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Wie soll man Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in
Polen und Deutschland untersuchen?
Michał Łuczewski, Paulina Bednarz-Łuczewska
Die wichtigste Frage in diesem Kontext lautet wohl: Wozu?1 Erstens, um sie zu
beschreiben, und zweitens, um die Erinnerungskulturen und Geschichtspolitiken
(EK und GP) beider Länder zu erklären. Diese Ziele wollen wir in einer komparativen Perspektive realisieren. Denn ohne einen Vergleich der Fälle wäre ihre
Erklärung und Beschreibung nicht möglich (Gerring 2004). Das löst natürlich
nicht die methodologischen Probleme, denn für die Analyse empirischen Materials kann ein Sozialwissenschaftler sehr unterschiedliche Methoden nutzen. So
kann er zum Beispiel die Errungenschaften der Museumswissenschaften oder der
Erinnerungssoziologie (Assmann 1995, 2009; Halbwachs 1969; Lenz und Welzer 2005; Nora 1989; Olick und Robbins 1998; Szacka 2006) verwenden. Er
kann sich auch auf die Kulturgeschichte (Hartwig und Wehler 1996) oder auf die
ästhetischen Theorien berufen (Morawski 2007).
In unserer Arbeit haben wir uns aus mehreren Gründen für keine dieser Optionen entschieden. Erstens halten wir sie für zu einseitig, zu gebunden in den
Rahmen ihrer Disziplinen, was zu einer – wie es Raymond Boudon (2001: 1–14)
treffend formulierte – „anomischen Arbeitsteilung“ führt. Die Ästhetiker beschäftigen sich mit Ästhetik, ohne die Erkenntnisse der Sozialwissenschaftler zu
nutzen, die Soziologen betreiben Sozialwissenschaften und werfen dabei nur
ungern einen Blick in die Arbeiten der Historiker. Und die Museumswissenschaftler bilden eine Welt für sich.
Zweitens kann, da Erinnerungskultur und Geschichtspolitik per definitionem
die Sphäre der Werte betreffen, ihre Analyse auch wertend werden, und da sie
den Wert einer konkreten Nation betreffen, kann ihre Analyse der Legitimierung
nationaler Werte dienen. Es ist doch offensichtlich, dass der Kampf zwischen
den nationalen EK und GP auch auf der Ebene wissenschaftlicher Debatten stattfinden kann und dass die Akademiker, indem sie sich hinter ihrer neutralen Sprache verstecken, die eigene Kultur und Politik unterstützen und die Kultur und
1
Für die wertvollen Hinweise möchten wir uns bei der Rezensentin, Frau Prof. Barbara Szacka
bedanken, außerdem bei Joanna Wawrzyniak, Piotr Filipkowski, Karolina Wigura, Agata
Stasik, Zofia Wójcicka und bei den anderen Teilnehmern des Seminars zur kollektiven Erinnerung am Institut für Soziologie der Universität Warschau. Die Verantwortung für alle hier formulierten Thesen übernehmen selbstverständlich die Autoren.
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Politik anderer Völker dabei in Frage stellen können. Auf diese Weise reproduzieren sie bewusst oder unbewusst die EK und GP, anstatt sie zu beschreiben und
zu erklären (Brubaker und Cooper 2000). Diese Gefahr ist in der Museumswissenschaft am größten, denn das ist die Disziplin, die am engsten mit dem
Gedenken an die Vergangenheit des jeweiligen Volkes verbunden ist. Das wird
u. a. in populären Gegenüberstellungen wie „das Museum als Agora“ gegen „das
Museum als Tempel“ sichtbar, die – wenn man sie anstatt für die Analyse von
Kunstmuseen für die Analyse von der Erinnerung gewidmeten Museen verwendet – suggerieren, dass die (demokratische) „Agora“ etwas Besseres sei als der
(monologistische) „Tempel“ (Cameron 1972). Dies trifft auch für die Begriffe
Erinnerungskultur und Geschichtspolitik zu, die von deutschen Forschern in den
wissenschaftlichen Diskurs eingebracht wurden, wobei ersterer positiver konnotiert wird (Assmann 2006: 273). Wie es scheint, ist die Situation in Polen ähnlich. Trotz dieser Tendenzen schreiben wir in unserer Analyse diesen Begriffen
keine wertende Bedeutung zu, sondern bemühen uns, sie als neutrale Kategorien
zu behandeln, die dazu dienen, die gesellschaftliche Realität zu beschreiben und
zu erklären.
1. Theorie der gesellschaftlichen Bewegungen
Aus diesen Gründen haben wir uns dafür entschieden, nach einer Herangehensweise zu suchen, die über die Trennungen zwischen den einzelnen Disziplinen
hinausgeht und gleichzeitig frei sein würde von der Gefahr versteckter Bewertungen. Wir sind zu dem Schluss gelangt, dass die moderne Theorie der gesellschaftlichen Bewegungen uns das beste Instrumentarium liefern wird, das sich
auf die Konzepte eines der herausragendsten Soziologen und Historiker des
20. Jahrhunderts, Charles Tilly (2005), stützt. Warum?
Wir sind der Ansicht, dass diese Theorie es erlaubt, alle richtigen Intuitionen
zu integrieren, die in den einzelnen Perspektiven enthalten sind und zugleich eine
breite erklärende Optik liefert. Mit anderen Worten: Sie erlaubt, all das zu behalten, was in den Teilherangehensweisen gut ist und zugleich weit über diese hinauszugehen.
Zweitens hören wir dank der Theorie der gesellschaftlichen Bewegungen auf,
die EK und GP als Phänomene an sich zu betrachten, die man mit Hilfe nur eines
einmaligen Instrumentariums untersuchen sollte. Nein, Gedächtnis und Politik
sind Teile gesellschaftlicher Phänomene (was bereits Maurice Halbwachs 1969
in seiner klassischen Arbeit zum Thema der Beziehungen zwischen gesellschaftlichem Gedächtnis und Klasse aufgezeigt hat) und unterliegen denselben Geset16
zen wie die gesamte Gesellschaft. Man sollte sie also aus einer breiteren Perspektive betrachten.
Drittens erlaubt uns die Theorie der gesellschaftlichen Bewegungen zu sehen,
dass die gesellschaftliche Realität dynamisch ist und sich ständig verändert.
Zugleich zeigt sie auf, dass unsere Identitäten keinen Gruppen- oder individuellen Charakter haben, sondern einen Beziehungscharakter. Denn jede Beziehung
eines gesellschaftlichen Subjekts zu einem anderen gesellschaftlichen Subjekt
führt dazu, dass seine Identität verändert wird. Die Polen wären ohne die Deutschen andere Polen, die Deutschen ohne die Polen andere Deutsche.
Viertens spricht auch für diese Herangehensweise, dass sie sich durch ein relativ fortgeschrittenes Stadium auszeichnet und eine der wenigen Bereiche der
Gesellschaftswissenschaften ist, in denen man von einer konsequenten Wissenskumulation sprechen kann (Collins 1994, 1999; Tarrow 1999; Tilly 1999). Unter
ihren dominierenden Trends sollte man folgende erwähnen: die Perspektive der
Ressourcenmobilisierung (resource mobilization; McCarthy und Zald 2001), die
die Möglichkeit der Ressourcengewinnung durch gesellschaftliche Bewegungen
betont (vor allem in Gestalt von Befürwortern und Fonds); die Perspektive des
politischen Prozesses (political processes theory; PPT; McAdam 1982; Tarrow
1994), die vor allem den politischen Kontext der Bewegung erforscht (Macht des
Staates, sein demokratischer versus autoritärer Charakter, die Teilung der politischen Eliten usw.) sowie die interpretative Perspektive, die sich mit der Rhetorik
der gesellschaftlichen Bewegungen beschäftigt (framing; Benford und Snow
2000). Heute, nach einer Phase der Zersplitterung durch einander bekämpfende
Schulen und Herangehensweisen, sind die Hauptbemühungen der Wissenschaftler darauf gerichtet, all diese Strömungen in einer kohärenten Perspektive zu
vereinigen (Snow et al. 2007). Und dieser Spur möchten wir in unserer Arbeit
folgen (McAdam et al. 2001).
Neben den oben erwähnten methodischen Gründen, die für eine Verwendung
der Theorie gesellschaftlicher Bewegungen für die Analyse von EK und GP
sprechen, existiert noch ein weiterer inhaltlicher Grund: Wir analysieren EK und
GP anhand von Erinnerungsorten, definieren aber diesen Begriff traditioneller
und wörtlicher als Pierre Nora (1989), der ihn in den wissenschaftlichen Diskurs
eingeführt hat. Uns geht es um konkrete Orte im geographischen Raum, d. h. um
Orte, die an die Vergangenheit erinnern, z. B. ein Museum oder ein Denkmal
(siehe Kończal 2009: 211). Die Initiatoren solcher Erinnerungsorte hatten oft im
Sinn, zu etwas zu mobilisieren. In diesem Sinne kann ein solcher Ort sowohl
durch gesellschaftliche Bewegungen (von unten) als auch vom Staat (von oben)
geschaffen und zur Erreichung bestimmter Ziele genutzt werden. Erinnerungsorte dienen also – wie wir zeigen werden – gesellschaftlichen Bewegungen und
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dem Staat oft der Mobilisierung, was uns einen inhaltlichen Grund für die Verwendung der Theorie gesellschaftlicher Bewegungen liefert.
Wir möchten betonen, dass EK und GP an sich keine gesellschaftlichen Bewegungen sind, denn dies wäre ein anderes Phänomen. Wir glauben aber, dass
die Untersuchung von EK und GP anhand der Theorie gesellschaftlicher Bewegungen methodisch und inhaltlich sinnvoll ist. Die folgenden empirischen Analysen und ihre Zusammenfassung werden ein Test für unsere Methodenwahl
sein, denn nur empirische Forschung vermag es, die Eignung einer gegebenen
Theorie zu überprüfen.
In den folgenden Schritten werden wir das aus unserer Herangehensweise
folgende Forschungsprogramm der EK und GP vorstellen. Wir werden es definieren, indem wir die Unterschiede zwischen Erinnerungskultur und Geschichtspolitik aufzeigen und dann die Kategorien der Beschreibung und Erklärung vorstellen, die wir für die Analyse der einzelnen Erinnerungsorte anwenden werden.
2. Definition der EK und GP
Erinnerungskultur und Geschichtspolitik sowie der oft synonym gebrauchte
Begriff Vergangenheitspolitik werden in Deutschland seit Beginn der 1990er
Jahre vermehrt verwendet. Wir werden hier die Entstehungsgeschichte dieser
Begrifflichkeiten nicht vertiefen (siehe besonders Frei 1999; Kohlstruck 2004:
178–181; Troebst 2005: 2–9). Es genügt festzuhalten, dass sie bis heute nicht
eindeutig definiert sind und oft gleichbedeutend angewandt werden (Assmann
2006: 273–274; Nijakowski 2008: 41). Das, was beispielsweise für Edgar
Wolfrum (1999, siehe Mazur 2009) den Charakter von Geschichtspolitik hat, ist
für Michael Kohlstruck (2004) eher ein Beispiel für Erinnerungskultur.
Dennoch ist in der Literatur eine Tendenz zur analytischen Unterscheidung
beider Termini zu erkennen. Während der Begriff Geschichtspolitik, der im
Zusammenhang mit dem Historikerstreik der 1980er Jahre geprägt wurde, mit
staatlicher Politik in Zusammenhang gebracht wird (siehe Leggewie und Meyer
2005), assoziiert man Erinnerungskultur eher mit der Zivilgesellschaft. Geschichtspolitik verweist dabei eher auf offizielle Feierlichkeiten, Erinnerungskultur eher auf die Praktiken des alltäglichen Lebens (Kohlstruck 2004, Troebst
2005).
EK und GP können wir sowohl als Struktur als auch als Prozess betrachten
(siehe van Dijk 2001). Verwendet man die klassische Typologie von Jerzy Szacki (1971: 98–146), könnten wir sagen, dass EK und GP sowohl objekt- als auch
tätigkeitsbezogen verstanden werden kann. Im ersteren Fall legen wir besonderes
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Augenmerk auf den Inhalt, auf das was gezeigt wird, im zweiten Fall interessiert
uns die praktische Umsetzung, d. h. wie die gegebenen Inhalte präsentiert werden. Es scheint, dass in der Literatur das tätigkeitsbezogene Interesse an EK und
GP überwiegt, denn wenn wir an Inhalte denken, verwenden wir Begriffe wie
gesellschaftliche Vorstellungskraft, Nationalismus oder Ideologie (Anderson
1997, Baczko 1994, Gellner 1991).
Auf diesen Überlegungen aufbauend, möchten wir hier eine vorläufige Definition von EK und GP vorschlagen: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik sind
Praktiken, die eine Vorstellung über die Vergangenheit eines Volkes konstruieren. In diesem Sinne gehören alle Tätigkeiten gesellschaftlicher und politischer
Akteure, die zur Entstehung eines bestimmten Geschichtsbildes beitragen, zur
EK und GP. Aus diesen Praktiken folgt, dass aus tatsächlichen oder imaginären
historischen Ereignissen (a) bestimmte Fakten ausgewählt werden, (b) andere
Fakten ignoriert werden und antagonistische oder positive Beziehungen innerhalb eines Volkes (c) oder zwischen Völkern (d) vorgestellt werden. Darüber
hinaus werden verschiedene Schlussfolgerungen (e) über die Gründe eines historischen Ereignisses und seine Folgen (f) gezogen.
Wir möchten versuchen, Erinnerungskultur und Geschichtspolitik als zwei
verschiedene Praktiken zu unterscheiden, die die Vergangenheit eines Volkes
betreffen. Dabei hilft uns eine Typologie, die wir auf zwei Dimensionen aufbauend konstruiert haben:2
(a) Das Subjekt der Praktik. Wer ist dazu in der Lage, Praktiken gegenüber der
Vergangenheit zu realisieren? Schematisch unterscheiden wir drei Ebenen:
Individuen (individuelle Praktiken, Mikro-Ebene), Gruppen und gesellschaftliche Institutionen (Kollektivpraktiken im Rahmen der Zivilgesellschaft, Meso-Ebene), den Staat (Praktiken staatlicher Institutionen, MakroEbene). Sich auf die Vergangenheit eines Volkes beziehende Praktiken können von unten realisiert werden (Individuum  Gesellschaft  Staat) oder
von oben (Staat  Gesellschaft  Individuum), durch schwächere (Individuen) oder stärkere (Staat) Subjekte.
(b) Das Medium der Praktik. Auf welche Art und Weise werden Visionen über
die Vergangenheit artikuliert? Erneut unterscheiden wir hier drei Ebenen:
das Individuum (ein beliebiger Bürger erinnert sich an die Vergangenheit
Polens, Ebene der Internalisierung), den Diskurs (die Vision eines beliebigen
Bürgers über die Vergangenheit wird in der Zeitung oder im Fernsehen präsentiert, Ebene der Externalisierung), kulturelle Artefakte (die Vision eines
2
Wir beziehen uns hier auf die klassischen Arbeiten von Halbwachs (1969), siehe auch Assmann (1995), Lenz und Welzer (2005) sowie Billig (2008) und Mucha (1996) und in diesem
Band siehe Text von Benedikt Volbert über die Gedenkstätte Buchenwald.
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beliebigen Bürgers über die Vergangenheit wird an einem Erinnerungsort,
d. h. in einem Museum oder Denkmal verewigt, Ebene der Objektivierung).
Mit dem Übergang vom Individuum zum Diskurs und schließlich zum kulturellen Artefakt werden die die Vergangenheit eines Volkes betreffenden
Praktiken dauerhafter und objektivierter.
Von EK und GP können wir erst dann sprechen, wenn wir die individuelle Sphäre verlassen und uns in die gesellschaftliche/staatliche Sphäre begeben bzw. auf
die Ebene des Diskurses und der kulturellen Artefakte. Erinnerungskultur ist
eine Praktik gegenüber der Vergangenheit, die von der Gesellschaft realisiert
wird, Geschichtspolitik eine Praktik gegenüber der Vergangenheit, die der Staat
realisiert. Mit anderen Worten kommt die Geschichtspolitik von oben (top-down,
state-led), die Erinnerungskultur jedoch von unten (bottom-up, society-driven)
(Tilly 2005). Sowohl Erinnerungskultur als auch Geschichtspolitik können im
Diskurs externalisiert werden (einerseits können Organisationen der Zivilgesellschaft auf der Ebene der Erinnerungskultur Medienkampagnen initiieren, andererseits kann der Staat auf der Ebene der Geschichtspolitik die Massenmedien
beeinflussen). Ebenso möglich ist eine Objektivierung in kulturelle Artefakte
(wenn staatliche Akteure Erinnerungsorte schaffen, sprechen wir von Geschichtspolitik, tun dies gesellschaftliche Institutionen, sprechen wir von Erinnerungskultur).
Man kann dies schematisch in der folgenden Tabelle darstellen:
Praktiken gegenüber
der Vergangenheit
kollektiv
(Zivilgesellschaft)
politisch (Staat)
Diskurs
(Ebene der
Exernalisierung)
Erinnerungskultur
Realisiert von der Gesellschaft durch Diskurs
Geschichtspolitik
Realisiert vom Staat
durch Diskurs
Kulturelle Artefakte
(Ebene
der Objektivierung)
Erinnerungskultur
gefestigt in Denkmälern
und Museen
Geschichtspolitik
gefestigt in Denkmälern
und Museen
Tabelle 1: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik
Die vorgestellte Typologie erlaubt es uns, die Dynamik der Praktiken gegenüber der Vergangenheit greifbar zu machen. Wir haben die Begriffe Externalisierung und Objektivierung der Vorstellungen von Vergangenheit eingeführt. Wir
möchten noch betonen, dass Erinnerungskultur auch durch den Staat vereinnahmt werden kann, und dass es möglich ist, dass Geschichtspolitik von Erinnerungskultur eingenommen werden kann, wenn das von ihr konstruierte Ge20
schichtsbild von der Gesellschaft akzeptiert wird. Mit anderen Worten: Erinnerungskultur kann ein Ergebnis vorhergehender Geschichtspolitik sein und Geschichtspolitik kann sich auf Grundlage von Erinnerungskultur entwickeln.
3. Erklärung und Beschreibung der EK und GP
In unseren Untersuchungen konzentrieren wir uns auf einen Ausschnitt der auf
diese Weise verstandenen EK und GP. Wir beschäftigen uns nicht mit dem Diskurs über Begrifflichkeiten, sondern mit Erinnerungsorten: Denkmälern und
Museen, die sowohl von gesellschaftlichen Organisationen (Erinnerungskultur)
als auch vom Staat (Geschichtspolitik) geschaffen werden.
Die Theorie der gesellschaftlichen Bewegungen verlangt die Erklärung des
Phänomens, zwei Verfahren miteinander zu verbinden. Zunächst muss man den
gesellschaftlichen Kontext des jeweiligen Museums/Denkmals aufzeigen, sowohl den politischen als auch den kulturellen. Wir überlegen also, ob die Idee
des lieu de memoire mit Unterstützung oder Widerstand der Politiker (politischer
Kontext) und anderer führender Meinungsmacher der Öffentlichkeit, wie Journalisten oder Wissenschaftler (kultureller Kontext), rechnen konnte. Weiterhin
muss gezeigt werden, auf welche Weise die Interaktionen zwischen den einzelnen Individuen/Gruppen/Institutionen/Organisationen, die in dem jeweiligen
– günstigen oder ungünstigen – gesellschaftlichen Kontext stattfanden, zur Entstehung und Entwicklung des jeweiligen lieu de memoire geführt haben. Meistens begegnen sich hier Kultur und Politik an einem Ort, wobei man zwei
Hauptwege der Gestaltung eines Denkmals/Museums unterscheiden kann: topdown (charakteristisch für die Geschichtspolitik) und bottom-up (charakteristisch
für die Erinnerungskultur).
Der Kontext und die Interaktionen zwischen den gesellschaftlichen Subjekten
führen zur Entstehung eines Erinnerungsortes. Aber damit ist noch nicht Schluss.
Jeder Erinnerungsort repräsentiert eine andere nationale/staatliche Ideologie. Um
diese näher zu beschreiben, werden wir drei Phänomene betrachten. Erstens,
welche Identität der jeweilige Ort konstruiert (meistens spiegelt sich das in seinem Namen wider). Zweitens, auf welche Beziehungen zwischen der jeweiligen
Identität und anderen Identitäten geachtet wird – ob auf Konflikte oder auf Zusammenarbeit, wie stark Konflikte/Zusammenarbeit sind, wer zu „uns“ und wer
zu „denen“ gerechnet wird. Schließlich und drittens, welche Erzählungen um die
jeweilige Identität und die Beziehungen, die sie mit anderen Identitäten verbindet, gesponnen werden; und insbesondere, ob die jeweilige Gruppe als WUNC
(worthy, united, numerous und committed) dargestellt wird (Tilly 2005).
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Die letzte Etappe der Analyse des Erinnerungsortes ist der Versuch, die Frage
nach seinen gesellschaftlichen Folgen zu beantworten. Wir wollen also zuerst
erfahren, welche Forderungen er an die öffentlichen und politischen Sphären
stellt, was er also bei den Politikern (wenn er ein Element der Geschichtspolitik
ist), Journalisten oder Wissenschaftlern (wenn er ein Element der Erinnerungskultur ist) sowie beim breiten Publikum erreichen will. Zweitens, welche Mittel
er zu diesem Zweck benutzt, wie sein Repertoire und seine Kampagne aussehen.
Und schließlich drittens, ob diese effektiv sind (hier: quantitative und qualitative
Faktoren).
Kurz gesagt sollte die vollständige Analyse der Erinnerungsorte, die wir in
unserer Arbeit untersuchen, folgende sechs Forschungsetappen durchlaufen:
A. Politischer und kultureller Kontext
B. Handlungen der Akteure
– top-down (GP)
– bottom-up (EK)
C. Identität
• Benennung der Identität
• Beziehungen
• Erzählungen (WUNC)
D. Ziele
E. Mittel
• Kampagne
• Repertoire
F. Effektivität
4. Zusammenfassung
Dem obigen Schema folgend hat ein Forscherteam aus Polen und Deutschland
eine Analyse der einzelnen Erinnerungsorte in beiden Ländern durchgeführt.
Dank dessen ist ein systematischer Vergleich der polnischen und deutschen EK
und GP möglich, hinsichtlich
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– ihres politischen und kulturellen Kontextes (In welchem Land ist er günstiger?
Für welche Art von Initiativen?)
– ihrer Handlungen der Akteure (Werden sie von der Gesellschaft oder vom
Staat initiiert? Welche Art von Handlung kommt von oben und welche von
unten? Lassen sich irgendwelche Richtungen der Wandlung der EK und GP
aufzeigen?)
– ihrer Identitäten (Wer ist das Objekt des Gedenkens? Welche Erzählungen
werden um die Gruppen, derer gedacht wird, konstruiert, mit welchen anderen
Gruppen werden sie in Verbindung gebracht?)
– ihrer Ziele (Welche Ziele schweben den Organisationen vor, die der Vergangenheit gedenken? Wer ist ihr Hauptempfänger?)
– ihrer Mittel (Welches Repertoire wird benutzt? Ist es traditionell oder innovativ?)
– ihrer Ergebnisse (Wie ist die Effektivität der Handlungen?)
5. Fallstudien
Im Folgenden werden 19 Fallstudien vorgestellt: neun aus der polnischen EK
und GP und 10 aus der deutschen. Um das Bild zu vervollständigen, verweisen
wir in der Zusammenfassung auch auf das Museum des Warschauer Aufstands.
Damit untersuchen wir letztendlich 20 Fälle, zehn aus jedem Land. Die Analysen
sind chronologisch nach dem Datum der Entstehung der Institutionen angeordnet, beginnend mit den ältesten und endend mit den sich noch im Planungsprozess befindenden Projekten. Die Vorstellung der Fälle wird demnach mit den
Untersuchungen des Museums Auschwitz-Birkenau und der Gedenkstätte Buchenwald eröffnet und endet mit dem Museum des Kommunismus und dem
Lapidarium im Warschauer Stadtteil Białołęka.
Obwohl die vorliegende Arbeit die erste ist, die zu diesem Thema eine große
Anzahl von Fällen analysiert, müssen wir betonen, dass unsere Fallauswahl nicht
als repräsentativ gelten kann. Wir stellen zwar das bisher umfangreichste Bild
zweier Erinnerungskulturen vor, aber dieses Bild ist nicht endgültig.
Wir wollten den Autoren keine konkreten Institutionen vorschlagen, sondern
haben lediglich darauf geachtet, dass einige der wichtigsten Institutionen, die in
den vergangenen 20 Jahren (dem Zeitraum der massiven Expansion von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur) entstanden sind, darunter vertreten sind.
Außerdem war uns wichtig, dass lokale Institutionen (Lapidarium in Białołęka,
Museum Kreuzberg) sowie die bedeutendsten noch vor 1989 entstandenen Einrichtungen (Museum Auschwitz-Birkenau, Gedenkstätte Buchenwald) darunter
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sind. Die fehlende Repräsentativität der vorgestellten Analysen verbietet es uns,
endgültige Schlussfolgerungen zu ziehen. Dennoch sind wir der Meinung, dass
sie zur Bildung starker Hypothesen berechtigen. Die Stärke der Hypothesen
beruht vor allem auf ihrem Ursprung in den Theorien zur Erklärung gesellschaftlicher Bewegungen.
Mit dieser Arbeit ist der erste Schritt in Richtung einer vergleichenden Untersuchung zweier Erinnerungskulturen getan. Wir hoffen, dass die Analysen dieser
Publikation als Ausgangspunkt und als Inspiration für weitergehende Forschungen nützlich sein können, die zur Weiterentwicklung unserer Hypothesen und
Ergebnisse beitragen.
6. Anhang
Kleines Wörterbuch zur Theorie von Charles Tilly
Contentious politics
1. gesellschaftliche Bewegung,
Revolution, kollektive Handlung
2. Politik, die auf Auseinandersetzung und den Ansprüchen
von Gruppen beruht
1. Social movements, revolutions and collective
action.
2. Collective, public making of claims that involves
governments (at least as third parties) and, if
realized, affects the interests of those claims’
objects.
Contentious gatherings
Occasions on which people outside the government
Versammlung, die die Ansprüche gathered in publicly accessible places and made
von Gruppen formuliert
collective claims on others.
Examples of collective claims
1. Anspruch auf Identität
2. Anspruch auf Repräsentation
3. Anspruch auf Einflussnahme
auf das „Programm“
1. Identity claims declare that „we“—the
claimants—exist. Such claims commonly
include a name for „us“.
2. Standing claims assert ties and similarities to
other political actors, for example as excluded
minorities, or loyal supporters of the regime.
3. Program claims involve stated support for or
opposition to actual or proposed actions by the
objects of movement claims.
Social movement
Campaign + repertoire + WUNC displays.
Campaign
Kampagne
A sustained, organized public effort making
collective claims on target audiences
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Social-movement repertoire
Repertoire einer
gesellschaftlichen Bewegung
Political action such as: creation of special purpose
associations and coalitions, public meetings, solemn
processions, vigils, rallies, demonstrations, petition
drives, statements to and in public media, and pamphleteering. Its purpose is to dramatize the demands
for recognition, programs and the movement’s special character.
WUNC displays
Repräsentieren von EVZE,
Präsentieren der eigenen Gruppe
als ehrenhaft (worthy), vereinigt
(united), zahlreich (numerous)
und engagiert (committed)
Participants' concerted public representations of
worthiness, unity, numbers and commitment
(WUNC) on the part of themselves and/or their
constituencies. They aim at suppression of all signs
of division, weakness, corruption or triviality in the
public image presented by the movement.
Identity
Relations within in-group + relations within
out-group relations across the boundary + stories
about them
Regime
Regime, Staat
Government capacity + democracy
Democracy
1. Protected consultation
1. respektierter Volkswille
2. Broad citizenship + equal citizenship + binding
2. allgemeine und gleiche
consultation of a government's population with
Bürgerrechte + Respektierung
respect to governmental personnel, resources, and
des Volkswillens + Schutz des
policy + protection of that population (especially
Volkes vor Willkür durch die
minorities within it) from arbitrary action by
Regierung
governmental agents
Government capacity
The effectiveness of the government’s reach
Leistungsfähigkeit der Regierung
Tabelle 2: Wörterbuch zur Theorie von Charles Tilly
7. Quellenangaben
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