Lieber Lieder
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Lieber Lieder
Linguissimo 2008-2009 Lieber Lieder Melanie Bösiger 6:30 Uhr. „Ein Auto am Himmel, Wolken liegen auf der Strasse“ – und ich im Bett. Diese Liedzeile hat mich soeben aus dem Schlaf gerissen. Nicht wirklich gerissen, sondern vielmehr sanft aufgeweckt, damit ich davon beflügelt voller Energie in einen neuen Tag starten kann. 6:40 Uhr. Raus aus dem warmen Bett und ab in die kalte Küche. Doch ehe ich Toastbrot und Milch zubereite, erfolgt ein Druck auf den Power-Knopf am Radio. Die nun ertönende, mir allerdings unbekannte Melodie wärmt mehr als ein „Déjeuner en paix“ aus frischem Toast und Milch aus der Pfanne. 7:00 Uhr. Ein Raucher an der Bushaltestelle, und das am Morgen früh. Eigentlich kann ich das nicht leiden, aber was soll’s. Kopfhörer rein, Musik an und weg sind die sich zusammenbrauenden Wolken in meinem Kopf. In Gedanken mit Geri Gagarin auf dem Mond oder der W. Nuss in Bümpliz, regt mich in den nächsten fünfzehn Minuten Busfahrt so schnell nichts mehr auf. 7:15 Uhr. Kalte Winterluft schlägt mir entgegen, Gedränge an der Bushaltestelle, die Schule bereits in Sichtweite. Egal, mit Musik in den Ohren und im Kopf gehe ich beinahe federnden Schrittes die Strasse entlang vorbei an all den im Stau stehenden Autolenkern und höre weder Motoren noch Hupen, sondern nur die süsse Melodie von „When I kissed the Teacher“. Nicht wirklich das, was ich in der Schule erwarte, aber ein schöner Gegensatz zur Betonfassade des Schulgebäudes. 10:25 Uhr. Zwischenstunde. Und danach Französisch-Prüfung – mündlich. Nicht gerade das Einfachste nach drei Lektionen Spanisch, aber aus irgendeinem Grund gibt es französische Chansons. „Bonjour à ce qui m’écoutent, c’est vendredi, dernier jour de boulot“. Schön wär’s, aber es ist erst Dienstag, deuxième jour de boulot. Aber immerhin kann ich im folgenden Examen mit dem wunderschönen Gebrauch eines Subjonctivs in „Je ne voudrais pas que tu t’en ailles“ brillieren. Michael von der Heide sei Dank. 11:20 Uhr. Endlich Mittagspause. Die Mensa gefällt mir nicht. Da ist nicht nur die Menüauswahl (besonders für Vegetarier) sehr klein, sondern auch immer so ein Geschwätz rund herum. Also verbringen einige Kollegen und ich den Schulunterbruch regelmässig im nahegelegenen Selbstbedienungsrestaurant. Seit der neue Stundenplan uns bereits um diese Zeit Mittag anzeigt, ist dort noch nicht viel Betrieb und der Klang des leise im Hintergrund laufenden Radios noch gut zu hören. „Lemon Tree“, passend zum Zitronenkuchen. Es hat also doch alles seine Vorteile. 12:10 Uhr. Warten am Ticketcorner-Schalter auf eine Verkäuferin. Zwei Tickets für das Konzert von Bligg im Salzhaus will ich. Mist, ausverkauft. Mit „Rosalie“ auf den Lippen verlasse ich das Geschäft. 12:35 Uhr. Wieder zurück in der Schule. Das heisst iPod aus, Kabel aufrollen und volle Konzentration auf die Kolonialpolitik Frankreichs im 19. Jahrhundert. 14:25 Uhr. Zeichenunterricht (heisst jetzt Bildnerisches Gestalten). Ist zwar nicht Musik, aber auch kreative Arbeit. Und kreative Arbeit erfordert kreative Inspiration, also Kabel abwickeln, iPod wieder an und sich der Synästhesie hingeben: Aus Musik wird Farbe, aus Farbe ein Bild, aus einem Bild eine gute Note und aus einer guten Note bessere Chancen für die Zukunft (sagt man, wo mir eine gute Zeichennote auf der Karriereleiter zur Journalistin zu einem Sprung verhelfen soll, ist mir rätselhaft). 16:05 Uhr. Endlich frei sein wie der Wind und die Welt sehen mit den Augen von einem kleinen Kind. Die andern wollen noch etwas trinken gehen, ich hab später aber Training und muss schleunigst heim. Allein – nicht „ir Ysebahn“, sondern im Bus – lenkt mich „d Titelgschicht“ von selbiger des 20minuten ab. „Dimitri bei Musicstar out“, sehr interessant für mich, die das Drama vorgestern und die Tagesschau gestern Abend verfolgt hat. 16:45 Uhr. Hausaufgaben. Ich werde morgen in der Schule merken, dass ich abgelenkt von Freddy Mercurys Worten den Text statt ins Französische auf Englisch übersetzt habe. Aber immerhin geht die Matheaufgabe restlos auf, auch wieder positiv. 17:30 Uhr. Für meine Eltern zu früh für ein Nachtessen, also Fernseher an. Nein, da läuft nur Schrott, und diese Folge der Simpsons hab ich schon mindestens drei Mal gesehen. Fernseher wieder aus, Zeitung her und Radio an. 18:20 Uhr. Hoppla, die Zeit vergessen. Jetzt aber schnell, ich bin im Stress. Turnzeug packen, Schuhe und Jacke anziehen, auf den Bus rennen. In der Eile lasse ich meinen iPod auf dem Tisch liegen, nur gut, dass der Mann in der Bank vor mir mich unbewusst mithören lässt, denn seine Kopfhörer sind nicht wirklich dicht. Techno-Musik, nicht so mein Fall, aber besser als nichts. 19:10 Uhr. Warten. Ich bin immer die erste im Training, mein Bus kommt einfach entweder zu früh oder zu spät. Im Kopf spule ich Lieder ab, zeilen- oder wenn es gut kommt strophenweise, mehr kann ich nicht auswendig. Zehn Minuten gehen auch ohne Musik vorbei. 19:20 Uhr. Warmlaufen, wie immer ohne Musik. Die GymDance-Gruppe in der Halle nebenan beginnt erst in einer guten halben Stunde mit ihrem Training. Hier fehlt mir die Musik nicht, wir haben uns genug zu erzählen. 19:45 Uhr. Trainingsmatch. Ich stehe allein unter dem Korb und sage mir „Wenn nicht jetzt, wann dann?“, schiesse und treffe. 1:0, noch nicht entscheidend. Am Ende spielen wir 7:7, aber Unentschieden ist’s nicht, denn es steht 7:7 für uns. 20:00 Uhr. Endlich ertönen die bekannten Klänge von „Money Money Money“ nebenan. Auch wir müssen uns fortan lauter unterhalten und fragen uns einmal mehr, ob die Tänzerinnen in der andern Halle bei der lauten Musik keine Ohrenschäden davontragen. Zudem läuft immer dasselbe Lied in Endlosschlaufe, aber auch hier gibt es etwas Positives: Der Song gefällt mir (im Gegensatz zum letzten, zu dem sie getanzt haben), den kann ich ruhig zehn Mal hintereinander hören. 21:15 Uhr. Duschen und dann mit dem Bus wieder heim. Ich setze mich absichtlich zuvorderst hin, denn der Chauffeur hört Radio. Im um diese Zeit stets fast leeren Bus kann ich ungestört der Musik lauschen und verpasse darüber fast meine Station. 22:30 Uhr. Eigentlich sollte ich schlafen. Doch wie immer bin ich nach dem Training aufgedreht. Also ruhige Musik einschalten und herunterfahren. Schliesslich schlafe ich ein im Wissen, dass sich meine Welt im Kreis dreht (was nicht zwingend wie im Song beschrieben negativ zu verstehen ist) und jeder Tag (und jede Nacht) genauso schön sein kann wie der heutige. Eingebaute Lieder und Musiker: Titel: "Lieber Lieder" von Adrian Stern "Sunntag uf där Wält" von Sina "Déjeuner en Paix" von Stephan Eicher "Geri Gagarin" von Züri West "W. Nuss vo Bümpliz" von Patent Ochsner "When I kissed the Teacher" von ABBA "Libéré" von Stress "Ouragan" von Michael von der Heide (Stephanie de Monaco) "Lemon Tree" von Fool’s Garden "Roaslie" von Bligg "F-R-E-I" von Myrto "ir Ysebahn" von Mani Matter "Titelgschicht" von Subzonic Freddy Mercury Stress "Wänn nit jetz wänn dä?" von Sina "7:7" von Züri West "Money Money Money" von ABBA "Chreis" von Adrian Stern "Jede Tag (u jedi Nacht)" Linguissimo 2008-2009 Meine Beziehung zur Musik - Oper in fünf Akten Marco Koller Orchester nimmt Platz. Applaus. Orchester stimmt ein. Prolog Auch wenn ich immer wieder darüber staune, wie in absolut unmusikalischen Familien grosse Musiker heranwachsen – ich glaube, dass das, was einem im Elternhaus zwischen Wiege und Wickeltisch zu Ohren geführt wird, einen Einfluss auf den musikalische Werdegang eines jeden hat. Und kann das an meinem Beispiel nur bestätigen. Letztes Husten im Saal. Ruhe. Spannung. Die Musiker machen sich bereit, dieses Werk stimmungsvoll vorzutragen. Der Dirigent hebt die Hände. Sanfte, süffige, leichtfüssig-melodiöse Rhythmen erklingen. Vor allem Streicher. 1. Akt Die Kindheit Ich wuchs in zwei Musik-Welten auf und hatte je einen Fuss in einem Kosmos. Die jodelnde Mama war der Ansicht, dass ihre Musik diejenige sei, die man auf dem Land höre, und auf dem Land wohnten wir. Sie sorgte dafür, dass die wenigen volkstümlichen Schlagersender, die das Kabelnetz uns ins Haus lieferte, die ersten Speicherplätze der Stereoanlage besetzten, und dafür, dass die hinteren leer blieben. Im Wohnzimmer bekam ich also urschweizerische Töne zu hören. Als Kontrast dazu gab es aber auch noch den Plattenspieler, mein Jugendfreund und Spielzeug, und Papas grosse Plattensammlung. Stundenlang war ich fasziniert von diesen eingängigen Rhythmen der Beatles und der Vorstellung, dass die ewigjungen Pilzköpfe auf dem Umschlag der Schallplatte mir tagein tagaus auf Knopfdruck obladi oblada vorsingen würden. Noch heute hole ich gerne den Plattenspieler hervor und lasse die Nadel des Tonabnehmers über eine von Papas vielen Platten tanzen. Man sagt mir nach, ich sei wohl in musikalischer Hinsicht unverschuldet dreissig Jahre lang auf der Strecke geblieben. Fast unbemerkt schleichen sich schwerere Töne ins Gesamtbild. Phrasen in Moll. Schwerfälliger Zweivierteltakt. Blechbläser übernehmen das Zepter. Bald verwandeln sich die Klänge in virtuose und joviale, ausdrucksstarke Gesamtbilder. Perkussion. 2. Akt Die Instrumente Wer mit der Musik einmal etwas erreichen will, muss seine Sporen abverdienen. Die gutmütige Frau Christen von nebenan erteilte den Kindern im Quartier Flötenunterricht, und so haben auch meine Eltern mir an Weihnachten die MusikEinstiegsdroge schlechthin in die Finger gedrückt und mich in die Stunde geschickt. Jahrelang übte und übte ich und stellte bald einmal fest, dass dieses Instrument für mich mehr als nur der obligate «Speuzchnebel» war. Ich spielte nicht nur einfache Melodien, sondern gerne auch Klassik, und absolvierte mit Nachbarskindern einige Auftritte, beispielsweise an Weihnachtsfeiern oder im Altersheim. Einige Jahre später zeigte sich, dass beide Musik-Welten aus meiner früher Kindheit ihre Spuren hinterlassen würden. Auf Drücken und Drängen hin, und schliesslich zur Freude der Mama, nahm ich Schwyzerörgeli-Stunden in Angriff und verschrieb mich etwas mehr freiwillig auch dem Klavier. Die urtypisch volkstümliche Musik faszinierte mich aber nie wirklich. Umso mehr freute ich mich darüber, dass ein etwas alternativer Virtuose mir dieses Instrument näher bringen sollte. Mein Musiklehrer ist einer der besten und bekanntesten im Land – eine grosse Ehre, und eine grosse Chance. Auch hier sah ich bald, dass mein Örgeli, ein seltenes Modell, mehr als nur ein Tastenkasten sein sollte. Schon lange begleitet mich dieses Instrument nun. Nicht nur Walzer und Polka spiele ich, sondern auch sehr viel Jazz, Klassik, irische und schottische Musik, Zigeunerrhythmen, bekannte Melodien. Diese Vielseitigkeit behagt mir. Mit dem Klavier habe ich es leider nie ganz so weit gebracht, es fehlt vor allem an der Zeit. Heutzutage experimentiere und improvisiere ich gerne mit Musik, sammle Noten und schreibe neue Partituren, arrangiere dieses und jenes, und da gehört natürlich das Klavier unbedingt dazu. Ausgedehnte Arien. Eingängig und flüssig. Etwas sakral angehaucht, sehr klassisch. 3. Akt Das Singen Ich singe sehr gerne. Früher gab es gab es bei uns, für meine Schwester und mich, am Samstagabend die Regel, dass jemand den Abwasch besorgt und der andere in die Kirche geht. Ich entschied mich stets für letzteres und gebe gerne zu, dass ich eher dank dem Organist statt dank dem Pfarrer die Messe besuchte. Da ich schon früh mit Musiktheorie und Notenlesen vertraut war, konnte ich bald gut singen. Früher frönte ich in einem Kinderchor bei mir im Dorf diesem Hobby, heute bin ich im Schülerchor am Gymnasium aktiv, wo ich auch eine sehr gute Stimm- und Gesangsausbildung geniesse. Ich überlege, ob ich bald auch einem kleinen Gospelchor beitreten soll. Angefragt hat man mich auf jeden Fall schon. Der wird dann wohl in der Kirche singen, aber eben, kein Problem. Stolz und erhaben. Lädt zum Nachdenken ein. Führt zum Höhepunkt hin. Ein Klavier löst ein längeres Klarinetten-Solo ab. Stellenweise dramatische Zuspitzung, die Streicher in Ekstase. Legerer Ausklang. Beide Geigen. 4. Akt Der Herr der Musik Musik kann man machen, Musik kann man hören. Wer Musik hören will, schaltet oft das Radio ein. Ich habe während zwei Jahren beim Radio gearbeitet und war damals derjenige, der Musik für denjenigen machte, der Musik hören wollte. Im Radiostudio kommt man sich vor wie am globalen Umschlagplatz der Musikindustrie. Man kommt sich vor wie ein Fischer, der an einem breiten Fluss steht und seine Netze auswirft. Der Fluss steht für die grosse Menge von Musik, Neuem und Altbewährten, die tagtäglich auf dem Sendepult landet. Der Fischer muss mit der herausgefischten Musik ein schmackhaftes Programm gestalten, das gehört werden will. Dabei stellt der Fischer fest, wie viele Arten Fische es überhaupt gibt, wie unendlich vielfältig und vielfarbig diese Welt ist. Der Fischer kommt aber auch mit der kommerzialisierten Seite der Fischerei in Berührung, er hat die delikate Aufgabe, das Beste auszuwählen, womit er den andern Fischarten nicht selten den Gnadenstoss gibt. Fische, die nicht gegessen werden wollen, werden von den grösseren aufgefressen. Ein guter Fischer weiss aber, dass Quantität nicht immer gleich Qualität sein muss. Der grösste Fisch muss nicht immer der beste sein, auch wenn viele an ihm satt werden. Mit einer kleinen Delikatesse kann man ebenso viele Leute erfreuen. Auch wenn ich selber bei meiner Radiotätigkeit kaum für die Musikauswahl verantwortlich war, kam ich mir oft vor wie ein Herr über alle Musik, wie ein Fischer. Ich genoss vor allem, dass ich eine Vielfalt pflegen konnte: Lokalradio-Mainstream-Musik, Oldies, Musik von jungen Künstlern aus der Region, Volksmusik. Praktisch nahtloser Übergang. Philosophisch-mystisch. Orientalische Klänge können herausgehört werden. Gleichmässig mit einigen punktuellen Unterstreichungen. 5. Akt Gedanken zur Musik Für mich ist die Musik eine Kunst, so wie es die darstellende Kunst, die Literatur und die Architektur auch sind. Die Kunst ist für den Künstler eine Form sich auszudrücken und uns dadurch eine Botschaft zu übermitteln. Der Künstler kann sehr viel in sein Werk verpacken, Kunst ist ein Enigma, das man zu entschlüsseln versuchen kann. Man kann in der Kunst etwas suchen und finden, wobei jeder etwas anderes finden kann. Musik kann verschiedene Dimensionen haben: Text, Melodie, Tonalität, Hintergrund, Geschichte, Komponist, Interpret. Wenn ich Musik höre, dann will ich sie in all diesen Dimensionen auskosten und geniessen. Es spielt dabei keine Rolle, ob ich eine Oper höre, die Aussage eines Rappers zu verstehen versuche oder der neusten Komposition eines guten Freundes, der ein begnadeter Gitarrist ist, lausche. Um es mit Victor Hugo zu sagen: «Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.» Mir geht dabei wie beim Wein: Der beste Wein ist für mich derjenige, dessen Winzer ich kenne, wo ich weiss, welche Arbeit und Mühe zwischen Ernte und Wein steckt. Auch wenn wir in unserem Leben ständig und überall von Kunst umgeben sind, können wir nicht immer alle Kunst aufnehmen, spüren und verstehen. Da ich Musik nicht nur einfach nebenbei hören möchte, habe ich bewusst keinen MP3-Player und dröhne mir nicht wann immer möglich die Ohren voll. Wenn ich Musik höre, dann will ich mir Zeit nehmen. Ich denke so, weil ich selber auch Musik mache, Instrumente spiele und singe. Wenn man versucht, ein Werk möglichst im Sinne des Komponisten wiederzugeben, beschäftigt man sich mit ihm, versucht dem Kern auf die Schliche zu kommen. Das gefällt mir. An der Musik gefällt mir auch die unendliche Vielfalt – unendlich viel kann man Musik machen und unendlich sind die Gedanken, die von der Musik inspiriert werden. Einen besonderen Bezug zur Musik habe ich auch deshalb, weil ich einmal auf der anderen Seite gesessen bin, dort, wo für viele Leute die Musik herkommt: beim Radio. Sehr pathetisch. Intermezzo Ode an die Musik Ich habe die Musik mit Fischen in einem Fluss verglichen. O dass die Musik uns immer begleiten möge wie das Wasser, das uns erfrischt. O Musik, du Sprache der Welt, die du alle Völker verbindest, die du von allen verstanden wirst! Feierliches Bouquet der Schlaginstrumente. Orchester folgt nicht weniger erregt. Stille. Spannung höher denn je. Dirigent hält die Arme ausgestreckt. Pause. Plötzlich Viervierteltakt. Triangel. Epilog Wie erwähnt, ich lebe dreissig Jahre zeitverschoben. Schlagzeug. Mich findet ihr in dreissig Jahren dann in der Electro-Disco! Schlagzeug. Schneller, lauter, expressiver denn je. Die Wände zittern. Der Atem des Publikums zittert. Plötzlich der letzte Schlag, etwas abgesetzt, prominent. Pause. Paukenschlag. Genüsslich, ausgedehnt. Die letzten Schwingungen verstummen. Das Publikum atmet auf. Applaus? Linguissimo 2008-2009 Musik – Schatzhüter, Apfelbaum und Lebenselixier Christine Schmocker Mit fünf Jahren, als mein kindliches Gemüt noch kaum Hemmungen kannte, sang ich überall, wenn ich nur irgendwie Lust dazu verspürte. Meistens geschah dies auf der Schaukel des Spielplatzes oder auch im Postauto, welches mein kleines Städtchen Erlach an die restliche Welt anzuschliessen versucht. Ich galt, wie ich mir später erzählen liess, als die ‚singende Erlacherin’. Wenn meine Mutter mit mir den Arzt im Nachbardorf aufsuchte, pflegte dieser als Erstes zu fragen: "Hat sie auf dem Hinweg gesungen?" – und wenn Mama daraufhin den Kopf schüttelte, wusste er, dass mir tatsächlich etwas fehlte. Man könnte nun also vermuten, dass ich schnellstmöglich die erstbeste Gesangsschule ausfindig machte, um meiner Leidenschaft uneingeschränkt frönen zu können… Es begab sich nun aber damals, dass in unserer Nachbarswohnung eine talentierte junge Geigerin hauste. An so manchem Nachmittag, wenn die ältere Schwester in der Schule sass und der jüngere Bruder in seinem Bettchen schlief, stahl ich mich also zu dieser hinüber und lauschte ihrer Musik, um die böse Langeweile zu vertreiben. Es ging nicht lange, bis das kleine Christinchen bei den Eltern den Wunsch äusserte, ihr eine Geige zu kaufen und sie zum Unterricht in die Musikschule zu schicken. Allerdings war jenes Christinchen damals ein eher sprunghaftes Wesen, es fielen ihm alle zwei Tage neue verrückte Ideen ein, und der Geigenwunsch musste sich erst als beständig erweisen. So kam es, dass ich, als Einstieg in die Welt der Instrumente, während zwei Jahren einen Kurs besuchte, in dem wir Schüler selber eine Flöte aus Bambus herstellen und darauf spielen lernten. Obwohl die Nachbarin mittlerweile per Stipendium an eine Hochschule der Musik nach Berlin gezogen war, hatte sich mein Traum vom Geigespielen noch nicht verflüchtigt. Ich schloss also – mit einem weinenden Auge, denn auch sie war mir lieb geworden – die Bambusflöte in den Schrank und fuhr tags darauf mit strahlendem Gesicht zum Musikgeschäft Krompholz nach Bern, wo ich mir eine Mietgeige auswählen durfte. Wie klein meine erste Geige war! Wie verschwindend leise und kläglich war ihr Klang! – Und wie gross hingegen war mein Stolz… Heute habe ich eine richtige, normalgrosse Geige, besuche noch immer regelmässig den Unterricht und führe das zweite Geigenregister im Orchester unseres Gymnasiums. So talentiert wie meine ehemalige Nachbarin bin ich leider bei Weitem nicht, trotzdem erfreue ich mich immer wieder ab den Klängen, die ich diesem geformten Stück Holz zu entlocken vermag. Musik ist für mich ein Wunder. Da spielt es keine Rolle, ob es eine eigene Trällerei unter der Dusche, ein Trompetenstück meines Bruders oder eben ein Violinenkonzert ist; immer rühren die Töne etwas in meinem Innern und rufen ein bestimmtes Gefühl hervor. Emotionen sind bei mir also ganz stark an Musik gebunden. Kürzlich besuchte ich das Konzert jener Band, die unsere Theatergruppe beim letzten Projekt mit ihrer Musik unterstützt hatte. Als die Klänge des Eröffnungssongs unseres Theaterstückes unerwartet den Raum zu erfüllen begannen, spürte ich plötzlich Tränen meine Wangen hinunter rinnen. Ich wurde von eine riesigen Welle der Wehmut übermannt, stand stocksteif und unablässig weinend inmitten der tanzenden Konzertbesucher, bis der Song vorüber war. Das Lied hatte den Deckel einer vergessen geglaubten Schatztruhe gehoben und hunderte von Goldstücken in Form von wunderbaren Erinnerungen hervorblitzen lassen. Mittlerweile werte ich diese Gabe, schöne Erlebnisse oder auch ein bestimmtes Gefühl an ein Musikstück geschmiedet in mein Gedächtnis einbrennen zu können, als wertvolles Geschenk, das es auszukosten gilt. So wähle ich beispielsweise immer einen „Monatssong“. Ich suche mir also ungefähr alle vier Wochen ein Lied aus, das ich in nächster Zeit gerne sehr viel hören möchte, und gebe diesem den Auftrag, mich später an genau diesen Monat zu erinnern. Oft beachte ich dabei den Text des Songs. Während der Sommerferien höre ich zum Beispiel gerne etwas Unbeschwertes, vor Theateraufführungen etwas Aufweckendes und Zuversichtliches, in kummervollen Zeiten Lieder mit tiefgründigem oder tröstendem Text. Es kommt ohnehin kaum vor, dass ich mir ein Musikstück anhöre, ohne dabei auf die Worte zu achten. Wie viele englische Ausdrücke lernte ich nur dank Liedern, deren Aussage ich bis aufs Letzte verstanden gehabt haben wollte und dafür das Übersetzungswörterbuch zur Hand nahm… Es gibt sogar einige Songs, die mir vom Musikstil her eigentlich überhaupt nicht zusagen würden, die ich mir aber dank ihres Textes gerne anhöre. Musik ist eben nicht gleich Musik. Um zu beschreiben, wie Musik für mich sein muss, verwende ich am liebsten das Bild eines Baumes. Wie gerne blickt man doch einen prächtigen, kräftigen Apfelbaum an, der weiss in voller Blüte steht, oder der einem im Herbst mit seinen Früchten das Wasser in den kühlen, nebelfeuchten Backen zusammenlaufen lässt! Genau wie der braucht auch Musik Wurzeln, die sie an ihren Ursprung erinnern; an die Absicht, mit der sie geschaffen wurde, wegen der sie also überhaupt entstanden ist. Sie braucht eine dichte Blätterkrone, die versteckte Botschaften und Feinheiten zu verstecken und den genauen Beobachtern zu enthüllen vermag. Sie braucht Luft um sich herum, der sie frischen Atem einhauchen kann. Und sie braucht eine wärmende Sonne über ihr, die sie blühen und Früchte tragen lässt, die sie an ein Ziel streben lässt. Angesichts dieser Ansprüche, die ich an die Musik stelle, ist es wohl kein Zufall, dass meine Lieblingssongs von den erfolgsgekrönten Beatles stammen. Die Beatles machten unter anderem mit der bewundernswerten Absicht Musik, mit gängigen Gesellschaftskonventionen zu brechen, Biederkeit und Prüderie die Stirn zu bieten. Ich finde es unglaublich, wie viel diese vier Musiker damit in ihrer gemeinsamen Zeit erreicht haben; welche Emotionswellen sie in ihren Fangemeinden auslösen konnten, was für unterschiedliche und vor allem auch innovative Stile sie in ihre Songs einfliessen liessen. Weder machten sie vor Texten über Homosexuelle Halt, noch hinderte sie ihr Erfolg daran, weiterhin barfuss die Welt zu erkunden. Ich habe grosse Achtung vor Musikern, die sich nicht von den bequemen Aussichten, die eine Erfolgskarriere bietet, blenden lassen. Wer dank seiner Musik zu Geld und vielleicht auch zu einer Vorbildsfunktion kommt, sollte seine Mittel auch dementsprechend einsetzen und beispielsweise – wie das die kolumbische Sängerin Shakira mit ihren Kinderheimen getan hat – soziale Institutionen gründen. Für Stars, die für ihre Garderobe drei Badezimmer, eine spezielle Popcornmaschine und Armani-Vorhänge beantragen, habe ich keinerlei Verständnis. Nun ja, manchmal habe ich ohnehin den Eindruck, dass um die heutigen Sternchen im Musikbusiness einen viel zu grossen Aufruhr gemacht wird. Bestimmt gibt es viele darunter, die musikalisch einiges zu bieten haben, und auch so ein richtiges Konzert ist sicherlich ein grossartiges Erlebnis. Die meisten Augenblicke, die dank Musik unbezahlbar wurden, habe ich allerdings nicht während des Hitparadehörens erlebt, auch nicht an einem Gig im Hallenstadion, eingequetscht inmitten schwitzender Körper. Die Augenblicke, die dank Musik unbezahlbar werden, können sich ganz unvorhergesehen ins Leben stehlen. Seien es leise Gitarrenklänge, die mit den Brandungswellen des Sees eine Melodie in den Nachthimmel zu schicken scheinen, sei es das Lied eines kleinen Kindes, das sich an meiner Hand festklammert, sei es die zauberhafte Melodie eines Strassenmusikanten, der mit seinem Dudelsack den Bernergassen Fröhlichkeit einhauchen will – Musik ist dann unbezahlbar, wenn sie dir das Gefühl gibt, du seiest zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Möge mich der Zugang zur Musik nie verlassen, damit ich dank ihr noch oft diese glückselige, und ich würde sagen – lebenswichtige Empfindung verspüren darf. Linguissimo 2008-2009 Meine Beziehung zur Musik Hanna Widmer Ein Ich – leichtfüssig auf der elegant geschwungenen Form des Violinschlüssels meine Runden drehend. Auf der G-Linie startend und losrennend. Im Uhrzeigersinn, die H-Linie berührend, dann wieder nach unten: die E-Linie fängt ein Ich auf, katapultiert es nach oben, schräg nach rechts, die Schlaufe in schwindelerregenden A-Höhen. Senkrecht nach unten, ein kleiner Haken nach links, der das Ich vor dem Fall ins tiefe Ungewisse auffängt und dann: das Ende. Mach mal einen Punkt. Ein Ich, gefangen in den schmalen Gängen der endlosen Notenlinien, eine Ariadne ohne Faden. In der ständigen Erwartung eines Tons: vielleicht ein A, vielleicht sogar ein rettender Achtel, über dessen Bauch das Ich seinem Hals entlang hinaufklettern könnte und aus dem Labyrinth befreit würde. Aber es scheint Pause zu sein auf dem Papier. Lange Pause. Stille. Ein Ich ist enttäuscht über die Abstinenz der Musik. Aber auch: ein Ich: zwischen Wolken aus Rauch in einem winzigen Club stehend. Zu viele Leute dicht gedrängt um mich herum. Davongetragen von dem rauen Klang des Saxophons, ein Blues, der Höhen und Geschwindigkeiten erreicht während den Solis, von denen es dem Ich schwindlig wird. Beeindruckend. Dazwischen der Kontrabass, brummig, fast missgelaunt. Die Saiten vibrieren im Bauch, und veranlassen ein Ich dazu, die Augen zu schliessen. Nur auf das Harmonieren der Musiker zu hören, auf helle Klänge in Höhen, auf dunkle in Tiefen. Die Finger des Pianisten, die die Tasten auf dem Klavier malträtieren und dem Instrument weisse und schwarze Klangfarben entlocken. Ein kurzer Blick genügt zwischen den dreien genügt, um die Tonart zu wechseln: eingespielt während endloser Proben in dunklen Kellern, die Eierkartons an den Wänden, Stunden voller gleicher Töne. Ein Ich, spät in der Nacht in die kalte Luft tretend, ein wenig taub, die Musik ist in den Hintergrund gerückt, verschmilzt zu einem homogenen Geräusch. Dann verschluckt die Stille der Nacht die Töne. Ein Ich! Auf dem Bett sitzend, das glänzende Silber aus der samtroten Hülle packend und die Teile der Querflöte zusammensteckend. Das kalte Mundstück am Mund. Das erste G, die erste Tonleiter. Das Blättern in den Notenblättern. Das Knirschen des Papiers: auch Musik, irgendwie. Ein Vorgeschmack auf die Melodien, die schwarz auf weiss über die Notenlinien rennen, ohne zu stolpern. Stolpern wird höchstens das Ich. Über fünfzehn zweiunddreissigstel hintereinander, chromatisch, nach oben. Eine Herausforderung. Ein Ich spätabends, auf den letzten Zug rennend, die Unterführung hell beleuchtet. Der Mann mit der Gitarre, dem offenen Koffer vor sich, in dem auf dem Blau des Futters die silbernen Münzen glänzen. Der Mann: vielleicht dreissig, dunkelhäutig, die Augen geschlossen, sein vorbeihastendes Publikum vergessend und nur für den Augenblick spielend, für sich selbst. Singend. Ein Ich: bleibt stehen und verpasst den Zug, nur wegen dieser Töne, die der Unterführung einen anderen Klang geben als den von hochhackigen Schuhen, von rennenden Schuhen, von schlurfenden Schuhen, von Winterschuhen, von Sandalen. Nur schade, dass der Mann drei Minuten nach der Abfahrt des letzten Zuges seine Gitarre über den Kopf zieht und im Koffer versenkt. Er lächelt dem Ich zu, ein Ich lächelt zurück. Trotz allem. Es würde eine kalte Nacht. Ab und zu einmal ein Ich: wütend. Sich hinter das Schlagzeug klemmend und loshämmernd. Trommel, Trommel, Tom Tom. Dazwischen Ride, Splash, Crash. Ein wirrer Rhythmus. Alle Gedanken des Ichs verschwinden im Viervierteltakt, in dem Augenblick, indem des Ichs Schlagzeugerpranke den Stick auf das Fell der Trommel sausen lässt oder auf das goldene Metall der Cymbals. In dem Sinne: Musik: Therapie. Ein Luftablassen auf schöpferischer Ebene. Ein Ich, das denkt: Gut, dass die Musik so überall ist. In den Läden beim Einkaufen – vielleicht störend empfunden – und aus dem Fenster des Nachbarn schallend. Musik – vielleicht sogar versteckt im Dröhnen eines Presslufthammers. Trrrrrr. Ein ununterbrochenes tiefes G. Musik – vielfältig und für jeden. Von einigen vielleicht als Dauerberieselung abgestempelt. Aber ohne Musik? Ohne ist schwierig. Ein Ich – bezogen auf die Musik – schon fast fanatisch, süchtig. Begeistert. Leicht zu begeistern. Ein Ich, das – in Beziehung mit der Musik – schon fast klammert und nicht mehr loslassen will. Ein Ich, das einen lebenslangen Vertrag abgeschlossen hat mit der Musik: Ich nicht ohne dich.