pt Zeitschrift für Physiotherapeuten 1/2016
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pt Zeitschrift für Physiotherapeuten 1/2016
P RA X I S Hypermobilität der Gelenke Wie viel ist normal, was ist ein Hypermobilitätssyndrom? Paul Gellert Sehr bewegliche Kinder und Jugend Die Überbeweglichkeit einzelner oder kungen liche eignen sich für spezielle Sport mehrerer Gelenke ist in der Bevölkerung wird kaum wahrgenommen. arten wie Ballett, Akrobatik oder Tur weit verbreitet. Sie wird in der weißen Be- nen. Nach der letzten Wachstumsphase völkerung auf zehn Prozent geschätzt, mit verliert sich jedoch diese konstitutionel deutlich größerem Frauenanteil (1). Asia- le Beweglichkeit bei den meisten. Ande tInnen und AfrikanerInnen sind noch re behalten ihre generelle Hypermobili häufiger betroffen (2, 3). Besonders junge Betroffene kämpfen ein Leben lang mit Ge- tät und müssen regelmäßig trainieren, Mädchen neigen zu Überbeweglichkeit, lenkinstabilität, Schmerzen und Erschöp- um eine gute Gelenkstabilität zu be welche sich im Alter oft verliert. fung. Sie sind wenig belastbar, oft kommen geschärft, Überbeweglichkeit Hypermobilitätssyndrom wahren. Der Autor behandelt viele Viele überbewegliche Menschen leben weitere gesundheitliche Probleme wie Her- hyper mobile Patienten und berichtet ohne große Probleme, haben sich arran- nien, Blutergüsse, Striae, Becken bo den Ihnen vom Hypermobilitätssyndrom mit giert oder können die Folgen ausreichend schwäche, vaskuläre und viszerale Be- seinen verschiedenen Ausprägungen. kompensieren. Turner und Tänzer haben schwerden, mit fortgeschritten Alter auch sich die Überbeweglichkeit einzelner Ge- eine Neigung zu Divertikeln hinzu, die ihre lenke oft hart erarbeitet, ohne dabei krank Ursache in elastischem, weichem Körper- zu sein. Vielleicht liegt es an diesem Teil gewebe haben. Meist bleiben ihre Be- der »Hypermobilen«, dass diese Abnor- schwerden ohne erklärende Diagnose, da mität in der Medizin und auch in der Phy- Bildgebung und Labor ohne Befund sind, siotherapie so wenig wahrgenommen der Verlauf sehr individuell ist und die spe- wird. Im Medizinstudium wie in der zifische Diagnostik oft nicht bekannt ist. Oft werden Patienten mit Hypermobili- wird der Blick auf Bewegungseinschrän- tät als Hypochonder oder faul abgetan. Fotos: Paul Gellert Physiotherapie- und Facharztausbildung Abb. 1_Positiver Beighton Score bei einer Patientin mit Hypermobilitätssyndrom 62 pt_Z eitschrift für Physiotherapeuten_ 6 8 [2 0 1 6 ] 1 PR AX I S Sie meiden viele Aktivitäten, die Schmerzen verursachen, und sind im Allgemeinen schnell erschöpft. Nur wenige sehen dabei krank aus. Freunde, Familie, Arbeitskollegen, aber auch Ärzte und Therapeuten reagieren nicht selten mit Unverständnis. Patienten sind zunehmend verzweifelt, ängstlich, depressiv. Viele Patienten beschreiben ständigen Durst und Heißhunger auf salziges Essen. Es ist schmerzhaft für sie, über längere Zeit zu stehen oder frei zu sitzen. Auch typisch ist, dass Joggen als sehr schwierig beschrieben wird. Viele Patienten zeigen deutliche nervöse vegetative Symptome, haben niedrigen Blutdruck, Verdauungsprobleme, Schlafstörungen und Ängste. Des Weiteren neigen Menschen mit Hypermobilitätssyndrom zu Aneurysmen, ? Gelenk- und Muskelschmerzen GLOSSAR Kollagenstörungen: Ehlers-Danlos-Syndrom und Marfan-Syndrom Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS) und Marfan-Syndrom (MFS) sind Erbkrankheiten, bei denen das Bindegewebe betroffen ist. EDS-Patienten weisen eine überdehn bare und verletzliche Haut, laxe Gelenke mit übergroßem Gelenkspiel und weiche Körpergewebe auf. Durch Enzymdefekte entstehen abnorme Kollagenmoleküle mit unzureichenden Crosslinks. Beim Marfan-Syndrom ist die Produktion von Fibrillin-1 und folgend des Elastins gestört. Marfan-Patienten sind meist groß, sehr schlank, haben auffallend lange Extremitäten und lange Finger, eine markante Thoraxform sowie Wirbel säulen-Fehlbildungen. Herz und Blut gefäße sind beim MFS sehr verletzlich. (4, 7) Divertikulose und schwierigen Schwan- Die im Englischen gebräuchliche Bezeichnung Joint Hypermobility Syndrome verdeutlicht, dass es sich hierbei vorrangig um Beschwerden des muskuloskelettalen Systems handelt, welche durch die mangelnde Stabilität bindegewebiger Strukturen (Sehnen, Bänder, Gelenkkapsel, Knorpel) verursacht werden. In jungen Jahren treten Muskel- und Gelenkbeschwerden meist belastungsabhängig auf: Schnelle Bewegungen, plötzliche Richtungswechsel, kräftige Berührungen und Stöße, das Bewegen schwerer Lasten und vieles mehr führt zu Über beanspruchung der betroffenen Strukturen und weitergehend zu erhöhter Muskelarbeit. In der Beanspruchung bleiben die Schwächen und Beschwerden meist im Hintergrund: Das Fußballspiel kann gerschaften. Eine Abgrenzung zu Krank- schnell und schmerzfrei absolviert, der heiten wie dem Ehlers-Danlos-Syndrom Schmerzen, Instabilitätsprobleme und Umzug gestemmt, die Party getanzt wer- (EDS) ist schwierig und oft nur genetisch internistische Beschwerden können durch den. Darauf aber folgt eine zunehmend möglich. Führende Mediziner bezeichnen die erweiternden Brighton Criteria (1, 4) verlängerte und schmerzhafte Erschöp- den hypermobilen Typ des EDS als kli- erfasst werden: Mit diesem Befund werden fungs- und Erholungsphase, oft über nisch identisch mit dem Hypermobilitäts- aus hypermobilen Menschen Patienten mit mehrere Tage. syndrom (1, 4). Hypermobilitätssyndrom. In Verbindung Junge hypermobile Menschen können mit dem Beighton Score kann so die Kom- sehr gut in Yoga und Ballett sein; Kunst- plexität der Überbeweglichkeit und ein- stücke und merkwürdige Körperhal hergehenden Beschwerden ausreichend tungen sind für sie einfach. Mit dem Er- erfasst und dargestellt werden (Tab. 2). wachsenwerden verliert sich bei g esunden ? Untersuchung Goldstandard in der klinischen Diagnose der Hypermobilität sind der Beighton Tab. 1_Der Beighton Score beurteilt die Gelenkbeweglichkeit Score und die Brighton Criteria. Beighton und Brighton sind keine Schreibfehler, Beweglichkeitstest Auswertung sondern differenzierte Befundmethoden. Kleiner Finger, passive Extension über 90 Grad Jeweils 1 Punkt rechts und links Daumen, passive Bewegung bis Unterarm Jeweils 1 Punkt rechts und links Ellenbogen, Überstreckung mehr als 10 Grad Jeweils 1 Punkt rechts und links bogen, Knie und bei der Wirbelsäulenfle- Kniegelenke, Überstreckung mehr als 10 Grad Jeweils 1 Punkt rechts und links xion (Abb. 1). Er eignet sich somit vorran- Flexion der Wirbelsäule, Patient kann beide Handflächen bei gestreckten Knien ablegen 1 Punkt Der Test ist positiv ab: 4 von 9 Punkten bei Erwachsenen bis 50 Jahre 3 von 9 Punkten bei Erwachsenen über 50 Jahren 5 von 9 Punkten bei Kindern Maximale Punktzahl: 9 Der Beighton Score (1, 4) beschreibt die standardisierte Testung der Überstreckbarkeit an kleinem Finger, Daumen, Ellen- gig zur Beweglichkeitstestung und zeigt altersabhängige Unsicherheiten (Tab. 1). Er zeigt an, ob ein Mensch hypermobil ist, was an sich keine Krankheit ist; Auskunft über Schmerzen gibt er nicht. pt_ Z e i t s c h r i f t f ü r P h y si o t h erap eu t en _68 [ 2016] 1 63 P RA X I S Tab. 2_Die Brighton Criteria erfassen Bandscheibenprotrusionen und welche noch unsicherer diagnostiziert Schmerzen, Instabilitätsprobleme und Spondylolysthesen wird als die Hypermobilität an sich (1, 4). internistische Beschwerden Hypermobilität bedingt nicht nur laxe Eine amerikanische Studie an zwölf Pati- Gelenke, auch die Bandscheiben sind sehr enten mit täglichen schweren Kopf- Kriterien weich und dehnbar. Multiple Bandschei- schmerzen seit über einem Jahr ergab bei Major Criteria benprotrusionen sind schon in sehr jun- 92 Prozent eine atlanto-axiale Instabilität Beighton Score positiv (altersabhängig) gen Jahren regelmäßig zu finden. Auf- (8). Die klassische bildgebende Diagnos- Schmerzen in vier oder mehr Gelenken seit mindestens drei Monaten grund der abnormen Beweglichkeit aller tik ist oftmals negativ, der Sharp-Purser- Strukturen sind diese allerdings meist Test unterstützt den Anfangsverdacht, Minor Criteria weitgehend unauffällig. Sie werden bei beweisend ist jedoch vorrangig ein Up- der Diagnostik praktisch als Neben right-Funktions-MRT. Beighton Score nur in wenigen Gelenken auffällig befund erkannt (6). Ebenso neigen die Pa- Rückenschmerzen tienten zu lumbalen oder zervikalen Temporomandibulargelenk, Stimm Spondylolisthese Spondylolysthesen. Schwaches Bindege- bänder und Gesichtsschmerz Schmerzen in mindestens ein bis drei Gelenken webe bedingt zwangsläufig eine Gefü- Viele Hypermobile haben eine abnormal gelockerung am Wirbelbogen, was ur- große Mundöffnung (über 40–50 Millime- sächlich für den Gleitwirbel ist. Wie bei ter) und typische Beschwerden einer Cra- den Protrusionen werden auch hier oft- niomandibulären Dysfunktion. Des Wei- mals Ursache und Wirkung verwechselt, teren weisen sie häufig starke Gesichts- was letztlich zu einer unvollständigen schmerzen bis hin zu einer Trigeminus Diagnose führen kann (1, 4, 6, 7). neuralgie auf. Nicht selten kommt es zum mehrmalige Gelenkluxationen auffällig dehnbare Haut bzw. Haut probleme schlanker (oft inkomplett marfanoider) Körperbau fallende Augenlider Neigung zu Hernien, Hämorrhoiden, Venenproblemen oder blauen Flecken bekannter Mitralklappen-, Uterus- oder Rektalprolaps Der Test ist positiv ab: 2 Major Criteria 1 Major Criterion und 2 Minor Criteria 4 Minor Criteria 2 Minor Criteria und positive Familienanamnese Stimmritzenkrampf oder zur Vocal Cord Halswirbelsäule und Nacken Dysfunction (1, 9). Chronische Kopfschmerzen und Migräne sind kennzeichnend für Hypermobilität (1, 4, 8). Das Ausbalancieren und Stabilisieren des Kopfes auf dem Hals stellt Behandlung des hypermobilen Bewegungsapparates schon für Menschen mit gesunden Strukturen eine alltägliche Herausforderung Schmerz ist nicht gut: Er belastet alle dar; für Menschen mit laxen oder über Funktionen, raubt den Schlaf, macht elastischen Bändern und Sehnen ist es psychisch krank. Eine entsprechende Me- eine kaum zu bewältigende Arbeit. Hals- dikation ermöglicht oft erst die nötige Er- und Nackenmuskulatur in ständigem Hy- holung, gibt Energie und Konzentration Menschen die Beweglichkeit und Elastizi- pertonus und Stress bedingen Kopf- für eine erfolgreiche Therapie und Le- tät. Auch ein Teil der jungen Hypermobi- schmerzen, Schwindel und weitere vege- bensfreude. Den richtigen Arzt und auch len stabilisiert sich mit zunehmendem tative Symptome. Physiotherapeuten zu finden, ist nicht Alter. Meist läuft dieser Prozess jedoch Besonders empfindlich sind Hypermo- nur in Deutschland schwierig. Im allge- verlangsamt und unvollständig ab. Bei bilitäts-Patienten gegenüber HWS-Distor- meinen Handling gelten für Patienten mit manifesten Bindegewebspathologien wie sionen jeder Art. Oft reichen recht einfa- Hypermobilitätssyndrom ein paar allge- dem Ehlers-Danlos-Syndrom bleibt er aus che Beschleunigungen, um das Vollbild meine Grundsätze (1, 4, 10) (siehe Kas- – im Gegenteil, das Bindegewebe verliert einer HWS-Distorsion zu entwickeln. Un- ten). weiter seine Form und Elastizität. Oft fälle, Sportverletzungen (Bungee-Jum- Entspannung und Massage sind meist werden chronisches ping, Kampfsport), aber auch Kieferope- nur sehr kurzzeitig lindernd, oft ver- Schmerzsyndrom, Fibromyalgie-Syndrom rationen können irreversible Folgen ha- schlechternd. Hilfreich sind ein entspre- oder somatoforme Störung diagnostiziert ben: Die Überdehnung des Halteappara- chend sanftes Training der Bewegungs- (1, 5). tes führt zur Instabilität der Kopfgelenke, kontrolle und Balance, das Vermeiden 64 die Folgen als pt_Z eitschrift für Physiotherapeuten_ 6 8 [2 0 1 6 ] 1 PR AX I S Beim Hypermobilitätssyndrom sollten ge Trainingsgrundsätze des Hypermobilitäts Bewährte Therapiemethoden mieden werden: syndroms • Stabilisierende Übungen auf Matte, • Sportarten mit schnellen, kräftigen Bewe- • Übungen mit leichten Gewichten und gungen (wie Laufen, Joggen, Springen), moderaten Wiederholungen; jede Form • Sanfte Bewegungsübungen im Sinne schnellen Richtungswechseln und beson- von Schmerz oder Verspannung ver- von Qigong und sanftem Yoga (Krish- ders Kontaktsportarten (Kampfsport) schlechtert die Hypermobilität Hocker oder Pezziball manjara), langsame Tänze • Dehnungen, welche über die betroffe- • Alle Übungen sollten acht- bis zehnmal • Wassergymnastik nen Gelenke gehen; Dehnungen und schmerzfrei ausgeführt werden können; • Gerätetraining mit angepassten Haltun- manche Formen des Yoga werden oft als Übungen mindestens 15-mal durchfüh- gen und Gewichten, Seilzug, Rudergerät sehr angenehm empfunden, führen je- ren, bevor Gewicht oder Intensität er- • Manuelle Therapie kann bei HWS- und doch schnell zu Verschlechterung höht werden Kopfgelenks-Beteiligung erforderlich • Heben, Ziehen und Schieben schwerer • Mit fünf Kilogramm ist die Gewichts- Lasten; Vorsicht bei Haus und Garten grenze oft schon erreicht, ungeschützte • Meditationen (Mindfulness-Based Stress sein, inklusive Stabilisationsübungen arbeit, im Job und im Training Handgelenke schmerzen häufig schon Reduction – MBSR); Sitz, Haltung, Form hypermobiler bei ein bis zwei Kilogramm Gewicht; sta- und Dauer sind den individuellen Belast- Gelenke, Kniegelenke und Ellenbogen bilisierende Orthesen können hilfreich sollen nicht durchschlagen, Stütze nicht sein • Endgradige Bewegung auf den Handgelenken, Hebelwirkung vermeiden • Mobilisation und Manuelle Therapie sind sehr vorsichtig durchzuführen, Ma- barkeiten anzupassen • Feldenkrais-Übungen als gute Grund • Training angemessen, aber konstant ge- lage, um eine individuelle und patien- stalten: Zehn- bis 15-minütige Selbst- tengerechte Bewegungsschulung zu er- übungen täglich sind erfolgreicher als arbeiten zwei Stunden Auspowern die Woche nipulation ist kontraindiziert, Entspannungstherapie und Massage können verschlechternd wirken verschlechternder Tätigkeiten, ebenso vorsichtiges Stabilisationstraining sowie Lagerungshilfen zum Schlafen; in schweren Fällen ist Unterstützung durch eine Zervikalorthese notwendig. Auch bei optimaler Behandlung ist das Krankheitsbild oft fortschreitend: Rheumatische und internistische Beschwerden erschweren dabei die Behandlung. – LITERATUR 1 Tinkle B. 2011. Joint Hypermobility Handbook: A Guide for the Issues & Management of Ehler-Danlos-Syndrome Hypermobility Type and the Hypermobility Syndrome. Greens Fork: Left Paw Press 2 Beighton P, Solomon L, Soskolne CL. 1973. Articular mobility in an African population. Ann. Rheum. Dis. 32:413–8 4 Keer R, Grahame R. 2003. Hypermobility syndrome – recognition and management for physiotherapists. Oxford: Butterworth Heinemann 5 Haberhauer G, Strehblow CH. 2011. Viel zu beweglich. Das benigne Gelenkhypermobilitätssyndrom. www.springermedizin.at/artikel/25054-vielzu-beweglich; Zugriff am 24.7.2015 6 Aktas I, Ofluoglu D, Akgun K. 2011. The relationship between lumbar disc herniation and benign joint hypermobility syndrome. Turk. J. Phys. Med. Rehabil. 57:85–8 7 Jaap de Morree J. 2013. Dynamik des menschlichen Bindegewebes. 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