Bis zum letzten Tropfen
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Bis zum letzten Tropfen
34 REPORTAGE STUTTGARTER ZEITUNG Nr. 156 | Samstag, 10. Juli 2010 Bis zum letzten Tropfen Firat Arslan hat mit dem Profiboxen in einem Alter angefangen, in dem andere damit aufhören. Mit 37 wurde er Weltmeister. Jetzt ist er mit 39 aus dem Ring getragen worden. Der Preis eines Lebenstraums. Von Michael Ohnewald Karriere enn die andere Seite des Boxens ein Gesicht hat, dann gehört es Firat Arslan. Die elfte Runde hat es gezeichnet. Davor war er ein Champion, der nach Punkten führte. Danach war er ein Fall fürs Krankenhaus. Boxen ist ein machtvolles Spiegelbild des Lebens. Die einen wollen nach oben, die anderen wollen nicht nach unten. Der Boxring ist eine Bühne für archaische Geschichten von beispiellosen Triumphen und bitteren Abstürzen. Manchmal verschwimmen die Grenzen dazwischen, wie an diesem Abend, an dem ein Boxer den Tod vor Augen hat, und als Verlierer ein Leben gewinnt. Firat Arslan betritt den Ring, sein Gegner ist der Franzose Steve Herelius, ein Mordskerl, sechs Jahre jünger. Es ist Samstagnacht, der 3. Juli 2010. Wenige Stunden zuvor hat die deutsche Fußballnationalmannschaft mit 4:0 gegen Argentinien gewonnen. Trainer Jogi Löw kennt Firat Arslan. Nach dem Sieg hat er aus Südafrika eine SMS geschickt und ihm viel Glück gewünscht. Der Boxer Arslan kann es brauchen. Steve Herelius hat bisher nur einen seiner 21 Kämpfe verloren. Die erste Runde. Arslan hält sich zurück. Herelius tänzelt um ihn herum, duckt sich weg, spielt ein bisschen wie Ali einst mit Frazier. Seine Schläge verpuffen in Arslans Doppeldeckung. Beide sind Rechtsausleger. Bum. Bum. Der Boxer aus Süßen wehrt sich kaum. Bum. Bum. Ist er noch der Alte? Es geht um viel, vielleicht um alles. Herelius ist vorne auf den Punktzetteln. Die vierte Runde geht an Firat Arslan. Seine Schlaghand kommt durch. Schweißtropfen tanzen über dem Kopf seines Gegners. Die Porsche-Arena ist ein Glutofen. Draußen sind es dreißig Grad, drinnen sind es noch mehr. Im Boxring werden über vierzig Grad gemessen. Die neue Arena ist nicht klimatisiert. Das Publikum murrt über die mörderische Hitze. Damen knöpfen ihre Blusen auf, Herren ihre Hemden. Firat Arslan knöpft sich den Franzosen vor. Boxer sind ein besonderer Menschenschlag. Sie reden mit Fäusten und schreiben Tragödien in Gesichter. Manche sagen, im Boxen gehe es um mehr als um Schein und Scheine. Muhammad Ali boxte auch für die Schwarzen, Henri Maske boxte für das vereinigte Deutschland. Firat Arslan boxt für den Sieg des Wollens über das Können. Sein Wille ist ein treuer Gefährte. Firat Arslan kämpft schon so lange, dass er vergessen hat, wann er ihm das erste Mal begegnet ist. Vielleicht damals in der Realschule. Er ist dort ein Außenseiter, einer der lügt, wenn der Lehrer nach den Weihnachtsferien fragt, welche Geschenke unterm Baum lagen. Bei den Arslans in Süßen gibt es keine „Wir wissen Geschenke. Sein Va- nicht, ob die ter hat die Familie verlassen, er zahlt kei- Wirbelsäule nen Unterhalt. Die kaputt ist.“ Mutter arbeitet in ei- Der Notarzt nach ner Bettfedernfabrik. Arslans Radunfall „Scheißtürke“, rufen ihn manche. Das ist immer noch besser als „Firat-Dreirad“. Er hasst seinen Namen. Ungefähr mit 15 fängt er an zu boxen. Für den Hausgebrauch, auf dem Schulhof, um den anderen das Maul zu stopfen. Gerold meint es besser mit ihm. „Firat, hör auf mit dem Rauchen“, rät sein Freund, ein Fußballer aus dem Filstal. „Warum sollte ich?“, fragt er. „Ich zeig’s dir“, antwortet Gerold, der ein guter Läufer ist. Auf dem Mofa fahren sie zum Joggen in den Wald. Die Runde ist vier Kilometer lang. Nach der ersten muss sich Firat übergeben. „Willst du noch eine Runde?“, fragt der Freund. Firat nickt. Er kann kaum noch sprechen, die Lunge brennt. Wieder muss er sich übergeben. Nach der zweiten Runde kommt die gleiche Frage. Firat japst und nickt. Nach der vierten Runde gibt Gerold auf. So ähnlich geht es auch mit Dieter, der im Göppinger Freibad das Tauchen übt. Am Anfang ist Dieter besser. Er kann die Luft länger anhalten. Am nächsten Tag trainiert Firat für sich und kommt auf zwei Minuten. Dieter hält dagegen. Am Ende schafft Firat 3:41 Minuten. Er ist fast bewusstlos, als er auftaucht. Große Siege haben ihren Preis. Runde sieben in der Porsche-Arena. Youtube wirbt auf dem Ringboden, Firat Arslan wirbt für sich. Er bringt die ganze Wucht seines Körpers hinter einen Schlag, der Steve Herelius über dem Kinn trifft. Der Franzose tänzelt jetzt nicht mehr, er wankt. Ringrichter Stanley Christodoulou aus Südafrika schaut Herelius tief ins Gesicht. In den vorderen Reihen springen verschwitzte Zuschauer auf. „Firat hat ihn!“ „Wir haben Geben ist seliger das Ding. Nur denn nehmen, heißt es noch sechs in der Bibel. Firat Arslan ist ein gläubiger Minuten.“ Mensch. Er setzt nach, Trainer Timm nach ohne seine Deckung zu der zehnten Runde entblößen. Herelius kann einiges vertragen. Der Franzose scheint sich zu fangen. Er ist noch nie zu Boden gegangen. Auch er hat ein Ziel. Der Sieger des Kampfes ist Interims-Weltmeister im Cruisergewicht bis 91 Kilo und kann den WBA-Champion herausfordern. Das ist genug Motivation, um stehen zu bleiben. Firat Arslan weiß, wie sich das anfühlt, wenn der Kopf brummt und die Beine zittern. Er ist kein geborener Sieger, eher ein gelernter Verlierer. Mit 18 kommt er über seinen Bruder Meric zum Boxen. Firat ist ein Spätstarter, obenrum steif. Er trainiert im Göppinger Boxclub „Olympia“ und stößt irgendwann auf den Landestrainer. Günther Meier drillt die jungen Sportler auf eine gute Schlagtechnik. Bei Firat winkt er ab. Da ist Hopfen und Malz verloren. Meier hält alle paar Monate eine Rede und lobt seine Boxer. Der junge Türke kommt nie vor in den Hymnen. Eines Tages, er hört schon nicht mehr hin, sagt der Trainer: „Schaut den Firat an, der hat Biss. Den muss man erst mal schlagen!“ Dieser Satz trägt ihn. Es ist die Zeit, in der Firat Arslan einem absurden Vorsatz die Freiheit schenkt: „Ich will Weltmeister werden!“ Die anderen im Gym halten ihn für übergeschnappt. Firat Arslan ist es ernst. Er lässt sich einbürgern, macht eine Lehre als Konstruktionsmechaniker und arbeitet jeden Tag an seiner Technik. Mit 27 wird er Profi. In diesem Alter hören andere auf. Die Boxpromoter belächeln ihn. Ein hoffnungsloser Fall. Kein Vertrag, nirgends. Um das Geld für Trainingslager aufzubringen, jobbt er als Türsteher und in einer Detektei. Manchmal kauft ihn jemand als Sparringspartner ein, meistens hat er nichts. Er lenkt sich ab mit Dostojewski und Schach. Firat Arslan stählt sich noch besessener, ohne Coach und Manager, in einem Süßener Kleintierzüchterheim, in dem Pokale stehen von „Widderkaninchen“ und „Deutschen Riesen“. Er notiert seine Laktatwerte, stemmt Gewichte. Sein Körper wird zur Kampfmaschine. 1,82 Meter groß, 90 Kilo schwer. In 18 Minuten rennt der Muskelmann fünf Kilometer. Das schafft sonst keiner in seiner Gewichtsklasse. Sein Freund, der Boxer Luan Krasniqi, hat es besser. Er wird als Profi aufgebaut und gilt als Talent. Arslan darf als Helfer mit dem Team nach Kalifornien ins Boxcamp. Krasniqi und sein Konditionstrainer kaufen sich dort neue Rennräder mit 21 Gängen. Firat Arslan hat dafür kein Geld. Er leiht sich vom Hausherrn ein altes Dreigangrad und fährt mit. Krasniqi radelt die Berge im Sitzen hoch, Arslan fährt im Stehen. Die zehnte Runde. Trainer Michael Timm spritzt aus der Bewusstlos wird der Boxer aus dem Ring getragen. Foto: dpa W Firat Arslan ein paar Tage nach seinem Kampf: es hätte schlimmer für ihn ausgehen können. Plastikflasche ein wenig Wasser in den trockenen Mund seines Boxers. Firat Arslan schwitzt schon im Training manchmal fünf Liter raus. Jetzt schwitzt er noch stärker unter den Scheinwerfern des Zweiten Deutschen Fernsehens, das den Kampf live überträgt. „Wir haben das Ding“, sagt Timm in der Ringecke. „Nur noch sechs Minuten.“ Arslan ist kurz davor, sein Ziel zu erreichen. Er ist wieder da, nach der langen Pause. Ein Meter entfernt von ihm sitzt der Boxer Marco Huck, der eigentlich Muamer Hukic heißt. Firat Arslan ist Firat Arslan. Ein Name, der nicht so schön klingt und leicht vergessen wird. Firat Arslan ist öfter vergessen worden. Selbst als er 2004 als Profi den deutschen Meistertitel holt, wollen ihn die Manager seines Sports nur dazu benutzen, andere Boxer aufzubauen. Sie heißen Petkovic und Drozd, und sie gelten als besser. Der Schlagfresser aus Süßen tut nicht, was er soll: Er haut sie weg. Jetzt kommen sie nicht mehr an ihm vorbei. 2006 erhält Arslan einen Vertrag beim Universum-Boxstall. Ein Jahr später erfüllt sich sein Lebenstraum. Er schlägt den favorisierten Amerikaner Virgil Hill und wird WBA-Weltmeister im Cruisergewicht. Einmal verteidigt er den Titel und macht eine gute Börse. Dann ist Guillermo Jones aus Panama an der Reihe. Arslan verliert. Im Boxen ist unten kein schöner Platz. Er will sofort zurück. Wie immer bereitet sich Arslan kompromisslos vor. Er soll gegen Marco Huck kämpfen. Am Chiemsee spult er im Juni 2009 sein Trainingsprogramm herunter. Radfahren ist an diesem Tag angesagt, 120 Kilometer. Als er mit seinem Konditionstrainer einen Traktor überholt, zieht der Landwirt nach links. Knockout. Arslan stürzt und muss mit dem Rettungshubschrauber ausgeflogen werden. „Wir wissen nicht, ob ihre Wirbelsäule kaputt ist“, sagt der Notarzt. Das Schlimmste bleibt dem Boxer erspart. Sein durchtrainierter Körper hat das Rückgrat vor Schaden bewahrt. Der Halsmuskel ist jedoch gerissen, einige Knochen sind verschoben. Ende der Karriere? Der Wille rebelliert. Arslan kämpft sich zurück. 21 Monate ackert der Bulle aus Süßen härter als je zuvor, für diesen einen Kampf gegen Steve Herelius. Die elfte Runde. Sie hat nichts, was sich im Nachhinein als Vorzeichen deuten ließe. Firat Arslan führt auf allen Punktrichterzetteln. Er stürmt vor. Wie aus dem Nichts beginnt er zu taumeln. Das Kraftwerk setzt aus. Der Boxer kann kaum noch die Deckung halten. Sein Freund Luan springt von seinem Sitzplatz auf und schreit. In der „Ich würde Sauna von Stuttgart sofort einen kocht das Publikum. Steve Herelius zieht Rückkampf durch. Seine Linke machen.“ trifft. Er hat selbst Firat Arslan drei Tage kaum noch Kraft. Mi- nach der Niederlage chael Timm greift nach dem Handtuch. Wenn er wirft, ist es aus. Noch zehn Sekunden bis zum Gong. Firat Arslan schwankt in die Pause. Was danach passiert, weiß er nicht mehr. Kreislaufkollaps. Er liegt auf den Boden. Der Kampf wird abgebrochen. Sanitäter schleppen den völlig dehydrierten Boxer auf einer Trage aus der Halle. Er verliert das Bewusstsein. Die zwölfte Runde beginnt im Stuttgarter Katharinenhospital. Infusionsschläuche hängen an seinem Arm, er kann sich im ersten Moment nicht bewegen. Der Boxer wird in dieser Nacht insgesamt elf Liter Flüssigkeit zu sich nehmen, ohne Wasser zu lassen. Ein Dopingwächter, der ihn begleitet, muss bis vier Uhr warten, erst dann Foto: Gottfried Stoppel bekommt er ein paar Tropfen. Die Ärzte sagen, Firat Arslan habe Glück gehabt. Fast wäre es das Ende gewesen, nicht nur als Boxer. So viel Wasser kann kein Mensch in vierzig Minuten verlieren, ohne mit seinem Leben zu spielen. Steve Herelius, der Sieger, ist zu diesem Zeitpunkt in der Kabine. Auch er sackt dort kurz zusammen. Firat Arslan wird im Hospital in ein Zimmer geschoben, in dem ein Mann mit russischem Akzent liegt. Eine seltsame Begegnung. Der eine hat zu wenig getrunken, der andere zu viel. Der Bettnachbar war berauscht in eine Schlägerei am Berliner Platz geraten. Auch er hat ein blaues Auge. Runde dreizehn. Die heiße Nacht liegt ein paar Tage zurück. Firat Arslan sitzt in einem Café und redet bei einer Cola light über den Kampf, der vielleicht sein letzter war. Drei Minuten haben ihm gefehlt, nur drei Minuten. „Ich wollte es allen beweisen und habe an mich geglaubt“, sagt er. „Aber ich habe verloren. Nicht gegen Herelius, der ein Champion ist, sondern gegen die Hitze. Er hatte mehr Glück in dieser Nacht.“ Firat Arslan sucht die Schuld nicht bei anderen. Er hat zu wenig getrunken. „Ich würde sofort einen Rückkampf machen“, sagt er. Die Gesetze im Profigeschäft sprechen dagegen. Boxen kann gnadenlos sein. „39 und verloren“, das macht sich nicht gut in der Bewerbungsmappe. „Es kann sein, dass ich nie wieder eine Chance kriege.“ Wahrscheinlich nimmt er jetzt ein paar Tage Urlaub, trainiert danach wieder bei den Kleintierzüchtern und geht wie früher in die Schulen. Sie hören ihm dort gerne zu. „In Deutschland kann es jeder schaffen, der sich anstrengt“, wird er sagen und von Firat Arslan erzählen, dem Champ, und davon, dass es sich lohnt zu kämpfen, trotz allem, bis zum letzten Tropfen Wasser.