Dokumentation Fachtagung Im Fokus: Frontotemporale Demenz am

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Dokumentation Fachtagung Im Fokus: Frontotemporale Demenz am
Dokumentation
Fachtagung
Im Fokus: Frontotemporale Demenz
am 16. März 2006 in München
Veranstalter:
Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V.
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der TU München
und Alzheimer Gesellschaft München e.V.
Inhaltsverzeichnis:
Dr. Janine Diehl-Schmid
Frontotemporale Demenz –
das Krankheitsbild
Dr. Bernd Ibach
Behandlung –
aktueller Stand der Forschung
Sabine Parol
Mein Mann litt an einer Frontotemporalen
Demenz
Marco Schoeller
Meine Frau ist an FTD erkrankt
Bettina Förtsch
Erstberatung nach Diagnosestellung
Christine Zarzitzky
Begleitung während der Krankheit
Ingrid Höhnel
Hilfe und Selbsthilfe im Internet
Dr. Jan Wojnar
Der schwierige Heimalltag – die (Nicht-)
Integration von Menschen mit
Frontotemporaler Demenz
Technische Universität München
Technische Universität München
Dr. Janine Diehl-Schmid, Psychiatrische Klinik
FRONTOTEMPORALE DEMENZ
Die „Pick-Sprechstunde“
DAS KRANKHEITSBILD
am Klinikum rechts der Isar
München
München, 16. März 2006
Technische Universität München
Technische Universität München
DEMENZ
Beeinträ
Beeinträchtigung
DEMENZ
Alzheimer
Demenz
• des Gedä
Gedächtnisses
• anderer intelektueller Fähigkeiten
Vaskuläre
Demenz
Verä
Veränderung der Persö
Persönlichkeit
Frontotemporale
Demenz
Demenz bei
Parkinson-Krankheit
so dass Einschrä
Einschränkungen der Alltagsbewä
Alltagsbewältigung
daraus resultieren
Technische Universität München
HISTORIE
Technische Universität München
FRONTOTEMPORALE
LOBÄRE DEGENERATIONEN (FTLD)
• 1892 Arnold Pick
1. Frontotemporale Demenz (FTD)
• 1998 Diagnosekriterien
= frontale Variante
2. Semantische Demenz (SD)
= temporale Variante
3. Progressive Aphasie (PA)
Neary et al., 1998
2
Technische Universität München
Technische Universität München
VERTEILUNG DER DIAGNOSEN
FTD
SD
PA
PA
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SD
FTD
SD
PA
Technische Universität München
FTLD: EPIDEMIOLOGIE
• Bis zu 50% der prä
präsenilen Demenzen
• 3-9% aller Demenzen
• Prä
Prävalenz: ca. 15 von 100.000 Personen
• Dritthä
Dritthäufigste Demenz degenerativer Genese
Technische Universität München
FTLD: KRANKHEITSVERLAUF
männl.
64%
67%
39%
FTD
weibl.
36%
33%
61%
Technische Universität München
FTLD: EPIDEMIOLOGIE
• Durchschnittliches Erkrankungsalter
FTD/ SD: 58 Jahre , PA: 63 Jahre
Spanne:
Spanne: 22 - 100 Jahre
Technische Universität München
FTLD: RISIKOFAKTOREN
• Durchschnittliche Krankheitsdauer
6 Jahre (1 - 29), raschere Progredienz bei jungen
Patienten mit FTD
• Todesursachen
HerzHerz-Kreislaufversagen
• Positive Familienanamnese in rund 30%
• Autosomal dominanter Erbgang in ca 10%
• Mutation des TauTau-Gens am Chromosom 17
• Mutationen an Chromosom 3 oder 9
Ersticken
Aspirationspneumonie
3
Technische Universität München
Technische Universität München
FTD
Delikte
35
Hauptmerkmale:
30
• Schleichender Beginn,
Beginn, allmä
allmähliche
Verschlechterung
25
• Vergrö
Vergröberung des Sozialverhaltens
15
20
FTD/ SD
AD
10
• Verä
Veränderung der Persö
Persönlichkeit
5
• Verflachung des Affekts
0
N
Diebstahl
• Verlust der Krankheitseinsicht
Eigentum
beschädigt
Einbruch
(Neary et al., 1998)
Technische Universität München
Technische Universität München
FTD
FTD
Folgende Symptome stützen die Diagnose
Folgende körperliche Symptome stützen die Diagnose
• Ablenkbarkeit, mangelndes Durchhaltevermö
Durchhaltevermögen
• Hyperoralitä
Hyperoralität und Verä
Veränderung der Eß
Eßgewohnheiten
• Primitivreflexe
• Perseverierende und stereotype Verhaltensweisen
• Inkontinenz
• Utilisationsverhalten
• Akinese,
Akinese, Rigiditä
Rigidität, Tremor
• Rededrang oder sprachliche Aspontaneitä
Aspontaneität
• Niedriger und labiler Blutdruck
• Sprachliche Stereotypien, Echolalie,
Echolalie, Perseverationen
• Mutismus
(Neary et al., 1998)
Technische Universität München
(Neary et al., 1998)
Technische Universität München
SEMANTISCHE DEMENZ
•
Verlust des Wissens um die Bedeutung von Wö
Wörtern
•
•
Reduktion des Wortschatzes
Sprachverstä
Sprachverständnis beeinträ
beeinträchtigt
Flü
Flüssige Sprache, grammatikalisch korrekt
•
Verhaltensauffä
Verhaltensauffälligkeiten
PROGRESSIVE APHASIE
•
•
•
•
•
•
Ausgeprä
Ausgeprägte Wortfindungsstö
Wortfindungsstörungen
Angestrengte Sprache, lange Pausen
Grammatikalische Fehler
Phonematische Paraphasien
Beeinträ
Beeinträchtigung der Alltagsaktivitä
Alltagsaktivitäten und
Verhaltensauffä
Verhaltensauffälligkeiten erst spä
spät
4
Technische Universität München
Technische Universität München
DIFFERENTIALDIAGNOSTISCHE
ÜBERLEGUNGEN
•
FTD: DIAGNOSTIK
„gesund“, Burn-out, Midlife-Crisis
Depression
Manie
• Schizophrenie
•
•
•
•
Alzheimer-Demenz
Vaskuläre Demenz
CBD
PSP
• ALS
•
•
VERHALTEN
Technische Universität München
Frontal Behavioral Inventory
(FBI)
(Kertesz et al., 2000)
Apathie: Hat sie / er das Interesse and Freunden oder
Alltagsaktivit ten verloren?
Aspontaneit t: Wird sie / er von sich aus aktiv, oder mu§ sie / er
aufgefordert werden?
Gleichg ltigkeit, Teilnahmslosigkeit: Reagiert sie / er
unver ndert auf freudige oder traurige Ereignisse, oder hat die
emotionale Anteilnahme abgenommen?
Inflexibilit t: Kann sie / er ihre / seine Meinungen aus Vernunft
ndern oder erscheint ihr / sein Denken in letzter Zeit starr oder
eigensinnig?
Konkretistisches Denken: Versteht sie / er Gesagtes in vollem
Umfang oder versteht sie / er nur die konkrete Bedeutung des
Gesagten?
Pers nliche Vernachl ssigung: Achtet sie / der genau so auf ihr /
sein €u§eres und ihre / seine pers nliche Hygiene wie gew hnlich?
Desorganisation: Kann sie / er komplexe Aktivit ten planen und
organisieren oder ist sie / er leicht ablenkbar, wenig ausdauernd
oder unf hig, eine Arbeit zu vollenden?
Unaufmerksamkeit: Kann sie / er Ereignissen aufmerksam folgen
oder scheint sie / er unaufmerksam oder kann dem Geschehen
berhaupt nicht folgen?
Verlust der Einsicht: Nimmt sie / er Probleme und Ver nderungen
wahr oder schient sie / er diese nicht wahrzunehmen oder
verleugnet diese, wenn sie / er darauf angesprochen wird?
Logopenie: Ist sie / er im gleichen Ausma§ wie fr her gespr chig
oder hat die Sprachproduktion wesentlich abgenommen?
Verbale Apraxie: Spricht sie / e r verst ndlich oder macht sie / er
Fehler beim Sprechen? Werden Silben verschliffen oder ist das
Sprechen z gerlich?
Technische Universität München
Perseverationen, Zw nge: Wiederholt oder perseveriert sie / er
Handlungen oder Bemerkungen? Gibt es Zwangshandlung, oder
gibt es diesbez glich keine €n derungen?
Irritierbarkeit: Ist sie / er reizbar und aufbrausend oder reagiert sie
/ er auf Stress und Frustration wie gew hnlich?
† bertriebene Scherzhaftigkeit: Hat sie / er in bertriebener oder
anst §iger Weise oder zum unpassenden Zeitpunkt gewitzelt oder
gescherzt?
Vermindertes Urteilsverm gen: War sie / er umsichtig bei
Entscheidungen und beim Autofahren oder hat sie / er
unverantwortlich, nachl ssig oder mit vermindertem
Urteilsverm gen gehandelt?
Unangepasstheit: Hat sie / er soziale Regeln eingehalten oder hat
sie / er Dinge gesagt oder getan, die au§erhalb der sozialen
Akzeptanz lagen? War sie / er unh flich oder kindisch?
Impulsivit t: Hat sie/er der Eingebung des Augenblicks folgend
gehandelt oder gesprochen, ohne vorher die Konsequenzen zu
berdenken?
Rastlosigkeit: War sie / er rastlos oder beraktiv, oder ist das
Aktivit tsniveau durchschnittlich?
Aggression: Hat sie / er Aggressionen gezeigt, jemanden
angeschrien oder k rperlich verletzt?
Hyperoralit t: Hat sie / er mehr als gew hnlich getrunken,
bertrieben gegessen, oder was sie / er bekommen konnte, oder
hat sie / er sogar nicht Essbares in den Mund genommen?
Hypersexualit t: War das sexuelle Verhalten ungew hnlich oder
hemmungslos bertrieben?
Zwanghaftes Benutzen von Gegenst nden: Scheint sie / er
Gegenst nde in Reich- oder Sichtweite ber hren, f hlen,
untersuchen, benutzen oder ergreifen zu m ssen?
Inkontinenz: Hat sie / er eingen sst oder eingekotet?
(Ausgenommen wegen k rperlicher Krankheiten, wie
Harnwegsinfekte oder Immobilit t)
ćAlien HandŅ: Hat sie / er Probleme eine Hand zu ben tzen und
st rt diese auch den Gebrauch der anderen Hand? (Ausgenommen
Arthritis, Verletzung, L hmungen, etc.)
Technische Universität München
FTD: KOGNITION
• CERAD (Thalmann,
Thalmann, Monsch,
Monsch, 1997)
• Trail making A/B (Zahlenverbindungstest)
• Frontal Assessment Battery (FAB) (Dubois et al., 2000)
• FarbFarb-WortWort-Test (Stroop
(Stroop--Test)
Test) (Fleischmann & Oswald, 1994)
• Wisconsin Card Sorting Test (WCST) (Nelson et al., 1976)
Technische Universität München
Ekman 60 Faces Test
FTD: KOGNITION
FTD (N = 30)
AD (N=30)
Mittelwert
Mittelwert
Wortflüssigkeit
10.4
11.6
Benennen (15)
12.0
12.5
3.5/4.9/6.1
2.5/4.2/5.1
Visuokonstruktion (11)
10.1
8.7
Verzögerter Abruf (10)
4.0
1.8
Wortliste (10/10/10)
KOGNITION
5
Technische Universität München
Technische Universität München
Ekman 60 Faces Test
STRUKTURELLE BILDGEBUNG
60
50
40
30
Punktzahl
FEEST-Pkt.
20
10
0
FTD
Alzheimer
Gesunde
Technische Universität München
Frontotemporale Demenz
Oberflächendarstellung
100%
0%
Abweichung von der Norm
5
0
Ansicht von rechts lateral
Ansicht von links lateral
Pfeile: Hypometabolismuss
A. Drzezga et al. 2001
6
Technische Universität München
Frontal Behavioral Inventory
(FBI)
(Kertesz et al., 2000)
Apathie: Hat sie / er das Interesse and Freunden oder
Alltagsaktivitäten verloren?
Aspontaneität: Wird sie / er von sich aus aktiv, oder muß sie / er
aufgefordert werden?
Gleichgültigkeit, Teilnahmslosigkeit: Reagiert sie / er
unverändert auf freudige oder traurige Ereignisse, oder hat die
emotionale Anteilnahme abgenommen?
Inflexibilität: Kann sie / er ihre / seine Meinungen aus Vernunft
ändern oder erscheint ihr / sein Denken in letzter Zeit starr oder
eigensinnig?
Konkretistisches Denken: Versteht sie / er Gesagtes in vollem
Umfang oder versteht sie / er nur die konkrete Bedeutung des
Gesagten?
Persönliche Vernachlässigung: Achtet sie / der genau so auf ihr /
sein Äußeres und ihre / seine persönliche Hygiene wie gewöhnlich?
Desorganisation: Kann sie / er komplexe Aktivitäten planen und
organisieren oder ist sie / er leicht ablenkbar, wenig ausdauernd
oder unfähig, eine Arbeit zu vollenden?
Unaufmerksamkeit: Kann sie / er Ereignissen aufmerksam folgen
oder scheint sie / er unaufmerksam oder kann dem Geschehen
überhaupt nicht folgen?
Verlust der Einsicht: Nimmt sie / er Probleme und Veränderungen
wahr oder schient sie / er diese nicht wahrzunehmen oder
verleugnet diese, wenn sie / er darauf angesprochen wird?
Logopenie: Ist sie / er im gleichen Ausmaß wie früher gesprächig
oder hat die Sprachproduktion wesentlich abgenommen?
Verbale Apraxie: Spricht sie / er verständlich oder macht sie / er
Fehler beim Sprechen? Werden Silben verschliffen oder ist das
Sprechen zögerlich?
Perseverationen, Zwänge: Wiederholt oder perseveriert sie / er
Handlungen oder Bemerkungen? Gibt es Zwangshandlung, oder
gibt es diesbezüglich keine Änderungen?
Irritierbarkeit: Ist sie / er reizbar und aufbrausend oder reagiert sie
/ er auf Stress und Frustration wie gewöhnlich?
Übertriebene Scherzhaftigkeit: Hat sie / er in übertriebener oder
anstößiger Weise oder zum unpassenden Zeitpunkt gewitzelt oder
gescherzt?
Vermindertes Urteilsvermögen: War sie / er umsichtig bei
Entscheidungen und beim Autofahren oder hat sie / er
unverantwortlich, nachlässig oder mit vermindertem
Urteilsvermögen gehandelt?
Unangepasstheit: Hat sie / er soziale Regeln eingehalten oder hat
sie / er Dinge gesagt oder getan, die außerhalb der sozialen
Akzeptanz lagen? War sie / er unhöflich oder kindisch?
Impulsivität: Hat sie/er der Eingebung des Augenblicks folgend
gehandelt oder gesprochen, ohne vorher die Konsequenzen zu
überdenken?
Rastlosigkeit: War sie / er rastlos oder überaktiv, oder ist das
Aktivitätsniveau durchschnittlich?
Aggression: Hat sie / er Aggressionen gezeigt, jemanden
angeschrien oder körperlich verletzt?
Hyperoralität: Hat sie / er mehr als gewöhnlich getrunken,
übertrieben gegessen, oder was sie / er bekommen konnte, oder
hat sie / er sogar nicht Essbares in den Mund genommen?
Hypersexualität: War das sexuelle Verhalten ungewöhnlich oder
hemmungslos übertrieben?
Zwanghaftes Benutzen von Gegenständen: Scheint sie / er
Gegenstände in Reich- oder Sichtweite berühren, fühlen,
untersuchen, benutzen oder ergreifen zu müssen?
Inkontinenz: Hat sie / er eingenässt oder eingekotet?
(Ausgenommen wegen körperlicher Krankheiten, wie
Harnwegsinfekte oder Immobilität)
„Alien Hand“: Hat sie / er Probleme eine Hand zu benützen und
stört diese auch den Gebrauch der anderen Hand? (Ausgenommen
Arthritis, Verletzung, Lähmungen, etc.)
Behandlung – aktueller Stand der Forschung
Dr. Bernd Ibach
Demenz bei frontotemporaler lobärer Degeneration
Es war das Verdienst von Arnold Pick, der 1892 beginnend, anhand von mehreren
Kasuistiken über einen Zusammenhang zwischen frontaler oder linkstemporaler
Großhirnatrophie und Frontalhirnsymptomen oder Aphasie berichtete (Pick 1892).
Diese Erkrankungen lassen sich unter dem Begriff "Frontotemporale lobäre
Degeneration" (FTLD) zusammenfassen, die sich in drei klinische Varianten einteilen
lassen (Abb.2):
1. Frontotemporale Demenz (FTD) (hierzu darf die klassische Pick'sche
Erkrankung gezählt werden) mit den Leitsymptomen Wesensänderung und
Verhaltensauffälligkeiten,
2. Semantische Demenz (SD) mit Wesensänderung und
Verhaltensauffälligkeiten,
3. Primär progressive Aphasie (PPA) mit gestörtem Sprachfluss bei lange
erhaltenen sonstigen geistigen Fähigkeiten.
Alle Varianten der FTLD-Gruppe sind durch einen schleichenden Beginn und einen
fortschreitenden Verlauf gekennzeichnet. Das typische Erkrankungsalter liegt
zwischen 45 und 65 Jahren, selten vor dem 30. Lebensjahr oder nach dem 75.
Lebensjahr.
Symptome
Frontotemporale Demenz (FTD)
In den frühen und mittleren Krankheitsstadien der FTD stehen eine Änderung der
Persönlichkeit, des Verhaltens und der Affektivität (Gefühlswelt) mit Verlust von
Empathie (Einfühlungsvermögen) im Vordergrund (Abb. 3). Affektive Symptome sind
sehr häufig und reichen von Depression, Hypomanie, Affektinkontinenz, über
Affektlabilität bis zur -Verflachung. Die Spontansprache verarmt bis hin zum
Mutismus (Patient wird stumm). Der Antrieb kann sowohl gesteigert als auch
vermindert sein und zum Erlahmen der Sexualität führen. Diese Symptome lassen
8
sich unter Umständen nur schwer von primären Depressionen abgrenzen.
Gedächtnisstörungen (eher im Sinne eines Aufmerksamkeitsproblems) werden zwar
oft beklagt, trotzdem haben die Patienten kaum Schwierigkeiten sich im Alltag
zurechtzufinden, zu orientieren und zu erinnern. Geistige Rigidität (Sturheit),
Wiederholung von Worten, Sätzen, Handlungen (Stereotypien) und Rituale gehören
ebenfalls zu den häufigen Symptomen. Die Nahrungsaufnahme kann gesteigert sein
(mit Vorliebe für Süßigkeiten, Alkohol). Gelegentlich fallen Patienten auf, weil sie
Dinge, die um sie herumstehen, mit der Hand berühren, in den Mund nehmen oder
benutzen, z.B. indem sie aufstehen und die Tür öffnen und schließen („utilization
behaviour“).
Das nachlassende Urteilsvermögen mit Kritikminderung kann zu unkontrolliertem
Umgang mit Finanzen, Delinquenz oder einem erhöhten Gefährdungsrisiko im
Straßenverkehr führen. Hypochondrische Beschwerden können ebenfalls beobachtet
werden.
Produktiv
psychotische
Symptome
(z.B.
Halluzinationen,
Verfolgungsängste) als klinische Erstmanifestation einer FTD sind möglich.
Wenngleich sehr häufig keine Krankheitseinsicht vorliegt, ist bei einem kleineren Teil
der Patienten ein deutlicher Leidensdruck zu beobachten, der zu Suizidgedanken
führen kann, die ernst genommen werden müssen.
Neurologische Symptome können in Form von Parkinsonsymptomen oder Harn/Stuhlinkontinenz
auftreten.
Muskelzuckungen
(Faszikulationen),
erschwertes
Sprechen (Dysarthrie) oder Schluckstörungen können erste Hinweise auf eine FTD
mit
Motoneuronerkrankung
(Mitsuyamasyndrom)
sein.
An
körperlichen
(somatischen) Symptomen weisen FTD-Patienten häufig einen labilen oder niedrigen
Blutdruck auf (kann zu Stürzen führen und kurzeitigem Bewusstseinsverlust).
Die häufigsten Probleme, die zu stationären Aufenthalten in gerontopsychiatrischen
Kliniken führen, sind in Abb. 4 aufgelistet.
Sonderform „Primär Progressive Aphasie“ (PPA)
Diese Form der Aphasie (also Störung des Sprachvermögens) ist gekennzeichnet
durch Wortfindungsstörungen, eine erschwerte Sprachproduktion (Telegrammstil),
Verwendung falscher Buchstaben und Silben (phonematische Paraphrasien) und
Grammatikfehler, bei zunächst erhaltenem Sprachverständnis. Die Sprache mündet
nach bis zu 10 Jahren in einen Mutismus (der Patient kann nicht mehr sprechen).
Persönlichkeit und Krankheitseinsicht bleiben lange erhalten. Die Sprachstörung bei
PPA ist langsam forschreitend, während eine Aphasie nach Schlaganfall abrupt
auftritt und oft eine typische Schädigung des Gehirns nach sich zieht.
9
Während bei der Alzheimerkrankheit die Sprachproduktion zunächst nicht wesentlich
gestört ist, fallen bereits früh Gedächtnisstörungen, Wortfindungsstörungen und
Probleme mit der Orientierung sowie bei der Alltagsbewältigung auf, die bei PPA
nicht im Vordergrund stehen.
Sonderform „Semantische Demenz“ (SD)
Leitsyndrom ist ein gestörtes Sprachverständnis bei erhaltenem Sprachfluss, also
quasi das Spiegelbild der PPA. Meist werden früh Wortfindungsstörungen beklagt.
Schwierigkeiten mit dem Benennen von Gegenständen treten zwar auch bei der AD
auf. Dominierend ist dann jedoch eine Störung der episodischen Merkfähigkeit
(autobiographisches Gedächtnis, Erinnerung an Lebensereignisse). SD-Patienten
geben an, nicht zu wissen was ein bestimmtes Wort bedeutet. Ähnlich klingende
Worte können verwechselt werden. Die Sprache bleibt zunächst fließend, wird aber
zunehmend inhaltsleer und oberflächlich. Ein Text kann zwar korrekt vorgelesen
werden, wird aber nicht mehr verstanden. Im Krankheitsverlauf entwickeln die
Patienten mit SD regelmäßig eine Wesensänderung und werden sozial auffällig,
ähnlich wie bei FTD.
Die typischen frühen Zeichen der Alzheimerdemenz sind bei Patienten mit SD
ungestört (z.B. episodisches Gedächtnis, rechnen, örtliche Orientierung).
Diagnosestellung
Entscheidend bei der klinischen Diagnosestellung einer Demenz aus dem Spektrum
der FTLD sind auf der einen Seite neu aufgetretene Verhaltensauffälligkeiten und
eine Wesensänderung, auf der anderen Seite eine flüssige oder nicht-flüssige
Aphasie. In frühen Krankheitsstadien ist man fast ausschließlich auf die Angaben aus
der Familie oder von Bekannten angewiesen. Gängige Gedächtnistests zur
Unterstützung der Diagnose Alzheimerkrankheit können unauffällig ausfallen oder in
eine falsche Richtung weisen.
Therapie
Die Linderung eines Großteils der beschriebenen Symptome mit pharmakologischen
und nichtpharmakologischen Ansätzen ist prinzipiell möglich. In Abbildung 5 findet
sich eine Zusammenfassung über im Einzelfall mögliche Therapieoptionen. Patienten
10
mit fokalen Demenzen reagieren ausgesprochen empfindlich auf sogenannte
Neuroleptika
und
haben
ein
hohes
Risiko
für
extrapyramidalmotorische
Nebenwirkungen (Symptome wie bei Parkinsonkrankheit), analog der Demenz mit
Lewy-Körperchen.
Aufgrund
einer
erheblichen
Störung
des
serotonergen
Botenstoffsystems des Gehirns bei FTD können z.B. „selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer“ = SSRI (Antidepressiva)
zur Linderung von Verhaltens-
auffälligkeiten wie Unruhe, Angstzuständen und Appetitsteigerung eingesetzt
werden. Welche Medikamente in der täglichen Routine in Krankenhäusern wie häufig
eingesetzt werden, zeigt Abb. 6.
An nichtmedikamentösen Maßnahmen erweist sich empirisch der gezielte Einsatz
von Ergotherapie und Logopädie (bei Aphasie in frühen Krankheitsstadien) als
hilfreich zur Symptomlinderung. Voraussetzung ist eine ausreichende Motivation der
Patienten, die sich besonders bei Patienten mit FTD erst nach einigen
Therapiestunden einstellen kann, und Therapeuten, die mit dem Krankheitsbild
vertraut sind. Während der Therapie und im Alltag können Enthemmungsphänomene
durch die Präsentation von Stimuli als Grundlage zur Verhaltensbeeinflussung
dienen (Reichung der Zahnbürste löst aus, dass der Patient sich die Zähne putzt).
Besondere Bedeutung kommen einer umfassenden Aufklärung von Angehörigen
und, in Abhängigkeit des Krankheitsbildes, auch von den Betroffenen zu (Abb. 7).
Hierbei muss früh auf rechtliche Probleme bei Frontalhirnsyndromen hingewiesen
werden (aufgehobene Fahrtüchtigkeit, früh fehlende Verantwortlichkeit für Andere
und das eigene Handeln). Die Krankheitsverläufe unterscheiden sich sehr von der
AD und stoßen auf wenig Verständnis im sozialen Umfeld. Kompliziert wird die
Situation, wenn die Betroffenen bei Krankheitsbeginn noch im Erwerbsleben stehen
und Familien mit minderjährigen Kindern haben. Die Betreuung dieser Patienten und
ihrer Familien gestaltet sich also in vielerlei Hinsicht sehr anspruchsvoll.
Kontakt:
Dr. med. Bernd Ibach
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Universität Regensburg im
Bezirksklinikum, Tel.: 0941-941-1221, e-mail: [email protected]
11
Grundlagen - Frontotemporale Demenzen
Therapie von
Demenzen mit frontotemporaler lobärer Degeneration
16.März 2006
Im Fokus: Frontotemporale Demenz
Deutsche Alzheimer Gesellschaft
Einführung
Grundlagen
Schädliche Mikroskopisch sichtbare Gewebenveränderungen im Gehirn bei FTD
Tau-Ablagerungen
Symptome
Studien
Behandlung
Verlust von Nervenzellen & Nervenzellverbindungen
Mangel an Botenstoffen
Serotonin, Dopamin, Glutamat
Dr. Bernd Ibach
Klinik und Poliklinik für
Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
der Universität Regensburg im Bezirksklinikum
Abb. 1
B. Ibach
Zielsymptome einer Therapie
Klinische Einteilung von Demenzen mit frontotemporaler Degeneration (FTLD)
Essverhalten
Primär progressive Aphasie
Apathie
nicht-flüssig
Leitsyndrom 1
Verhaltensauffälligkeiten
Wesensänderung
Semantische Demenz
flüssig
Einführung
Leitsyndrom 2
Aphasie
Antriebsmangel
Grundlagen
Konzentration
Urteilsfähigkeit
Symptome
Empathie
Frontotemporale Demenz
Studien
Depression
Schlaf
Emotionen
Hygiene
Antriebssteigerung
Impulsivität
Behandlung
...kann kombiniert sein mit...
Sprache
Zwangssymptome
Kreislaufregulation
Inkontinenz
Parkinsonsyndrom
selten Muskelerkrankung
Persönlichkeitsänderung
Verhaltensauffälligkeiten
Sprachstörungen
Abb. 2
Abb. 3
Therapie von
Demenzen mit frontotemporaler lobärer Degeneration
Aufnahmeumstände in gerontopsychiatrischen Kliniken
Verhaltensstörungen
Einführung
Grundlagen
Demenz unklarer Ätiologie
Ergänzung/Alternative
SSRI, Bromocriptin
Ergotherapie
Aggressivität
Gereiztheit
Carbamazepin, Valproinsäure,
Risperidon, Olanzapin
Trazodon, Propanolol
Stressarmes Umfeld,
möglichst wenig
Einschränkungen
Ergotherapie
Symptome
Depressive Syndrome
Studien
Studien
Soziale Probleme
Behandlung
Behandlung
Delir
Paranoides Syndrom
Alkoholabusus
Sprachverarmung
Angstsyndrom
Symptomatische
Zwangsstörung
Abb. 4
Medikament
Repetitives Verhalten
Enthemmung
Einführung
Kognitive Defizite
Grundlagen
Symptome
Problem
Ibach et al. 2004
10%
20%
30%
40%
50%
60%
Depression, Apathie
SSRI, Moclobemid
Antriebsmangel, Ängste Reboxetin
Ergotherapie
Schlafstörungen
SSRI, Dipiperon, Eunerpan,
Zopiclon
Schlafhygiene
Psychische und
körperliche Unruhe
Trazodon, Moclobemid, SSRI,
Dipiperon, Melperon, Seroquel
Valproinsäure, Carbamazepin
Stimuli zur Ablenkung,
Ergotherapie
Konzentration, Apathie
Aufmerksamkeit
SSRI, Idazoxan, Selegelin
AChEI, Reboxetin, Mirtazapin
Darreichung von Stimuli
Ergotherapie
Aphasie
-
Logopädie
SSRI=Serotoninwiederaufnahmehemmer
ACHEI=Acetylcholinesterasehemmer
Abb. 5
12
Therapie von
Demenzen mit frontotemporaler lobärer Degeneration
226 Psychopharmakonverordnungen
bei 91 Patienten mit FTD
Einführung
Studien
Behandlung
Psychoedukativ-supportive Maßnahmen
Grundlagen
20
behandelt mit...
Symptome
Einführung
25
Anzahl der Patienten (n>5)
Grundlagen
Symptome
• Aufklärung – Besonderheiten
15
Studien
10
• Akzeptanz als Krankheit
Behandlung
• Vorwurfsfreier Umgang mit Betroffenen
5
• Vermeidung von Überforderung
D
o
ne
p
ez
R
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pa
m
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Ti
ap
rid
e
0
Ibach et al., 2006, submitted
Abb. 7
Die 3 Säulen der Therapie bei Demenz mit frontotemporaler lobärer
Degeneration: ein integratives Behandlungskonzept
Nicht-medikamentöse
Therapie/Pflege
Sozialmedizin
Pflege
Nutzung von
ambulanten/stationären
Versorgungsstrukturen
Kognitiv-körperliche Aktivierung
Beratung
-Wissensvermittlung
Milieutherapie
-rechtliche Probleme
-Pflegeversicherung
-Hilfsangebote
-Umgang mit Patient
Ergotherapie
Therapie von
Demenzen mit frontotemporaler lobärer Degeneration
Biologische Therapie
Einführung
Internistische Basistherapie
Verhaltensbeeinflussung
Symptome
Behandlung der Symptome
mit Medikamenten
Probleme für Studien
Grundlagen
Studien
• erheblich seltener als Alzheimerkrankheit
• sehr unterschiedliche klinische Symptomatik
Behandlung
• unterschiedliche Neuropathologie
Logopädie
• Diagnose nicht leicht zu stellen
Umfeldstrukturierung
-Gefahren
-Lebensbedingungen
-Pflegegerechtes wohnen
Klare Diagnosestellung
+
Symptome
individuelle Therapieentscheidung
13
„Mein Mann litt an einer frontotemporalen Demenz“
Sabine Parol
Diagnose : Februar 2003
Tod: 13.08.2004
Der Krankheitsverlauf meines Mannes war sehr schnell. Die Diagnose wurde im Februar 2003, im Alter von 42 Jahren gestellt, gestorben ist mein Mann nach 1½ Jahren, im August 2004, im Alter
von 44 Jahren.
Familiensituation
Die Familiensituation zum Zeitpunkt der Diagnosestellung war
folgende:
Mein Mann war berufstätig, während ich zu diesem Zeitpunkt
Hausfrau war, um für unsere Töchter, damals 11 Jahre und 6 Jahre alt, da zu sein.
Kurze Zeit nach der Diagnosestellung fasste ich den Plan, wieder
in die Berufstätigkeit zurückzukehren. Mit viel Glück fand ich nach
ca. sechs Monaten eine Anstellung in Vollzeitbeschäftigung.
Nun komme ich als Nächstes zu den Veränderungen meines
Mannes vor der Diagnosestellung. Dazu gebe ich Ihnen erst einen
Überblick wie mein Mann in gesunden Zeiten war.
Verhalten in
gesunden
Zeiten
In gesunden Zeiten war mein Mann ein sehr selbstbewusster, dabei jedoch ein besonnener und ruhiger Mann. Ich konnte mich voll
und ganz auf ihn verlassen und auch mit ihm sprechen, wenn
Schwierigkeiten auftraten. Auch konnte ich auf seine Unterstützung zu jeder Zeit zählen. Andererseits konnte er in Diskussionen
seine Meinung schon auch vehement vertreten und dabei etwas
lauter werden.
Als Vater kümmerte er sich sehr fürsorglich um seine Kinder. Abends spielte er sehr oft mit ihnen Gesellschaftsspiele. Auch versuchte er den Kindern die klassische Musik nahe zu bringen und
ging mit ihnen zusammen in die Oper.
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Erste Anzeichen vor der
Diagnosestellung
Nachträglich gesehen bin ich der Meinung, dass etwa ab dem
Jahr 2000 schleichend, fast nicht greifbar eine Veränderung in der
Persönlichkeit meines Mannes eintrat. Er wurde unterhaltsamer,
scherzte mehr und wirkte lebendiger. Anfangs geschah dies auf
eine angenehme Art und Weise. Die Veränderungen nahmen in
den folgenden Jahren langsam zu. Im Jahr 2001 etwa wurde sein
Lachen immer öfter und lauter. Seine Scherze wurden derber.
Seine Euphorie nahm in den folgenden Monaten immer mehr zu,
so dass sein Verhalten sehr anstrengend und unangenehm wurde.
Bei jeder Gelegenheit lachte er laut heraus und seine Sätze begannen fast immer mit „Ich bin so glücklich“. Ernste Gespräche zu
führen oder auch Sorgen zu besprechen waren zu dieser Zeit
nicht möglich. Versuche mit meinem Mann über sein Verhalten zu
sprechen, scheiterten.
Im Frühjahr 2002 trat schließlich noch eine Umständlichkeit der
Sprache hinzu. Er drückte sich nicht mehr so gewandt aus und
gebrauchte Umschreibungen. Außerdem kamen auch Sprachverständnisstörungen hinzu. Wenn ich mich zum Beispiel mit jemandem unterhielt und mein Mann hinzukam, konnte er sich nicht
in das bestehende Gespräch integrieren, sondern unterbrach es,
indem er mit einem ganz anderen Thema anfing. Meistens begann
sein Thema mit „Ich bin so glücklich. Ich, Ich, Ich…..“ Darauf angesprochen reagierte er peinlich berührt und versprach Besserung.
Weitere Anzeichen waren:
Er begann am Abend früher müde zu sein und ging frühzeitig ins
Bett. Frühzeitig heißt um ca. 20.00 Uhr. Es war auch tatsächlich
so, dass er schnell und fest einschlief.
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Auffallend war auch, dass er mehr Alkohol trank und seine Grenzen nicht mehr erkannte. Dabei wirkte er andererseits nach ein bis
zwei Gläsern Bier wie betrunken.
Er aß auch vermehrt Süßigkeiten. An einem Abend konnte er
schon mal zwei Tüten Haribo und noch ein bis zwei Tafeln Schokolade essen. Es endete schließlich damit, dass ich ihm die Süßigkeiten entreißen musste.
Eine weitere Veränderung bestand darin, dass ich merkte, dass
mein Mann Kinderspiele wie z.B. „Memory“ oder „Uno“ nicht mehr
spielen konnte. Er legte z.B. Karten, die weder in Farbe noch
Form passten und hielt sich nicht an Spielregeln. Schließlich versuchte er, solche Spiele zu vermeiden.
Was eine Zeitlang sehr auffiel, war, dass er die beiden Namen der
Töchter doch in einem hohen Maß verwechselte.
Beim Autofahren gab es ein bis zwei Mal Situationen, in denen er
plötzlich aggressiv reagierte und mich in Angst versetzte. Mein
Mann erhielt vermehrt Strafzettel, da er öfters die Geschwindigkeitsgrenzen nicht einhielt.
Verhalten
in der
Arbeit
Auch in seiner Arbeit sind diese Persönlichkeitsveränderungen
aufgefallen; er konnte Verhandlungen mit Kunden nicht mehr richtig führen und die Gesprächsinhalte nicht mehr korrekt wiedergeben. Um größere Fehler zu vermeiden und Schaden von der Firma abzuwenden, wurde er von seinen Aufgaben entbunden. Ich
selbst erfuhr von diesen Schwierigkeiten dadurch, dass sowohl
sein Chef als auch der Betriebsarzt der Firma mich zu Hause anriefen und mich über die Probleme in der Arbeit informierten. Meinen Mann konfrontierte ich mit seinen Schwierigkeiten; aber er
versuchte mir weis zu machen, dass sein Chef viel zu sehr besorgt sei. Als ich mit dem Betriebsarzt telefonierte und diesen
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nach seiner Verdachtsdiagnose fragte, antwortete er mit Alzheimer im frühen Stadium.
Veränderungen,
die mein Mann
an sich selbst
festgestellt hat
Auch mein Mann hat Veränderung bei sich festgestellt:
Anfangs, im Herbst 2001, musste mein Mann festgestellt haben,
dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. Er machte sich Sorgen über die finanzielle Zukunft von den Kindern und mir, indem er sagte: „Wenn mit mir mal etwas ist ….“; auch war er der Meinung,
dass ich wieder ganztags arbeiten gehen sollte, obwohl er immer
genau dies nicht wollte. Auf meine Fragen „Warum“ gab er mir jedoch keine Antwort. Aus Äußerungen, die er später machte,
schließe ich jedoch darauf, dass er glaubte, einen Gehirntumor
gehabt zu haben.
Gefühle
meines
Mannes
Durch Gespräche, die zwischen meinem Mann, der Sozialarbeiterin seiner Firma und seinem Chef stattfanden, fühlte er sich unter
Druck gesetzt. Auch von meiner Seite aus wurde immer wieder
Druck ausgeübt, um zum Arzt zu gehen. Schließlich und endlich
erklärte sich mein Mann bereit, einen niedergelassenen Neurologen aufzusuchen. Es folgten diverse Untersuchungen, wie Kernspintomographie, Gehirnwasseruntersuchung etc., zu denen ich
nicht mit durfte. Das hatte er nicht gewollt. Auch musste ich ihm
versprechen, niemandem, weder Familienangehörigen noch
Freunden seine Probleme mitzuteilen. Wenn ich dies dennoch tat,
fühlte ich mich, als wenn ich meinen Mann verraten würde.
Nach den Untersuchungen erzählte mir mein Mann jedes Mal sehr
glaubhaft, dass alles in Ordnung sei. Er fühlte sich sogar bestätigt, dass er gesund ist. Was die Ärzte tatsächlich zu ihm gesagt
haben, weiß ich natürlich nicht.
Als mein Mann Anfang Januar 2004 krank geschrieben wurde, war
er damit nicht einverstanden und auch wütend darüber.
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Ende Januar 2004 kam es schließlich zur Einweisung in eine Klinik, ins Max-Planck-Institut in München, um weitere Untersuchungen durchführen zu können. Bis zur letzten Minute war ich mir
nicht sicher, ob mein Mann ins Krankenhaus gehen würde, da er
sich vehement weigerte.
Ängste
Außerdem waren bei meinem Mann große Ängste vorhanden.
Angstgefühle, dass er nicht normal ist, waren zu Beginn der Erkrankung teilweise sehr stark zu spüren, besonders bei den Untersuchungen. Einmal, als er lautstark eine Untersuchung abgebrochen hatte, sagte er auch sehr aufgeregt zu mir: „Die wollen
nur feststellen, dass in meinem Kopf etwas nicht in Ordnung ist.“
Dabei zitterte er, hielt meine Hand und knetete sie. Ich hatte meinen Mann noch nie in so einer Verfassung gesehen. Im Verlauf
der weiteren Erkrankung war diese Form der Angst nicht mehr so
deutlich erkennbar, aber durchaus Traurigkeit. Auch hat er in einer
Phase der Erkrankung Trauer um den Tod eines Freundes und
von Familienmitgliedern noch einmal sehr intensiv durchlebt.
Eine andere Form der Angst war, dass jemand ihm etwas
Schlechtes antun könnte oder, dass jemand einbrechen und etwas
stehlen würde. Daher hat er das, was ihm sehr wertvoll war, nämlich seine gesamte CD-Sammlung vom Wohnzimmer in den
Schlafzimmerschrank umgeräumt und anschließend den Schrank
abgeschlossen. Diesen Schlüssel hat er immer bei sich getragen
und nicht mehr herausgegeben. Letztendlich wollte er auch noch
die Schlafzimmertür absperren.
Jetzt komme ich zur der Zeit NACH DER DIAGNOSESTELLUNG:
Suche nach
einer Beschäftigung
Nachdem mein Mann aus dem Krankenhaus entlassen worden
war, war es sehr schwer, ihn zu beschäftigen. Im Krankenhaus
fühlte sich mein Mann unter den anderen Patienten und Patientin18
nen sehr wohl. Er hatte einen strukturierten Tag und fühlte sich
dort gut aufgehoben. Als er schließlich zu Hause war, hatte er keine Aufgabe und keinen strukturierten Tag mehr. Morgens wollte er
öfters in die Arbeit gehen. Er wusch sich und zog seinen Anzug
an. Jedes mal musste ich ihn davon abhalten, was mir sehr leid
getan hat.
Wie mein Mann
den Tag verbracht hat
Wir versuchten viel mit meinem Mann spazieren zu gehen.
Einmal wöchentlich hatte ich einen Termin in der Stadt. Wir trafen
uns dann am Marienplatz (in München) und sind anschließend
nach Hause gelaufen. Dafür brauchten wir ca. 1 ½ Stunden. Ich
hatte die Hoffnung, mein Mann würde müde werden, dies war jedoch ein Irrtum. Die Einzige, die müde war, bin ich gewesen. Später waren Treffen oder Verabredungen auch nicht mehr möglich,
da er sich zeitlich nicht mehr orientieren konnte.
Wir versuchten auch, meinen Mann in Familienaktivitäten einzubinden, so zum Beispiel beim Laternenfest der jüngeren Tochter.
Dabei bestand das Problem, dass er wild fremde Leute ansprach
und ihnen den Inhalt der Wagner-Opern, die er sehr geliebt hat,
erzählte oder Dinge, auf die er sehr stolz war. Natürlich reagierten
die Umstehenden mit Unverständnis und schauten uns nur mit
großen Augen an.
Stadt und Einkaufen
Wir schickten meinen Mann in die Stadt, so lange es noch möglich
war, oder in die Nähe, um Besorgungen zu erledigen. Auch ging
er oftmals aus eigenem Antrieb zum Einkaufen und kaufte Waren
ein, die wir nicht unbedingt benötigten. So stapelten sich mit der
Zeit Waren bei uns, wie z.B. Sekt, Spülmaschinen-Tabs oder
Maultaschen.
Eisdiele
Oft ging er auch in eine nahe gelegene Eisdiele, um sich dort ein
Eis zu kaufen. Da er sich aber sehr auffällig verhielt - er sagte zu
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einer Verkäuferin „Ich fress’ dich“ oder ein anderes Mal versperrte
er einer anderen Frau den Eingang - hatten die Verkäuferinnen
Angst vor ihm und wollten auch die Polizei verständigen. Auch
nachdem ich sie über die Krankheit aufgeklärt hatte, wollten diese,
dass mein Mann nicht mehr in die Eisdiele käme. Aber abhalten
konnte ich meinen Mann davon nicht und wollte es auch nicht.
Manchmal ging mein Mann auch zu Freunden, die in der Nähe
wohnen, und besuchte diese. Diese nahmen ihn immer wohlwollend auf und kümmerten sich um ihn.
Im Sommer 2003 verbrachten wir auch unter anderem damit sehr
viel Zeit, irgendwelche Gegenstände, die mein Mann vermisste, zu
suchen. Dabei gestaltete sich die Suche deshalb so schwierig,
weil er einen anderen Begriff nannte, z. B. Butter anstelle von Nivea-Creme oder Topf anstelle von Handy.
Wir fuhren auch noch zusammen in den Urlaub, in die Toskana
ans Meer. Dort mussten wir sehr gut auf meinen Mann aufpassen.
Wenn er aus dem Meer vom Schwimmen kam, hat er meistens
unseren Platz nicht gefunden und ist zu fremden Liegen gegangen. Dort reagierte er zwar etwas irritiert, nahm aber dennoch das
dortige Handtuch, um sich abzutrocknen. Meine Kinder und ich
riefen jedes Mal „Wir sind hier!“ und winkten dabei kräftig. Die Kinder rannten ihrem Vater entgegen, um ihm den richtigen Platz zu
zeigen.
Die anderen Urlaubsgäste, die alles mitverfolgten, waren der Meinung, dass mein Mann immer zu viel trinken würde. Zu diesem
Zeitpunkt trank mein Mann aber keinen Alkohol mehr.
Autofahren
Seine Lieblingsbeschäftigung war das Autofahren.
Meinen Mann, der das Auto als sein Eigentum ansah, vom Autofahren abzuhalten, erschien mir fast unmöglich. Gutes Zureden,
Bitten und alle Erklärungen haben nichts genützt. Den Auto20
schlüssel verstecken war auch nicht möglich, da er alle Schlüssel
an sich genommen hat. Außerdem hat er mich oft ausgetrickst, indem er sagte, er gehe in den Keller, ist dann aber mit dem Auto
weggefahren.
Zu Hilfe ist uns letztendlich die Polizei gekommen, allerdings erst
im Januar 2004:
Mein Mann ist wieder einmal mit dem Auto zum Tanken gefahren,
als meine Kinder und ich noch schliefen. An der Tankstelle fiel er
dem Tankwart auf, weil er mit der Zapfsäule nicht mehr zurecht
kam und nahm ihm daher den Autoschlüssel ab. Da mein Mann
jedoch auch den Ersatzschlüssel seines Autos dabei hatte, konnte
er mit dem Auto nach Hause fahren. Der Tankwart notierte das
Kennzeichen und benachrichtigte die Polizei, die schließlich zu
uns nach Hause kam. Alle meinten, mein Mann stehe unter Alkoholeinfluss. Nachdem ich die Polizei über seine Krankheit aufgeklärt hatte, beantragte ich schriftlich, dass meinem Mann die Fahrerlaubnis entzogen wird. Außerdem bat ich die Polizei, meinem
Mann auch den Führerschein abzunehmen. Eigentlich hätte mein
Mann den Autoschlüssel und den Führerschein am nächsten Tag
wieder bei der Polizeidienststelle holen können, da er ja nicht unter Alkoholeinfluss stand und nichts getan hatte. Das Vorliegen der
Erkrankung allein reicht nicht aus, um den Führerschein einzubehalten. Auch war es meinem Mann egal, dass der Führerschein
abgenommen worden war. Er wollte trotzdem fahren. Da ich ihn
aber in dem Glauben ließ, dass sein Autoschlüssel weiterhin bei
der Polizei verwahrt wäre und die Polizei ihn kontrollieren würde,
ließ er von dem Autofahren ab. Dies war jedoch einer der Auslöser, dass er sehr aggressiv wurde.
Aggressionen
Vorher war er anstrengend, sehr anstrengend. Zur Beruhigung erhielt er deshalb auch das Medikament „Zyprexa“. Jetzt aber traten
Aggressionen hinzu in Form von stundenlangem „Nein“-Schreien.
Immer nur „Nein“. Nein natürlich auch deswegen, weil er sich nicht
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mehr anders artikulieren konnte. „Nein“ auch deswegen, weil die
Kinder Angst vor ihm bekamen und er auch das nicht wollte.
Da meinem Mann aber nach und nach alles genommen wurde,
was ihm wichtig gewesen ist, war es mein Ziel, dass mein Mann
bei uns zu Hause bleiben konnte. Dies war der einzige Faktor, den
ich beeinflussen konnte. Dass dies auch seinem Wunsch entsprach, zeigte er durch Gesten, z. B. hat er, als in dieser aggressiven Zeit ein Arzt vom Notdienst gekommen war und als dieser
wieder gegangen war, unsere Tochter umarmt und ganz fest gedrückt. Er war so froh, dass er nicht in eine Psychiatrie eingewiesen wurde und bei uns bleiben konnte. Letztendlich haben wir
meinem Mann nach Absprache mit seinem Arzt das Medikament
„Zyprexa“ auf Höchstdosis verabreicht. Somit wurde er nach kurzer Zeit wieder „gefügiger“. Irgendwie hatte ich aber auch den
Eindruck, mit der Gabe des Medikamentes den Willen meines
Mannes gebrochen zu haben. Aber was hätte ich tun sollen?
Außerdem traten sehr seltene Nebenwirkungen auf:
Sein Kopf war nach vorne geneigt im 90 Grad Winkel. Er konnte
ihn nur mit Mühe heben. Mein Mann sabberte und war inkontinent.
Nachdem seit seiner aggressiven Phase wiederum zwei Monate
vergangen waren, setzte ich das Medikament Zyprexa schrittweise
in Absprache mit der behandelnden Ärztin ab. Nach ungefähr weiteren drei Wochen konnte mein Mann seinen Kopf wieder normal
halten, worüber er sehr stolz war. Das Sabbern war verschwunden
und ja sogar die Inkontinenz. Aber die nächsten Schwierigkeiten
ließen nicht lange auf sich warten. Mein Mann verlor plötzlich immens an Gewicht. Innerhalb von drei Wochen hatte er acht Kilogramm verloren. Die Gewichtsabnahme schob ich zunächst auf
das Absetzen des Medikaments. Schließlich hatte er zu Beginn
der Medikamentengabe an Gewicht sehr zugelegt. Aber dann ließ
sich die Gewichtsabnahme nicht mehr aufhalten. Ein Kilogramm
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nach dem anderen verschwand. Zusätzlich traten Schluckstörungen auf. Das, was er gestern noch essen konnte, blieb ihm
plötzlich im Hals stecken, so dass er uns drei Mal fast erstickt wäre. Nur in letzter Sekunde - er war schon blau angelaufen und seine Augen traten hervor - war es mir möglich, das steckengebliebene Essen zu lösen. Von da an gab es nur noch weiche Kost in
Verbindung mit Astronautenkost. Dennoch nahm er weiter ab bis
er am Ende nur noch 57 kg wog und das bei einer Größe von 1,78
m. Kurz nach den Erstickungsanfällen trat auch eine sehr starke
Verschleimung auf, die das Essen und Trinken sehr erschwerte.
Außerdem benötigte er zunehmend Hilfe beim Essen.
Auch die Sprache ließ immer mehr nach. Seine Worte wurden
immer weniger und waren sehr unverständlich. Schließlich sprach
er gar nichts mehr. Auch wenn seine Mimik starrer wurde, konnten
wir an seinem Gesicht Wut, Trauer und Freude ablesen. Wenn er
zornig war, schob er seinen Unterkiefer hervor; wenn er traurig
oder unsicher war, weinte er; wenn er sich freute, was während
der Erkrankung auch oft der Fall war, lachte er oder seine Augen
leuchteten.
Pflege lässt nach:
Die eigene Pflege hatte mit der Medikamentengabe völlig nachgelassen. Die morgendliche Rasur wurde nur teilweise bis gar nicht
vorgenommen, an Waschen oder Zähneputzen war nicht zu denken. Also habe ich diese Aufgabe übernommen. Dabei hatte ich
großes Glück, dass mein Mann dies alles ohne weiteres zuließ.
Nur das Zähneputzen gestaltet sich schwierig, weil er immer auf
die Zahnbürste biss, so dass ich nicht weiterputzen konnte.
Betreuung in
der Tagesstätte
Die Zeit der Aggressionen hätten wir wohl ohne die Tagesstätte
„Rosengarten“ in Allach bei München nicht überstanden.
Ca. ein halbes Jahr nach der Diagnosestellung begann mein
Mann in eine Tagesstätte zu gehen. Geholfen, diese Tagesstätte
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zu finden, hatte uns die Alzheimergesellschaft, die mir viele Telefonate damit abgenommen hatte. Zunächst bestand das Problem
darin, wie ich meinen Mann dazu bekomme, die Tagesstätte zu
besuchen. Die Leiterin der Tagesstätte hatte dann die gute Idee,
uns zum Kaffee zu besuchen und meinen Mann in die Tagesstätte
einzuladen. Unser Bangen war völlig unbegründet. Mein Mann
ging vom ersten Tag an sehr bereitwillig in den Rosengarten. Anfangs war sein Besuch in der Tagesstätte auf einen Tag in der
Woche beschränkt, aber im Laufe der Zeit erhöhten wir den Besuch von Mal zu Mal, bis er schließlich um 7.00 Uhr abgeholt wurde und gegen 17.00 Uhr wieder nach Hause kam.
Vorteil des Besuchs der Tagesstätte für meinen Mann bestand vor
allem darin, dass er eine Struktur in seinem Alltag wieder gefunden hatte. Auch konnte er dort bei alltäglichen Dingen helfen. Er
durfte zum Beispiel mit zum Einkaufen, trug die Einkaufstaschen,
leerte die Spülmaschine etc. Er konnte sich nützlich machen,
wenn er dies wollte. Zu alledem wurde dort seine Persönlichkeit
respektiert. Dadurch, dass er schon in die Tagesstätte ging, als er
noch einigermaßen gut sprechen konnte, wussten die Betreuerinnen auch in den Zeiten, als er nur noch nuschelte, was er ausdrücken wollte und konnten so auf ihn eingehen, was ihn wiederum
sehr glücklich machte.
Die letzte Zeit
und der
Tod
Es gab eine sehr schöne Veränderung:
Mein Mann verhielt sich wieder sehr freundlich und zeigte auch
Zuneigung. Wenn ich ihm beim Essen half, legte er den Arm um
mich und lächelte mich dabei an.
Beim Ein- oder Aussteigen aus dem Auto hielt er mir die Tür auf.
Dabei beeilte er sich, fing sogar zu rennen an, um vor mir an der
Tür zu sein.
Nachts war es jedoch anstrengender geworden, da er unruhiger
wurde und vermehrt aufstand. Er lief in der Wohnung herum, ging
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auf die Toilette oder schaute nach den Kindern. In den letzten beiden Nächten vor seinem Tod, versuchte er nachts mit mir zu sprechen, aber leider konnte ich seine Worte nicht verstehen, sie waren zu undeutlich.
Auch die Inkontinenz war wieder aufgetreten.
Aufgrund der Schwierigkeiten beim Essen, der starken Verschleimung und der immensen Gewichtabnahme ist es meinem Mann
merklich schlechter gegangen. Am 12. August 2004 wurde er wie
gewohnt abgeholt, um in die Tagesstätte gefahren zu werden.
Schon am Morgen bemerkte ich, dass er irgendwie schwach wirkte. Ich versuchte ihm Frühstück zu geben. Anschließend musste
ich jedoch mehrere Hände voll Schleim aus seinem Mund entfernen. Während des Tages rief ich auch in der Tagesstätte an, um
mich nach ihm zu erkundigen. Aber da war noch alles in Ordnung.
Am Abend folgte schließlich der Anruf, dass mein Mann zusammengebrochen war, wiederbelebt und ins Krankenhaus gebracht
worden war. Er hatte einen Herz-Kreislauf-Stillstand erlitten. Alles
war sehr schnell gegangen, von einer Sekunde auf die andere. Einen Tag später konnte er sanft entschlafen.
Obduktion des
Gehirns
Schon im Laufe der Erkrankung hatte ich mich dazu entschlossen,
eine Obduktion des Gehirns meines Mannes durchführen zu lassen. Diese Entscheidung ist mir zur Lebzeiten meines Mannes
nicht leicht gefallen. Immer wieder hatte ich große Zweifel. Als jedoch mein Mann gestorben war, ist mir bewusst geworden, dass
er seinen Körper nicht mehr benötigt und dieser nur noch als Hülle
übrig bleibt. Von diesem Augenblick an hatte ich einer Obduktion
gegenüber keine Bedenken mehr und bereue diese auch bis heute in keiner Weise.
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Besondere
Schwierigkeiten
aufgrund des
jungen Alters
und des schnellen Verlaufes Wunschvorstellungen und
Anregungen
Im Nachhinein habe ich mir Gedanken darüber gemacht, welche
Lücken für meine Kinder und mich während der Erkrankung bestanden.
Ein großes Problem war während des Krankheitsverlaufes für
mich die Zeit. Vollzeit arbeiten, Haushalt, Kinder, die Betreuung
meines Mannes und noch nebenbei der nicht enden wollende
Formularkrieg. Allem 100 % gerecht zu werden war nicht möglich.
Perfektion konnte also nicht der Maßstab sein. Aufgrund des
Zeitmangels und des schnellen Krankheitsverlaufes lief ich wohl
immer einen Schritt hinter der Krankheit hinter her. Anstelle vorausschauend zu handeln, musste erst immer etwas passieren, bis
ich reagierte: Zum Beispiel wusste ich, dass ich den Küchenherd
umrüsten müsste. Bevor ich dazu kam, ist es fast zu einem Brand
gekommen. Mein Mann hatte sich Maultaschen heiß machen wollen, wurde abgeholt und hatte vergessen, den Herd auszuschalten. Kurz vor dem Entstehen eines Brandes konnte dieser durch
die herbeigerufene Feuerwehr verhindert werden.
Mehrmals ist es auch passiert, dass wir nicht mehr in die Wohnung hineinkamen, da mein Mann den Schlüssel von innen stecken gelassen hatte. Nur mit einem Dietrich ließ sich die Wohnungstür wieder öffnen. Hier wäre ein rechtzeitiges Auswechseln
des Schlosses mit beidseitiger Schließung notwendig gewesen.
Ein letztes Beispiel, dass die Krankheit schneller war als meine
Bemühungen, war, dass mein Mann aufgrund seiner Schluckstörung und Verschleimung einen Termin im Krankenhaus hatte. Bevor wir jedoch diesen Termin wahrnehmen konnten, starb mein
Mann, eine Woche zuvor.
Für Kinder/Jugendliche bestehen derzeit noch keine Gesprächsgruppen, was meiner Meinung aber sehr wichtig wäre.
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Mehr Beschäftigungsmöglichkeiten und Betreuung für junge Demenzerkrankte.
Das Verbot des Autofahrens sollte nicht allein dem Pflegenden
überlassen werden; die Gefahr, dass der Kranke aggressiv und
wütend reagiert, dass er sein Vertrauen in die Bezugsperson verliert, ist zu groß. Hier würde ich mir eine andere Vorgehensweise
wünschen.
Was ich mir - vielleicht als Vision - vorstellen könnte, wäre eine Art
Patenschaft. Dabei denke ich nicht an eine finanzielle Patenschaft,
sondern an jemanden, der bereit ist und die Zeit hat, einer Familie
beim Ausfüllen der vielen Formulare zu helfen und vielleicht auch
mal den einen oder anderen Behördengang übernehmen kann.
Dank
Zum Schluss möchte ich noch diese Gelegenheit nutzen, um mich
ganz herzlich zu bedanken:
•
für Spenden, die ich erhalten habe und für die Betreuung
meines Mannes nutzen konnte,
•
bei den betreuenden Ärzten für ihre Unterstützung
•
bei meinen Freunden für ihre Gespräche und Hilfen
•
bei der Tagesstätte, die jederzeit flexibel reagiert hat, die
die Persönlichkeit meines Mannes respektiert hat und in der
sich mein Mann wohl gefühlt hat, und dafür, dass ich ihr
meinen Mann guten Gewissens anvertrauen konnte.
•
bei der Alzheimer-Gesellschaft, an die ich mich jederzeit
wenden konnte und die mir mit Rat und Tat zur Seite stand,
•
und nicht zuletzt bei meinen Töchtern, die jederzeit ihren
Papa und auch mich unterstützt haben, ihrem Vater jederzeit behilflich waren und ihn zum Lachen brachten oder
trösteten, vor allem dafür, dass es ihnen gelungen ist, sich
in seine neue Welt einzulassen und ihn dort abzuholen, wo
er sich gerade befand.
Meinen ganz herzlichen Dank für all` diese Unterstützung.
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„Meine Frau ist an FTD erkrankt“
Schwerpunkt: Heim
Marco Schoeller
Einleitend möchte ich Ihnen kurz die Person meiner Frau Michaela vorstellen.
Geboren 1962, schwierige Kindheit bedingt durch ein Alkoholproblem des Vaters,
Ausbildung zur Arzthelferin, Heirat mit mir 1989, Geburt unserer beider Kinder 1990
und 1992.
Erste Anzeichen bemerkten wir 2003 im Januar an ihrem 41sten Geburtstag; es waren Sprachstörungen. Eine Freundin von uns, von Beruf Ärztin, sprach mich an, da
sie ein Alkoholproblem bei meiner Frau vermutete (wegen der lallenden Aussprache).
Als ich ein solches definitiv ausschließen konnte, vereinbarten wir mit meiner Frau
einen stationären Aufenthalt, zur Durchführung einer Testreihe, damals noch zum
Ausschluss einer schweren Erkrankung gedacht. Am 23. Juni 2003 nach Abschluss
sämtlicher Tests und Computer-Tomographien wurde uns die Diagnose FTD mitgeteilt mit der Bitte, noch eine Zweitmeinung einzuholen. Diese Zweitmeinung fand
dann hier im Klinikum Rechts der Isar statt. Sie kam zu dem gleichen Ergebnis. Da
wir uns anfänglich mit der Aussage „es gibt wenig Medikamente und keinerlei Hoffnung auf Heilung“ nicht zufrieden geben wollten begann eine Odyssee durch sämtliche namhafte Krankenhäuser Deutschlands, bis hin zu einer amerikanischen Vereinigung namens „best doctors“, welche gegen Bezahlung das komplette Krankheitsbild in einen Computer eingibt. Dann erhält man die Beurteilung der führenden Ärzte
auf dem jeweiligen Fachgebiet amerikaweit Aber auch diese Hoffnung endete an
dem Punkt, wo wir erkennen mussten, dass die Krankheit nicht aufzuhalten war. Da
es mein Wunsch und der unserer Kinder war, meine Frau solange es nur irgendwie
geht zu Hause zu behalten, ließen wir ihr jeden nur erdenklichen Freiraum. Die sich
im weiteren Verlauf ergebende Problematik ähnelt sehr stark der von Herrn Parol mit
einer Ausnahme: meine Frau war zu keinem Zeitpunkt aggressiv, sondern das krasse Gegenteil, sie zog sich bei Konflikten immer zurück.
Es folgten die gleichen schweren Entscheidungen wie bei Hr. Parol:
1. Entzug des Autos
2. Entzug der Bankkonten
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3. Ausgabe eines tägl. kleinen Taschengeldbetrages für weitere ritualisierte Einkäufe und dem Besuch unserer Eisdiele.
Nach einer Reihe von schweren Stürzen teils zu Hause, teils in den öffentlichen
Verkehrsmitteln und den Hinweisen von Nachbarn und Freunden, dass meine
Frau sich als Fußgängerin im Straßenverkehr dramatisch selbst gefährdend verhalten würde, fingen wir in der Familie an, uns mit einer Lösungsfindung zu beschäftigen. Das war der Moment, an dem wir uns erstmalig mit dem Gedanken
„Betreuung“ beschäftigten, jedoch diesen Gedanken nicht wirklich aufkeimen ließen. Jedoch bemerkten wir, dass wir nicht mehr nur alleine entschieden. Auf einmal redeten Freunde, die Schwiegereltern und Nachbarn mit.
Es fielen Sätze wie: „Während wir mit deiner Frau in die Eisdiele gehen, gehst du
auf den Golfplatz“ oder die Nachbarn beschwerten sich, dass meine Frau in ihren
Gärten permanent Blumen schneiden würden. Man könnte die Anzahl dieser Beispiele beliebig fortsetzen. Fakt ist, man kommt an den Punkt, an dem man sich
für eine Veränderung der Situation entscheiden muss. Ich für meinen Teil begab
mich auf die Suche nach einer Einrichtung für junge Demenzkranke, leider ohne
großen Erfolg.
Eine Einrichtung in unmittelbarer Nähe unserer Wohnung für psychisch kranke
junge Frauen nahm meine Frau auf – jedoch einen Tag später kam die Absage
mit dem Argument, das Krankheitsbild meiner Frau passe nicht zu dem der übrigen Frauen und somit wäre das Risiko von Übergriffshandlungen seitens dieser
Frauen zu groß und daher nicht verantwortbar.
Die nächste Einrichtung in der sich jüngere Menschen aufhielten, war eine Einrichtung für organisch erkrankte Patienten sowie Schädel-Hirn-TraumataPatienten, meist nach Unfällen. Diese Einrichtung nahm meine Frau auf und sie
gaben sich auch wirklich jede erdenkliche Mühe. Gescheitert ist dieses Projekt
letztlich an meiner Frau: sie verließ immer wieder die Räume, um zu rauchen. Die
Gruppenleiter folgten ihr dann und mussten den Rest der Gruppe alleine lassen.
Dies führte zu Unmut unter den anderen Teilnehmer, welche ja ernsthaft an der
Verbesserung ihres Zustandes arbeiteten. Extrem machte sich dies auch in der
Tagesabschlussgruppe „autogenes Training“ bemerkbar, wo meine Frau den Sinn
nicht mehr erkannte und laut vor sich hin sprach. Dies führte dann in der Konse29
quenz auch wieder zu einer Beendigung des Aufenthaltes. In diesem Fall für mich
absolut nachvollziehbar und ich bin heute noch dankbar für die tolle, geleistete
Arbeit.
Also begann die Suche wieder nach etwas Neuem. Resignativ beugte ich mich
der Tatsache, dass ich mich jetzt wohl mit einer Tagestätte mit ausschließlich älteren Patienten abfinden müsste. Die weitere Problematik war, dass eine solche
Einrichtung zwingend mit einem Fahrdienst ausgestattet sein musste, da ich als
Berufstätiger keinerlei Möglichkeiten der Beförderung hatte. Dieses K.O.-Kriterium
schränkte die Suche ein.
Ein weiteres großes Thema war die Pflegeeinstufung. Wenn man sich mit der
Thematik „Pflegegesetz“ beschäftigt, stellt man recht bald fest, dass der Gesetzgeber bei der Abfassung des Pflegegesetzes die Problematik „Demenz“ wohl wenig beachtet hat. Mein erster Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass
meine Frau die meisten Verrichtungen des täglichen Lebens noch gut bewältigen
könnte. Erst der Einspruch führte zur Einstufung in Pflegestufe I. Ich würde mir
wünschen, dass der Gesetzgeber nachbessert und der Medizinische Dienst akzeptiert, dass die geleisteten Verrichtungen allesamt nachkontrolliert bzw. nachgearbeitet werden müssen, so z.B. die gesamte Körperpflege. Die Zeiten von getürkten Pflegeprotokollen und geimpften Demenzkranken sollten ein für alle Mal
der Vergangenheit angehören.
Zurück zum Thema Suche:
Gelandet sind wir dann in derselben Einrichtung wie Hr. Parol, nämlich im Rosengarten. An dieser Stelle auch von mir einen herzlichen Dank an Frau Brandtner,
die für alle Notsituationen immer eine Lösung parat hatte.
Aber auch diese Zeit ging wegen der zunehmenden Verschlechterung des Zustandes meiner Frau zu Ende. Die Nachtstunden mit ihrer starken Nachtaktivität
führten bei mir zu einem massiven Schlafdefizit und die zweite Problematik war,
dass unsere Kinder und hier besonders unsere pubertierende Tochter die Wochenenden mit Freunden verbringen wollten und nicht mehr mit ihrer Mutter die
Eisdiele besuchen oder zu Hause auf sie aufpassen. Auch ich hatte das Dilemma
einerseits der Rat der Ärzte, bei allem auch an mich zu denken, zum anderen das
Problem meiner Frau gerecht zu werden. Also nahm man Hilfe von Freunden in
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Anspruch, was zu oben erwähnter Problematik führte. Für einen Menschen, der
noch nie auf Hilfe Dritter angewiesen war, war dies eine neue Erfahrung, aber vor
allem keine Dauerlösung. Außerdem wurde die Stimmung zu Hause zunehmend
aggressiver und die Frage kam auf, ob wir noch in der Lage waren die Betreuung
zu gewährleisten.
Also beschlossen unsere Kinder und ich im Sommer 2005, dass sich etwas ändern müsste. Unsere erste Idee war eine osteuropäische Pflegerin in unserer
Wohnung aufzunehmen. Also startete ich eine intensive Suche. Ich war so auf
diese Idee fixiert, dass ich auch immer in meiner Angehörigengruppe in der
Münchner Alzheimergesellschaft sowie mit deren Vorsitzenden Frau BayerFeldmann direkt gesprochen habe. Frau Bayer-Feldmann ergriff, Gott sei Dank,
die Initiative und bat mich um ein Einzelgespräch, in dem sie mir sehr genau die
große Problematik der häuslichen Pflege eines Demenzkranken schilderte bzw.
mir aus ihrem Erfahrungsschatz heraus darlegte, dass solche Kräfte einfach mit
der Doppelbelastung Pflege und Haushalt schnell überfordert wären und die Fluktuation deshalb sehr hoch wäre. Ein weiterer Aspekt wäre, dass eine zusätzliche,
fremde Person im Haushalt wäre, was die freie Bewegungsmöglichkeit der Familie doch enorm einschränken würde.
Eine idealisierte Problemlösungsvorstellung platzte wie eine Seifenblase. Also
hielten wir wieder Familienrat ab und beschlossen im September 2005 meine
Frau in ein Heim zu geben. Wenn Sie das Buch von Eleanor Cooney „Ich hörte
dich so gerne lachen“ kennen, wissen Sie was so eine Entscheidung bedeutet. Es
ist, glaube ich, für jeden Angehörigen eines Demenzkranken der Moment, vor
dem er sich am meisten fürchtet und den man am meisten verdrängt.
Engagiert ging ich das Problem an, unterstützt durch einen Fragebogen sowie
Adressmaterial von der Münchner Alzheimergesellschaft. Weitere Adressen bekam ich über die psychiatrische Universitätsklinik München. So ausgestattet
machte ich mich auf die Suche. Ich führte zahlreiche Gespräche mit Angehörigen,
wählte aus meinen Listen vorab Häuser aus, die nach Abzug der Pflegekassenleistung noch finanzierbar waren, - auch so ein Problem, welches leider in die
Entscheidungsfindung mit hinein spielt. Es gibt Häuser, die einem äußerst gut gefallen würden, leider aber persönlich nicht finanzierbar sind.
Dieser Punkt ließ mich Häuser vorab auswählen, welche sich ausschließlich außerhalb Münchens befanden. Ich besuchte 12 Häuser, füllte meine Fragebogen
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aus, sprach teilweise mit Bewohnern, fuhr mit Freunden und Familienangehörigen
in die Häuser, die in die engere Wahl kamen, um Meinungen von dritter Seite zu
bekommen und entschied mich nach meiner Meinung intensivster Recherche für
ein Seniorenheim in Landshut. Mit ein Grund war übrigens, eine jüngere Bewohnerin (38 Jahre, MS-erkrankt) in der Nachbarschaft zu meiner Frau.
Mitte November zogen wir meine Frau dorthin um.
Was soll ich Ihnen sagen. Es war ein Flop!!
Die Station, auf der meine Frau untergebracht war, war meines Erachtens überfordert mit ihrem Krankheitsbild. Die versprochenen Ergotherapiemaßnahmen
fanden so gut wie nie statt. Mit das Schlimmste waren jedoch die immer häufiger
werdenden Stürze meiner Frau und die damit verbundenen stationären Krankenhausaufenthalte. Bei meinem Besuch anlässlich ihres 44. Geburtstages fand ich
eine fixierte, verstörte Frau vor und kann nur sagen, dass meinen Kindern dieser
Anblick ihrer Mutter, Gott sei Dank, erspart geblieben ist. Eine weitere Aufzählung
von Dingen, die mir missfallen haben, will ich uns ersparen, entscheidend war für
mich, dass mir das Vertrauen in die Einrichtung verloren gegangen ist und ich
feststellte, dass es ohne dieses keine Zukunft mehr geben konnte.
Ein weiterer, wichtiger Aspekt war, dass unsere Kinder und ich feststellten, dass
die Entfernung doch ein Hindernis darstellte. Die Besuche fanden einmal in der
Woche, meist am Sonntag statt und hatten leider den Charakter einer Pflichtveranstaltung. Es ist leider oft so, dass die Theorie häufig von der Praxis abweicht
und man vieles erst in der Praxis erfährt und kennen lernt.
Was ein eklatantes Problem für mich darstellte war, dass ich das Vertrauen in
meine Entscheidungsfindung total verloren hatte und somit Angst hatte, ein weiteres Mal zu versagen und das Ganze nochmals auf dem Rücken meiner Frau auszutragen. Trotzdem begaben wir uns wieder auf die Suche. Diesmal unter der
Prämisse, etwas in München bzw. in unmittelbarer Umgebung zu finden.
Ja und dann spielte uns der große Zufall in die Karten. Eine Bekannte einer unserer sehr guten Freundinnen war mit einem von der Stadt geförderten Projekt beschäftigt und kam so mit einer Einrichtung in Berührung, von der sie überzeugt
war, dass diese etwas für meine Frau sein könnte. Nach mehreren Gesprächen
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waren unsere Kinder und ich uns einig, es in diesem Haus zu probieren. Die oben
angesprochene Angst war zwar da, jedoch hatte ich in diesem Fall auch ein äußerst gutes Bauchgefühl, was mir zugegebenermaßen bei Landshut gefehlt hatte.
Es handelte sich um eine betreute Wohngemeinschaft mit insgesamt 8 Patienten
bzw. Senioren, welche mittels ambulanten Pflegediensten rund um die Uhr betreut sind.
Das Ganze befindet sich in einer wunderschönen 300qm Altbauwohnung, keine
500 Meter von unserer Wohnung entfernt. Es herrscht ein familiäres Klima, die
Gemeinschaft kocht und wäscht zusammen und unternimmt Ausflüge. Die ergotherapeutischen Maßnahmen funktionieren und die Betreuung ist äußerst liebevoll. Bei Toilettengängen braucht meine Frau nur zu rufen und sofort führt sie jemand auf die Toilette. Sätze wie „jetzt bleiben sie mal sitzen, sie haben doch eine
Windel an“ gibt es in diesem Hause nicht.
In den vier Wochen, in denen meine Frau in dieser Einrichtung lebt, ist sie kein
einziges Mal bisher gestürzt: sie schläft jetzt nicht mehr im Bett, sondern auf einer
Matratze auf dem Boden. Die wesentlich häufigeren Besuche kommen zum einen
meiner Frau zu Gute und fördern zum anderen den Dialog mit den Pflegekräften,
was wiederum das Vertrauen enorm stärkt.
Für den Moment sind wir mit unserer Odyssee am Ende angelangt. Wir können
durchatmen und versuchen in die Restfamilie so etwas wie Normalität zu bringen.
Ich glaube, ohne die Kinder ginge es mir bedeutend schlechter: daher lieber die
Problematik des Alleinerziehenden, als alleine mit der Problematik dazustehen.
Enden möchte ich mit meinem Vortrag mit ein paar Sätzen meines Lieblingsdichters „Antoine de Saint-Exupery“; sie haben es mir erleichtert, mit diesem Schicksalsschlag umzugehen:
„Bewahre mich vor dem naiven Glauben, es müsste im Leben alles glatt gehen.
Schenke mir die nüchterne Erkenntnis, dass Schwierigkeiten, Niederlagen, Misserfolge, Rückschläge eine selbstverständliche Zugabe zum Leben sind, durch die
wir wachsen und reifen.“
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Erstberatung nach Diagnosestellung
Bettina Förtsch
In die Sozialberatung des Zentrums für kognitive Störungen des Klinikums rechts
der Isar in München kommen die Patienten und Angehörigen, nachdem sie bei
den Ärzten der Ambulanz waren und über ihre Erkrankung aufgeklärt worden
sind. Meist vergeht eine gewisse Zeit, bis der „Schock der Diagnose“ ein wenig
verdaut ist und Angehörige von diesem Angebot Gebrauch machen.
Das Beratungsangebot gilt für alle Betroffenen und ihre Angehörigen, egal unter
welcher Art von Demenz sie leiden und wie weit die Krankheit bereits fortgeschritten ist. Oft sind es Patienten mit der Alzheimer-Krankheit, die vor allem
durch Gedächtnis- und Orientierungsprobleme beeinträchtigt sind. Es kommen
aber auch Familien in die Beratung, bei denen ein Teil von einer frontotemporalen
Demenz betroffen ist.
Es gibt in der Beratungssituation einige Fragen, die für alle Demenzerkrankungen
von Bedeutung sind und die immer angesprochen werden. Oft passen jedoch die
Informationen und Angebote, die Menschen mit frontotemporaler Demenz und
ihre Angehörigen brauchen, nicht optimal. Dann ist es wichtig, die besonderen
Bedürfnisse im Einzelfall beim Aufzeigen von weiterführender Unterstützung zu
berücksichtigen.
Die Anliegen und Punkte, die im Beratungsgespräch Thema sind, sind vielfältig
und können im Einzelnen sehr individuell sein. Wesentliche Inhalte einer
Erstberatung sollten aber zwei Dinge sein. Zum einen die Klärung wichtiger
rechtlicher Fragen und zum anderen das Aufzeigen von weiterführenden
Hilfen.
Bei beiden Schwerpunkten werden nun einige Themenbereiche kurz erläutert. Es
werden die Gemeinsamkeiten angesprochen, die bei allen Formen von Demenz
wichtig sind, und es wird auch auf die besonderen Probleme eingegangen, die
eine frontotemporale Demenz mit sich bringen kann oder die dort beachtet
werden müssen.
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1.) Klärung rechtlicher Fragen
Ein wichtiger rechtlicher Punkt, wenn man mit der Diagnose einer Demenz
konfrontiert ist, ist die Frage der Vorsorge in rechtlicher Hinsicht,
beispielsweise mit einer Vollmacht. Bei allen Demenzformen ist es
empfehlenswert, in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung rechtzeitig die
wesentlichen Dinge für die Zukunft festzulegen. Eine entsprechende
Vorsorgevollmacht ist also immer dann anzuraten, wenn ein naher Angehöriger
oder eine sonstige Person des absoluten Vertrauens später im eigenen Sinne
rechtlich verbindlich handeln können soll.
Eine Schwierigkeit hinsichtlich der Vorsorgevollmacht bei Patienten mit frontotemporaler Demenz kann die fehlende Krankheitseinsicht sein. Auch sind die
Betroffenen oft noch verhältnismäßig jung und sehen die Notwendigkeit nicht ein.
Es bleibt dann bei Bedarf nur das Instrument der „gesetzlichen Betreuung“, die
beim zuständigen Vormundschaftsgericht in einem aufwändigen Verfahren
beantragt werden muss. Man kann diese bürokratische Zusatzbelastung als
Angehöriger nur mit einer vorhandenen, gültigen Vollmacht vermeiden.
Ein weiteres Thema in der Beratung ist der Anspruch jedes Demenzkranken auf
einen Schwerbehindertenausweis mit den entsprechenden Merkzeichen vom
Versorgungsamt. Ab einem gewissen Schweregrad der Erkrankung besteht
dieser Anspruch bei allen Formen von Demenz. Er kann den Betroffenen eine
Reihe von steuerlichen und nichtsteuerlichen Vorteilen bringen. Bei noch
berufstätigen Patienten mit frontotemporaler Demenz ist immer auch ein wichtiges
Argument für den Schwerbehindertenausweis die damit verbundene Erleichterung
bei einem evtl. Rentenantrag.
Die Berentung spielt gerade bei Patienten mit frontotemporaler Demenz eine
wichtige Rolle, denn die Kranken sind den komplexen Anforderungen des
Berufslebens oft schon im beginnenden Stadium nicht mehr gewachsen. Besteht
kein Anspruch auf Krankengeld mehr, und ist man nicht mehr in der Lage, seinen
Beruf mehr als drei Stunden täglich auszuüben, gilt man als erwerbsgemindert.
Es kann dann die sog. „Erwerbsminderungsrente“ beim zuständigen Rentenversicherungsträger beantragt werden. In der Praxis gibt es für die Betroffenen dabei
nicht selten Probleme, so dass zur weiterführenden Beratung immer an den VdK
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verwiesen werden kann, der bei einem solchen Verfahren unterstützend zur Seite
steht.
Patienten mit einer frontotemporalen Demenz sind meistens verhältnismäßig jung
und stehen oft mitten im Berufsleben. Da vielen von ihnen jegliche
Krankheitseinsicht fehlt, verstehen sie nicht, warum sie nicht mehr arbeiten sollen.
Gleichzeitig kommt es aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten und Problemen
beim Bewältigen von komplexen Vorgängen schnell zu Reibereien und
Schwierigkeiten am Arbeitsplatz.
Ist der Erkrankte der Alleinverdiener in einer Familie mit Kindern in Schule oder
Ausbildung, kann eine vorzeitige Berentung zu dramatischen finanziellen
Einbußen führen, die eine Familie durchaus existentiell bedrohen können.
Lösungen oder Bewältigungsmodelle sind sehr schwierig zu finden und können
immer nur im individuellen Kontext gesucht werden.
Ein weiterer Punkt in der Beratung kann je nach Schweregrad der Erkrankung
auch der Anspruch des Patienten auf Leistungen aus der Pflegeversicherung
sein. Die dafür nötige Einstufung durch den medizinischen Dienst der
Krankenkassen orientiert sich in erster Linie am Hilfebedarf des Betroffenen bei
den körperlichen Verrichtungen. Diese sind bei der frontotemporalen Demenz
zunächst gar nicht oder nur minimal beeinträchtigt. Deswegen ist die Bewilligung
einer Pflegestufe oft eine äußerst mühsame und für die Angehörigen im
anstrengenden Alltag sehr belastende Angelegenheit. Die örtlichen Alzheimer
Gesellschaften bieten in diesem Bereich sehr hilfreiche Beratung und
Unterstützung im konkreten Fall an.
2.) Aufzeigen weiterer Hilfen
In einem zweiten Teil der Erstberatung werden die Betroffenen und ihre
Angehörigen über weiterführende Unterstützungs- und Betreuungsangebote
informiert, die es für Demenzkranke und ihre Angehörigen gibt. Im Alltag sind
gerade bei der frontotemporalen Demenz die Familien durch die oft massiven
Auswirkungen der Erkrankung sehr belastet und stoßen schnell an die Grenzen
des Machbaren. Es ist daher sehr wichtig, viele Informationen über Möglichkeiten
der Entlastung zu haben und die entsprechenden Anlaufstellen zu kennen.
36
Da im Anschluss ausführlich über diese Hilfsangebote informiert wird, werden an
dieser Stelle nur einige Punkte beispielhaft herausgegriffen und es wird versucht,
dabei auf die besonderen Bedürfnisse von Patienten mit frontotemporaler
Demenz und ihren Angehörigen einzugehen.
Es kann z.B. eine große Erleichterung im Alltag bedeuten, wenn Demenzkranke
eine teilstationäre Einrichtung besuchen können. Gemeint sind hier zeitlich
begrenzte Formen der Versorgung in Tagesstätten oder Tagespflegen. Diesen
Angeboten ist gemeinsam, dass die Betreuung in der Regel in Gruppen von eher
älteren Menschen stattfindet. Beides ist als Rahmenbedingungen für Patienten
mit frontotemporaler Demenz nicht optimal, denn zum einen haben die meist viel
jüngeren Erkrankten wenig Interesse, mit so viel älteren Menschen an einer
Gruppe teilzunehmen. Zum anderen ist die Gruppenstruktur aufgrund der
manchmal sehr schwierigen Symptome im Verhalten der Erkrankten nicht
unbedingt die ideale Form der Betreuung.
Dennoch ist es immer wichtig, den Einzelfall zu betrachten, sowohl von der Symptomatik der Betroffenen, als auch von den Gegebenheiten der Betreuungsmöglichkeiten her. Man könnte vielleicht die grobe Einschätzung versuchen, dass
es eher non-verbale Gruppenangebote sind, in denen sich Patienten mit frontotemporaler Demenz aufgehoben fühlen, z.B. Gruppen, die Bewegung und Motorik
zum Inhalt haben oder auch kreative Angebote, wo gestaltet oder gemalt wird.
Im stationären Konzept des „Alzheimer-Therapiezentrums Bad Aibling“ ist
die Kunsttherapie beispielsweise wichtiger Bestandteil des Programms. Es gelingt
dort den Kunsttherapeuten immer wieder, auch sehr schwierige Patienten mit
frontotemporaler Demenz gut in die Gruppe zu integrieren. Die Neurologische
Klinik Bad Aibling bietet ein vierwöchiges Reha-Angebot für alle Formen von
Demenz. Die Behandlung ist für Patienten zusammen mit ihren Angehörigen
gedacht und zielt darauf ab, die Alltagsbewältigung der Familien so weit wie
möglich aufrecht zu erhalten. Man geht dort sehr individuell auf die einzelnen
Betroffenen und ebenso auf die Angehörigen und ihre Bedürfnisse ein. Durch
Empfehlungen von Therapieformen, die sich in Bad Aibling bewährt haben, wird
versucht, auch über den Aufenthalt hinaus dauerhafte Wirkungen zu erreichen.
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Ein wichtiger Punkt, der nicht vergessen werden darf, ist der Hilfebedarf der
Kinder in den manchmal jungen Familien von Frontotemporal Erkrankten. Als
kleines Kind oder auch als Jugendlicher dieser schweren Krankheit eines
Elternteils zusehen zu müssen und die belastenden Auswirkungen tagtäglich im
Familienalltag zu spüren zu bekommen, ist unvorstellbar schwierig und kann
leicht zu massiven Problemen bei den Kindern führen.
Auch hier ist es wichtig, im Einzelfall abzuwägen, ob und wenn ja welche Form
der Unterstützung gebraucht wird. Denkbar wären z.B. Angebote wie
Einzeltherapien der Kinder oder auch familientherapeutische Begleitung sowie
Gespräche in einer Familien- oder Erziehungsberatungsstelle. Eine gesetzliche
Verpflichtung zur Hilfe hat das zuständige Jugendamt, denn im Rahmen des
Kinder- und Jugendhilfegesetzes haben Familien in krankheitsbedingten
Notsituationen Anspruch auf die sog. „Hilfe zu Erziehung“. Diese Hilfe kann
unterschiedlich ausgestaltet sein und richtet sich nach dem Bedarf im Einzelfall.
Manchmal ist die Demenzerkrankung bei Patienten unserer Ambulanz schon so
weit fortgeschritten, dass die Unterstützung durch einen ambulanten
Pflegedienst die geeignete Art der Entlastung ist. In den Großstädten wie in
München gibt es vereinzelt Pflegedienste, die sich auf die Pflege von dementiell
erkrankten Patienten spezialisiert haben. Diese berücksichtigen dann z.B. die
besonderen Probleme bei frontotemporaler Demenz dahingehend, dass sie bei
starker motorischer Unruhe oder Aggressivität des Patienten immer nur zu zweit
in die Pflegesituation gehen.
Ein wichtiges Thema, das in der Erstberatung immer angesprochen wird, sind die
Unterstützungs- und Beratungsangebote für die Angehörigen im weiteren
Verlauf der Erkrankung. Es kann beispielsweise für einen Angehörigen die
passende Entlastung bedeuten, regelmäßig an einer entsprechenden Selbsthilfegruppe teilzunehmen, wie sie hier in München seit längerem existiert. Eine
Vielzahl von verschiedenen Formen der psychosozialen Begleitung für
Angehörige bieten die örtlichen Alzheimer Gesellschaften an.
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Abschließen möchte ich meinen Beitrag mit einem Bild vom Viktualienmarkt in
München, das ein Patient mit frontotemporaler Demenz im fortgeschrittenen
Stadium von einer Postkarte abgezeichnet hat. Man kann sich vorstellen, wie
stolz er darauf war, das so gut hinbekommen zu haben. Man kann sich auch die
Zufriedenheit des Angehörigen darüber vorstellen, wie sinnvoll und produktiv der
Erkrankte über einen längeren Zeitraum damit beschäftigt war.
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Begleitung der Angehörigen während des Krankheitsverlaufs
Christine Zarzitzky
Alzheimer Gesellschaft München e.V.
Bevor ich mit meinem Beitrag beginne, möchte ich mich zuerst bei den
Akteuren bedanken, die heute auf unbürokratische Weise die Betreuung der
Erkrankten organisiert haben, damit ihre Angehörigen beruhigt an dieser
Tagung teilnehmen können. Der Dank gilt den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern der Tagespflege „Die Herbstlaube“, unserer ehrenamtlichen
Helferin aus dem Helferkreis und der „Stiftung Adventskalender“ der
Süddeutschen Zeitung, für die Übernahme der Betreuungskosten.
Die meisten Unterstützungs- und Beratungsangebote wurden vorwiegend für
Angehörige von Patienten mit der Alzheimer-Krankheit (AK) konzipiert. Noch
relativ wenig Berücksichtigung findet, dass sich die Frontotemporale Demenz
in vielen Bereichen von der AK unterscheidet und zusätzliche bzw. andere
Belastungen für die Angehörigen mit sich bringt.
Belastungen der Angehörigen bei Alzheimer- und Frontotemporaler
Demenz
-
Fortschreitende Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten
-
Zunehmende Pflegebedürftigkeit
-
Allmählicher Verlust eines geliebten Menschen
-
Verbitterung über das eigene Schicksal
-
Gesundheitliche Folgen durch die Dauerbelastung
-
Isolation
-
Finanzielle Belastung
Zusätzliche Belastungen für die Angehörigen bei FTD
-
Das relativ junge Alter der Betroffenen
40
-
Vergleichsweise geringe Häufigkeit von FTD
-
Verhaltensauffälligkeiten von Beginn der Erkrankung an
Das meist relativ junge Alter der an FTD – Erkrankten führt häufig zu zusätzlichen Belastungen für die Angehörigen. Viele Betroffene üben noch eine
Berufstätigkeit aus, sind finanzielle Verpflichtungen eingegangen und haben
Zukunftspläne gemacht. Es leben oft noch schulpflichtige Kinder in den Familien, für sie sind die Verhaltensänderungen besonders schwer zu verstehen
und zu verarbeiten. Untersuchungen haben gezeigt, dass 92% der Familien
Probleme mit den Kindern haben, die sich meist in Verhaltensauffälligkeiten
und Schulschwierigkeiten zeigen.
Bisher gibt es auch noch kaum befriedigende Antworten über den Verlauf,
die Behandlungsmöglichkeiten und Verlaufsprognose der FTD. Durch das
vermeintlich geringe Auftreten der Erkrankung finden Angehörige noch
wenige Möglichkeiten mit anderen in Austausch zu treten.
Spezielle Broschüren für Angehörige sind nicht vorhanden. Auch in der
Fachliteratur gibt es zum Thema Frontotemporale Demenz kaum
ausführliche Informationen.
Das Verhalten der an FTD- Erkrankten entspricht nicht dem typischen Bild
der Demenz, das vor allem durch die Symptome der Alzheimer Krankheit
geprägt ist. Die Verhaltensauffälligkeiten die sich durch das Krankheitsbild
ergeben machen es den Angehörigen besonders schwer entlastende
Angebote, wie z.B. Tagesstätten, in Anspruch zu nehmen. Auch das
Personal in den Institutionen ist damit meist überfordert.
Begleitung der Angehörigen – Was ist möglich?
-
Beratung und Information
-
Angehörigenseminare
-
Angehörigengruppen
-
Gruppen für Kinder und Jugendliche
-
Familientherapeutische Begleitung
41
Für Angehörige ist es nach Erhalt der Diagnose wichtig, möglichst
umfassende Informationen über die Krankheit und die damit verbundenen
Auswirkungen zu erhalten, damit sie sicherer im Umgang mit den Erkrankten
und auch in ihrer Handlungsfähigkeit gestärkt werden. Dies kann durch
Beratung und Teilnahme an einem Angehörigen-Seminar geschehen. In der
Gemeinschaft von Angehörigen-Gruppen (z.B. Selbsthilfegruppen) finden
viele wieder Kraft und seelisches Gleichgewicht, können eigene Erfahrungen
weitergeben und damit Anderen neue Perspektiven eröffnen.
Das Klinikum für Psychiatrie der Technischen Universität München hat eine
erste Selbsthilfegruppe für Angehörige von Patienten mit Frontotemporaler
Demenz gegründet. Interessierte Angehörige können sich bei der Alzheimer
Gesellschaft München (Tel. 089/47 51 85) melden.
Wünschenswert wären auch Gesprächsgruppen für Kinder und Jugendliche,
für die es bisher nur im Zusammenhang familientherapeutischer Begleitung
Unterstützung gibt. Im Rahmen der Münchner Informationskampagne
„Verstehen Sie Alzheimer?“ können sich am 17. November 2006 Kinder und
Jugendliche bei einem Informationsabend über Demenzerkrankungen
informieren und sich untereinander austauschen.
Angebote, die Angehörige entlasten können
-
Individuelle Therapiemaßnahmen für die Betroffenen (Musik-, Tanz-,
Kunsttherapie, Logopädie und Ergotherapie)
-
geschulte HelferInnen (nach § 45c SGB XI)
-
ambulante Pflegedienste
-
individuelle Betreuung in stationären und teilstationären Einrichtungen
Als weitere Entlastung wünschen sich viele Angehörige, dass sie von Ärzten
und Behörden mit ihren Anliegen ernst genommen werden, die Erkrankung in
der Öffentlichkeit mehr Aufklärung und Akzeptanz findet und die
einschlägigen Berufsgruppen entsprechende Fortbildungen erfahren.
42
Hilfe und Selbsthilfe im Internet
Ingrid Höhnel
Ich bin Ingrid Höhnel. Ich wohne seit 1997 in Radeberg, das liegt ca. 15 km östlich
von Dresden. Doch die längste Zeit meines Lebens lebte ich in Dresden und fühle
mich dort nach wie vor zu Hause.
Dresden ist nicht nur
Elbflorenz
die Stadt der Künste
die Stadt mit dem Zwinger und der Frauenkirche, sondern auch
eine Stadt der Wissenschaften und vor allem der
Elektronik
So wie München schnell mit Siemens in Verbindung gebracht wird, so hatte Dresden
bis 1990 Robotron: die Firma, die in der DDR für Forschung und Entwicklung der
Bürotechnik stand.
Mein Mann war während der 38 Berufsjahre seines Lebens als Diplom-Ingenieur in
der Entwicklung und Produktionsvorbereitung elektronischer Geräte – Bürotechnik,
Computer u.ä. tätig.
Auch ich arbeitete fast 20 Jahre dort, allerdings in der Planung und Abrechnung für
Import und Export – also ich nutzte die Erzeugnisse, an deren Entwicklung mein
Mann beteiligt war. Daher ist es nicht so verwunderlich, dass wir dann auch bei der
Erkrankung unseres Familienoberhauptes den Computer nutzten.
Im Mai 2000 hatten die Veränderungen an meinem Mann einen Punkt erreicht, wo
ich es für richtig hielt, einen Arzt zu konsultieren. Unser Internist ließ ein CT machen
und überwies meinen Mann zum Neurologen. Natürlich war auch das MRT wenig
aussagefähig: starke Faltungen, altersbedingte Veränderungen und als ich mich
nicht damit zufrieden gab, wurde mir zu starke Dominanz vorgeworfen.
Dass wir dann doch noch zu der Diagnose „Frontotemporale Demenz / Morbus Pick“
kamen und zu allen weiteren Behandlungsschritten, ist nur guten Beziehungen und
glücklichen Zufällen zu verdanken.
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Erstes Beispiel: Unser Sohn nutzte den Computer, um mit Hilfe des Internets
Informationen und Erklärungen über die Erkrankung des Vaters zu finden um damit
seinem Vater zu helfen. Bei einer ähnlichen Veranstaltung wie heute sprach mein
Sohn dann Herrn Professor Dr. Kurz an und von ihm bekamen wir eine ausführliche
Studie zum Thema Frontotemporale Demenz.
Zweites Beispiel: Eine Freundin gab mir den Rat, zum Sozialamt zu gehen und mich
beraten zu lassen: Eine Vorsorgevollmacht, das Wissen über diverse rechtliche
Seiten und der Hinweis auf die Selbsthilfegruppen der Alzheimer Gesellschaft
waren dann das Ergebnis und meine dringlichsten nächsten Aufgaben.
Und noch ein drittes Beispiel:
Bei einer Familienfeier beobachtete ein Gast meinen Mann und gab mir dann den
dringenden Rat, Sorge zu tragen, dass mein Mann ergotherapeutische Hilfe
bekommt, um seine Beweglichkeit möglichst lange zu erhalten.
Das waren drei Beispiele aus unserem Erleben mit dieser Krankheit und ich könnte
diese Reihe noch ziemlich lange fortsetzen.
Mein Sohn kam dann auf die Idee dies alles zusammen zu fassen und ins Internet zu
stellen. Dabei ermöglichte ihm die Alzheimer Gesellschaft den Zugang und einige
von Ihnen kennen seine Homepage vielleicht schon. Jedenfalls waren wir sehr
erstaunt darüber, dass seine Seite schon nach kurzer Zeit zu den „Top ten“ der zehn
meist besuchten Seiten zu diesem Thema gehörte und vor allem die Resonanz
beeindruckte uns sehr. Aus den ca. 100 E-Mails, die mein Sohn bekam, wissen wir,
dass fast alle, die mit der Diagnose Frontotemporale Demenz / Morbus Pick
konfrontiert werden, ähnliches erlebten und erleben:
Die erschreckenden Erscheinungsformen der Krankheit
die Hilflosigkeit der Angehörigen und oft
die Inkompetenz und den Zeitmangel bei Ärzten und Krankenkassen
Was kann das Internet nützen und wie können wir damit helfen?
Diese Frage möchte ich aufgliedern:
1. Hilfe für mich, während mein Mann krank war
44
2. Hilfe für Angehörige, die vor dem gleichen Problem stehen und aus
unseren Aufzeichnungen und Erfahrungen Informationen übernehmen
können
3. Hilfe für Krankenkassen, Ärzte und Pflegeeinrichtungen
Zur Hilfe für mich:
Mein Sohn hat manchmal E-Mails, die er von Besuchern seiner Homepage bekam,
an mich weiter geleitet, wenn er das Gefühl hatte, ein Gespräch könnte vielleicht dem
Schreiber helfen. Mir tat es gut, mich über Erlebnisse beim Pflegealltag mit
gleichermaßen Betroffenen auszutauschen. Oft hilft ja schon das Zuhören um sich
besser zu fühlen. Ich lebte allein mit meinem Patienten und ich war auch nicht immer
stark genug, alles zu verstehen und wegzustecken. Wir haben eine intakte große
Familie und viele Freunde. Wenn ich darum bat, war immer jemand bereit zu helfen.
Doch im Alltag ist man allein und die Verantwortung kann man auch nicht abgeben.
Darum tat immer auch ein Gespräch mit einem völlig Fremden, der unter ähnlicher
Belastung stand, sehr gut.
2. Zur Hilfe für andere Betroffene:
Wir haben uns bemüht, unsere Erfahrungen zu sortieren, aufzulisten und etwas zu
beschreiben.
•
solange mein Mann noch mobil war, brauchte ich Hilfe, um Schaden zu
verhindern oder zu minimieren.
•
die vielen Dingen, die meinem Mann in der späteren Phase seiner Krankheit
das Dasein etwas erleichtert haben.
Ich bin überzeugt, dass wir damit schon Manchem helfen konnten.
Und nun zum 3. Teil: meine Zukunftsvision
Diese Krankheit wurde vor über 100 Jahren beschrieben und sie existiert immer
wieder. Sie verläuft meist so wie Arnold Pick sie 1892 beschrieb und Patienten und
deren Angehörige müssen dieses Schicksal ertragen: Eine wirksame Medizin für den
Patienten gibt es nicht und die möglichen Hilfsmittel sind zum großen Teil dem Zufall
und der Findigkeit der Angehörigen überlassen.
45
Was soll nun das Internet daran ändern?
Medizin haben die Kranken dann immer noch nicht, aber das Los der Angehörigen,
die von der Krankheit fast mehr betroffen sind als die Patienten, könnte erleichtert
werden. Die Patienten können ihr Leid wenigstens nicht mehr empfinden – jedenfalls
hat mein Patient mir diesen Eindruck fast bis zum Schluss vermittelt-
Zur Zeit konzentriert sich jede mögliche Hilfe unserer Gesellschaft nur auf den
Patienten. Und was ist mit dem Angehörigen, der zwangsweise dem Patienten das
weitere Leben über einige Jahre ermöglichen muss?
Was würde ich mir dabei vorstellen?
Man müsste und könnte doch den medizinischen Bereichen, die derartige
Krankheiten diagnostizieren, ein Reglement an die Hand geben:
1. Steht die Diagnose zweifelsfrei fest, dann müssen die Angehörigen
ausgebildet werden.
Für alle ist es selbstverständlich, dass die Angehörigen mit dem Problem
zurechtkommen werden. Die Angehörigen sind gezwungen mit dieser
Krankheit umzugehen und sie müssen lernen, wie man pflegt. Pflegen ist ein
schwerer Beruf und auch Angehörigen ist das nicht angeboren.
Die Empfehlung, die wir vom MDK Sachsen im Zusammenhang mit der
Ablehnung einer Kur in Bad Aibling zur erhaltenden Rehabilitation für
Patienten mit Angehörigen bekamen: ..“Eine Schulung der Ehefrau sollte
ambulant durch den betreuenden Arzt erfolgen.“ Das ist utopisch! Welcher
betreuende Arzt hätte wohl dafür Zeit?
2. Die Notwendigkeit der Genehmigung einer Pflegestufe ergibt sich während
des Krankheitsverlaufes. Die Kriterien für die Pflegestufen sind für körperlich
schwache Menschen gemacht und greifen bei der „24 Stunden Betreuung“,
der unsere Patienten bedürfen, nicht. Übergreifende Definitionen könnten den
Krankenkassen die Handhabe zur Genehmigung geben und den Angehörigen
das minutiöse 4 wöchentliche Pflegetagebuch vor jedem Besuch des MDK
ersparen.
46
3. Neurologen sind nicht nur in den Neuen Bundesländern knapp und auch nicht
jeder ist für diese Krankheit spezialisiert.
Wenn nun die Neurologen, die sich auf diese Hirnerkrankung spezialisiert
haben, ihre Spezialisierung auf einer Internetseite anbieten, dann bliebe vielen
Angehörigen die Suche nach einem Spezialisten erspart, ein behandelnder
Hausarzt könnte seinen Patienten gezielt überweisen und Kliniken und
Pflegeeinrichtungen könnten sich professionellen Rat holen.
4. Erst einmal sieht das kostenaufwendig aus, doch es könnten auch teure
Fehler vermieden werden.
Die Angehörigen, die hiervon profitieren würden, sind auch
Krankenversicherte. Sie sind nicht körperlich erkrankt, haben aber ganz
persönlich die Krankheit zu erleiden.
Verehrte Anwesende, ich danke Ihnen dafür, dass Sie zugehört haben.
Ich wünschte mir, dass meine Gedanken aufgegriffen werden und dass ich mit
meiner Reise quer durch Deutschland zu dieser Tagung dazu beitragen konnte,
um das Los aller von dieser Krankheit Betroffenen zu erleichtern.
Mein Sohn machte mit seiner Internetseite einen Anfang und es wäre gut, wenn
dieser Weg von professioneller Seite weiter beschritten würde.
Vielleicht wäre das eine Aufgabe für eine Universität?
Kontakt: http://www.pick-demenz.de/
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Der schwierige Heimalltag – die (Nicht-)Integration von Menschen
mit Frontotemporaler Demenz
Dr. Jan Wojnar, Hamburg
1. Probleme mit der Diagnostik.
Frontotemporale Demenz wurde bereits 1892 unter der Bezeichnung „Picksche
Krankheit“ oder „Morbus Pick“ beschrieben, galt jedoch lange Zeit als eine recht
seltene, schwerste Form präseniler degenerativer Hirnerkrankung mit therapeutisch
unbeeinflussbaren Veränderungen der Persönlichkeit und des Verhaltens. So
glaubte man noch 1973, dass... “die Picksche Atrophie zu den schwersten
Hirnabbauerkrankungen gehört, die Unterbringung in einer geschlossenen
psychiatrischen Abteilung notwendig machen, deren Atmosphäre aber natürlich
ungünstig beeinflussen, ohne dass psychopharmakologische, milieu- oder soziotherapeutische Bemühungen etwas ausrichten können“ (Schulte & Tölle, 1973).
Therapeutischer Nihilismus und immer noch mangelnde Informationen über das
klinische Bild der frontotemporalen Degenerationen und deren Verläufe haben dazu
geführt, dass die Ursache der Störungen nicht erkannt wird und die Betroffenen nicht
selten in der Anfangsphase der Erkrankung mit Verdacht auf eine Alkoholabhängigkeit, abnorme Persönlichkeitsstörung oder schizoaffektive Psychose
psychiatrisch behandelt werden und später mit der Diagnose einer atypischen Form
der Alzheimerkrankheit in Pflegeeinrichtungen untergebracht werden.
Obwohl frontotemporale Degenerationen nach neueren epidemiologischen Angaben
mit ca. 10% die vierthäufigste Demenzursache nach Alzheimerkrankheit, vaskulären
Demenzen und Demenz von Lewy-Body-Typ stellen und bei Erkrankungsbeginn vor
dem 65sten Lebensjahr mit 40% fast so häufig wie Alzheimerkrankheit vorkommen
(Ratnavalli et al., 2002), finden sich in stationären Pflegeeinrichtungen kaum
Bewohner mit dieser Diagnose. Dabei werden bei etwa 60% der Kranken
ausgeprägte Verhaltensstörungen mit psychomotorischer Unruhe, Aggressivität und
Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus beobachtet (Snowden et al., 2001), die
neben dem noch relativ jungem Alter der Betroffenen bei Erkrankungsbeginn, zu den
wichtigsten Risikofaktoren für Institutionalisierung innerhalb von 5 Jahren gehören
(Strain et al., 2003). Die Lebenserwartung der Menschen mit frontotemporaler
Demenz ist von der Begleitsymptomatik abhängig. Mutismus, neurologische
48
Symptome und Einschränkungen der Sprachbildung sind mit einer höheren
Sterblichkeit verbunden. Die Kranken mit schweren Verhaltensauffälligkeiten und
affektiven Störungen wie Antriebsstörungen, Depressivität, Euphorie und Zwänge
leben dagegen deutlich länger (Gräsbeck et al., 2003), was auch die Wahrscheinlichkeit einer Institutionalisierung im Verlauf der Erkrankung erhöhen müsste.
Es kann wohl angenommen werden, dass in allen stationären Pflegeeinrichtungen
Kranke mit frontotemporalen Degenerationen leben, aber meistens in Folge falscher
psychiatrischer Diagnose nicht adäquat medizinisch behandelt und betreut werden.
2. Frontotemporale Degeneration und stationäre Pflegeeinrichtung.
Eine falsche oder fehlende Diagnose kann unangenehmen Folgen für die Kranken
mit frontotemporaler Degeneration haben. Ihre Distanzlosigkeit, ihre abnehmende
Fähigkeit zur sozialen Anpassung mit Normüberschreitungen und
Verantwortungslosigkeit, verletzende Bemerkungen, Neigung zu mimischen,
gestischen und verbalen Imitationen, Utilisation, d.h. Neigung zum ungehemmten
Gebrauch von Gegenständen, die anderen gehören, sowie stereotype Verhaltensweisen mit anhaltendem Klopfen, Pfeifen, Singen, Rufen, erzeugen bei
Mitbewohnern und Pflegepersonal gereizte Stimmung und ablehnende Haltung dem
Kranken gegenüber. Häufig wird unterstellt, dass das störende Verhalten
wohlüberlegt ist, um die Umgebung bewusst zu provozieren. Wenn der Kranke z.B.
in kurzen Zeitabständen vorbeikommt und fragt, wann es Mittagessen geben wird,
nach der Antwort „Um 12 Uhr!“ auf seine Armbanduhr schaut und sagt „also in einer
Stunde und zwanzig Minuten“ und ergänzt „und Kaffee gibt es um vier Uhr!“, wird
nicht mehr an eine Demenzerkrankung oder ungewollte, zwanghafte Störung
geglaubt. Mit Demenz wird meistens fortgeschrittenes Alter, ausgeprägte Störungen
des episodischen Gedächtnisses sowie zeitliche und örtliche Desorientierung
assoziiert. Demenzkranke können auch Emotionen wie Ärger, Traurigkeit oder Ekel
erkennen (Lavenu et al., 1999) und reagieren oft adäquat, was sie sympathischer
und „weicher“ erscheinen lässt, als Menschen mit frontotemporaler Demenz, die eher
den Spiegel negativer, abweisender Emotionen ihrer Umgebung vor Augen halten.
Sie lassen sich kaum in Gruppenaktivitäten einbinden, stören beim Essen, Singen
und Tanzen, reagieren aggressiv auf Zurückweisung, scheinen jedoch durch
Zuwendung kaum erreichbar zu sein und werden oft (vielleicht unbewusst) „bestraft“
durch Verlegung ins Krankenhaus oder durch Behandlung mit Psychopharmaka, die
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zwar zur Dämpfung von Unruhe und Aggressivität bei anderen Demenzformen
zugelassen sind, bei dieser Erkrankung jedoch schwere Nebenwirkungen (bei ca.
33% der Behandelnden) erzeugen können (Pijnenburg et al., 2003).
3. Adäquate stationäre Versorgung für Menschen mit frontotemporaler
Degeneration.
Dass die Fragen nach einer angemessenen stationären Betreuung dieser Kranken
erst jetzt aktuell werden, ist wohl durch die immer noch weit verbreitete Annahme
bedingt, es handle sich nur um seltene Einzelfälle, die überwiegend ambulant, durch
Angehörige versorgt werden. Das Durchschnittsalter beim Erkrankungsbeginn liegt
bei 58 Jahren (35 bis 75 Jahre) (Diehl und Kurz, 2002), viele Betroffene sind
zunächst noch berufstätig, haben noch relativ junge Angehörige und (wie bereits
oben dargestellt) werden lange Zeit unter falschen Diagnosen behandelt, gehören
also nicht zu den typischen Bewohnern der Pflegeeinrichtungen.
Die Fachliteratur beschäftigt sich überwiegend mit Fragen der diagnostischen
Abgrenzung frontotemporaler Degenerationen von anderen Demenzformen, mit
Lokalisierung degenerativer Prozesse, die zu typischen Veränderungen der
Persönlichkeit der Kranken und ihres Verhaltens führen (Dubois & Levy, 2004), sowie
der Suche nach geeigneten Medikamenten zur Behandlung von diesen Störungen.
Es fehlen fundierte Konzepte einer angemessenen Betreuung für Menschen mit
einer frontotemporalen Degeneration im ambulanten Bereich und in den stationären
Pflegeeinrichtungen. Meistens gilt diese Form der Demenz als Ausschlusskriterium
für die Aufnahme in Wohnbereiche für Demenzkranke. Mitarbeiter von Einrichtungen
für Demenzkranke mit ausgeprägten Verhaltensauffälligkeiten sind im Umgang mit
sehr unruhigen, aggressiven und jede Hilfe ablehnenden Demenzkranken erfahren.
Angesichts fehlender Gruppenfähigkeit, einer erheblichen psychomotorischen
Unruhe, stereotypen und aufdringlichen Verhaltensmustern, häufigen verbal und
tätlich aggressiven Ausbrüchen, die mit „üblichen“ therapeutischen Maßnahmen nicht
beeinflusst werden können, sind sie jedoch schnell überfordert.
In den wenigen vorliegenden Publikationen wird immer noch eine langfristige
Behandlung in gerontopsychiatrischen Institutionen empfohlen (z.B. Annerstedt et al.
1996) und überwiegend eine sehr enge, „eins-zu-eins“, Begleitung der Kranken für
notwendig gehalten (z.B. Merrilees und Miller, 2003). Von spezialisierten
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Wohngruppen, die ausschließlich Menschen mit frontotemporaler Demenz betreuen,
wird abgeraten.
In den Wohnbereichen der Besonderen Stationären Dementenbetreuung in Hamburg
wurden in den letzten 5 Jahren insgesamt 23 Kranke betreut, die diagnostische
Kriterien einer frontotemporalen Degeneration (Neary et al., 1998) erfüllten. Nur bei 3
von ihnen wurde bereits vor der Aufnahme eine frontotemporale Demenz
diagnostiziert. Alle übrigen kamen mit der Diagnose einer Alzheimerkrankheit oder
Demenz unklarer Genese und konnten erst anhand der klinischen Symptomatik in
der Einrichtung richtig zugeordnet werden. Die Betreuung einer relativ hohen Zahl
von Patienten mit einer frontotemporalen Degeneration wurde durch falsche
Diagnosen erzwungen, führte jedoch im Laufe der Zeit zu einigen interessanten
Erkenntnissen. Die Beobachtungen des Verhaltens der Betroffenen, der Reaktionen
anderer Demenzkranker und die Erfahrungen der Betreuungsteams zeigten, dass
eine gute stationäre Versorgung dieser Kranken unter bestimmten Rahmenbedingungen durchaus möglich und für alle erträglich ist.
Wenn Kranke mit einer frontotemporalen Degeneration (FTD) die Reaktionen ihrer
Umgebung (auf das Verhalten der Kranken) unreflektiert spiegeln (Bild 1.), werden
sie unter psychisch gesunden, kritisch und ablehnend wirkenden Menschen
zwangsläufig zunehmend gereizter und aggressiver, was zu einer Eskalation der
negativen Gefühle führen muss.
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Bild 1. (nach Dubosi & Levy, 2004)
Gerontopsychiatrisch gut ausgebildetes Betreuungsteam und Demenzkranke als
soziale Umgebung reagieren dagegen meistens mit Geduld und Zuwendung.
Demenzkranke ärgern sich selten über wiederholte Fragen oder zwanghafte
Handlungen, weil sie das „soeben Gewesene“ schnell vergessen. Die anhaltenden
Klagen, das Stöhnen oder Schreien halten sie oft für den Ausdruck einer
schmerzhaften Erkrankung, versuchen Hilfe zu holen oder trösten zärtlich den
Betroffenen. Wenn die Wohngruppe ausreichend groß ist (z.B. über 20 Bewohner),
besteht bei Überforderung für alle die Möglichkeit des Rückzugs. Die meisten
Kranken mit einer frontotemporalen Demenz sind noch relativ gut örtlich orientiert
und finden recht sicher ihre Zimmern. Obwohl sie sich häufiger „zwischendurch“ in
fremden Betten ausruhen, reagieren sie ungehalten auf Störungen, wenn sie „bei
sich sind“. Es ist deshalb notwendig, sie in einem Einzelzimmer zu unterbringen. Bei
guter personeller Besetzung ist es möglich, die gespannte Atmosphäre schnell durch
Ablenkung des Kranken (z.B. Spaziergang oder Anbieten von bevorzugten Speisen)
zu entschärfen. In einem multiprofessionellen Team können auch Musik-, Kunstoder Ergotherapeuten dem Kranken helfen, seine Affektschwankungen durch
vorübergehende Fokussierung der Aufmerksamkeit auf kreative Aktivitäten zu
glätten.
Eine enge Zusammenarbeit mit den Angehörigen ist für die Lebensqualität der
Kranken mit frontotemporaler Degeneration in stationärer Betreuung unerlässlich. Die
meisten Kranken freuen sich sehr über Besuche, gehen gerne Spazieren, Einkaufen
oder auswärts Essen, sie können sogar das Wochenende zu Hause verbringen.
Häufig werden notwendige pflegerische Maßnahmen nur dann geduldet, wenn sie
von Angehörigen durchgeführt werden.
Trotz aller geschilderten Maßnahmen und Anstrengungen bleiben Menschen mit
frontotemporaler Degeneration sehr schwierig und belasten ihre Umgebung. Nur
selten gelingt es den Demenzkranken durch viel Engagement erstaunliche Erfolge zu
erzielen. So bezeichnete eine Dame mit vaskulärer Demenz eine sehr kleine
Mitbewohnerin mit frontotemporaler Demenz als „gelbes Tierchen“. Das Schreien
und Klopfen mit der Hand an die Wände und Tischplatten interpretierte sie als
verzweifelte Versuche der Verständigung und mit bewundernswerter Geduld
bemühte sie sich, „dem Tierchen“ alles zu erklären und das Sprechen beizubringen.
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Wenn „das Tierchen“ bei Berührung versuchte, die Hand zu ergreifen und zu beißen
glaubte sie, dass „es“ hungrig sei und besorgte „Leckerlis“. Sie beschützte ihr
„Tierchen“ vor unfreundlichen Menschen und erlebte bereits nach wenigen Wochen
eine erstaunliche Metamorphose ihres Schützlings. „Das Tierchen“ wurde
freundlicher und leiser, konnte sogar „Lass das!“ und „Komm mit!“ sagen und ging
gerne Hand in Hand spazieren, ohne zu beißen. Bald darauf erkannte eine andere
Demenzkranke in „dem Tierchen“ (inzwischen von allen „Ella“ genannt) ihre kleine
Tochter und kümmerte sich rührend um sie. Keiner dürfte „Ella“ unfreundlich
ansprechen und nur „der besten Freundin“ der „Mutter“, ebenfalls einer
demenzkranken Frau, hat sie erlaubt „Ella“ zu bestrafen (mit leichten Schlägen),
wenn diese zu laut oder „nicht artig“ war. „Ella“ schien ihre neue Situation zu
genießen (Bild 2.).
Medikamente, die keine Veränderung des Verhaltens bewirkt haben, konnten
weitgehend abgesetzt werden.
Bild 2.
Diese Erfahrungen zeigen, dass gute stationäre Betreuung Kranker mit einer
frontotemporalen Demenz unter bestimmten Rahmenbedingungen möglich ist. Es ist
sinnvoll:
-
einzelne Kranke mit frontotemporaler Degeneration in größeren
Wohnbereichen für Demenzkranke mit ausgeprägten
Verhaltensauffälligkeiten zu betreuen,
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-
sie unbedingt in Einzelzimmern unterbringen,
-
die Betreuenden (und Angehörige) mit dem Krankheitsbild und zu
erwartenden Schwierigkeiten vertraut zu machen,
-
das Betreuungsteam multiprofessionell zusammenzustellen,
-
mit den Angehörigen sehr eng zusammenarbeiten und
-
sehr sorgfältig mit den Psychopharmaka umzugehen.
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LITERATUR
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