Neuer, kreativer Umgang ist gefragt - Schweizer Paraplegiker
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Neuer, kreativer Umgang ist gefragt - Schweizer Paraplegiker
Langzeitpflege K r a n k e n p f l e g e I S o i n s i n f i r m i e r s I C u r e i n f e r m i e r i s t i c h e 11/2015 Wie wird man mit einer Querschnittlähmung gut alt? Neuer, kreativer Umgang ist gefragt Wegen der höheren Beanspruchung der nicht gelähmten Teile des Körpers können Paraplegiker im Alter die durch harte Arbeit erworbene Selbstständigkeit wieder frühzeitig verlieren. Der Psychologe Peter Lude, selber querschnittgelähmt, plädiert für eine innere Fitness im Umgang mit Einschränkungen. Text: Peter Lude / Fotos: Walter Eggenberger, SPS Eine Querschnittlähmung besticht durch ihre äussere Erscheinung, d.h. die Unbeweglichkeit. Gerade wenn es um die Funktionalität geht, bereitet eine Tetraplegie (alle 4 Gliedmassen betroffen, Atmung eingeschränkt) besser auf das Alter vor, als eine tiefere Lähmung, eine Paraplegie, bei der Arme und Hände voll funktionsfähig sind. Was gemeinhin als Vorteil erachtet wird, also eine höhere Beweglichkeit durch eine tiefere Lähmung, wirkt sich in gewisser Weise behindernd auf das kommende Alter aus, zumindest was den Umgang mit der eingeschränkten Beweglichkeit anbelangt: Tetraplegiker sind meist auf fremde Hilfe angewiesen, können sich nicht mehr selbst anziehen, müssen bei Körperpflege und Nahrungsaufnahme unterstützt werden. Sie sind es insofern gewohnt, Assistenzdienste anzunehmen. Die Selbstständigkeit, die der Mensch von klein auf über Jahre hinweg erlernt, und die nach Eintritt einer Querschnittlähmung durch harte Arbeit in der Rehabilitation so weit wie möglich wieder erlangt werden muss, kann durch eine höhere Beanspruchung der nicht gelähmten Teile des Körpers frühzeitig wieder verloren gehen. Alle Menschen müssen mit fortschreitenden Funktionsverlusten fertig werden, nach dem Motto: «Je grösser die körperliche Funktionalität, desto grösser die sich im Alter einschränkende Funktionalität.» Normale Lebenserwartung Dennoch erreichen heutzutage auch Tetraplegiker annähernd eine normale Lebenserwartung. Vieles deutet darauf hin, dass unabhängig von der äusseren Beweglichkeit eine innere Lebendigkeit aktiv ist, die den gelähmten Menschen auch über Jahrzehnte hinweg am Leben erhält. Neuere psychologische Forschungsergebnisse weisen auf solche organismische, vor allem psychische Prozesse hin. Der Körper ist nicht im Stande, über sich hinaus zu reifen, die Psyche, die Persönlichkeit hingegen schon. Die grosse Kunst, mit einer Querschnittlähmung gut alt zu werden, d.h. mit massiver Bewegungseinschränkung, Sensibi- Beatrice Felder, SPS 8 litätsverlust und vegetativen Irritationen (Störungen der Blasen- und Darmfunktion, Herzkreislaufsystem, Verdauung, Schlaf, sowie Schmerzen, Gefährdung der Haut und Knochen u.v.m.), die bei nicht sachgemässer Beachtung schnell lebensbedrohlich werden können, besteht im ständigen Ausgleich von Überbelastungen. Diese sind nicht immer sofort erkennbar und bedürfen deshalb einer ununterbrochenen Achtsamkeit und Disziplin im gesamten Lebensvollzug. Innere und äussere Sorgfalt Somit wird unmittelbar klar, welche Bedeutung nicht nur der eigenen Sorgfalt, sondern auch den Angehörigen und den Peter Lude, Dr. phil., MSc, Fachpsychologe für Psychotherapie FSP mit eigener Praxis für Psychologische Psychotherapie. Dozent für Rehabilitationspsychologie an der ZHAW. Er ist in nationalen und internationalen Forschungsprojekten zur Bewältigung von Querschnittlähmung tätig, u.a. Affiliate Faculty Member der Schweizer Paraplegiker-Forschung und des Schweizer ParaplegikerZentrums Nottwil. Kontakt: [email protected], Zürcherstrasse 3, 5330 Bad Zurzach www.sbk-asi.ch >Querschnittlähmung >Alter >Autonomie K r a n k e n p f l e g e I S o i n s i n f i r m i e r s I C u r e i n f e r m i e r i s t i c h e 11/2015 Angehörige leisten einen entscheidenden Beitrag für ein komplikationsarmes Leben mit Querschnittlähmung. Pflegefachpersonen für ein möglichst lang andauerndes, komplikationsarmes oder gar komplikationsloses Leben mit Querschnittlähmung zukommt. Nicht immer kann beispielsweise die Haut selber kontrolliert werden. Und ebenso muss bei einer demenziellen Entwicklung graduell und vermehrt die Kontrolle über verschiedene persönliche Angelegenheiten extern übernommen werden. Je gewissenhafter die innere und äussere Sorgfalt ist, desto höher ist die Lebenserwartung. Damit diese Sorgfalt gut erbracht werden kann, braucht es neben einer hohen Beziehungsqualität zwischen Nehmenden und Gebenden solcher Leistungen auch geeignete Wohnverhältnisse und Hilfsmittel. Der Umgang mit Hilfsmitteln ist nicht einfach, bedarf immer wieder Anpassungen, denn Mensch und Umwelt verändern sich im Laufe des Lebens. Gefordert sind deshalb einerseits eine innere Fitness, ja Sportlichkeit, im Umgang mit Einschränkungen. Andererseits müssen die Voraussetzungen in Umwelt, Gesundheitssystem, Altersversorgung, Technik u.a. geschaffen und nicht zuletzt die Bewusstseinsbildung für solche Anpassungsprozesse, die früher oder später jeden betreffen, in der breiten Bevölkerung gefördert werden. So, wie wir bis jetzt diesen Herausforderungen begegnen, werden wir die künftig gesteigerten nicht wirklich gut erfüllen können. Vielleicht bräuchte es – im übertragenen Sinn – eine «gesellschaftliche Querschnittlähmung», damit sehr bald ein neuer, kreativer Umgang mit den bestehenden Ressourcen erlangt, die begonnenen Entwicklungen beschleunigt und damit insbesondere auch den Angehörigen vermehrt Sorge getragen werden kann. Mehr zum Thema Warum das Leben weitergeht Literatur: Lude P., Stirnimann D. (2015). Psychologische Aspekte des Hilfsmittelgebrauchs. In: Strubreither W., Neikes M., Stirnimann D., Eisenhuth J., Schulz B., Lude P. (Hrsg). Klinische Psychologie bei Querschnittlähmung. Springer, Wien. Stirnimann D., Lude P., Schulz B. (2015). Alter und Querschnittlähmung. In: Strubreither W., Neikes M., Stirnimann D., Eisenhuth J., Schulz B., Lude P. (Hrsg). Klinische Psychologie bei Querschnittlähmung. Springer, Wien. Lude P. (2016). Querschnittlähmung – Schritte der Bewältigung. Die Kraft der Psyche. Springer; Wien. Das Thema Alter und Behinderung wird im Buch «Warum das Leben weitergeht» vertieft. Betroffene und Fachpersonen geben ihre Erfahrungen und ihr Wissen im Umgang mit massiven Einschränkungen weiter. Lude P., Vischer F., Willi Studer M. (Hrsg) (2014). Warum das Leben weitergeht – auch im Alter und mit Behinderung. Verlag Johannes Petri und EMH eidg. Ärzteverlag, Basel. «Warum das Leben weitergeht» lautet auch der Titel einer Careum-Abend-Veranstaltung zum Thema, 24. November 201, 17 Uhr: www.careum.ch/termine 9 Langzeitpflege 10 K r a n k e n p f l e g e I S o i n s i n f i r m i e r s I C u r e i n f e r m i e r i s t i c h e 11/2015 Fachdiskussion über den Umgang mit Querschnittlähmung im Alter: Mechtild Willi Studer. Karin Roth, Nadja Münzel, Regula Kraft, Andreas Jenny (vlnr). Querschnittlähmung und Alter Erkämpfte Selbständigkeit möglichst lange erhalten Neue Wohnformen, eine integrierte Versorgung mit einem Netzwerk von gut ausgebildeten und spezialisierten Fachpersonen: Drei Pflegefachpersonen, ein Arzt und eine Betriebsökonomin des SPZ diskutieren, was es braucht, um mit einer Querschnittlähmung gut alt zu werden. Transkription/Moderation: Andrea Christen, Mechtild Willi Studer / Fotos: Walter Eggenberger, SPS Hat für einen Rollstuhlfahrer/eine Rollstuhlfahrerin das Alter die gleiche Bedeutung wie für einen Fussgänger oder eine Fussgängerin, oder gibt es da Unterschiede? Nadja Münzel: Es hat die gleiche Bedeutung, weil es individuell und subjektiv ist, wie bei den Fussgängern. Die fühlen sich auch nicht alt, nur weil sie pensioniert sind. Karin Roth: Wenn Menschen erst im fortgeschrittenen Alter eine Querschnittlähmung erleiden, kann es sich unterschei- den. Gleichzeitig das Altern und eine neu erworbene Querschnittlähmung zu meistern, ist eine besondere Herausforderung. Aber es gibt auch Menschen, die mit einer solchen, sehr schwierigen Situation sehr aktiv umgehen und neue Perspektiven entwickeln. Andreas Jenny: Aus funktioneller Sicht gibt es Unterschiede zwischen einem Fussgänger und einem Rollstuhlfahrer. Ein Fussgänger lernt in seiner Kindheit alle Strategien, die er braucht um zu essen, sich anzuziehen, sich fortzubewe- gen usw. und ist dann für mindestens fünfzig Jahre selbständig. Ein Rollstuhlfahrer muss alles ein zweites Mal lernen, anlässlich seiner Erstrehabilitation. Er gewinnt sein Leben wieder zurück und ist zu Recht stolz darauf. Da ist es häufig schwierig einzusehen, dass einiges, das bisher gegangen ist, nicht mehr geht und man in einzelnen Aktivitäten Unterstützung braucht. Manche spüren eine grosse Angst vor erneuter Abhängigkeit und dass die hart erkämpfte Freiheit wieder verloren geht. Beim Rollstuhlfahrer K r a n k e n p f l e g e I S o i n s i n f i r m i e r s I C u r e i n f e r m i e r i s t i c h e 11/2015 Betreuung und Pflege Projekt Ageing «Wir müssen bereit sein, mit Fachpersonen, Patienten und Angehörigen Neues zu entwickeln und Gewohnheiten, die nicht mehr zukunftstauglich sind, loszulassen.» Mechtild Willi Studer gibt es mittlerweile Studien, die zeigen, dass es nach 15 bis 25 Jahren zu einem Verlust in der Selbständigkeit kommt. Das ist für die Betroffenen emotional eine grössere Herausforderung als die Erstrehabilitation. Regula Kraft: Die Angehörigen von Rollstuhlfahrern sind stärker in diesen Prozess einbezogen. Viele übernehmen teilweise die Pflege. Deshalb ist es eine intensivere gemeinsame Auseinandersetzung, nochmals einiges umzustellen und wieder neu zu lernen. Mechtild Willi Studer: Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an einen 70- Karin Roth, Pflegeexpertin HöFa 2 und zurzeit im Studium Public Health. 18 Jahre Erfahrung in der Arbeit mit querschnittgelähmten Menschen im SPZ. Nadja Münzel, Pflegefachfrau und MAS in Managing Healthcare Institutions, seit einem Jahr Geschäftsführerin von ParaHelp. Regula Kraft, Betriebsökonomin, seit 21/2 Jahren im Ageing Projekt. Andreas Jenny, Leitender Arzt Paraplegiologie, arbeitet seit 12 Jahren mit Querschnittgelähmten. Mechtild Willi Studer, Pflegefachfrau und Organisationsentwicklerin (MSc), Leiterin Pflegemanagement, seit 11 Jahren am SPZ. Kontakt: [email protected] jährigen Patienten, der sich dagegen wehrte, nur ein reduziertes Therapieprogramm zu erhalten. Der sehr sportliche Mann absolvierte das gleiche Programm wie die Jüngeren und hat es geschafft, sein Leben ziemlich autonom zu gestalten. Er hat sozusagen mit seinem jugendlichen Willen das Alter überlistet. Welche Lebenserwartung hat heute ein Rollstuhlfahrer, der sich im jüngeren Erwerbsalter eine Querschnittlähmung zugezogen hat? Jenny: Wenn er korrekt erstrehabilitiert wurde, medizinisch und pflegerisch gut betreut wird, dann hat ein Paraplegiker eine normale, ein Tetraplegiker eine nahezu normale Lebenserwartung, je nach Läsionshöhe. Dem Druck, den die Querschnittlähmung erzeugt, können einige Betroffene jedoch langfristig nicht standhalten. Das schränkt die Lebenserwartung ein. Die Disziplin, die man jeden Tag aufbringen muss, diese Mühen, das geht an die Substanz. Es gibt einige, die besser damit umgehen können als andere. Mit welchen medizinischen Komplikationen muss er rechnen? Jenny: Die normalen Komplikationen sind gleich wie bei Fussgängern. Was bei Querschnittgelähmten anders ist, sind spezifische Haut-, Blasen- und Nie- Mit dem Projekt Ageing geht die Schweizer Paraplegiker-Stiftung neue Wege in der Betreuung und Pflege von älteren Menschen mit Querschnittlähmung. Wie Regula Kraft ausführt, besteht das Projekt aus vier Teilen: – Die Erarbeitung von Grundlagenwissen: Wer sind die Betroffenen, wie viele sind es, wie ist ihre Verteilung in der Schweiz und was sind ihre Bedürfnisse. – Aufbau eines Netzwerks mit geeigneten Partnerinstitutionen in der ganzen Schweiz: Jede dieser Organisationen bietet Wohnen mit Dienstleistungen, eine integrierte oder externe Spitex sowie ein Pflegeheim angegliedert oder in der Nähe. – Die Schulung der pflegenden Fachpersonen auf die spezifischen Bedürfnisse querschnittgelähmter älterer Personen. – Den Einbezug der Bedürfnisse Angehöriger bei der Erarbeitung von Lösungen. Die Projektphase dauerte zwei Jahre und wurde Ende 2014 abgeschlossen. Daraus ist nun die Koordinationsstelle «Alter und Wohnen» der ParaHelp AG entstanden, die dieses Netzwerk weiterentwickelt, den Bedarf eruiert und Beratungen und Vermittlungen durchführt für Betroffene, die neue Lösungen suchen. renprobleme. Dazu altert der Körperteil unter der Lähmungshöhe schneller, er ist 10 bis 20 Jahre älter als der noch junge Kopf. Auch besonders beanspruchte Gelenke – wie die Schultergelenke, die zum Anschieben des Rollstuhlstuhls überstrapaziert werden – sind viel älter als beim gleichaltrigen Fussgänger. Herzkreislauferkrankungen treten beschleunigt auf. Man kann insgesamt sagen, dass ein Querschnittgelähmter etwas schneller altert. Dadurch wird aber nicht die Lebenserwartung, wohl aber die Lebensqualität, der Komfort und die Selbständigkeit beeinträchtigt. Was beobachtet die Pflege diesbezüglich? 11 Langzeitpflege 12 K r a n k e n p f l e g e I S o i n s i n f i r m i e r s I C u r e i n f e r m i e r i s t i c h e 11/2015 Beratung und Unterstützung ParaHelp Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung (SPS) unterhält in Nottwil ein einzigartiges Leistungsnetz für querschnittgelähmte Menschen. Die Tochtergesellschaft ParaHelp berät und unterstützt schweizweit Menschen mit lähmungsbedingten Behinderungen sowie deren Umfeld fachspezifisch, individuell und zielgerichtet bei Fragen zu Pflege und Betreuung. Im Mittelpunkt stehen die Rehabilitation zu Hause, die Vermeidung von Komplikationen sowie die Förderung der Lebensqualität. Weitere Informationen: www.parahelp.ch / www.paraplegie.ch Roth: Mit zunehmendem Alter gibt es besonders im Bereich der Haut vermehrt Probleme. Die Pflegefachpersonen kontrollieren sie regelmässig, versuchen, sie zu entlasten und trotzdem treten Druckstellen auf. Die Alterung der Haut hat Auswirkung auf die Elastizität. Beschleunigt werden die Probleme durch die fehlende Muskelmasse. Es kann aber auch sein, dass Patienten nicht mehr transferieren können, weil sie Schultergelenkoder auch Darmprobleme haben. Auch soziale Faktoren spielen eine Rolle, wenn pflegende Angehörige krank werden, und die Gefahr droht, nicht mehr zu Hause bleiben zu können. gesamt wird die Pflege zuhause komplexer, für die Spitex, für uns, aber vor allem für die Angehörigen. Roth: Es beschäftigt auch die Patientinnen. Ich habe kürzlich mit einer Kollegin gesprochen, die schon lange im Rollstuhl ist. Sie müsse sich immer gut überlegen, was sie organisieren oder mitnehmen muss. Und sie fragt sich, wie das dann im Alter klappt, wenn ihr Gedächtnis nachlässt und sie vieles vergisst. Mit welchen neuen Herausforderungen müssen wir rechnen? Münzel: Es wird vermehrt Menschen mit Demenz im Rollstuhl geben. Das braucht Anpassungen zu Hause bis hin zu einem Wechsel in eine betreute Umgebung. Diese Wohninstitutionen müssen geschult werden, damit die Rollstuhlfahrer fachgerecht gepflegt werden. Dazu kommen weitere Herausforderungen: Können demente Menschen im Rollstuhl den Umgang mit neuen technischen Hilfsmitteln lernen? Wie passen wir unsere Beratung bedarfsgerecht an? Das braucht entsprechend geschultes Personal. Kraft: Wenn es zu Hause nicht mehr geht, braucht es andere Unterstützungsformen und -orte. Das Fachwissen, das die Pflege im Heim und in der Spitex benötigt, muss noch aufgebaut werden. Hier wird die ParaHelp Fachunterstützung und Beratung bieten (s. Kasten). Münzel: Und man muss die Betroffenen und Angehörigen für die Veränderungen im Alter sensibilisieren. Die Infrastruktur, die Betreuungs- und die finanzielle Situa- «Die Disziplin, die man jeden Tag aufbringen muss, diese Mühen, das geht an die Substanz. Es gibt einige, die besser damit umgehen können als andere.» Andreas Jenny Münzel: Die wiederkehrenden Hautprobleme sind ein grosses Problem. Das Alter wirkt sich auf die Wundheilung aus, es braucht mehr Zeit und Geduld. Dazu kann sich der Ernährungsstatus verschlechtern, wenn der Appetit nachlässt und in der Folge eine Mangelernährung entsteht. Zur Unterstützung müssen rechtzeitig zusätzliche Hilfsmittel und Matratzen eingesetzt werden. Ins- tion zuhause sowie die Biografie der Betroffenen und der Angehörigen müssen miteinbezogen und individuelle Lösungen gesucht werden. Vorsorgeauftrag und Patientenverfügung werden an Bedeutung zunehmen. Auch hier braucht es für die Beratung und Unterstützung entsprechend geschultes Personal. Jenny: Ein Problem ist, dass die Erfahrung der querschnittgelähmten Person auf der Vergangenheit beruht und die aktuelle Situation durch das Alter anders geworden ist. Das macht vielen extrem Mühe. Das Sitzkissen beispielsweise, das über 10 Jahre gut war für die Haut, ist irgendwann nicht mehr gut und es muss eine neue Lösung gefunden werden. Es ist eine Kunst, zu navigieren zwischen der Erfahrung des Betroffenen, die man respektieren muss und der Tatsache, dass man auch neue Elemente ins Behandlungskonzept einfügen muss. Das betrifft nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Pflegenden, Angehörigen und die Spitex. Mein Wunsch wäre, dass das Behandlungsteam da etwas Geduld hat und nicht um jeden Preis versucht, mit einer Hospitalisation alle Probleme zu lösen. Man muss den Menschen Zeit geben, sich an die neue Situation zu gewöhnen. Roth: Es ist anspruchsvoll, in einem funktionierenden Alltag plötzlich etwas zu verändern. Vielleicht muss der Pflegeablauf am Morgen angepasst werden oder die Lagerung in der Nacht, wenn man immer auf der gleichen Seite schläft und sich da eine Druckstelle entwickelt. Wir müssen künftig offen sein für neue Versorgungsmöglichkeiten. Die demographische Entwicklung erfordert es, neue Wege zu gehen. Da sich der Bedarf ändern wird, müssen wir die Versorgung mit Wohnmöglichkeiten und Betreuungsaufgaben neu denken, zum Beispiel mit Wohngemeinschaften und Nachbarschaftshilfe. Jenny: Auch der bereits angesprochene kognitive Abfall ist für einige alternde Rollstuhlfahrer ein Problem. Es braucht eine Tagesstruktur, die diesen Abbau etwas bremst. Willi: «Die Tageskliniken, aber auch Memorykliniken in Zusammenarbeit mit dem SPZ, wären da sicher gute Möglichkeiten, um sich um die kognitive Leistung zu kümmern. In vielen dieser Einrichtungen ist die Infrastruktur auch für Rollstuhlfahrer bereits vorhanden.» Was ist aus Ihrer Erfahrung das wichtigste Anliegen von älteren Rollstuhlfahrern und ihren Angehörigen an uns Behandlungs- und Betreuungpersonen im SPZ? Jenny: Wenn man sie fragt, wollen sie, dass man möglichst wenig und nur das Minimum in ihrem Leben ändert. Das halte ich gleichzeitig auch für das vernünftigste Vorgehen in dieser Situation… Willi: …und gleichzeitig eine Heranführung, eine Sensibilisierung, dass es eine Veränderung gibt, die sicher ist. Diesen Spagat «sowohl als auch» gilt es von uns anzuwenden. Jenny: Nur das Nötigste machen und nur das Nötigste beheben, um mit dosierten kleinen Interventionen ein möglichst langes Leben zu Hause zu ermöglichen. Münzel: Das ist auch die Erfahrung von ParaHelp: möglichst wenig Veränderung und das Respektieren eines langsameren Alltags. Gewünscht sind gleichbleibende Fachpersonen. Man gewöhnt sich aneinander und diese Bindung ist im Alter das Fundament, um das Kommende besser gemeinsam zu meistern. Kraft: Die Unterstützung zum Erhalt der Selbständigkeit und gleichzeitig die Leute darauf aufmerksam machen, dass Veränderungen kommen werden, wird eine bedeutungsvolle Aufgabe nicht nur der Pflege, sondern aller am Prozess Beteiligten sein. Je früher die Betroffenen das mental angehen können, desto grösser wird die Selbständigkeit sein. Willi: Nicht nur die Selbständigkeit kann möglichst lange bewahrt werden, sondern auch die Autonomie, den Lauf des eigenen Lebens selber mitzubestimmen und nicht in einer Notsituation, die voraussehbar war, sich der einzigen letztinstanzlichen Lösung zu beugen. Diese möglichen Szenarien und Optionen gilt es mit Empathie zu besprechen. Eine konkrete Vorbereitung hat die SPS bereits angepackt – mit dem Projekt «Ageing» (s. Kasten, S. 11). Wie sehen in zehn oder zwanzig Jahren unser medizinisches Angebot und die Pflege aus für die langjährigen Rollstuhlfahrer, die ein hohes Alter erreicht haben? Kraft: Meine Vision ist, dass immer mehr Rollstuhlfahrer rechtzeitig eine Wohnform haben, in der sie möglichst selbstständig leben können und dass sie dort die Lebensqualität haben, die sie mit dem Umzug erwartet haben. Münzel: Für eine lebenslange Versorgung braucht es zusätzlich zur stationären Querschnittpflege eine spezialisierte Palliativ Care und Geriatriepflege. Kurzfristig ist es wichtig, Ferienbetten im SPZ zur Verfügung zu stellen, zur Entlastung von Angehörigen. Es braucht genügend finanzielle Ressourcen für zusätzliche Hilfsmittel, auch für die spezialisierte Wundversorgung, da dieser zusätzliche 13 Fotoarchiv SPZ K r a n k e n p f l e g e I S o i n s i n f i r m i e r s I C u r e i n f e r m i e r i s t i c h e 11/2015 Es braucht mehr Entlastungsangebote für die Angehörigen und genügend Ressourcen für Hilfsmittel. Bedarf schnell einmal die finanziellen Möglichkeiten der Kostenträger übersteigt. Die Pflegefachpersonen von SPZ und ParaHelp werden noch mehr koordinative und beratende Aufgaben übernehmen, um die Betroffenen in ihrer individuellen Situation entsprechend zu schulen und sie in ihrer gewünschten Selbständigkeit zu unterstützen. Jenny: Ich hoffe, dass wir in 20 Jahren so weit sind, dass wir den Betroffenen begreiflich machen können, was der Prozess des Alterns bedeutet. Dass sie selber merken, wann und wo sie Hilfe brauchen. Und ich hoffe, dass wir dann ein landesweites Netzwerk haben, das ihnen diese Hilfe auch bieten kann, ohne dass sie unnötig Freiheit aufgeben müssen. Roth: Wir sind im SPZ im Bereich Wiederherstellung und Erhaltung von Funktionen und in der Arbeit auf der Aktivitätsebene sehr gut aufgestellt. Ich hoffe, dass wir auch in 10 Jahren in der Pflege gut vorbereitet sind, mit kognitiven Beeinträchtigungen oder gar mit dementen Menschen umgehen zu können und dass wir genügend Ressourcen für diese Betreuungsaufgaben zur Verfügung stellen können. Und dass wir in 10 Jahren wissen, was ältere Rollstuhlfahrer gesund und erfolgreich alt werden lässt. «Für eine lebenslange Versorgung braucht es zusätzlich zur stationären Querschnittpflege eine spezialisierte Palliativ Care und Geriatriepflege.» Nadja Münzel Willi: Meine Vision ist, dass wir in der Schweizer Paraplegikergruppe in zehn Jahren unsere Angebote koordiniert entwickelt haben und gemeinsam erfolgreich anbieten. Denn jeder für sich reicht nicht. Wir müssen auch bereit sein, mit Fachpersonen, Patienten und Angehörigen Neues zu entwickeln und Gewohnheiten, die nicht mehr zukunftstauglich sind, loszulassen. Die Pflege wird darin hoffentlich den Pfad der integrierten Versorgung stationär, ambulant und zu Hause als Kontinuität wesentlich gestalten, mit allen relevanten Angeboten, angetrieben von der Vision «Gesund bleiben auch im Alter». Langzeitpflege K r a n k e n p f l e g e I S o i n s i n f i r m i e r s I C u r e i n f e r m i e r i s t i c h e 11/2015 Heinz Dietrich, Karl Edelmann Weiterhin zuhause dank Unterstützungsnetz Heinz Dietrich und Karl Edelmann waren bereits im Pensionsalter, als sie durch Unfälle querschnittgelähmt wurden. Bei beiden ist die Ehefrau Dreh- und Angelpunkt eines breiten Unterstützungsnetzes, das ermöglicht, dass sie weiterhin zuhause leben können. Der 75-jährige Karl Edelman, als ehemaliger Bauführer zuständig für Gross-Überbauungen, war ein begeisterter HobbyFussballer bei den Berner Young Boys. Er sei immer ein lustiger und humorvoller Mensch gewesen, erzählt seine Ehefrau Irene – bis zu jenem verheerenden Sturz im Jahr 2008. Damals lautet die medizinische Diagnose: Sensomotorisch komplette Paraplegie sub Th9. Hinzu kamen inzwischen: St.n. Dekubitus Grad IV Tuber ischiadicum links und Dekubitus Grad III rechts 2011; beidseits Lappenplastiken 2011; Hautläsion Lappenplastik rechts 2012; Dekubiti Sitzbein li 2013/ 2014/2015. Das kinderlose Ehepaar Karl und Irene Edelmann wohnt in ihrem rollstuhlgerecht adaptierten Haus mit Plattformlift von der Tiefgarage in die Wohnetage. Das Bad ist angepasst, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche: alles ist auf einer Etage erreichbar. Das Ehepaar hat einen engen Freundeskreis und kann sich auf die Nachbarschaftshilfe abstützen. Irene Edelmann staunt, «in welch guter psychischer Verfassung sich ihr Mann befindet, gemessen an seinem erneuten gesundheitlichen Rückschlag». Auch der heute 72-jährige Elektroingenieur Heinz Dietrich war sportlich immer sehr aktiv. Sein sportlicher Höhepunkt war 1963 der Sieg an der Schweizermeisterschaft auf dem Bodenseee, beim Eliterennen im Kajak 4-er über 1000 Meter. Den Tag seines Fahrradunfalls blieb lange als «Tag voller fataler Entscheidungen» in seiner Erinnerung haften. Inzwischen habe er sich jedoch mit diesem Gefühl «ausgesöhnt». Die medizinische Dia- Walter Eggenberger 14 Die pflegerische Unterstützung durch seine Frau Irene ist für Karl Edelmann – hier im Gespräch mit Ivonne Zamzov von ParaHelp – zentral. gnose nach seine Unfall lautete: Tetraplegie sub C4. Das Ehepaar Heinz und Dorothe Dietrich wohnt im eigenen Einfamilienhaus, das umgebaut wurde mit Treppenlift und anderen Anpassungen. Die beiden Kinder kommen regelmässig nach Hause und unterstützen die Eltern. Es gibt auch Freunde, die aus der Erwerbszeit geblieben sind. Die Nachbarn, in der Hauptsache ein Bauer, sind ebenfalls wichtige, treue Bezugspunkte. sondere achtet sie auf eine gesunde, aber auch geschmackvolle Ernährung. Die ParaHelp hat eine wichtige Supportaufgabe und steht dem Ehepaar, der Spitex und dem Hausarzt beratend zur Seite. Der Transfer vom Bett in den manuellen Rollstuhl erfolgt ohne Hilfsmittel. Solange die Kraft in den Armen ausreicht, stützt er sich ab und transferiert schwebend, seine Ehefrau nimmt die Beine. Es fällt auf, dass die Hautproblematik zunimmt und die Haut mit jeder Narbe weniger belastbar ist. Pflegerische Schwerpunkte Zu den pflegerischen Schwerpunkten bei Karl Edelmann gehören: Körperpflege, Darmmanagement und Mobilisation durch die Spitex. Danach übernimmt die Ehefrau die Betreuung. Insbe- Zu den pflegerischen Schwerpunkten bei Heinz Dietrich gehören: Regelmässige Hautkontrolle, Lagerung/Mobilisation, Bewegung der Gelenke von Händen und Füssen, spezifische Körperpflege, ge- www.sbk-asi.ch >Behinderte >Alter >Bewältigung Matthias Studer K r a n k e n p f l e g e I S o i n s i n f i r m i e r s I C u r e i n f e r m i e r i s t i c h e 11/2015 sunde Ernährung und viel Trinken, Medikamente verabreichen, Darmmanagement. Als Hilfsmittel benötigt er einen suprapubischen Katheter, ein Pflegebett, Spezialmatratze, zwei angepasste Rollstühle (bei einem ist es möglich, sich in der Liege- oder Stehposition zu entlasten), ein Hublift für den Transfer vom Bett in den Rollstuhl, eine mit dem Rollstuhl befahrbare Dusche, sowie neu angepasste Schuhe und Esswerkzeuge. Überlegungen zum Ageing Bei Karl Edelmann kommt täglich die Spitex und übernimmt auch das Darmmanagement. Der Hausarzt macht Hausbesuche und wechselt den Cystofix regelmässig. Seit 2008 hat er die gleiche Fachperson von ParaHelp (gleichzeitig Wundexpertin), die dem Ehepaar ebenfalls zur Seite steht. Irene Edelmann ist sehr dankbar für dieses Unterstützungsnetz, ohne das ein Verbleiben zu Hause schwierig wäre. Karl Edelmann braucht seine Frau vermehrt als Orientierung. Er vertraut ihr zu 100 Prozent und er ist ihr sehr dankbar. Die Eheleute haben sich viele Gedanken gemacht, wie sie gemeinsam noch so lange wie möglich zusammen im Haus leben können. Wenn Irene Edelmann einmal die Betreuung nicht mehr gewährleisten kann, überlegen sich die beiden mit Pflegepersonal aus dem Ausland zu arbeiten. Das Haus hat eine Einliegerwohnung und einen Coiffeursalon. Platz hat es mehr als genug, um einer Vollzeitpflege Wohnraum anzubieten. In bezug auf das Ageingprojekt der SPS, würde es Frau Edelmann schätzen, es gäbe einen Ort, wo sie einmal im Jahr ihren Mann vertrauensvoll platzieren könnte, um wieder Energie zu tanken und etwas für sich zu unternehmen. Nachdem längere Zeit ausschliesslich Dorothe Dietrich die Pflege übernommen hatte, kommt mittlerweile die Spitex zur Unterstützung einmal am Tag, die Physio- und Ergotherapeuten drei Mal in der Woche. Alle drei Monate kommt Laszlo, als pflegerische Unterstützung aus Rumänien jeweils für drei Monate. Er ist inzwischen eine wichtige Vertrauensperson und unablässige Unterstützung der Familie geworden. Er hat auch Abwechslung in die Küche gebracht mit ungarischen und rumänischen Kochrezepten. Wenn die Frau das alles nicht mehr bewältigen könne, was sie jetzt täglich Dorothe Dietrich bietet ihrem Mann Heinz Orientierung, Zuwendung und Pflege. Sie koordiniert das ganze Unterstützungsnetz. macht, müsse er wohl in eine Pflegeinstitution, meint Heinz Dietrich. Die Tage seien bislang derart ausgefüllt, dass sie sich beide zu wenig konkret mit dem Thema beschäftigen konnten. Das Haus gibt zusätzlich viel Arbeit. Das Ehepaar hat je eine Patientenverfügung. Sie nehmen das Angebot der ParaHelp gerne an für eine Beratung «Alter und Wohnen». Insbesondere die Möglichkeit einer Woh- nung mit Serviceangeboten scheint ihr Interesse geweckt zu haben. Dorothe Dietrich ist ausserdem interessiert an einem Ferienbett in einer Institution, wo sie ihren Mann einmal wochenweise vertrauensvoll platzieren könnte. Aufzeichnung: Mechtild Willi Studer, mit Susanna Richli und Ivonne Zamzow (beide ParaHelp) Integrales Leistungsnetz Schweizer Paraplegiker-Stiftung und -Zentrum Die Beiträge zum Thema Querschnittlähmung und Alter sind in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) entstanden. Das 1990 von Guido A. Zäch eröffnete SPZ ist eine private, landesweit anerkannte Spezialklinik für die Erstversorgung, Akutbehandlung, ganzheitliche Rehabilitation und lebenslange Begleitung von Querschnittgelähmten sowie Menschen mit querschnittähnlichen Syndromen. Im SPZ stehen 150 Betten inklusive Intensivpflegestation zur Verfügung. Die jährliche Bettenbelegung beträgt 97%. 2014 wurden im SPZ rund 50 450 Pflegetage für 1027 stationär aufgenommene Patienten geleistet, 164 davon in Erstrehabilitation. Das SPZ beschäftigt über 1100 Mitarbeitende aus 80 Berufen. Das SPZ ist Teil der Schweizer Paraplegiker-Stiftung (SPS), die 1975 ebenfalls von Dr. Guido A. Zäch gegründet wurde. Die Gruppe umfasst ein integrales Leistungsnetz für Querschnittgelähmte. Die Verknüpfung lückenloser Dienstleistungen von der Unfallstelle über die medizinische Versorgung, Rehabilitation bis zur lebenslangen Begleitung und Beratung ist einzigartig. 1,8 Mio. Personen sichern mit ihrer Zugehörigkeit zur Gönner-Vereinigung der Schweizer ParaplegikerStiftung eine tragfähige finanzielle Basis für die Tätigkeit dieses Solidarwerks. www.paraplegie.ch 15