„Mackenroths Theorem“: Ein Zombie der Rentenpolitik

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„Mackenroths Theorem“: Ein Zombie der Rentenpolitik
„Mackenroths Theorem“: Ein Zombie der
Rentenpolitik
Düsseldorf, 5. August 2016
Bert Rürup
Wenn die Verfechter der Umlagefinanzierung in der Altersvorsorge nach Argumenten gegen
kapitalgedeckte Ergänzungssysteme suchen, greifen sie gerne auf einen alten Bekannten
zurück: Gerhard Mackenroth. Eine kleine Auswahl:
- „Denn gerade in der Zeit der Finanzmarktkrise ist das Prinzip nach der Mackenroth-These
…das sicherste Prinzip für die Menschen überhaupt… Jede Art von Kapitaldeckung zeichnet
irgendwie ein Luftschloss, aber führt nicht zum Ziel.“ (Hilde Mattheis, SPD)
- „Schon …Gerhard Mackenroth (hat) festgestellt: Das Geld fließt egal ob in der gesetzlichen
Rentenversicherung oder im kapitalgedeckten System immer von der arbeitenden
Bevölkerung zu den Ruheständlern“. (Frankfurter Rundschau)
- „Nur die umlagefinanzierte Rente ist krisenfest….“ (Sahra Wagenknecht, Die Linke)
Ohne Zweifel haben die Verfechter der Umlagefinanzierung zurzeit Oberwasser. Doch was
steckt eigentlich hinter dem Mackenroth-Theorem? Gerhard Mackenroth, der 1955
verstorbene akademische Wanderer zwischen Ökonomie, Bevölkerungswissenschaft und
Soziologie, schrieb: „Nun gilt der einfache und klare Satz, dass aller Sozialaufwand immer aus
dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden muss. Es gibt gar keine andere
Quelle und hat nie eine andere Quelle gegeben, aus der der Sozialaufwand fließen könnte, es
gibt keine Ansammlung von Periode zu Periode, kein "Sparen" im privatwirtschaftlichen
Sinne, es gibt einfach gar nichts anderes als das laufende Volkseinkommen als Quelle für den
Sozialaufwand …. Kapitalansammlungsverfahren und Umlageverfahren sind also der Sache
nach gar nicht wesentlich verschieden. Volkswirtschaftlich gibt es immer nur ein
Umlageverfahren."
Es war letztlich dieser dezidierten Aussage Mackenroths zu verdanken, dass die Politik 1957
den Mut fand, unsere heutige umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung einzuführen.
Die erste unter Reichskanzler Bismarck entwickelte und 1891 eingeführte deutsche
Rentenversicherung war von der Idee her eine kapitalgedeckte "Sparrente". Dieses System
kollabierte in den 1920er Jahren aufgrund der rasant gestiegenen Ausgaben für die
Hinterbliebenen der Gefallenen des Ersten Weltkriegs und vor allem als Folge der damaligen
Hyperinflation. Weder in der Weimarer Republik, noch im Dritten Reich war dieses System
wieder auf eine solide Finanzierungsbasis gestellt worden. Eine grassierende Altersarmut in
den jungen Jahren der Bundesrepublik war die Folge.
Erst Mitte der 1950er Jahren kam es unter Konrad Adenauer zu einem rentenpolitischen
Neustart. Er setzte - gegen den Willen seines Wirtschaftsministers Ludwig Ehrhard – die
umlagefinanzierte "dynamische Rente" durch, deren Höhe sich am Lebensstandard der
Erwerbsphase orientieren sollte. Dies war eine richtige und mutige Entscheidung. Und das
mit der Einführung eines Umlagesystems stets anfallende Einführungsgeschenk, sprich
Leistungen, für die zuvor keine entsprechenden Beiträge gezahlt wurden, bestand in einer
Erhöhung der laufenden Altersrenten um durchschnittlich 60 Prozent. Die damalige
Altersarmut wurde so auf einen Schlag aus der Welt geschafft.
Zu diesem radikalen Neustart wäre es nicht gekommen, wenn nicht einige Jahre zuvor
Gerhard Mackenroth auf einer Sondersitzung des Vereins für Sozialpolitik im Jahr 1952 den
Vortrag "Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan" gehalten hätte. Bis
dahin galt als ausgemacht, dass Rentensysteme auf dem Kapitaldeckungsverfahren basieren
und die fälligen Renten aus den Erträgen und dem Abschmelzen eines zuvor gebildeten
Kapitalstocks stammen müssen. Dem widersprach Mackenroth kategorisch mit den oben
zitierten Worten. Und es war beeindruckend, dass diese These eine so große politische
Durchschlagskraft entfaltete, dass es zu dem Wechsel zur Umlagefinanzierung kommen
konnte.
Bedauerlich ist allerdings, dass dieses zu einem Teil triviale und zum anderen Teil
unzutreffende Theorem nun als vermeintlicher Beleg herangezogen wird, um die Etablierung
kapitalgedeckter Ergänzungssysteme als Irrweg hinzustellen und nach Möglichkeit
rückabzuwickeln. Es soll die ökonomische Überlegenheit der Umlagefinanzierung und die
Sinnlosigkeit kapitalgedeckter Ergänzungssysteme zeigen. Doch genau dies leistet
Mackenroths These nicht.
Der Satz, dass "aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode
gedeckt werden muss", ist so zutreffend wie banal. Denn jedes Einkommen, seien es Renten,
Löhne, Mieten oder Zinsen, welches jemand bezieht, muss stets zur gleichen Zeit von
jemandem bezahlt werden. Beim Umlageverfahren entsprechen die Renten eines Jahres –
sieht man von Bundeszuschüssen ab – den aus den Beiträgen der Versicherten gespeisten
Ausgaben der Rentenversicherung des gleichen Jahres. Beim Kapitaldeckungsverfahren
werden die Altersbezüge von Versicherungen, Fonds oder Banken ausgezahlt und bestehen
aus – von diesen Kapitalsammelstellen vereinnahmten – Zinsen, Mieten,
Gewinnausschüttungen oder Veräußerungserlösen. Und bei den nach dem "offenen
Deckungsplanverfahren" oder "modifizierten Anwartschaftsdeckungsverfahren" arbeitenden
berufsständischen Versorgungseinrichtungen der freien Berufe wie der Ärzte, Rechtsanwälte
oder Apotheker setzen sich die ausgezahlten Versorgungsleistungen aus einer Mischung aus
Kapitalerträgen und Einnahmen aus den laufenden Beitragszahlungen der Versicherten
zusammen. Insoweit hatte Mackenroth zweifellos Recht.
Die Aussage, dass Kapitaldeckung und Umlageverfahren nicht wesentlich verschieden seien
und es volkswirtschaftlich immer nur ein Umlageverfahren gäbe, ist jedoch unzutreffend. Die
Renten aus der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung werden – wie erwähnt –
aus den Beiträgen der obligatorisch oder freiwillig Versicherten dieses Systems finanziert. Sie
sind somit Teil der in der nationalen Volkswirtschaft gezahlten Löhne oder
Erwerbseinkommen. Die von den Versicherungen, Fonds oder Banken erzielten
Vermögenseinkommen stammen dagegen aus der Anlage der Versicherungsprämien in
deutsche und ausländische Staatsanleihen sowie aus Gewinnausschüttungen nicht nur in
Deutschland tätiger Unternehmen, sondern zu einem beachtlichen Teil auch von
Investitionen in anderen Ländern – in Anleihen, Beteiligungen an Unternehmen oder an
Fonds. Kurzum, die mit Prämien an ein kapitalgedecktes System erworbenen Ansprüche
werden aus völlig anderen Quellen und von einem anderen Personenkreis bedient als die aus
den Beiträgen an eine umlagefinanzierte Rentenversicherung gezahlten Ansprüche. Hinzu
kommt, dass es sich bei umlagefinanzierten Renten um Transfereinkommen handelt, deren
Höhe durch die Politik festgesetzt wird, während es sich bei kapitalgedeckten Renten um
eigentumsrechtlich geschützte Markteinkommen handelt, deren Höhe in geringerem Maße
von der Politik bestimmt werden kann. In unserer globalisierten Welt mit integrierten
Finanzmärkten ist die Mackenroth-These unvollständig und damit letztlich falsch. Und selbst
in Volkswirtschaften mit abgeschotteten Finanzmärkten kann das Volkseinkommen, aus dem
alles bezahlt werden muss, größer werden, wenn mehr gespart wird. Das wusste auch
Mackenroth, denn sonst hätte er sicher nicht geschrieben: „Der Aufbau von Realkapital ist ein
Geschenk der Gegenwart an die Zukunft.“
Da alle Rentenanwartschaften Ansprüche sind, deren Bedienung in der Zukunft
erwirtschaftet werden müssen, sind sie zwingend mit Unsicherheit behaftet. Bei
umlagefinanzierten Renten sind es die Lohnsummenrisiken, die aus der
Arbeitsmarktentwicklung und der demografischen Entwicklung resultieren. Bei den
kapitalgedeckten Renten sind es die Kapitalmarkt- und Wechselkursrisiken. In welchem Maß
diese Risiken auf die Zahlbeiträge der Renten durchschlagen, hängt aber in hohem Maße von
der Intensität und Intelligenz der staatlichen Regulierungen ab. So spielen in unserem
Umlagesystem die diversen steuerfinanzierten dynamisierten Bundeszuschüsse und
Bundesbeiträge, die Bundesgarantie zur Sicherung der jederzeitigen Zahlungsfähigkeit oder
die Garantie zum Ausschluss von nominalen Rentenkürzungen wichtige Rollen. Bei den
kapitalgedeckten Renten sind es Anlagevorschriften, Sicherungssysteme von
Lebensversicherungen wie Protector, die Arbeitgeberhaftung oder der
Pensionsversicherungsverein, durch den Betriebsrenten im Fall einer Insolvenz des
Arbeitgebers garantiert werden.
Fakt ist: Keines der beiden Finanzierungsprinzipien ist ökonomisch a priori oder auf Dauer
überlegen. Beide Formen haben spezifische Vor- und Nachteile, wobei ein sehr großer
Vorzug des Umlageverfahrens ist, dass unmittelbar nach Einführung Leistungen an die erste
Rentnergeneration gezahlt werden können, auch wenn diese Mitglieder dafür keine Beiträge
gezahlt haben. Und es besteht zudem kein Zweifel, dass die derzeitige Niedrigzinsphase die
Attraktivität der Kapitaldeckung verringert. Genauso wenig kann man allerdings davon
ausgehen, dass die daraus resultierende renditemäßige Überlegenheit des Umlagesystems
von Dauer sein wird.
Die britischen Ökonomen Dutta, Kapur und Orszag haben im Jahr 2000 gezeigt, dass unter
risikodiversifizierenden Gesichtspunkten einem mischfinanzierten Alterssicherungssystem
der Vorzug zu geben ist – sowohl gegenüber einem reinen Umlagesystem als auch einem
rein kapitalgedeckten System. Vor diesem Hintergrund zeigt ein Blick auf die
rentenpolitische Weltkarte, dass es nur in sechs Staaten rein kapitalgedeckte staatliche
Alterssicherungssysteme gibt. In der großen Mehrheit der Länder sind Systeme etabliert, die
aus einer Mischung aus Umlagefinanzierung und steigenden Anteilen kapitalgedeckter
Formen bestehen. Und das liegt sicher nicht an dem mangelnden ökonomischen Wissen in
diesen Staaten.
Die Bundesrepublik hat die Einführung unserer gesetzlichen Rentenversicherung
Mackenroths Satz zu verdanken – dies aber nicht, weil es sich um eine echte
wissenschaftliche Innovation handelte, sondern weil Mitte der 1950er Jahre der
Problemdruck hoch und das Geld zur Anschubfinanzierung da war – nämlich die in den
Jahren 1953 bis 1957 angesammelten Kassenüberschüsse des Bundeshaushalts aus nicht
verbrauchten Geldern zum Aufbau der Bundeswehr. Die Rentenreform 1957 war – nach der
Bismarckschen Invaliden- und Altersversicherung – ohne Zweifel der wichtigste
Entwicklungsschritt der deutschen Rentenpolitik. Zur Beantwortung der sich in der aktuellen
Rentendiskussion stellenden Fragen wie der angemessenen Höhe des Rentenniveaus, der
hinnehmbaren Obergrenze des Beitragssatzes, einer Erhöhung der Armutsfestigkeit, einer
Ausweitung des Versichertenkreises sowie der Art und Höhe der kapitalgedeckten privaten
oder betrieblichen Ergänzungssysteme kann aber Mackenroths Theorem definitiv nichts
beitragen.