Ruth Klüger, weiter leben - Eine Jugend, Göttingen (Wallstein

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Ruth Klüger, weiter leben - Eine Jugend, Göttingen (Wallstein
Ruth Klüger, weiter leben - Eine Jugend, Göttingen (Wallstein-Verlag) 1992, 285 Seiten, 38
DM
Eine Buchbesprechung von Monika Noll
In vier Teilen und einem Epilog erzählt das Buch die Wiener Kindheit der Autorin, ihre Zeit in drei
Konzentrationslagern (Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und Christianstadt), Flucht und Nachkrieg in Deutschland, das Leben in den USA und einen späteren schweren Unfall in Göttingen. Aber
Klüger erzählt ganz anders als andere Überlebende, anders als Richard Glazar aus Treblinka, anders
als Primo Levi oder Tibor Wohl aus Auschwitz. Und zwar nicht nur, weil sie „die Lager“ mit einem
ausführlichen Vorher und Nachher versieht, sie einbettet in die Kontinuität des „weiter lebens“; sondern auch weil es ihr allem Anschein nach weniger auf Erzählen, auf das Beisteuern von Material, als
vielmehr auf das heutige Beurteilen und Analysieren des Geschehenen ankommt.
Beides ist legitim und eröffnet auch eine neue Darstellungsdimension: nämlich jenen vergleichenden Blick, der das ‘Leben’ in den KZ als integralen Bestandteil des gewöhnlichen Lebens wahrnimmt. Was die Leser bei den meisten Berichten der Opfer aus dem Material ‘herauslesen’ müssen,
hier könnte es zum Gegenstand der Darstellung selber werden. Hier könnte zusammengedacht werden, was wir sonst systematisch auseinanderdenken; hier könnte die durch das schiere „weiter leben“
faktisch (also gegen alle ideologische Aufspaltung) geleistete Synthetisierung von KZ-Dasein und
gesellschaftlicher Existenz einmal Thema sein.
Aber das Unternehmen ist auch heikel. Muß man doch der Versuchung widerstehen, den Zusammenhang zwischen dem Leben in der Gesellschaft und dem Überleben im Konzentrationslager zu
entmaterialisieren, das heißt das beide Verbindende nicht mehr in der Wirklichkeit, sondern etwa in
der Psychologie zu suchen und letzten Endes das eine zur Interpretation oder Sinngebung für das andere zu mißbrauchen.
Ruth Klüger widersteht dieser Versuchung nicht. Sie verklärt die Konzentrationslager durch die
Geschichte der „Mutter-Tochter-Neurose“ (57), und umgekehrt. Noch bevor sie Opfer antisemitischer Verfolgung und Gewalt wird, ist sie schon Opfer der „Älteren“, die sie von Anfang an „im
Stich gelassen haben“ (10). Noch bevor sie, elfjährig, der Willkür von Deportation und Selektion
ausgeliefert ist, sieht sie sich der Willkür ihrer Mutter, ihrem rücksichtslosen Besitzanspruch ausgesetzt. Tochter dieser Mutter zu sein, das ist ihr Schicksal, dieser Mutter, die sie, obwohl es die letzte
Chance war, aus Wien nicht mit einem Kindertransport nach Palästina hat entkommen lassen. „Ich
glaube, das habe ich ihr nie verziehen. Der andere Mensch, der ich geworden wär, wenn ich nur ein
Wort hätte mitreden können, wenn sie mich nicht einfach als ihr Eigentum behandelt hätte.“ (62)
Bis zum Ende ihres Abschnitts über die Wiener Kindheit hat die Autorin sich bereits mit jener
Aura des bürgerlichen Subjekts, mit jener Freiheitsperspektive ausgestattet, die ihren ganzen Lebensbericht und mehr noch ihren Bericht über die Konzentrationslager verfälscht. Daß sie ‘eigentlich’
immer ein „anderer Mensch“ ist, daß sie von Kindheit an in ein ‘uneigentliches’ Leben hineingezwungen wird, - diese Lebenslüge macht den ressentimentgeladenen Ton gegen ihre Mutter, den unaufrichtigen Ton in Sachen KZ und den beschönigenden Ton ihrer Urteile und Reflexionen. Statt
vorbehaltlos Unfreiheit und Determination zu schildern, ist Klüger damit beschäftigt, mit allen Mitteln Spielraum vorzutäuschen, moralische, dichterische, reflektierende Distanz, eine beständige reservatio anzumelden, die aus dem determinierten eigenen Leben die bösen (oder guten) Taten der
anderen macht: Was mit dem ‘Im-Stich-lassen’ und den „Grausamkeiten der Erwachsenen“ (61) beginnt, das endet mit „Verrat“ (267). Hätten die anderen nicht ... - diesem Paradigma folgt die Autorin, wenn sie auf ihr Leben zurückblickt und sich noch als erwachsene Frau hinter der Kinderperspektive, hinter der Perspektive des vorpubertären Mädchens verschanzt, in der die Mutter ebenso
übermächtig erscheint wie die für Hunger, Durst und Tod verantwortlichen KZ-Aufseher.
Natürlich hat Klügers Versuch, noch aus dem KZ-Dasein Freiheit herauszuschlagen, auch seinen
Preis. Wenn jedes Opfer seine unverwechselbare Individualität bewahrte, wenn es „für jeden ...
einmalig“ war, dann läßt sich das Überleben kaum dem „Zufall“ zuschreiben (73). Wenn es jenseits
der Statistik auf „Furcht und Freude“ ankommt, dann hält es schwer, zugleich auf jedes
„Hoffnungskonto“ zu verzichten (107). Wenn - wie im Fall ihrer Rettung durch eine Mitgefangene eine „freie, spontane Tat“ die „Kette der Ursachen durchbrach“ (134), wenn „gerade in diesem
perversen Auschwitz das Gute schlechthin als Möglichkeit bestand“ (135), dann ist das KZ gegen
alle Absicht von der „moralischen Anstalt“ des Bürgers nicht mehr zu unterscheiden. So liefern sich
die Opfer all denen aus, die das Überleben mit dem Maßstab der Moral messen und die Menschen,
die überlebt haben, wahlweise zu den „Besten“ oder den „Schlechtesten“ erklären wollen (73). So
müssen sie noch dem Tod in der Gaskammer die Ungleichheit abringen: „Wer erstickt, hat die
Grenzen der Freiheit erreicht und trampelt dann doch auf andere? Oder gibt es auch da Unterschiede,
Ausnahmen?“ (33)
Ruth Klügers Buch ist ein Erfolg, weil es heute dringend gebraucht wird: ein trotz allem
beschwichtigender, tröstlicher Bericht aus den KZ, gleichsam ein Härtetest für die bürgerliche
Ideologie der Freiheit und Menschenwürde, ein Erfahrungsbericht zur Verhinderung von Erfahrung
und zur Rettung des Autonomiewahns. Was Levi, Glazar, Wohl und andere in den Blick gerückt
haben, nämlich ein ‘Leben’ ohne Freiheit und ohne Menschenwürde, das wird hier systematisch
reideologisiert. Uns ist das ganz recht: Rückt die Wirklichkeit uns und unseren liberalen Illusionen
doch so kräftig auf den Pelz, daß wir uns schon ganz gern an der „Möglichkeit“ wärmen mögen.