„…über dir Flügel gebreitet“ Predigt zum biblischen Bild von Gottes
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„…über dir Flügel gebreitet“ Predigt zum biblischen Bild von Gottes
„…über dir Flügel gebreitet“ Predigt zum biblischen Bild von Gottes Flügeln. Ps 63,8 u.v.a. Auch wenn Sie nur wenig religiöses Musikgehör haben sollten, so kennen Sie doch gewiss zwei religiöse Grunderfahrungen, Erfahrungen, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Erstens Dankbarkeit, dass man in grosser Gefahr wunderbar bewahrt blieb, und zweitens bittere Enttäuschung, dass in grosser Not Gebete nicht erhört wurden. Beide Erfahrungen gehören zum Leben, für Gläubige wie für Atheisten; nur reden letztere nicht von Gott, sondern von Glück oder Pech. Sicher könnten Sie Beispiele aus Ihrem Leben erzählen zum Thema: „Gott bewahrt wunderbar“, und zugleich „Gott hilft nicht“. Von beidem will ich heute reden: Mit dem Positiven fange ich an. Psalm 63,8: „Ja, Du wurdest meine Hilfe. Ich frohlocke im Schatten deiner Flügel.“ Da ist einer überglücklich, weil er wunderbare Hilfe erfahren hat. Und da kommt das merkwürdige Bild von den Flügeln. Hat Gott denn Flügel? Darauf wäre ich noch nie gekommen, aber da steht: „Im Schatten deiner Flügel.“ Und gesungen haben wir es auch: „In wie viel Not, hat nicht der gnädige Gott, über dir Flügel gebreitet!“ Wenn wir mit knapper Not einer Gefahr entronnen sind, spricht man bei uns vom Schutzengel, der Überstunden gemacht habe. Ein Schutzengel hat natürlich Flügel. Einige erinnern sich gewiss an das leicht kitschige Bild über der Bettstatt der Grosseltern, wo ein Engel mit grossen Flügeln zwei Kinder sorgsam über wildes Wasser geleitet? Welche Eltern hätten noch nie darum gebetet, Gottes Engel möchten ihr liebes Kind schützen? In der Adventszeit hört man auf manch einem Sender wieder den „Abendsegen“ aus Humperndincks Oper „Hänsel und Gretel“, wo Sopran und Alt herzergreifend singen: „Abends, wenn ich schlafen geh, vierzehn Engel um mich stehn. Zwei zur Rechten, zwei zur Linken, zween zu Häupten, zween zu Füssen, zwei die mich decken, zwei die mich wecken, zwei die mich weisen zu himmlisch Paradeisen.“ Das war auch das kindliche Abendgebet eines meiner Freunde, und seine Eltern erzählten gern, eines Abends habe der Kleine das Engel-Gebet nicht beten wollen. Man habe natürlich gefragt: „Warum willst du dein schönes Gebet nicht beten?!“ Und er habe gesagt: „Eh, i ma itz das Gflüder nid verputze.“ 14 Engel, ja, das macht immerhin 28 Flügel, „finechly es Gflüder!“ „Im Schatten deiner Flügel“. Der Ausdruck kommt öfter vor in der Bibel. Woher kommt die Vorstellung von Gottes Flügeln?“ Dazu etwas Wissenschaft. Flügel sind im Vorderen Orient (auf der ganzen Welt?) ein Sinnbild für das Übermenschliche, Himmlische, Göttliche. Das können wir nachvollziehen. Flügel befähigen die Vögel, zwischen Himmel und Erde zu schweben. Menschen können kriechen und laufen, schwimmen und tauchen, fliegen aber nicht. Fliegen ist übermenschlich (noch gab es ja keine tollkühnen Männer in fliegenden Blechkisten). Alte religiöse Bildern in Mesopotamien zeigen Stiere, Löwen, Pferde mit Flügeln. Das bedeutet: Achtung, kein gewöhnlicher Stier, sondern ein himmlisches, ein unsichtbares, aber wirksames Wesen, etwas Göttliches. Flügel als Himmels-Logo finden sich seither in vielen Kulturen, denken Sie an die geflügelte Sonnenscheibe, die auf altägyptischen Bildern über allem schwebt, an den griechischen Pegasos, das FlügelPferd, an den geflügelten Löwen von St. Markus in Venedig. Flügel bedeutet gewissermassen „himmlisch, jenseitig“. Zugleich kannte man in Ägypten Flügel als Logo für göttlichen Schutz. Auf einigen Sargdeckeln breitet die Himmelgöttin Nut ihre starken Flügel schützend aus über den Verstorbenen. Vom Gott der Bibel durfte es natürlich keine Bilder geben, aber im Tempel standen geheimnisvolle Wesen, die Cherubim. Auch sie hatten riesige Flügel. Sie schützten damit den heiligen Ort, den Gnadenthron der heiligen Gegenwart, der leer bleiben musste. Die geflügelten Cherubim durfte nur der Hohepriester sehen. Jedes Kind aber wird damals beobachtet haben, wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel sammelt, wenn am Himmel ein Raubvogel auftaucht. Ich habe das leider noch nie gesehen, kann es mir aber lebhaft vorstellen, ein wunderschönes Bild! Ich kann mir ausmalen, wie man sich als Küken fühlt unter den warmen Flügeln der Mama: „Im Schatten deiner Flügel frohlocke ich!“ Jesus jedenfalls kannte dieses Bild, als er über die Stadt Jerusalem sagte: „Wie oft wollte ich deine Kinder sammeln, wie eine Henne ihre Küken unter die Flügel nimmt, aber ihr habt nicht gewollt“ (Lk 13,34). Ich denke, das Symbolbild der schützenden Flügel war im alten Orient so bekannt wie „der Schutzengel“ heute bei uns. „Im Schatten deiner Flügel“ bedeutete damals etwa, was wir empfinden, wenn mir mit Bonhoeffer singen: „Von guten Mächten wunderbar geborgen“. Nun wollen wir das schöne Bild wieder dahin bringen, wo wir es herhaben: Ins Gebet. Ein Mensch wendet sich im Gebet an Gott. Das gibt ihm das Gefühl, er krieche wie ein Küken unter die schützenden Flügel einer Henne. Unzählige bestätigen: Wenn man sich Zeit nimmt, wenn man sich etwa aufmacht zu einer Kapelle und da sein Herz ausschüttet und endlich wieder mal betet, da kommt die Seele heim, fühlt sich zuhause, in der schützenden Burg, da wo man hingehört und geborgen bleibt. „Ob‘s mit Macht gleich blitzt und kracht, ob gleich Sünd‘ und Hölle schrecken: Jesus will mich decken.“ Und ist man mit knapper Not einer Gefahr entronnen, so fühlt man sich erst wieder im Lot, wenn man die Hände faltet und Gott von Herzen Danke sagt, nicht wahr? Einmal kam einer ganz aufgeregt in eine Bibelstunde und erzählte: „Ich war in der Badewanne. Wir haben einen Gasboiler. Da klingelte das Telefon. Ich fluchte. Nach dem vierten Ruf stand ich schimpfend auf und ging tropfend an den Apparat. Niemand dran! In diesem Moment gab es im Badezimmer einen Knall. Der Ofen war explodiert und brühheisses Wasser war überallhin gespritzt. Ich wäre gottlos verbrüht worden, wäre nicht dieses mysteriöse Telefon gewesen. Ich möchte Gott von Herzen danken für diese wunderbare Bewahrung.“ Da sagte ein alter Mann im Kreis: „Bevor wir beten, hört meine Geschichte! Ich wurde noch viel erstaunlicher bewahrt vor Not und Gefahr. Auch ich habe heute gebadet. Auch wir haben einen Gasboiler. Und stellt euch vor: Niemand hat angerufen, ich habe in aller Ruhe gebadet und mein Boiler ist nicht explodiert.“ Hat er nicht Recht? Wir leben „im Schatten seiner Flügel“, auch und gerade im „courant normal“, wenn nichts Spektakuläres passiert, wenn der Schutzengel Pause macht. Wenn aber Gott jemanden mit knapper Not aus grosser Gefahr rettet, so fragt die Vernunft, die Zweiflerin vom Dienst: Warum hat denn Gott nicht von Anfang an die Gefahr abgewendet? Ein Allmächtiger könnte doch überhaupt verhindern, dass Gasboiler explodieren!? Da müsste er nicht noch anrufen… Erst recht meldet sich meine Vernunft, wenn ich von einem schlimmen Unfall höre, von einer schweren Krankheit, und Bekannte von mir sind betroffen: „Wo war jetzt da der Schutzengel? Warum schützt Gott den einen wunderbar, und einen andern, redlich Gläubigen, lässt er unter einem Traktor umkommen? Wie kann man überhaupt sagen, man sei „geborgen im Schatten seiner Flügel“, wenn zugleich Millionen hungern? Ja, unser logisches Vernunftdenken hat für die schönen Bilder von Gottes Flügeln keine Schublade. Es ist einfach nicht logisch, dass ein gerechter Gott die einen wunderbar bewahrt und andere nicht, die es genauso verdient hätten. Ist es nicht immer so im Glauben? Der Kopf rebelliert und ruft „unlogisch“, aber das Herz sagt: „Vielleicht ist doch was dran!“ Es ist eine Tatsache, dass Menschen wunderbar Schutz und Bewahrung erleben. Ich stünde nicht hier, wenn mein Leben nicht öfter wunderbar beschützt worden wäre, und Sie? Da kann ich nicht kaltblütig sagen „Schwein gehabt“. Ich muss jemandem danken, wenn es haarscharf am Tod vorbei ging! Gott beschützt Leben immer wieder, aber nicht immer. Er heilt unzählige Krankheiten, aber nicht alle. Wie könnte unser Spatzenhirn begreifen, warum Gott den einen rettet und den andern sterben lässt? Das ist ja wahrhaftig logisch, liebe Vernunft, dass wir Gottes Wege nicht verstehen, so wenig wie eine Ameise eine Oper von Mozart. Wir müssen alle einmal sterben, die einen früher, andere später, aber deswegen will ich dennoch Gott danken für jede Heilung und glühend darauf vertrauen, dass er mich auch künftig heilt. Im Gottvertrauen gründet meine Lebenszuversicht, meine Energie. Vielleicht aber sollten wir das Sinnbild von Gottes schützenden Flügeln noch einmal anders verstehen. Jesus erzählt uns von zwei Männern im Tempel. Der eine, ein frommer Pharisäer, betet: „Gott, ich habe deine Gebote streng gehalten. Danke, dass ich nicht zum Abschaum der Gesellschaft gehöre.“ Der zweite ist ein stadtbekannter Gauner. Er betet: „Gott, sei mir Sünder gnädig.“ Und Jesus sagt: Gott akzeptiert das Gebet des Gauners, das des Frommen nicht! Das heisst: Unter den Schatten der himmlischen Flügel kriechen wir, wenn wir der Gnade Gottes vertrauen. So komme ich zu Gott und sage: „Du, ich schaffs nicht, alles korrekt zu machen. Mir ist manches abverheit. Aber ich hoffe und vertraue, dass du mir vergibst, wie Jesus versprochen hat.“ Wer so zu Gott kommt, kann „frohlocken im Schatten seiner Flügel“. Die ewig schützenden Flügel Gottes sind seine grosszügige Geduld, seine erklärte Vergebungsbereitschaft, seine unendliche Gnade. Ruedi Heinzer, Pfr., Guisanstr. 17, CH-3700 Spiez, 033 654 22 77, [email protected]; www.ruediheinzer.ch