Melissa Anelli: Das Phänomen Harry Potter Verlag
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Melissa Anelli: Das Phänomen Harry Potter Verlag
Melissa Anelli: Das Phänomen Harry Potter Verlag: edel Veröffentlichung: 21. Mai 2009 ISBN-10: 3898559890 ISBN-13: 978-3-89855-989-8 Außerdem als Hörbuch erhältlich Gelesen von Irina von Bentheim Ca. 320 Minuten ISBN-13: 978-3-89855-988-3 Leseprobe 1 Auszug aus Kapitel 1, Seite 21-25 Ich konnte nichts mehr unternehmen, bevor ich am Computer war. Ungeduldig trommelte ich aufs Lenkrad und versuchte, mich an die Geschwindigkeitsbegrenzung zu halten. Morgen war es so weit. Dieser kalte letzte Januartag wäre der letzte Tag eines normalen Lebens, zumindest für eine Weile. Was siebzehn Jahre zuvor begonnen hatte, wäre nun in sechs Monaten zu Ende. Nach anderthalb Jahren des Wartens, anderthalb Jahren Vorbereitung und anderthalb Jahren mit dem Wissen, dass diese Ankündigung kommen würde, hatte ich jetzt das Gefühl, dass man mir den Atem raubte. Für mich hatte diese Reise sieben Jahre gedauert, und sie hatte mich verändert; nun war die Zeit gekommen, sich zu verabschieden. Wäre es mir möglich gewesen, ich hätte meine Arme ausgestreckt und den auf mich zurasenden Zug zurückgedrängt. Doch der Morgen brach trotz meiner gegenteiligen Wünsche an. Also parkte ich vor dem Haus und schleppte mich in mein Zimmer hinauf. Ich schoss eine Salve Mails ab – an Programmierer, um ihnen zu sagen, dass sie unsere Page gegen heftigen Ansturm wappnen sollten; an unseren Hostmaster, der unsere Bandbreite überwachen und uns mehr Kapazität einräumen sollte, wenn nötig; an John, um ihm zu schildern, wie ich mir den Countdown der Seite vorstellte; an Lektoren, an leitende Mitarbeiter der Site und an Freunde und Verwandte, um sie vorzuwarnen, dass ich nicht erreichbar sein würde. Meine Freunde David und Kathleen von der Website Sugar Quill bekamen auch entsprechende Texte. Ich aktivierte unsere Links, schrieb schon mal einen möglichen Blog-Eintrag und schlief neben meinem Laptop ein … Am 1. Februar um fünf Uhr früh wartete Sue also auf mich, der Instant Messenger blinkte schon auf meinem Monitor. Wir waren zweifellos über unser Zeitfenster hinausgeschossen, als wir um fünf Uhr aufgestanden waren, denn Ankündigungen kamen normalerweise erst um sieben, aber besser, wir machten die Sache richtig, als dass es uns nachher leidtäte. Wir starrten auf die einzige Page, die eine Rolle spielte – und das war nicht unsere –, und versuchten mit unseren Kenntnissen des Codes zu erkennen, welche Dateien sich veränderten, damit wir vielleicht ein paar Minuten rausholen und vielleicht ein klein wenig früher als andere mit der Nachricht herauskommen könnten. Noch ein paar mehr Mails wie die ersten vier waren über Nacht eingetrudelt und bestätigten, dass es kein falscher Alarm war. Alles war vorbereitet. Unser Beitrag war fertig und wartete nur noch auf den wichtigsten Teil der Information. In meiner frühmorgendlichen Trance hätte ich fast vorzeitig auf »senden « geklickt. Meine Hände zitterten, während ich wartete. Andächtig las ich die Nachrichtenseiten und ließ NBC im Hintergrund laufen. Ich wehrte meine Katze ab, die unbedingt meine Aufmerksamkeit wollte, denn ich kannte mein Glück: Die Nachricht würde bestimmt in jener Minute eintreffen, in der ich ihre Wasserschüssel füllte … Dann wurde mir das Warten zu lang, ich döste ein, meine Finger ruhten immer noch auf den Tasten. Sues Anruf und ihr Gekreische hatten mich geweckt, und als ich meine Finger ausgeschüttelt und wieder zum Arbeiten gebracht hatte, rief ich erneut die Site auf, die die ganze Nacht im Zentrum meiner Aufmerksamkeit gestanden hatte: JKRowling.com. Nun sah ich die Worte vor mir, auf die ich all die Jahre gewartet hatte, aber als ich sie in meine eigene Site eintippte und auf »senden« drückte, konnte ich kaum ermessen, was sie bedeuteten. Auch andere benötigten nur einen kurzen Moment: Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer um die ganze Welt. Hinter mir auf dem Fernsehbildschirm reichte jemand der Moderatorin ein zusammengefaltetes weißes Blatt Papier – so als würde sie gleich verkünden, dass ein Krieg aus gebrochen war. Mein Telefon begann, verschiedene Melodien von sich zu geben: Erst kamen SMS, dann Anrufe. In den nächsten Stunden würden alle Nachrichtenagenturen die Meldung weltweit verbreiten. In Irland würden Schüler das Datum auf kleine Zettelchen schreiben, mit denen sie die Wände ihrer Klassenzimmer pflasterten. An einer australischen Universität würde eine Studentin aufschreien und vom Stuhl fallen. Die Neuigkeit würde genauso schnell um den Times Square ticken, wie sie in Highschool-Klassen in Briefchen weitergereicht würde. Später sollte sich Freude gepaart mit Trauer über das Datum – und über das Ende von allem – über die gesamte Fangemeinde legen. Cheryl würde endlich anrufen und in ihr Headset schreien: »Wir wissen etwas, das du nicht weißt!«, und ich würde schwören, irgendwann, an einem fernen Tag, Rache zu nehmen. Paul sollte mir mailen und mir mit Kraftausdrücken gespickt erklären, dass er nun die ganze Tournee umplanen müsse; JKRowling.com würde weitere Nachrichten updaten, und Leaky Cauldron würde unter dem heftigen Ansturm so stöhnen und ächzen, dass wir die Site mit den digitalen Entsprechungen von Hansaplast und Luftschlangenspray zusammenhalten müssten … Aber all das sollte später kommen. Nun konnte ich nur noch die Worte anstarren, die ich gerade getippt hatte, die Worte, welche die nächsten Monate meines Lebens prägen würden und die das Ende einer außergewöhnlichen Zeit anzeigten. Einer Zeit, die mir Selbstvertrauen und Unabhängigkeit und meinem Leben einen Sinn geschenkt hatte. Einer Ära, in der Millionen Menschen Spaß und Gemeinschaftsgefühl erfahren hatten und verzaubert worden waren – im Bann eines einzigen Jungen. Harry Potter and the Deathly Hallows sollte am 21. Juli 2007 erscheinen. Leseprobe 2 Auszug aus Kapitel 5, Seite 130-133 Ich verbrachte spannende Wochen online, während Fans leidenschaftlich und voller Überzeugung argumentierten, Harry und Hermine müssten in den echten Harry-Potter-Büchern ganz einfach eine Beziehung eingehen und nicht nur weiter in einem üppig wuchernden »alternativen Universum« ein Paar sein – »AU«, wieder hatte ich ein Akronym entschlüsselt. Ich hatte kein Problem mit Leuten, die es gern gesehen hätten, dass Harry und Hermine am Schluss zusammenkamen, aber ich konnte überhaupt nicht verstehen, wie jemand diese Bücher lesen und dabei denken konnte, Harry und Hermine würden gut zusammenpassen, was ich verstand, auch wenn ich diese Meinung nicht teilte, eine Beziehung zwischen Ron und Hermine dabei aber völlig außer Acht ließ. Das war frustrierend. Als Neuling in einem solchen Forum äußerte ich einmal vorsichtig meine Meinung und merkte erst gar nicht, dass ich auf einer Site gelandet war, die schwer Schlagseite hin zu H/H hatte; ich wurde schnell von so vielen Mitgliedern niedergebrüllt, dass ich diese Page nie wieder anklickte. Als ich dann Meg und die Sugar-Quill-Community fand, war das für mich so ein Glücksfall, als hätte man mich aus dem Irrenhaus entlassen. Nach meinen Ausführungen bezüglich H/H sah mich Meg an und grinste. »Ach, ich habe gewusst, dass ich dich mögen würde«, sagte sie, und wir prusteten beide los. Wir mailten irrsinnig viel, und das Hochgefühl, im wirklichen Leben eine Freundin in der gleichen Stadt gefunden zu haben, die meine Begeisterung teilte, war wie eine Droge. Bald begründeten wir unsere SchreibwochenendeTradition; wir tranken Kaffee, lachten, sprachen über Männer und über das Leben überhaupt und nutzten die Zeit, um uns von unseren nervigen Jobs zu erholen, indem wir uns mit Harry Potter beschäftigten. Unsere Treffen waren für mich wie ein dringend notwendiges Gegengift zu dem sauertöpfischen Leben unter der Fuchtel meiner Chefin. Während der Arbeit konnte ich mich mit meiner Kollegin in die Küchenzeile verdrücken und leise herumnörgeln, bei Meg konnte ich mich lautstark und ausgiebig beklagen. Nach einer weiteren Herabstufung wurde der »redaktionelle« Teil meiner Arbeit schließlich vollständig gestrichen, und ich musste die meiste Zeit damit zubringen, Denises Kreditkartenbelege abzuheften. Dass ich mit Meg zusammen sein und über Harry Potter reden konnte, machte alles erträglicher. Wie so viele andere Freundschaften jener Tage ging auch unsere über die geliebte Buchreihe hinaus, war aber nur durch eine Kollision zwischen Harry Potter und dem Internet entstanden. Wir hatten den starken Eindruck, dass wir nicht die Einzigen waren, deren Leben auf ähnliche Weise von Harry Potter beeinflusst wurde, und dass dieses Gemeinschaftsgefühl nun anfing, unsere Beschäftigungen rund um Harry Potter zu vernetzen wie die Triebe einer langsam rankenden Pflanze. Das geschah überall auf der Welt. Die schnelle Ausbreitung der Fanfiction, Foren, Chatrooms und Fansites hielten die Fans in Atem, sie unterhielten sie zwischen den jeweiligen Erscheinungsterminen und ermöglichten es neuen Fans, mit ihresgleichen zu feiern. Meg und ich steckten erst dann unsere Nasen so richtig zusammen, wenn wir gemeinsam Blogs gelesen, gepostet oder uns gegenseitig Fanfiction gezeigt hatten, die unseren Online-Freunden gefielen. Unsere Community, die Fangemeinde, begann aus dem Bildschirm herauszutreten und andere Identitäten anzunehmen als Aliasse und Benutzernamen. Damals hatte die Online-Gemeinde gerade die kritische Masse erreicht, die sich seit ein paar Jahren abgezeichnet hatte. Die Erstauflage des siebten Bandes brach in Amerika mit 12 Millionen Exemplaren alle Rekorde; vor dem Erscheinen von Harry Potter and the Prisoner of Azkaban lagen die Verkaufszahlen laut Sunday Herald vom 27. Juni 1999 weltweit knapp bei einer Million, bald sollten es 7,5 Millionen sein. Wenn nun jedes dieser 7,5 Millionen Exemplare nur einen Leser hatte, der wieder je ein Exemplar der kommenden Bände kaufen würde, würde die Zahl auf 30 Millionen verkaufte Exemplare ansteigen. Doch die Beliebtheit des Buches sollte sich in den kommenden Jahren nicht nur vervier-, -fünf-, -sechs- oder verzehnfachen: Zwischen dem dritten und sechsten Band würden die Verkaufszahlen auf 325 Millionen hochschießen, also auf das 45-Fache seit Erscheinen des dritten Bandes. So etwas wie diese Bücher hatte es nie zuvor gegeben, und auch wenn sie nicht ständig digital angefeuert worden wären, hätten sie alle Verkaufsrekorde gebrochen. Aber das Internet, ein grenzenloses Reservoir an Diskussionsforen und ein Podium für Obsessionen aller Art und allerorten, machte Harry Potter zusätzlich zur Hauptattraktion als das erste Markenzeichen, das eine tobende, unersättliche OnlineFanbasis hatte.