Paulus Hochgatterer
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Paulus Hochgatterer
Paulus Hochgatterer Hogwarts oder was? Rede zum 11. Radiopreis für Erwachsenenbildung 19/01/2009, Radiokulturhaus Wien Beruflich mit Kinder zu tun zu haben, bringt so allerhand mit sich: Ärger und Spaß, Lärm und Lagerfeuer, aufgeschlagene Knie und angelullte Unterhosen, Heimweh und Pseudokruppanfälle. In der Regel bringt es ein vergleichsweise niedriges Einkommen, was bei manchen durch mehr Freizeit kompensiert wird (auch wenn diejenigen das konsequent abstreiten), und am Ende bringt es mehr Lebenszeit. Lebenserwartungsmäßig liegen statistisch freilich seit jeher die Klosterschwestern an erster Stelle und die haben nur manchmal mit Kindern zu tun; knapp auf den Fersen sind ihnen allerdings die Kindergärtnerinnen und Grundschullehrer. Die Kinderpsychiater sind zahlenmäßig so wenige, dass sie in diesen Charts nicht aufscheinen. Kinderpsychiater zu sein, also beruflich mit sonderbaren Kindern zu tun zu haben, führt neben einer ungewissen Lebenserwartung zu einer besonderen Form von Ernst auf der einen Seite, zur Identifikation mit den besonders ernsten Lebensumständen dieser sonderbaren Kinder, könnte man sagen, zu einem gewissen Hang zur Infantilität auf der anderen Seite, wenn man so möchte, zur Identifikation mit eben dem Sonderbaren dieser Kinder. Manche Kinderpsychiater neigen mehr zum Ernst, manche mehr zur Infantilität. Apropos Infantilität. Wenn meinem Freund Klaus und mir fad ist, spielen wir ein Spiel, das auch manchen von Ihnen vertraut sein wird: Beatles oder Stones? Beatles natürlich. Claudia Cardinale oder Sophia Loren? Sophia Loren, richtig. Sean Connery oder Roger Moore? Ich Sean Connery, er Roger Moore. Fisch oder Fleisch? Ich Fisch, er Fleisch. Bier oder Wein? Er Schwechater Zwickl, das man kindischerweise aufschütteln muss, bevor man es trinkt, ich Wein. Rot oder weiß? Ich weiß, er passt. London oder Rom? Er London, ich Rom. Bernstein oder Karajan? Carlos Kleiber. Pippi Langstrumpf oder Harry Potter? Ich sage: Pippi Langstrumpf, keine Frage!, und er sagt: Harry Potter, der hat aber auch was. Ich sage, ja, aber Pippi Langstrumpf ist so etwas wie die Jeanne d’Arc des Nordens, der Rob Roy Smålands. Er sagt: Jaja, Rob Roy, und ich sage: von mir aus, damit auch du es verstehst, - sie ist eine Art Janis Joplin für Kinder, wild, laut, in fetzigen Klamotten, und während er nachdenkt, sage ich noch: außerdem ist sie das einzige Wesen in Strapsen, bei dem nicht einmal du eine blöde Bemerkung machst. Dann sagt er, schon ein wenig präkapitulatorisch: Na gut, Strapse, wie soll ein braver britischer Knabe da mithalten? Und ich sage: Na eben, dieser Harry Potter ist die ganze Zeit mit der neurotischen Abwehr seiner Triebhaftigkeit beschäftigt, mit der Nichtbewältigbarkeit seiner inneren Konflikte, und merkt nicht, wie ihn ein 1 manipulatives repressives Erziehungssystem zu Lustverzicht und Anpassung zwingt. Er sagt: Lustverzicht, meinetwegen, aber immerhin besiegt er Lord Voldemort, und ich sage: ja, Voldemort, die Schlange mit dem glatten Kopf, seit jeher ein Symbol … wofür wohl? Er sagt noch: Ihr Psychos mit eurer dreckigen Phantasie, und ich frage rhetorisch: Na, und wo endet dein Harry Potter? – In der absoluten Idylle, - Häuschen, Kinder und die Schwester des Freundes als Frau. Und deine Pippi Rob Roy Langstrumpf?, fragt er, wo endet die? Wo das Leben halt so endet, wenn man ihm entgegen tritt, sage ich, in der Einsamkeit. Pippi sitzt am Schluss allein an einem Tisch, vor ihr brennt eine Kerze, dann ist es aus. Aber sie hat die Krumelusspille geschluckt, sagt Klaus, die bewirkt, dass sie nie erwachsen wird. Wie auch immer das gemeint ist, sage ich. Von Einsamkeit ist die Rede, von Kindheitslektüre und damit kriege ich ein wenig die Kurve zum Thema des heutigen Abends, zur Bildung. Einsamkeit und Kindheitslektüre, noch einmal. ‚Am Weg saß ein Schweinchen und weinte. Petzi und seine Freunde hörten es und liefen schnell zu ihm.’ Das sind die ersten Sätze, die ich in meinem Leben lesen konnte, der Beginn des Pixi-Buches ‚Petzi hat keine Angst’. Sie vermittelten mir damals eine Ahnung davon, was im Leben Bedeutung hat, nämlich erstens Freunde und zweitens, dass man lernt ohne Eltern auszukommen, und heute weiß ich, dass sie mir nebenbei vermittelten, was brauchbare Kinderliteratur ausmacht, nämlich vor allem, dass sie einigermaßen ohne Eltern auskommt. Petzi tut das und Pippi Langstrumpf tut es auch; ihre Mutter ist tot und die Nähe zum Vater, dem König von Takatukaland, erträgt sie jeweils nur ganz kurz. Überhaupt verzichtet sie weitgehend auf alles, was man gemeinhin mit dem Begriff Erziehung verbindet, besonders auf Schule. Einzig das Schulsystem in Argentinien lässt sie gelten: da fangen die Osterferien nämlich drei Tage nach den Weihnachtsferien an und danach dauert es nur drei Tage bis zum Beginn der Sommerferien. Die Sommerferien ihrerseits hören am 1. November auf und dann muss man sich ordentlich abrackern, bis am 11. November die Weihnachtsferien beginnen. Aber das muss man aushalten. Schularbeiten sind in Argentinien verboten; nur manchmal kommt es vor, dass sich ein Kind in einen Schrank schleicht und freiwillig Schularbeiten macht; aber wehe, wen das jemand sieht. Das ist gute Kinderliteratur; vor allem für ein Lehrerkind wie mich war es das und die Bonbons, die in Argentinien über ein langes Rohr in die Klassenzimmer geleitet werden, hätte es gar nicht gebraucht. Am besten allerdings, argentinische Ferien hin, Schularbeitenverbot her, gefiel mir die Art, in der Pippi schläft, die Füße auf dem Kopfpolster und den Kopf tief unter der Decke, in Ahnlehnung an die Art, in der die Menschen in Guatemala schlafen, die einzig richtige Art zu schlafen überhaupt. Insgeheim glaube ich das übrigens immer noch und vermeide es daher, nach Guatemala zu fahren, um nicht dort angesichts nach zentraleuropäischer Art in den Betten liegender Menschen einer Illusion beraubt zu werden. Harry Potter schläft mit den Händen auf der Bettdecke, sage ich, und wenn er es einmal nicht tut, wird ihm sein Besen für zwei Wochen in den Schrank gesperrt. Oder er muss einen Drachen besiegen, sagt Klaus, den ungarischen 2 Dornschwanz zum Beispiel. Über Sexualität und scharfe Gewürze rede ich jetzt nicht, sage ich, und mit Klaus und mir könnte es dann ungefähr so weiter gehen: Österreichische Gegenwartsliteratur oder Fernsehen? Eigentlich Fernsehen, sagt Klaus, sei mir nicht böse. Na gut, sage ich, Fernsehen oder Kino? Kino, ganz klar. Fernsehen oder Radio? Radio, zumindest meistens. Ö1 oder Ö3? Ich Ö1, er auch, nachdem er sich zuerst wortreich bei der ‚Musicbox’ entschuldigt hat. Gugelhupf oder Watschenmann? Der Watschenmann. Watschenmann oder ‚Was gibt es Neues?’. ‚Was gibt es Neues?’ oder Sonntagsmesse?, sage ich, so war’s bei mir, und meistens hat die Sonntagsmesse gewonnen. Daher weiß ich auch nicht, was Heinz Conrads am Schluss wirklich gesagt hat. ‚Servas die Buam’ ist klar; aber ‚…die Madln’? Adieu? Küss die Hand? Klaus weiß es auch nicht. Das Sonntagsvormittagskonzert. Sowieso ohne Alternative. Und Axel Corti oder Heinz Fischer-Karwin? Ich bin für Heinz Fischer-Karwin, wegen der Stimme. Er ist für Axel Corti, wegen der Schachtelsätze. Und das Traummännlein?, frage ich. Das Traummännlein oder was?, fragt er, sag jetzt bloß nicht ‚Rudi Radiohund’. Nein, um Gottes willen, sage ich, das Traummännlein ist konkurrenzlos. Dann verfallen wir beide für einen Augenblick in jene Art von Sentimentalität, zu der nur Fortysomethings, die die Traummännlein-Phase ohne grobe Traumatisierung absolvieren durften, in der Lage sind. Traummännlein war super, - obwohl man sich eigentlich auch nur diese Melodie gemerkt hat. Kannst du sie nachsingen?, frage ich. Klaus schüttelt den Kopf. Angeblich ist sie von Schubert, sagt er. Was passiert dort, wo die Traummännlein-Melodie erklingt und man mit Pippi Langstrumpf den Kopf unter die Bettdecke steckt, obwohl es so nicht vorgesehen ist? Es tut sich eine Zone des Weltvergessens auf, des Realitätsverzichtes, zugleich eine Zone der auditiven Wachheit, eine Situation, die in ihrer regressiven Freiheit an Zeiten erinnert, da man schon hören und fühlen konnte, einem die Weltbetrachtung im visuellen Sinn jedoch noch erspart geblieben ist. Das Kind füllt diesen akustisch und taktil definierten Raum mit Eigenem, mit Bildern, Ideen, traumhaft umgeformten Ängsten und Sehnsüchten, und erzielt, sofern es dabei nicht gestört wird, das, was man in einer psychoanalytischen Terminologie die libidinöse Besetzung des eigenen Imaginationsvermögens nennen kann. Die Verknüpfung von Vorstellung, Lust und Normenübertretung, das ist es, was nicht nur Sexualität nett macht – denn auch die beginnt in diesem guatemaltekischen Daunennest –, sondern vor allem aktive, neugierige, engagierte Welterfahrung ermöglicht, das, was wir in einem meines Erachtens viel zu umfassenden Sinn ‚Lernen’ nennen. Vorstellung, Lust und Normenübertretung, also Ungehorsam, als Grundlagen des neugierigen, forschenden, buchstäblich ‚eigensinnigen’ Lernens, das ist in unserem primär selektionsorientierten Erziehungssystem nicht vorgesehen. Die Menschen tun es trotzdem, soweit die gute Nachricht vorneweg, und merken sich 3 letztlich, worauf sie Lust haben und was ihnen nützt und nicht den Müll, den sie eh nie brauchen können. Unser primär selektionsorientierte Erziehungssystem, das wir alle durchlaufen haben, kann, wenn man will, als die Ausgeburt einer Primitivvariante christlicher Jenseitslehre begriffen werden: gut oder böse, links oder rechts, Himmel oder Hölle; man kann aus einem psychiatrischpsychoanalytischen Blickwinkel die polaren, auf Zwischentöne verzichtenden Denkmechanismen einer frühen psychischen Störung diagnostizieren: schwarz oder weiß, gut oder böse, Überleben oder Vernichtung; oder es kann – vielleicht weniger verdächtig – mit Niklas Luhmann als ein Apparat gesehen werden, dessen Bestimmung es ist, unter Anwendung eines binären Codes: bestanden, durchgefallen, aus Kindern Trivialmaschinen zu erzeugen. Trivialmaschinen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie (Zitat Luhmann) auf einen bestimmten Input dank einer gespeicherten Regel einen bestimmten Output produzieren. Auf eine Frage geben sie, wenn richtig programmiert, die richtige Antwort. (…) Trivialmaschinen lassen sich leicht beobachten und beurteilen, man braucht nur festzustellen, ob die Transformation von Input zu Output richtig funktioniert. Man kann außerdem, ohne den Typus der Maschine zu ändern, die Erwartung an das Programm steigern und den Unterricht mit diesem Ziel sequenziell unter höhere Ansprüche stellen. (Zitat Ende) Trivialmaschinen im Luhmannschen Sinn mucken nicht auf, reden nicht zurück und haben nur die richtigen Idee. Sie geben Antwort, wenn es von ihnen erwartet wird, stellen keine Fragen, auf die man die Antwort nicht kennt und am Abend liegen sie grad im Bett, Köpfe auf den Pölstern, Hände auf der Decke. Apropos Harry Potter: Trivialmaschinen, und das spielt in der Zurüstung zu einem globalen Trivialmaschinenpark eine wichtige Rolle, sind vergleich- und damit kontrollierbar. Wer ist besser, Ravenclaw oder Hufflepuff, Slitherin oder Griffindore? Alle paar Jahre findet unter entsprechendem Tamtam das ritualisierte Turnier statt, die Pädagogik der gesamten westlichen Welt wird zu Hogwarts (man nennt es nur Pisa) und fühlt sich dabei sicher, denn erstens kennt man sich mit Harry Potter im Gegensatz zu anderen pädagogischen Standardwerken (John Locke würde ich sehr empfehlen) wirklich aus und zweitens hat man, und das scheint inzwischen festzustehen, gemeinsam Lord Voldemort besiegt. Womit wir wieder bei der Grunddynamik wären: Paranoid-anankastische Systeme analen Zuschnittes, das heißt, Systeme, die auf Triebunterdrückung basieren, denen es darum geht, den Voldemort im Menschen, also Lust und Aggression unter Verschluss zu halten und zu kontrollieren, neigen zur Systematisierung und Ausweitung wie in der Psychiatrie der Wahn. Die ganze Welt wird Hogwarts, man lernt unter Aufsicht ein Leben lang, kriegt alle paar Jahre die Prüfplakette und knapp vor dem Tod machen alle die gleiche Matura. Die Humboldtsche Maxime, Ziel der Pädagogik sei es, Kinder ins Erwachsenenalter zu führen und selbständiges Lernen zu ermöglichen, wobei die Fähigkeit zu letzterem in der Regel mit dem Erlangen der Universitätsreife erreicht sei, gilt längst nicht mehr. Gymnasium und Studium funktionieren zunehmend gleich (die große Pause würde ich mir an der Uni noch wünschen), Originalität ist verdächtig und Ungehorsam führt zum Rauswurf. Vielleicht sind diese Dinge aber auch nur 4 logisch und haben ihre Ursache in Wahrheit darin, dass wir alle auf Grund der zunehmenden Veränderungsbeschleunigung nicht mehr erwachsen werden und die überbordende Infantilität der Menschen eine kontrollierende Pädagogik notwendig macht. Man nehme nur meinen Freund Klaus und mich. Ein bisschen mehr Trivialmaschinenidentität stünde uns nicht so schlecht an, meinen manche. Vielleicht gilt das auch für jene Leute, die Rundfunksendungen über ewig zurückliegende medizinische Experimente an Minderheiten machen, über die Frage, was die griechische Tragödie im Gefängnis verloren hat, oder überhaupt gleich ganz frech über zivilen Ungehorsam. Aber möglicherweise ist dieses selektionsorientierte Erziehungssystem mit seinem binären Code: bestanden oder durchgefallen? Auch nur eine Variante des Spieles, das Sie spätestens jetzt alle kennen: Brav oder schlimm? Schlimm, keine Frage. Hogwarts oder Guatemala? Na, was wohl? Lehnen Sie sich zurück, legen Sie die Füße auf den Kopfpolster, auch wenn der Mensch neben Ihnen komisch schaut und versuchen Sie sich diese Melodie, von der man sagt, sie sei von Schubert, ins Bewusstsein zu rufen. Warten Sie ein paar Sekunden. Dann drehen Sie auf. Radio oder Radio? Danke. 5