Pu (die 4 - Max-Brauer

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Pu (die 4 - Max-Brauer
PU (die 8.) und die „Neue Max-Brauer-Schule“
oder „ Kinder brauchen Bücher“
Zur Einschulung des achten Jahrgangs 5
der „Neuen Max-Brauer-Schule“ am 6.8.2012
Liebe Schülerinnen und Schüler der 5. Klassen, liebe Eltern, liebe Kolleginnen und Kollegen,
als ich in der diesjährigen Anmeldewoche im Februar Sie als Eltern fragte, welches Buch Ihr Kind
zur Zeit gerade liest, bekam ich jede Menge (ungefähr 55, letztes Jahr 70) Titel von Ihnen genannt.
Die Hitliste wird angeführt von
 Harry Potter (26x, letztes Jahr 22x) (1x – letztes Jahr 3 x - sogar bis Band7),
 Gregs Tagebuch (21x, letztes Jahr 17x),
 Das magische Baumhaus (4x)
 Sams-Bücher (4x)
Dann werden einzelne Titel genannt:
 Fantasie-Bücher (darunter auch „Die unendliche Geschichte“ von Michael Ende oder „Herr
der Ringe“),
 Cornelia Funke-Bücher,
 Astrid Lindgren: Ronja Räubertochter
 Der Brief an den König,
 Hilfe die Herdmanns kommen
 Detektivgeschichten, Mädchenbücher, Fußballbücher, Sachbücher
Warum wird in der Anmelderunde überhaupt nach Büchern gefragt? Aufnahmekriterium? Nein,
natürlich nicht! Neugier? Interesse? Ja. Ich möchte wissen, was Kinder, die in die 5. Klassen
kommen, so alles selbst lesen.
In diesem Jahr ist mir aufgefallen, dass ich weniger Bücher kenne, die genannt wurden, sie mich aber
auch nicht interessieren. Außer Harry Potter, Gregs Tagebücher, magisches Baumhaus und Sams
wurden nur noch Einzeltitel genannt. Was ist denn mit den anderen Klassikern von Astrid Lindgren,
Erich Kästner, Michael Ende ... werden sie nicht mehr gelesen oder wurden sie nicht genannt, weil
sie schon gelesen wurden?
Warum das Lesen so wichtig ist, hat schon Astrid Lindgren sehr treffend beschrieben. Ich weiß von
niemandem, der sich mit mehr Begeisterung über das Lesen geäußert hat, deshalb will ich hier
einiges zitieren:
„Es begann in Kristins Küche, als ich ungefähr fünf Jahre alt war. Bis dahin war ich ein kleines Tier
gewesen, das mit Augen, Ohren und allen Sinnen nur das in sich eingesogen hatte, was Natur war.
Dass es auch Kultur gab, erfuhr ich erst, als ich auf Kinderbeinen in Kristins Küche stiefelte, wo
mich überraschend ein Hauch davon streifte. Kristin war mit unserem Kuhknecht verheiratet und,
was wichtiger war, sie war Edits Mama. Diese Edit – gesegnet sei sie jetzt und allezeit – las mir das
Märchen vom Riesen Bam-Bam und der Fee Viribunda vor und versetzte meine Kinderseele dadurch
in Schwingungen, die bis heute noch nicht ganz abgeklungen sind. In einer seit langem
verschwundenen, armseligen kleinen Häuslerküche geschah dieses Wunder, und seit jenem Tag gibt
es für mich in der Welt keine andere Küche.“
Als Astrid Lindgren selber lesen konnte, ging sie auf die Jagd, um ihren „wilden Lesehunger zu
stillen“. „Schneewittchen“ war ihr erstes eigenes Buch, dann „Unter Trollen und Wichteln“. „Ein
Buch ganz für sich zu besitzen – dass man vor Glück nicht ohnmächtig wurde! Noch heute weiß ich,
wie diese Bücher rochen, wenn sie funkelnagelneu und frisch gedruckt ankamen, ja, denn zunächst
einmal schnupperte man daran und von allen Düften dieser Welt gab es keinen lieblicheren.“
Mit zehn Jahren stürzte sie sich auf die Schulbibliothek „wie eine Besessene und verschlang alles,
was es dort gab. In diesen Jahren zwischen zehn und dreizehn verschlingt man ja Bücher“ und sie
zählt eine stattliche Liste von Klassikern auf: Robinson Crusoe, Onkel Toms Hütte, Jules Verne, Der
Graf von Monte Christo, Die drei Musketiere, Das Dschungelbuch, Die Schatzinsel, Tom Sawyer
und Huckleberry Finn ...
Sie lebt förmlich in den Büchern: „ Und an diesen Schnee werde ich mich noch erinnern, wenn ich
schon jeden anderen Schnee vergessen habe ... Und noch mehr gibt es, dass ich nie vergessen werde.
1
Den Schoner Hispaniola und wie sehr ich um den kleinen Jim Hawkins bangte, als der Schiffskoch
mit seinem Holzbein angepoltert kam; ich werde noch immer wissen, wie ich mit Tom Sawyer und
Betty Thatcher in der unterirdischen Höhle zitterte ... und wie ich lachte, als Huck Finns Vater, blau
wie eine Strandhaubitze, mit dem großen Zeh in der Pökelfleischtonne landete.“
Aber sie liest nicht nur die Klassiker. Sie liest auch Mädchenbücher mit Begeisterung und spielt mit
ihrer Schwester die Geschichten nach. Ihr Bruder bestellte unter großen finanziellen Opfern „Der
König der Haudegen ... sechs rosa Bände, triefend von Blut, Verbrechen und teuflischer Bosheit ...
(Die kleine Astrid hätte bestimmt auch alle sieben Harry-Potter-Bände mit Begeisterung gelesen,
wenn’s die damals schon gegeben hätte.) Alle diese Bücher waren für mich gute Bücher“1, schreibt
sie. Ob sie nicht Kindern schaden? „Man muss eine Seele aufrütteln, die sonst schläft, alle habe es
nötig, manchmal zu weinen und erschreckt zu werden. In Büchern tut einem das nichts. Ein Kind
blättert rasch die nächste Seite um, wenn ihm der Inhalt nicht gefällt. Mit dem Bild ist es eine andere
Sache, schreckliche Filme halte ich für Kinder direkt für ungeeignet.“2 (Also: Lieber Harry Potter
lesen- statt als Film angucken. Auf alle Fälle erst lesen, dann vielleicht den Film gucken.)
Ja, Astrid Lindgrens „grenzenloseste(s) aller Abenteuer der Kindheit, das war das Leseabenteuer.“
Sie schreibt, „ein besseres Geschenk hat mir das Leben nicht beschert.“
Cornelia Funke in ihren „Tinten“-Büchern und Michael Ende in „Die unendliche Geschichte“
haben Bücherbegeisterung in Geschichten umgesetzt.
An die Eltern richtet Astrid Lindgren folgende Worte:
„Heutzutage wissen ja wohl alle Eltern, dass ihre Kinder Bücher brauchen ... oder etwa nicht? ...
Ich weiß zwar nicht, was ihr euch für euer Kind erträumt und erhofft, aber ich weiß, dass es für alle
Wechselfälle des Lebens besser gerüstet ist, wenn es lesehungrig ist.
Was eigentlich wünscht ihr euch für euer Kind ... vielleicht zunächst etwas so Banales, dass es in der
Schule gut vorankommt? Ja, aber dann müsst ihr ihm den Weg zum Buch weisen“ - nicht nur zum
Lehrbuch, sondern zu solchen Büchern, die seine Lesegier wecken.
„Wünscht ihr euch mitunter, ihr wüsstet ein wenig mehr darüber, was in ihm vorgeht? Ja, aber dann
müsst ihr ihm den Weg zum Buch weisen! ...Vertrautheit stellt sich ein, wenn ihr zusammen über ein
Buch lacht oder weint.“
Wünscht ihr euch, „dass es eines Tages zu denen gehört, die die Welt verändern und sie zu einem
besseren Platz für die Menschen machen? ... Ja, aber dann müsst ihr ihm den Weg zum Buch weisen!
Und das muss jetzt gleich geschehen, denn findet es den Weg nicht als Kind, dann findet es ihn nie
und wird auch nie ein Weltverbesserer, glaubt mir! ... Nehmt zehn jetzt lebende Menschen, die ihr
hoch schätzt, ... geht zurück in ihre Kindheit, ... ich bin davon überzeugt, ihr findet zehn kleine
Leseratten ... Die Bücher gaben ihrer Fantasie Nahrung und Fantasie war genau das, was sie
brauchten, als sie sich als Erwachsene anschickten die Welt zu verändern ...
Vielleicht sind eure Träume für euer Kind gar nicht so hochfliegend. Ihr wünscht euch nur, dass es,
wo immer sein Platz in dieser Welt später sein mag, einigermaßen glücklich werde. Zum Glück oder
Unglück eures Kindes könnt ihr nicht allzu viel beitragen. Eins aber könnt ihr tun, ihr könnt ihm
zeigen, wo Trost zu finden ist ... und überdies könnt ihr ihm Freunde schenken, die nie enttäuschen ...
ja, ihr könnt ihm den Weg zum Buch weisen! Aber ... es muss gleich geschehen ... wo euer Kind ...
zehn oder zwölf Jahre alt ist, da muss es geschehen. Hinterher ist es zu spät ... zu spät für so viel
Freude und so viele aufregende Erlebnisse, endgültig zu spät. Zu spät um den Weg zu finden, der zu
dem grenzenlosesten aller Abenteuer führt.“3
„Hat denn das Buch Zukunft“? Astrid Lindgren schlägt vor, stattdessen zu fragen „Hat denn der
Mensch eine Zukunft? Daran kann man ja in traurigen Stunden zweifeln. Aber hat er das, dann hat es
das Buch auch ... für viele, viele sind Bücher genauso notwendig wie Salz und Brot und werden es
bleiben, egal wie viele pfiffige Kassetten und Fernsehapparate und andere Ersatzmittel wir auch
erfinden werden.“4
1
Astrid Lindgren: Das entschwundene Land, S. 69-73
Astrid Lindgren: Steine auf dem Küchenbord, S. 24
3
ebd. S. 79-82
4
Astrid Lindgren: Steine auf dem Küchenbord, S. 25
2
2
Lesen ist für die Art Schule, die wir seit sechs Jahren hier an der MBS machen, die allerwichtigste
Grundvoraussetzung für erfolgreiches Lernen – deshalb soviel Astrid Lindgren. Die Lehrerinnen und
Lehrer stehen nicht mehr vorn und erzählen „von Gott und der Welt“. Nein, jedes Kind muss sich
selbst durch Kompetenzraster, Checklisten durchwühlen, nach passenden Büchern suchen, auch mal
im Internet recherchieren, um sich im eigenen Tempo den Lernstoff zu erarbeiten. Das klappt nur
dann gut, wenn Lesen keine Hürde ist. Diejenigen unter Euch, die noch nicht gern lesen, müssen wir
Schule und Eltern so schell wie möglich dazu bringen. Für manche wird es deshalb genau richtig
sein, auch in der Schule mal ein spannendes Buch zu lesen. Auch das gegenseitige Vorstellen von
tollen Büchern und das gegenseitige Vorlesen wird hoffentlich die Begeisterung für das Lesen
wecken und erhalten. So richtig froh sind wir Erwachsenen erst, wenn alle mit roten Ohren und
heißen Backen – auch mal die halbe Nacht unter der Bettdecke lesen, lesen, lesen ... („Es ist eine
Unsitte, nachts im Bett zu lesen, aber herrlich.“5).
Im letzten Jahr erhielt ich in der Anmelderunde einen wichtigen Hinweis von einer Mutter: „Frau
Bondick, wissen sie eigentlich, dass Jim Knopf nicht lesen und schreiben konnte?“ Ich habe
natürlich nachgelesen: Er kann es nicht und zeichnet stattdessen. Er lernt die Schule in Kummerland
kennen. Ein Drache – Frau Mahlzahn ist dort Lehrerin. Diese Schule ist schrecklich. Die Kinder
werden mit Wissen gequält. Doch die kleine Prinzessin Li möchte Jim erst heiraten, wenn er lesen
und schreiben kann: „Ich möchte eben, dass mein Bräutigam nicht nur mutiger ist als ich, er soll auch
klüger sein, damit ich ihn bewundern kann.“ 6 Ob er es tatsächlich lernt, könnt ihr Kinder selbst
nachlesen. Jedenfalls hatte er wegen eines Rechtschreibfehlers das große Glück, nicht nach
Kummerland zu Frau Mahlzahn als Baby geschickt zu werden, sondern nach Lummerland zu Lukas,
dem Lokomotivführer, zu kommen – welch ein Glück, dass er dort anders lernen konnte.
Ein weiterer Tipp aus dem letzten Jahr: Gregs Tagebücher. „Frau Bondick, wenn Sie wissen wollen,
wie Kinder ticken und wie sie über Erwachsene denken, dann müssen Sie diese Bücher lesen.“ Ich
bekam zwei Bände von dem älteren Geschwisterkind in Klasse 7 ausgeliehen und habe in den Ferien
gelesen – jedenfalls Band 1. Ehrlich gesagt, ich war ein bisschen enttäuscht. Ein Comic-Roman!
Lesen light! Wobei ich nichts gegen solche Comics habe wie z.B. Asterix und Obelix. Aber richtiges
Lesen ist das nicht. Da hat doch Harry Potter ganz anders Kinder zu Lesern gemacht! Außerdem: Ich
würde erfahren, was der Autor denkt, was Kinder denken, wie sie ticken. In der Schule erfahre ich es
aber doch von den Kindern oft sehr direkt – wenn ich mich interessiere, aufmerksam bin und
nachfrage. Toll an den Büchern finde ich die Tagebuch-Idee. Greg: „Ich mache das alles überhaupt
nur deswegen, weil ich später, wenn ich reich und berühmt bin, sicher was Besseres zu tun haben
werde, als den ganzen Tag lang dämliche Fragen zu beantworten.“7
In diesen Sommerferien habe ich mir nach langer Zeit mal wieder Bruno Bettelheim vorgenommen:
„Kinder brauchen Märchen“ und „Kinder brauchen Bücher“ – ganz alte Schinken, aber drin steht
sehr Aktuelles und hoch Spannendes: Warum manche Kinder wenig lesen, keinen Spaß daran haben
oder es gar nicht richtig können. Von den 140 befragten Eltern gaben in der letzten Anmelderunde 19
an, dass ihr Kind nicht lesen würde. Nichtlesen ist also auch ein „Renner“? Warum lesen manche
Kinder nicht? Bruno Bettelheim meint, diese Kinder seien von Eltern und Lehrern nicht davon
überzeugt worden, dass „Lesenkönnen ihm eine Welt wunderbarer Erfahrungen erschließt, dass es
ihm ermöglicht, seine Unwissenheit abzustreifen, die Welt zu verstehen und zum Herrn seines
Schicksals zu werden“. Die Kinder haben den falschen oder gar keinen Lesestoff nahe gebracht
bekommen. Nicht irgendeine Leselerntechnik hat Schuld, sondern das Bücherangebot. „Alle Kinder
sind fasziniert von Visionen, von Magie, von Geheimsprachen...“. „Man darf annehmen, dass nur
jemand, für den das Lesen schon frühzeitig visionäre Eigenschaften und eine magische Bedeutung
besaß, später zu einem gebildeten Menschen wird“. 8 Im Prinzip lohnen sich für Kinder nur Bücher,
die auch Erwachsene gern lesen. Mir geht das so, mit Büchern z.B. von Astrid Lindgren, Erich
Kästner, Michael Ende, Mark Twain, Henning Mankell, Klaus Kordon, Arnulf Zitelmann ..., die habe
ich Kindern gern vorgelesen, weil sie mich selbst interessieren. Auch Harry Potter kommt für mich in
5
Astrid Lindgren: Steine auf dem Küchenbord, S. 27
Michael Ende: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, S. 228
7
Jeff Kinney: Gregs Tagebuch. Von Idioten umzingelt!, S. 2
8
Bruno Bettelheim: Kinder brauchen Bücher, S 54-56
6
3
Frage – ein „Märchen“, die Kinder nach Bruno Bettelheim brauchen! - ungefähr ein Fünftel der
Kinder, die hier vor mir sitzen, teilen das Interesse an Harry Potter.
Warum sollten sich Kinder für Bücher interessieren, die Erwachsene nicht interessieren? Früher
lernten die Kinder mit der Bibel lesen, und da steht nun wirklich Spannendes drin! Achten wir also in
der Schule und zu Hause darauf, dass ihr Kinder die Bücher bekommt, die sich lohnen, gelesen zu
werden – auch von uns Erwachsenen.
Letzte Woche ist mir noch ein anderes Buch begegnet, dass ganz frisch ist und in dem ich erst ein
bisschen quer gelesen habe: „Digitale Demenz – Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand
bringen“ von Manfred Spitzer, dem berühmten Gehirnforscher aus Ulm. Zum Beispiel sein Fazit:
„Digitale Medien führen dazu, dass wir unser Gehirn weniger nutzen, wodurch seine
Leistungsfähigkeit mit der Zeit abnimmt. Bei jungen Menschen behindern sie zudem die
Gehirnbildung; die geistige Leistungsfähigkeit bleibt also von vornherein unter dem möglichen
Niveau. Das betrifft keineswegs nur unser Denken, sondern auch unseren Willen, unsere Emotionen
und vor allem unser Sozialverhalten... Meiden Sie digitale Medien. Sie machen ... tatsächlich dick,
dumm, aggressiv, einsam, krank und unglücklich. Beschränken Sie bei Kindern die Dosis, denn dies
ist das Einzige, was erwiesenermaßen einen positiven Effekt hat. Jeder Tag, den ein Kind ohne
digitale Medien zugebracht hat, ist gewonnene Zeit...“.9 (Das findet auch die SPIEGEL-Journalistin
Elke Schnitter, die in einem Essey über den „Soundtrack der Kindheit“ im Juli (Nr. 29) 2012
geschrieben hat: „Das tatsächlich Lebendige braucht das was Fernsehen nicht hat: Geruch,
Geschmack“ (S. 138/139).)
Jeder Satz entspricht meiner Überzeugung, wenn ich Kinder beobachte, die für PU-Projekte
Wikipedia-Texte aufsaugen, sich mit einer Playstation in der Pause in Ecken verkrümeln, statt auf
dem Fußballplatz zu toben, ohne ihre Handys nicht lebensfähig zu sein scheinen, nicht nur montags
müde und mit „eckigen“ Augen in die Schule kommen ... oder wenn ich mich darüber freue, dass in
keinem Klassenraum ein Smartboard (nur in manchen Fachräumen) steht und nicht jedes Kind mit
Laptop ausgerüstet ist. Spitzer: „Gerade weil ... Computer uns geistige Arbeit abnehmen, taugen ...
Laptops und Smartboards für Schule und Unterricht nicht zum besseren Lernen... Lernen setzt
eigenständige Geistesarbeit voraus: Je mehr und vor allem je tiefer man einen Sachverhalt geistig
bearbeitet, desto besser wird gelernt“ (S. 94-95).
Deshalb brauchen Kinder Bücher und müssen ganz viel mit Kopf, Herz und Hand lernen.
Uns an der MBS ist nicht nur das Lesen so wichtig – Lernbüro und Projektunterricht funktionieren
nicht ohne das Lesen.
Auch das Schreiben ist wichtig. In jedem Schuljahr werden auch Bücher geschrieben:
in Kl. 5 im Projekt „Wir schreiben ein Buch“ und ein Naturtagebuch im Projekt „Tiere und
Pflanzen“,
in Kl. 6 „Ich von Anfang an“ – eine Biografie im Projekt „Ich und mein Körper werden erwachsen“,
in Klasse 6 und 7 Lesetagebücher,
in Kl. 8 eine Zeitung, in Kl. 8-10 ein Buch über das Langzeitprojekt.
Manche Lehrerinnen und Lehrer finden auch Lerntagebücher super und regen ihre Schülerinnen und
Schüler dazu an zu schreiben, wie sie lernen – spannend ist das!
Übrigens haben wir mit unserer Methode des selbstständigen Lernens nicht nur in der
Lesekompetenz in den schulübergreifenden Tests die größten Erfolge. Auch in der Rechtschreibung
gibt es durch das Schreiben „für den Ernstfall“ – wenn es Spaß macht - selbst in der Pubertät noch
erstaunliche Fortschritte.
Als Astrid Lindgren durch Zufall (verstauchter Fuß durch Glatteis im Winter 1944) anfing Bücher
zu schreiben (Pippi Langstrumpf), schrieb sie „für das Kind in mir, das noch immer nach Büchern
hungert. Dieses Kind entdeckte mit Jubel – ja du liebe Zeit! -, Bücherschreiben macht ja genauso viel
Spaß wie sie lesen! ... Alles ist nur eine Fortsetzung dessen, was in Kristins Küche begann.“10
Die Traumschule, die wir viereinhalb Jahre geträumt und vorbereitet haben, ist vor sieben Jahren eine
wirkliche Schule – die „Neue MBS“ – geworden. Wir träumen nicht mehr davon, wir machen sie
9
Manfred Spitzer: Digitale Demenz – Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen, S. 324, 325
Astrid Lindgren: Das entschwundene Land, S. 74, 75
10
4
jetzt. Wir wissen, dass wir auf Fächer im Stundenplan verzichten können. Es klappt mit PU
(Projektunterricht), LB (Lernbüro) und den vier Ws (Werkstätten). Wir haben Erfahrungen mit
ihr gesammelt – viele gute Erfahrungen. Der zweite Jahrgang ist auch wieder (wie im letzten Jahr der
erste Jahrgang) mit tollen Ergebnissen in diesem Sommer am Ende von Klasse 10 angekommen. Und
wir haben gemerkt, dass manches noch besser gemacht werden kann. Das wollen wir in Zukunft tun.Beim Lernen von Deutsch, Mathematik und Englisch im Lernbüro, der ersten Säule der „Neuen
MBS“, mit Wochenplänen, Kompetenzrastern und Checklisten als Wegweiser, braucht Ihr eine
Fähigkeit, die Ihr von Pippi Langstrumpf lernen könnt:
Als Thomas und Annika, die superbraven Kinder aus dem Nachbarhaus, sich darüber wundern, dass
Pippi ohne Mutter und Vater in der Villa Kunterbunt wohnt, und sie fragen, wer ihr denn sagen
würde, wann sie abends ins Bett gehen soll und „all so was“, antwortet Pippi: „Das mache ich selbst.
Erst sage ich es ganz freundlich, und wenn ich nicht gehorche, dann sage ich es noch mal streng, und
wenn ich dann immer noch nicht hören will, dann gibt es Haue.“
So funktioniert das Lernbüro. Nicht Eure Lehrerinnen und Lehrer (und Eltern) werden Euch zum
Lernen antreiben. Ihr macht Euch Euern Plan und um den umzusetzen, müsst Ihr, wenn’s freundlich
nicht geht, auch mal streng mit Euch selbst sein.
Pu der Bär ist seit drei Jahren unser Maskottchen, unser Talisman, unser Markenzeichen. Er soll es
auch bleiben.
 PU – steht aber nicht nur für Pu der Bär.
 PU – ist auch die Abkürzung für Projektunterricht, der zweiten Säule der „Neuen MBS“. In
sechs großen Projekten im 5. Schuljahr wird forschend gelernt – auch dabei kann man sich nicht
ausruhen.
 PU – bedeutet im Tao (nachschlagen, wenn Du nicht weißt, was das ist) unbehauener Klotz und
steht bei uns für all das, was an der „Neuen MBS“ noch nicht ganz fertig ist, oder für das, was wir
gemeinsam verbessern müssen.
 PU – rufen wir uns zu, wenn wir wieder mal etwas sehr Anstrengendes geschafft haben, wenn wir
„PUnkte“ gemacht haben.
 PU – bleibt aber auch Pu der Bär, der vollendet, was er gelassen anpackt, gerade weil er nicht so
oberschlau ist, wie Kaninchen, Eule oder I-Ah.
 PU – steht auch für PUsche Gemütlichkeit und Gelassenheit11. Das gilt besonders für Eltern und
Lehrerinnen und Lehrer: Sie sind hoffentlich so gelassen und zuversichtlich wie Pu der Bär: Ein
kleines Gesumme am Morgen beim Aufstehen und wenn man in die Klasse geht. Immer mal
zwischendurch und besonders am Vormittag einen kleinen Mundvoll. Und ganz viel Vertrauen
aller Erwachsenen, dass die Kinder ihren Weg gehen werden.
Für die dritte Säule, die Werkstätten, braucht Ihr am Anfang sicher ein bisschen Mut, weil Ihr dort
vielleicht ganz allein aus der Klasse hinmüsst – ohne einen Freund oder eine Freundin. Dann hilft
Euch vielleicht, an das sehr kleine und sehr ängstliche Tier Ferkel zu denken. („Es ist schwer, tapfer
zu sein“, sagte Ferkel und schniefte leise, „wenn man nur ein sehr kleines Tier ist.“) Es entwickelt
nämlich ganz besondere Fähigkeiten: Es kann zum Beispiel durch den Briefkastenschlitz klettern und
damit Eule und Pu aus der Klemme helfen.
Wer im Lernbüro, im Projektunterricht, in den Werkstätten rumsitzt, träumt, in der Nase bohrt oder
womöglich sogar seine Mitschüler nervt, wer Druck braucht, wird sein Ziel möglicherweise nicht
erreichen.
182 Kinder wurden in diesem Jahr hier angemeldet, um anders zu lernen als an anderen Schulen.
Haben wir diesen enormen Zulauf, weil das Lernen hier immer nur Spaß macht, weil es hier wie von
selbst geht, weil man sich nicht anstrengen muss?
 Wie kann jemand schreiben lernen, der nicht schreibt?
 Wie kann jemand gut lesen und verstehen lernen, der sich nicht für Bücher begeistert?
11
Ein Beispiel für PUsche Gelassenheit: Ferkel bei heftigen Sturm: „Angenommen, ein Baum fällt um, Pu, wenn wir direkt darunter stehen?“ - - „Angenommen, er fällt nicht um“, sagt Pu nach sorgfältigem Nachdenken. Dadurch ist Ferkel getröstet.
5
 Wie kann jemand schwere Mathe-Aufgaben lösen, der die Grundrechenarten und das 1x1
nicht lernen will?
 Wie kann jemand später gut Englisch sprechen und verstehen, der keine Vokabeln gelernt
hat?
Lernen ist kein Zuckerschlecken. Meistens ist es anstrengend. Durch schwierige Aufgaben muss man
sich durchbeißen. Auch in der „Neuen MBS“ ist das so. Wer noch nicht einmal zehn Vokabel pro
Woche lernt, wird vermutlich mit seinem Englisch später nicht zufrieden sein.
Lernen macht oft erst dann Spaß, wenn man etwas erreicht hat, wenn man gelbe, grüne und rote
Punkte eingesammelt hat und im Schüler-Eltern-Lehrer-Gespräch (SELG) gelobt wird, wenn man
später eine Ausbildungsstelle, einen Studienplatz, eine Arbeit, die einem gefällt, findet, wenn man
seine Träume erfüllen kann, wenn man wie der berühmte Michel aus Lönneberga in dem Buch von
Astrid Lindgren12 später Gemeindepräsident wird.
Dass Kinder mit sehr unterschiedlichen Vorraussetzungen kommen, damit rechnen wir - nicht erst
seit die Inklusion und der sonderpädagogische Förderbedarf modern geworden sind. Wenn wir
gemeinsam mit der Einstellung herangehen wie die Buchautoren,
 die Figuren mit „Schwächen“ zu Helden machen (der Analphabet Jim Knopf, die Lese,Rechtschreib-,Rechenschwache zappelige Pippi Langstrumpf, der Träumer Bastian in der
unendlichen Geschichte,
 die sich mit Greg lustig machen: „ Sie sagen einem nicht direkt, ob man jetzt in der
Begabtengruppe oder in der Fördergruppe gelandet ist. Aber an den Titeln der Bücher, die sie
austeilen, wird das ziemlich schnell klar. Der junge Einstein oder Blinki sagt BUH“13,
werden wir mit PU, Lernbüro und Werkstätten hoffentlich zu größtmöglichen Erfolgen verhelfen.
Wer noch Bedenken hat, dem empfehle ich Wolfgang Bergmann: „Lasst eure Kinder in Ruhe! Gegen
den Förderwahn in der Erziehung!“
Wie an jeder Schule muss man sich auch an der „Neuen MBS“ an Regeln halten
 in der Klasse,
 im Schulgebäude(z.B.: Das Handy ist aus in der Schule und auf dem Schulhof!),
 in der neuen Mensa beim Mittagessen (wenn 43 Klassen in ungefähr 90 Minuten gegessen haben
sollen).
Das geht nicht laut und ungestüm – wie Tiger das tun würde.
Das geht nur nach der Pu-der-Bär-Methode (LLFF):
 LANGSAM und LEISE unter allen Dächern.
 FRIEDLICH und FREUNDLICH überall in der Schule.14
Und wer mal laut und ungestüm sein muss wie Tiger, der geht eben auf den Sportplatz und schreit
und tobt herum und kommt ganz „gestüm“ wieder unter die Dächer.
(Einteilung in die Klassen nach Farben der Einladungen - nicht wie bei Harry Potter mit dem
sprechenden Hut.)
Regine Bondick, Abteilungsleiterin 5-715
12
Ich hoffe, Ihr kennt es. Sonst empfehle ich Euch, gleich nach der Schule in der Bücherhalle vorbeizuschauen, dieses Buch - und außerdem noch Pippi
Langstrumpf (Besonders empfehlenswert sind die Stellen über Schule!) und die Bücher von Pu dem Bären - auszuleihen und natürlich auch zu lesen.
Sie sind Pflichtlektüre an der MBS.
13
Jeff Kinney: Gregs Tagebuch. Von Idioten umzingelt!, S. 13
14
Die Idee haben wir von der Gesamtschule Kassel-Waldau. Schon in den drei letzten Jahr habe ich versprochen: Wenn das mit FRIEDLICH, FREUNDLICH, LANGSAM, LEISE klappt und wir Erwachsenen die
Pu-der-Bär-Gelassenheit zeigen, dann – und nur dann – werde ich die Umbenennung in Pu-Bär-Schule (PBS) beantragen.
15
Für diese Rede habe ich folgende Bücher gelesen und teilweise verwendet:
 Astrid Lindgren: „Das entschwundene Land“, „Steine auf dem Küchenbord“, „Pippi Langstrumpf“ + „Immer dieser Michel“ (Gesamtausgaben) alle beim Oetinger-Verlag erschienen
 Gaare/Sjaastad: Pippi & Sokrates - Philosophische Wanderungen durch Astrid Lindgrens Welt
 A.A.Milne: „Pu der Bär“ + „Pu baut ein Haus“
 Benjamin Hoff: „Tao Te Puh“ + „Pu der Bär, Ferkel und die Tugend des Nichtstuns“
 Sieben Bände Harry Potter
 Bücher von Cornelia Funke, Klaus Kordon, Arnulf Zitelmann
 Gregs Tagebuch 1, Baumhaus.Verlag
 Michael Ende: z.B. „Die unendliche Geschichte“ und „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“
 Wolfgang Bergmann: Lasst eure Kinder in Ruhe! Gegen den Förderwahn in der Erziehung. Kösel-Verlag
 Bruno Bettelheim: „Kinder brauen Märchen“ (15010) und „Kinder brauchen Bücher“ (15000), dtv
 Manfred Spitzer: Digitale Demenz – Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen, Droemer-Verlag, 2012
 Elke Schmitter: Soundtrack der Kindheit – Vom Unbehagen am Medienkonsum meines Sohnes. In DER SPIEGEL 29/16.7.2012, S. 138/139
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