlimmere
Gewalt als die des Besatzers, der Gewalt gegen ein ganzes Volk anwendet. Deshalb ist die Frage,
wer zuerst schoss, eine Ausrede, um das tatsächliche Bild zu verzerren. Auch nach Oslo gab es
Leute, die behaupteten, "wir hätten die Gebiete verlassen" – es war ein ähnliches Gemisch von
Blindheit und Lügen.
Gaza steckt in sehr großen Schwierigkeiten. Es herrscht Tod, Schrecken und tägliche Not – aber
weit entfernt von den Augen und Herzen der Israelis. Uns werden nur die Qassams gezeigt. Die
Westbank leidet noch immer unter dem Stiefel der Besatzung, die Siedlungen blühen, und jede
vorsichtig ausgestreckte Hand nach einem Abkommen, einschließlich der von Ismail Haniyeh, wird
sofort zurückgewiesen.
Sollte jemand nach all dem noch Hintergedanken haben, dann wird prompt die entscheidende
Antwort geliefert: "Sie haben begonnen." Sie haben begonnen – und die Gerechtigkeit liegt auf
unserer Seite, während nicht sie begonnen haben – und die Gerechtigkeit nicht auf unserer Seite
liegt.
Aus der israelischen Tageszeitung „Haaretz“ vom 13.7.2006
Originalartikel: http://www.haaretz.com/hasen/spages/736009.html, ins Deutsche übertragen von Ellen Rohlfs
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