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SPORT
RHEINPFALZ AM SONNTAG
5. OKTOBER 2014
SEITE 15
BESSER LEBEN
Titus Dittmann (rechts)
schmuggelte in den
1980er-Jahren die
Skateboards aus den
USA nach Deutschland
und machte somit den
Sport hierzulande zum
Kult. Nun engagiert er
sich in den Krisenregionen dieser Welt und will
demnächst einen Park
im Westjordanland miteröffnen. (foto: ressel)
Der Herr der Bretter
D
er Nagel ragt direkt dort
aus dem Skateboard, wo
sonst der vordere Fuß
steht. Einem afghanischen
Jungen in der bitterarmen Region Herat war das Brett in der Mitte durchgebrochen, er suchte sich drei Dachlatten, nagelte sie von unten an das
Brett und bog die Nägel oben so zurecht, dass sie die Füße nicht sofort
aufreißen. „Das ist mein Lieblingsboard“, sagt Titus Dittmann, er hat es
gerade aus einer Ecke seines Büros in
Münster geholt. „Es zeigt mir, dass ich
auf dem richtigen Weg bin.“ 2010
brachte er das damals brandneue
Brett mit zur Eröffnung eines Skateparks, „den wir direkt ins Mittelalter
gebaut haben“. Seine Stiftung hatte
20.000 Euro investiert, damit Kinder
einer Schule im afghanischen Karokh
Skateboard fahren können. „Dort gibt
es nicht mal fließendes Wasser“, sagt
Dittmann, 65.
Als er drei Monate nach der Eröffnung des Parks wieder nach Afghanistan flog, erkannte er den Jungen,
dem er damals das neue Skateboard
gegeben hatte. Er fuhr barfuß durch
den Park, das zusammengenagelte
Brett war so abgefahren, dass es an
beiden Enden zehn Zentimeter kürzer war. Dittmann bat ihn, das Brett
als Erinnerung mitnehmen zu dürfen.
Der Junge wollte ihn verprügeln. „Erst
als ich ein neues gezückt habe, hat er
es mir gegeben“, sagt Dittmann. „Es
ist unglaublich, wie sich Jugendliche
für Skateboards begeistern können.“
Dittmanns eigene Begeisterung für
die rollenden Bretter begann, als der
Sport in Europa noch kaum existierte.
1968 machte er sein Abitur in Bad
Neuenahr bei Koblenz, begann ein
Lehramtsstudium und gründete als
Referendar 1978 in Münster eine
Schülersportgemeinschaft
fürs
Skateboarden. Weil man in Deutschland damals kaum an die Bretter kam,
flog Dittmann nach Amerika,
schmuggelte die Sportgeräte durch
den Zoll und verkaufte sie zum Einkaufspreis an seine Schüler. Es war
der Beginn der europäischen Skateboardkultur. 1982 organisierte Dittmann in Münster zum ersten Mal einen Wettbewerb, später wurde daraus die offizielle Weltmeisterschaft.
Amerikanische Superstars wie Tony
Hawk reisten nach Münster.
Von Anfang an faszinierte Dittmann auch der pädagogische Aspekt
der Sportart. Sein zweites Staatsex-
amen machte er 1980 zu dem Thema:
„Skateboarding im Schulsportunterricht?“. An einem Gymnasium unterrichtete er vier Jahre lang Skateboarden, dann gab er den Job auf und
gründete das Unternehmen „Titus“.
Er verkaufte Skateboards und SkateKlamotten und beherrschte bald den
Markt in Europa. Auf dem wirtschaftlichen Höhepunkt betrieb die Firma
2002 bundesweit 40 Läden, beschäftigte rund 500 Mitarbeiter und erzielte 75 Millionen Euro Jahresumsatz.
„Dann habe ich einen Absturz hingelegt, den man selten auf dieser Welt
erlebt“, sagt Dittmann.
Titus Dittmann ist der Pionier des Skateboardens in Deutschland.
Er glaubt, dass der Sport eine Gesellschaft verändern und Kriege
beenden kann. Deshalb schickt er Bretter und Skate-Klamotten
auch nach Afghanistan und Uganda. Von Sebastian Eder
tekten einen Skatepark auf den Schulhof in Karokh zu bauen. Bevor der afghanische Junge dort sein Skateboard
zerbrach, zogen die Arbeiter noch eine Mauer um den Park, damit auch
die Mädchen unbekümmert auf die
Bretter steigen konnten.
BESTES STÜCK
Titus Dittmann zeigt
sein Lieblingsboard. Er
schenkte es einst einem
afghanischen Jungen,
dem brach das Brett, also nagelte er es zusammen. Als Dittmann das
gute Stück als Erinnerung haben wollte,
drohte der Bub ihm
Prügel an ... (foto: eder)
Z
D
urch einen missglückten
Börsengang verlor er 22
Millionen Euro. „Die ersten
20 waren kein Problem, die
hatte ich. Aber die letzten zwei waren
katastrophal.“ Fünf Jahre lang kämpfte er mit den Folgen, 2007 löste er die
Aktiengesellschaft schließlich auf
und gründete eine GmbH. Mittlerweile ist diese wieder europäischer
Marktführer im Einzelhandel mit
Skateboards und Skate-Klamotten.
„Was einen nicht umbringt, macht einen härter“, sagt Dittmann. „So alte
Sprüche sind ja eigentlich scheiße.
Aber mental stimmt das schon.“
Wirtschaftlich lief es endlich wieder, als Dittmann im Juni 2008 einen
Artikel über einen australischen
Skateboarder las, der im afghanischen Kabul eine Skatehalle bauen
wollte. Dittmann war begeistert, er
forderte alle Titus-Kunden per Rundmail auf, alte Skatesachen für die Kinder in Afghanistan zu spenden.
„Plötzlich hatten wir zwei Tonnen TShirts, Hosen, Skateboards, alles
Mögliche.“ Er überzeugte DHL davon,
die Sachen umsonst nach Kabul zu
fliegen, kurz darauf skateten erstmals
afghanische Kinder auf Brettern aus
Deutschland. Dittmann hatte seine
neue Berufung gefunden. 2010 übergab er das Unternehmen an seinen
Sohn, gründete die „Titus Dittmann
Stiftung“ und nahm Kontakt zu dem
berühmten Entwicklungshelfer Rupert Neudeck auf. Der baute mit seinen „Grünhelmen“ Schulen in einer
vernachlässigten ländlichen Region
der Provinz Herat in Afghanistan.
„Ihm hat meine Idee gefallen“, sagt
Dittmann. Also sammelte er Spenden
und bezahlte drei Monate lang 40
Dorfbewohner dafür, zusammen mit
einem deutschen Landschaftsarchi-
BESTE LAUNE
Es ist nicht ganz selbstverständlich, dass
Mädchen in Afghanistan so unbekümmert
auf die rollenden
Bretter steigen. Damit
sie dies tun können,
wurde zum Beispiel auf
einem Schulhof in Karokh eine Mauer
gezogen.
(foto: ressel)
LEHRER AUF DEM BOARD
BRETTER FÜR DIE WELT
TITUS DITTMANN
Er ist 1948 in Kirchen an der Sieg geboren und
gilt als Vater der deutschen Skateboardszene.
Er studierte in Münster Pädagogik, Sport und
Geografie, gab seinen Beamtendienst als Lehrer
aber nach vier Jahren auf, um sich ab 1984
voll auf „Titus“ zu konzentrieren. Das Unternehmen ist bis heute europäischer Marktführer im
Handel mit Skateboards. Dittmann selbst ist
mittlerweile zu seinen pädagogischen Wurzeln
zurückgekehrt, er lehrt an der Universität Münster
und ermöglicht mit seiner Stiftung „skate-aid“
Kindern und Jugendlichen auf der ganzen Welt
das Skateboarden. (seed)
ur Eröffnung reiste Dittmann
2010 mit einem Team des
ZDF-Auslandsjournals
an.
Auf dem Video sieht man lachende Mädchen mit Kopftüchern
durch den Park toben, sie setzen sich
auf Skateboards, stürzen sich gemeinsam Rampen hinunter. „Wir haben uns noch nie so amüsiert“, sagt
eine Schülerin. „Die Kinder lernen
nach dem Skateboarden besser“, sagt
der Schuldirektor, ein alter Mann mit
langem, weißen Bart. Der Park ist „ein
Lichtblick in der afghanischen Tristesse“, sagt der ZDF-Sprecher.
„Wenn ich das sehe, bin ich schon
stolz“, sagt Dittmann. „Wir haben eine der wenigen effizienten Ideen, wie
man Frieden stiften und eine Gesellschaft verändern kann.“ Ist das nicht
etwas hoch gegriffen? „Nein“, sagt
Dittmann. „Ich erkläre das gerne.“ Er
mache das schließlich auch beruflich,
seit 2011 hat er einen Lehrauftrag an
der Wilhelms-Universität Münster
am Institut für Sportwissenschaften.
Also, die soziologische Erklärung:
„Erwachsene – Eltern, Lehrer, Mullahs
– haben ein bestimmtes Wertesystem. Sie wollen der nächsten Generation sagen, was richtig und falsch ist.
Das nennt man Fremdsozialisation.
Wenn das 100-prozentig funktionieren würde, könnte sich keine Gesellschaft weiterentwickeln. Entwicklung gibt es nur durch die Selbstsozialisation der jungen Generation, die
ihr eigenes Wertesystem sucht.“ Wie
das praktisch aussieht? „In der Uni
zeige ich immer Bilder von einer
Mädchenklasse in Afghanistan, die
ganz ruhig einem Lehrer zuhört. Das
ist Fremdsozialisation. Dann zeige ich
Kinder, die mit Skateboards rumtoben. Das ist Selbstsozialisation.“
Aber was genau lernen die Kinder
durch das Skateboarden? „Skateboarden ist feinmotorisch so anspruchsvoll, dass Kinder es viel schneller lernen als Erwachsene. Wenn ein Kind
etwas besser kann, ist das identitätsstiftend. Es macht selbstbewusst. Nur
wenn wir es schaffen, dass eine Generation mit einer starken Persönlichkeit ins Leben geht, traut sie sich, ein
eigenes Wertesystem durchzusetzen,
wenn sie an die Macht kommt. Und
nur wenn in Afghanistan eine neue
Generation andere Entscheidungen
trifft, wird der Krieg aufhören.“
Seine Arbeit sei relativ einfach, weil
er sich nicht hinstelle, um den Menschen die Welt zu erklären. „Ich
schmeiße nur ein paar Skateboards in
die Mitte, um der verkrusteten Erwachsenenwelt etwas entgegenzusetzen. Und die Erwachsenen merken
das nicht, weil Skateboarden keine
Geschichte in Afghanistan hat.“ Mittlerweile rollen Kinder dank Dittmanns Stiftung in Costa Rica, Tansania, dem Sudan, Südafrika und einem
Slum in Uganda durch Parks, „skateaid“ unterstützt mehr als 30 Projekte
in der ganzen Welt. Als nächstes will
Dittmann in einer Region helfen, in
der verzweifelt nach einem Weg zum
Frieden gesucht wird: Ab November
soll ein Skatepark in einem SOS-Kinderdorf in Bethlehem gebaut werden.
„Die Menschen im Westjordanland
brauchen Hilfe.“
A
uf dem Weg zu Veränderungen könne auch eine andere Eigenschaft helfen, die
beim Skateboarden wichtig
sei, schreibt Dittmann in seinem Buch
„Brett für die Welt“: „Die Angst vor
Fehlern ist einer der wichtigsten
Gründe dafür, warum Veränderungen in Afghanistan so mühsam sind.
Hier muss um jeden Preis das Gesicht
gewahrt, Respekt erzwungen, die Fassade erhalten werden.“ Als Skateboarder müsse man bereit sein zu
scheitern: „Auf-die-Fresse-Fliegen,
Blut-Abwischen, Wieder-Aufstehen.“
Was das mit politischen Veränderungen zu tun hat? „Ohne Fehlertoleranz
traut sich niemand, etwas Neues auszuprobieren. Ohne sie bleibt alles,
wie es immer war. “ Dass der Status
quo in Afghanistan die Hölle sei,
wüssten die meisten Afghanen selbst.
Vielleicht helfe es schon, wenn eine
kleine, aber wachsende Armee von
Skateboardern lerne, sich mehr für alte Konventionen zu schämen als für
neue Fehler. Auch wenn die „fünf Prozent, die das Land mit all seiner
Schönheit in die Steinzeit zurückbomben wollen, wohl nie ein Skateboard in die Hand nehmen werden.“
Im März will Titus Dittmann in ein
Flugzeug steigen und ins Westjordanland fliegen. Zur Eröffnung des Skateparks in Bethlehem.
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