Gott schuf den Mensche

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Gott schuf den Mensche
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Andacht zum Thema Intersexualität
Dr. Eske Wollrad, Evangelische Frauen in Deutschland e.V.
Lesung
„Gott schuf den Menschen als Mann und Frau, zum Bilde Gottes schuf er sie“ heißt es in 1.
Mos. 1,27.
Ansprache
„Als Mann und Frau erschuf er sie“ Was ist eigentlich eine Frau? Was ist eigentlich ein
Mann?
Wenn wir diese Frage hören, entstehen Bilder in unserem Kopf. Wir sehen eine Person an,
und automatisch ordnen wir sie als geschlechtliches Wesen ein. Mann oder Frau, Junge
oder Mädchen – entweder oder.
Dabei ist die Frage, was ein Mann, was eine Frau ist, eigentlich gar nicht so einfach zu
beantworten.
Auf dem Boden sehen Sie Bilder von Menschen verschiedenen Geschlechts. Sind es
Frauen? Sind es Männer? Woran machen wir unser Urteil fest?
Weltmeisterschaft 2009 in Deutschland. Die südafrikanische Mittelstreckenläuferin Caster
Semenya bricht alle Rekorde. Aber Moment mal! Sie startet bei den Frauen, aber sie sieht
irgendwie nicht richtig aus wie eine Frau. Ein medizinischer Test wurde gefordert. Die
Analyse dauerte Wochen – warum? Es müsste doch einfach sein, das Geschlecht zu
bestimmen. Der Generalsekretär des Leichtathletikverbands teilte der Presse schließlich
lakonisch mit: „Es ist klar, dass sie eine Frau ist, aber vielleicht nicht zu 100 Prozent.“
Geschlechter sind nicht so eindeutig, wie sie zunächst scheinen.
Das Geschlecht eines Menschen wird durch das Wechselspiel vieler Faktoren geprägt.
Genetische, hormonelle, anatomische, psychische und soziale Faktoren haben Einfluss
darauf. Und die Kombinationen dieser Faktoren sind manchmal eben alles andere als
eindeutig.
Ein Hormonexperte Universität München sagt: „Manchmal ist die Bestimmung des
Geschlechts eine willkürliche Festlegung im großen Kontinuum zwischen männlich und
weiblich. Es gibt etliche Frauen, die nach wissenschaftlichen Kriterien eigentlich Männer
sind."
Hermaphroditen oder auch Zwitter hat man früher diese Menschen benannt, deren Geschlecht nicht eindeutig festzustellen war. Weil die Begriffe heute stigmatisierend wirken, gebraucht der Ethikrat den zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandenen Begriff "Intersexualität".
Aber auch dieser Begriff ist weder eindeutig noch unstrittig. "Die Bezeichnung Intersexualität
bezieht sich auf Menschen, die sich aufgrund von körperlichen Besonderheiten nicht eindeutig als männlich oder weiblich einordnen lassen (...). Der Begriff Intersexualität, manchmal
auch durch Intergeschlechtigkeit oder Zwischengeschlechtigkeit ersetzt, lässt offen, ob es
sich um ein drittes Geschlecht handelt oder ob die Zuordnung nur nicht festgelegt oder festlegbar ist"
In Deutschland leben nach Schätzungen zwischen 80.000 und 120.000 Intersexuelle.
Am Anfang gehören wir alle zu dieser Gruppe. Bis zur sechsten Schwangerschaftswoche
trägt jeder Fötus Anlagen für beide Geschlechter in sich. Erst danach prägen die Gene in der
Regel ein männliches oder weibliches Wesen.
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„Gott schuf den Menschen als Mann und Frau, zum Bilde Gottes schuf er sie“.
In diesem Vers in der Genesis geht es um die Gottebenbildlichkeit der Menschen. Die
Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit kennt schon die altorientalische Königsideologie. In
Ägypten war der Pharao Abbild Gottes und ließ von sich Statuen erstellen. Israel duldete
keine kultischen Bilder des Göttlichen, aber das bedeutete keineswegs ein Ende der
Vorstellung vom Bild Gottes. So taucht in 1. Mos. 1,27 die Vorstellung in anderer Weise
wieder auf: Nicht Statuen, sondern lebendige Menschen sollen hier das Bild Gottes sein. Das
war eine sehr kühne Vorstellung in einer kulturellen Umwelt, die Gott nur durch konkrete
Bilder repräsentiert sah. Noch kühner aber ist die damit verknüpfte Idee, dass nicht nur der
König oder Pharao, sondern alle Menschen Bild Gottes sein sollen! Alle Menschen sollen
Gott in der geschaffenen Welt repräsentieren und sie nach seinem Willen gestalten. Ein Bild
Gottes zu sein, meint insofern keine Entsprechung in Aussehen und Gestalt, sondern in der
Funktion. Es geht um die Repräsentanz der göttlichen Macht in der Welt.
Folglich ist der Mensch nicht nach dem Bilde Gottes, sondern zum Bild Gottes geschaffen.
Dieses beinhaltet eine Aufgabe, nämlich die, sich verantwortlich handelnd zu seinem
Lebensraum und den Lebewesen darin verhalten. Insofern der Mensch das tut, ist er oder
sie Bild Gottes.
Zum Bilde Gottes geschaffen zu sein, ist somit das Charakteristikum der ganzen Menschheit.
Oftmals wurde diese Bibelstelle als Beleg für eine von Gott gewollte Zweigeschlechtlichkeit
verstanden. Und ebenso oft wurde gesagt, 1. Mos 1 begründe die grundlegende Differenz
zwischen Männern und Frauen.
Doch 1. Mos. 1,27 zielt nicht auf der Unterschiedlichkeit von Mann und Frau, sondern auf die
allen Menschen zukommenden Würde und Verpflichtung. Bezüglich des Zum Bild Gottes
Geschaffen-Seins des Menschen ist deshalb gerade nicht zwischen männlichen und
weiblichen Menschen zu unterscheiden. Der Schöpfungsbericht zielt auf die Beteiligung
einer Gesamtheit, nicht auf eine polar konstruierte Zweigeschlechtlichkeit. Diese ist eine
Erfindung der Neuzeit.
Die Unterscheidung zwischen Frauen und Männern, wie wir sie in 1 Mos 1,27 vorfinden, ist
zu verstehen als ein Kontinuum von A nach B, mit vielen Zwischenräumen und fließenden
Übergängen. In diesem Kontinuum sind alle Geschlechter beheimatet, nicht nur Frauen und
Männer.
Intersexuelle und transsexuelle Menschen sind keine Montagsproduktionen Gottes, keine
Stiefkinder der EWIGEN. Sie sind geschaffen zum Bilde Gottes.
Menschen in ihrer ganzen Vielfalt – auch in ihrer Geschlechtervielfalt – sind geschaffen zum
Bilde Gottes.
Die Pluralität von geschlechtlichen Identitäten zu achten bedeutet eine Befreiung von den
Fesseln einer historisch konstruierten Geschlechterordnung, die viele Menschen unterdrückt
und ausgrenzt: Frauen, Intersexuelle, Homosexuelle, Transgenderpersonen und solche, die
als „nicht männliche“ Männer bzw. „nicht weibliche“ Frauen gelten.
Mit der Wahrnehmung und Achtung von Geschlechtervielfalt erhält das Wort
„Geschlechtergerechtigkeit“ einen neuen Klang: Es wird weiter, umfassender. Und es trifft
den Kern des biblischen Gerechtigkeitsverständnisses: Allen Menschen ist die göttliche
Gerechtigkeit zugesagt, denn alle sind geschaffen zum Bilde der EWIGEN.
Amen