perfekte opfer

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perfekte opfer
perfekte opfer
Emos sind die erste Jugendkultur, die statt Coolness eigene
Gefühle und Schwächen zelebriert. Das macht sie angreifbar.
Von Michèle Roten Bilder Rico Scagliola und Michael Meier
Die Kleine schluchzt plötzlich leise. Eben noch
sassen etwa zehn Teenager friedlich auf der Wiese hinter dem Landesmuseum in Zürich, frotzelten, bemalten sich gegenseitig die ConverseTurnschuhe mit Liebesschwüren und reichten billigen Fusel herum. Jetzt hat sich eine kleine, aufgeregt tröstende Traube um das Mädchen gebildet, es wird von mindestens zehn Händen gestreichelt und fünf Mündern geküsst. Denn jemand
hat ­einen Apfel nach ihm geworfen. Blicke bohren sich ins Dunkel, um herauszufinden, wo das
Geschoss herkam, welches das stille Mädchen am
Hinterkopf erwischte. «Scheiss Emos!» grölt es
aus der Ecke. Und dabei ist die Kleine doch nicht
mal ein Emo, sondern eine Gothic Lolita.
Alle zehn Jahre ungefähr tritt eine neue
­Jugendkultur aufs Parkett, die Erwachsenenwelt
zu verstören und sie «Wo soll das nur hinführen?» heulen zu lassen: 1957 waren es die Rocker,
1967 die Popper, 1977 kamen die Punks, und 1987
gehörte den Technos und den Hiphoppern. Die
Neunziger – war da was? Ein bisschen Grunge
vielleicht, ein paar gestreifte T-Shirts unter Holzfällerhemden, ein paar Mal weniger duschen, ein
paar Kurt-Cobain-Nachahmungs-Suizide. Keine
Bewegung, kein Massenphänomen. Nun gut, die
Neunziger brachten auch sonst nichts hervor.
Und: Auch die Jugend darf mal Pause machen!
Wird halt eine Dekade übersprungen. Dafür, hätte man erwarten können, würde uns im neuen
Jahrtausend, frisch und gestärkt nach der grossen Aus-Zeit, eine Jugendkultur präsentiert, die
uns erbleichen lässt angesichts von so viel Novität
und Unfassbarkeit und jungblütigem Furor. Und
jetzt sind sie da: Emos. Jugendliche mit schwarzen Haaren, schwarzen Kleidern, viel Kajal und
­einer Interpretation von «No Future», die sie nicht
wütend, sondern traurig macht.
Die Erwachsenenwelt hätte vielleicht gar keine Notiz von ihnen genommen, sie wären vielleicht einfach zwischen Handypornografie, Happy Slapping und Komasaufen durchgerutscht,
wenn sie nicht von anderen Jugendlichen, ­ihren
Feinden, zum Thema gemacht worden wären:
indem sie zur Jagd auf Emos bliesen. Seither:
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das grosse Medien-Bohei. Verprügelte Emos, gemobbte Emos, verarschte Emos machen Schlagzeilen. Der Eltern-Ratgeber versucht Frau F. zu
helfen, die «einen Emo zu Hause hat». In Mexiko läuft eine regelrechte und äusserst gewalttätige
Hetze, Hassvideos kursieren virulent, und ganze
Internetforen beschäftigen sich damit, neue EmoWitze zu erfinden. Ruckzuck wurden Emos zum
Opfer Nummer eins für alle anderen Szenen – der
Klischee-Emo ist eine Steilvorlage für Verachtung
verschiedenster Couleur.
Der Klischee-Emo ist ein junger Mensch,
der an der Welt krankt und seine Deprimiertheit
zelebriert. Im Gespräch mit Emo-Freunden, in
Form von Gedichten oder Songtexten oder indem
er sich selber schneidet, «ritzen» genannt – eine
Form der Selbstverletzung, die meist in der Pubertät das erste Mal auftritt. Mit Messern oder Rasierklingen fügt sich der Emo nicht lebensgefährliche Wunden zu. Der Emo ist meist bisexuell und
meist unglücklich verliebt. Der Emo ist gegen Gewalt. Er treibt sich oft im Internet rum, wo er tieftraurige Blogs schreibt und Fotos von sich selber
hochlädt. Äusserliches Merkmal sind gefärbte,
meist schwarze und mit dem Glätteisen gestreckte Haare mit einem charakteristischen Pony, der
oft ein Auge verdeckt. Kajal und Make-up werden
von Mädchen und Jungs gleichermassen benutzt,
der Emo ist sehr eitel. Der Emo trägt am liebsten
Schwarz mit einigen ausgewählten Farbtupfern,
enge Jeans, Nietengürtel, Schlüsselketten, Toten­
kopf- und Schachbrettmuster. An den Füssen
gibts nur Turnschuhe der Marke Vans oder Converse Chucks. Dazu kommen so viele Accessoires,
wie man tragen kann, Armbänder, Halsketten,
Buttons, Haarschmuck im Herzchen-KirschenSchleifchen-Rockabilly-Stil und, sehr eindeutig:
«Snakebites», Schlangenbisse. Zwei Piercings in
der Unterlippe, meist selber gestochen.
Netlog ist der virtuelle Marktplatz der Emos,
die Litfasssäule, die Bühne, Therapeutencouch
und WG-Küche. Die Internetplattform hat rund
35 Millionen Mitglieder in Europa, mit einer deutlichen Häufung bei den 14- bis 24-Jährigen. Das
Portal ist eine Mischung aus Facebook und My-
Äussere Merkmale: Kajal und gestreckte Haare.
Justin, Emo aus Bern
space, wo sich Mitglieder ein Profil einrichten
können mit Fotoalbum, Gästebuch und Blog.
Emo-Webseiten erkennt man auf den ersten Blick.
Schon an den Nicknames: SoVerySad, Suicide_
Sweetie, EmOtears. Nächstes Charakteristikum
eines Klischee-Emos im Internet: Die Profilfotos
sind allesamt von oben geschossen, das macht
die Augen ausdrucksstark. Die jugendliche Darstellungslust führt zu einer eigenen Ästhetik – oft
sind die Bilder am Computer bearbeitet, es werden dunkel-romantische Filter darübergelegt, in
schnörkeligen Schriften pathetische Sprüche dazugeschrieben («I will love you till the end», «Min
Shats, min Shnuggi – Forever in My Heart»).
«Sch» wird konsequent als «sh» geschrieben, Vokale fehlen oft gleich ganz, und die wichtigsten
Ausdrücke haben verbindliche Abkürzungen –
«Iwie»: irgendwie, «ka»: keine Ahnung, «sry»:
sorry, «vlt»: vielleicht.
Die Blogs erreichen manchmal eine werther­
sche Intensität der Verzweiflung. Beim Lesen
schwankt der erwachsene Mensch hin und her:
Da ist einerseits ein nostalgisch-amüsiertes Verständnis für die jugendliche Hypertrophie von,
nun ja, jedem Furz («Denkst du, ich habe nicht
gemerkt, wie du sie angeschaut hast?!?» – «Bist
du wegen mir nicht zur Party gekommen?!?» –
«Du hast gesagt, du wärst immer für mich da und
dann ‹verlierst du dein Handy›?!?!?!») und andererseits die Angst, ein junges Leben nicht gerettet
zu haben, weil man nicht sofort die Psychiatrie gerufen hat: In einigen Blogs wird auf Teufel komm
raus mit Selbstmordgedanken kokettiert. Liebesgedichte werden zu Drohungen, Tagebucheinträge zu Abschiedsbriefen. Jugend halt.
Das alles macht den Emo zum Opfer. Gejagt
wird der effeminierte Junge, die Schwuchtel. Verhauen wird der empfindsame Schwächling, der
nicht zurückschlägt. Getriezt wird die Heulsuse,
verlacht der introvertierte Gedichteschreiber mit
der Hornbrille. Das war schon immer so. Bloss
haben die bisher ihr Stigma nicht als Style vor sich
hergetragen. Ein weiteres Prob­lem kommt dazu:
Der Emo-Stil ist zusammengeklaut. Die Punks
wollen ihren Nietengürtel wieder, die Ska-Anhän-
ger sehen ihre Schachbrettmuster-Devotionalien
missbraucht, die Gothics waren doch bisher die
Einzigen, die schlecht drauf und ganz in Schwarz
waren, und die Nazis sind böse, weil diese Kids
ihre engen Mädchenjeans tragen. Ach ja, und die
Alt-Homos mussten hart kämpfen, um ihre Sexualität offen leben zu können, und da kommen
jetzt diese Möchtegern-Schwulen und küssen sich
einfach so. Oh, und dann ist da ja noch der Sänger von Tokio Hotel, dieses geschminkte, frisierte Singpudelchen, das ist also ein Emo, ja? DIE
Lachnummer!
Die Emo-Checkliste
«Die Leute sind auf dieses Klischee aufgestiegen und haben keine Lust, wieder runterzukommen», murmelt Heni schulterzuckend,
als wir durch den Zürcher Hauptbahnhof spazieren. Heni ist 20 und ein Emo. Zumindest sieht
er so aus: schwarze, asymmetrische Frisur, enge
schwarze Jeans, Buttons, Vans Slip Ons – ein grosser Teil der Emo-Checkliste kann abgehakt werden. Aber zur Sicherheit doch mal nachgefragt:
Bist du denn nun ein Emo, Heni? «Es wäre zumindest sehr Emo zu behaupten, ich sei keiner.»
Kurz nachdenken – aha. Was?
Heni profiliert sich im Internet als Instanz in
Sachen Emo. Er verfasst erklärende Beiträge, stellt
FAQs zusammen und beantwortet sie, lädt Artikel
und Fernsehberichte online, die mit dem Phänomen dieser Szene zu tun haben – er ist der Archivar. Der Theoretiker. Der Nerd, wie er sagt. Und
kann deshalb genau festmachen, dass es seit etwa
einem Jahr keine Emos mehr gebe in Zürich. «Zumindest wirst du kaum jemanden finden, der auf
deine Frage mit ‹Ja› antwortet.» Was aber nicht
heisse, dass der Gefragte tatsächlich kein Emo
ist. «Aber niemand will mehr als Emo bezeichnet
werden. Emo ist heute ein Schimpfwort.» Und
ich würde auch fast niemanden sehen, der noch
so richtig wie ein Emo rumlaufe, bereitet mich
Heni auf die Szene hinter dem Landesmuseum
vor, das jeden Samstagabend zum Museum der
Jugendkulturen wird. Sie würden sich jetzt bunter kleiden oder den Look mit Schirmmützen ver-
Celi ist die Scene-Königin. Perfektion ist ihr Ziel:
Ihre Aufmachung ist bis ins Detail durchorchestriert,
ihre Schminke von Modeshootingqualität.
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Die Kinder vom Bahnhof Zürich: Lark (mit Freundin), Celi (unten rechts) und andere Nachtgestalten
das magazin 38 – 2008 19
«Du musst nicht cool sein.» (Emo-Glaubensbekenntnis)
20 das magazin 38 – 2008
«Es darf dir schlecht gehen. Dadurch
gehts dir irgendwann wieder besser.»
Es ist Emo, unendlich eitel zu sein und Angst
vor der Zukunft zu haben.
Emos haben nichts gegen andere Szenen – solange sie
nett sind. «Es ist uns egal, wie sich jemand anzieht.
Und auch, ob einer depro ist oder schwul oder uncool.»
ändern oder seien einfach schon in einer Unterszene der Emo-Szene angekommen. «Es ist ziemlich komplex, am besten du schaust einfach mal»,
sagt ­Heni. Und ich schaue.
Und ich sehe: Punks, am einen Ende der
grossen Treppe. Einfach zu erkennen, die sind
immer noch die Gleichen, hat etwas Heimeliges. Ihnen gegenüber ein Grüppchen Faschos,
programmatisch reaktionär auch sie. Am ande­
ren Ende der Treppe und auf diversen Bänkchen
­Jugendliche, die einzig verbindet, dass sie jung
aussehen. Ansonsten: kompletter Stilmix. Ein
Ska­ter, eine Punkerin, einer, der einfach verwahrlost aussieht. Einer mit Trinkhorn am Gürtel und
natürlichem Draculagebiss. Ein Mädchen, das
nicht spricht. Ein unendlich niedlicher ­ Kleiner
mit gepudertem Puppengesicht, enger Jeans, ­rosa
­Adidas-T-Shirt. Lark heisst er, und er ist ein ­Visu
– eine von den japanischen ­ Harajuku-Jugendlichen inspirierte Szene, welche die ­grenzenlose
Freiheit der Kleidung propagiert. Alles ist erlaubt,
Schminke für Jungs, Brautschleier, ein Hasenkostüm, egal, Kleidung ist Verkleidung ist Ausdruck. Sein Freund ist ein schwarz gemantelter
Apokalypsen-Reiter, und sie reden mit einem hübschen, zigfach gepiercten Mädchen mit türkisen
Haaren. «Die meisten von denen waren vor Kurzem noch voll Emo», sagt Heni, der seine mobilen Lautsprecher installiert. Ohne Musik geht
gar nichts. Und um die Musik dreht sich eigentlich alles – vor allem bei Emos. Emos sind definitionsgemäss einfach Jugendliche, die auf Emotional Hardcore stehen, eine Form des Hardcore,
in dem die Texte Gefühle behandeln, vornehmlich negative, was meist in Schreien endet, daraus ist auch «Screamo» entstanden, die eigentliche Musik von Emos, erklärt Heni und hat immer einen passenden Soundschnipsel parat. ­Heni
ist ein ziemlich linkischer junger Mann, der sehr
schüchtern wirkt, dann aber aufsteht und drei
Takte lang ganz allein auf dem Platzspitz im Kies
herumtanzt, sich wieder hinsetzt und einigermassen in sich zusammenfällt. Irgendwann kramt er
ein kleines Bürstchen aus seiner Tasche und frisiert den Sichtschutz neu.
das magazin 38 – 2008 Es macht Spass, jeden zu fragen, ob er ein Emo
sei. «Was?! Scheiss-Emos!», «Ich?! Spinnsch?!»,
hysterisches Lachen und wegrennen und den anderen erzählen, «die da hat gerade gefragt, ob ich
ein Emo bin!», alles ist dabei. «Ich bin einfach
ich» ist auch eine gern genommene Antwort. «Ich
bin einfach ich, ich habe meinen eigenen Style»,
sagt ein Mädchen, das haargenau gleich aussieht
wie mindestens fünf andere Mädchen da, enge
Jeans, schwarz gefärbte Haare, dicker Pony, lange Zotteln, Achtziger-Retro-T-Shirt, ausser dass
es im Gegensatz zu den anderen nicht nur zwei
oder drei, sondern vier Gürtel trägt, «ich trage
zum Beispiel vier Gürtel, das mache nur ich, das
ist MEIN STYLE», erklärt sie. «Emo-Kiddie» flüstert Lark. «Möchtegern-Scenester» flüstert Heni.
Scenesters sind aus Emos entstanden, eine Szene, in der sich alles nur noch um Style dreht, um
Aufmerksamkeit auf dem Internet, um Berühmtheit. Auf ihren Myspace- und Netlog-Profilen geht
es vor allem darum, die Besucher zu beschimpfen
und Bilder von sich selber zu zeigen. Celi, die mit
den türkisen Haaren, ist im Moment die SceneKönigin, sind sich Heni und Lark einig. Perfek­
tion ist das Ziel: Celis Aufmachung ist bis ins Detail durchorchestriert, ihre Schminke von Mode­
shootingqualität. Emos findet Celi das Letzte, sie
kann nicht genau erklären warum, obwohl sie es
wirklich versucht: Sie spuckt Gift und Galle.
Ritzen ist okay
Schlumpf ist da reflektierter. Er ist schon lange in der Hauptbahnhof-Familie und war vor einigen Monaten noch mehr Emo als jetzt. Aber sehr
schnell kamen eben die Kiddies, die ganz Jungen,
die sich bei H & M Emo-mässig einkleideten und
dachten, sie gehörten jetzt auch dazu. Emo ist in
kürzester Zeit das passiert, was jeder Jugendkultur irgendwann passiert: Sie wurde vom Kommerz aufgegriffen und zu Geld gemacht. Dadurch
ist die Szene verwässert und hat sich zersetzt, der
Zusammenhalt war irgendwann nicht mehr da,
sagt Schlumpf. Jetzt ist er ein «Bolo», erklärt Lark:
­eine Mischung aus Emo, Skater und Hiphopper.
Von mir aus, sagt Schlumpf. Schlumpf hat sich
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eine Weile geritzt. Aufgefangen haben ihn die
Freunde am Hauptbahnhof, das Reden mit ihnen,
das Saufen, die Partys.
Ritzen, das gefährlichste Vorurteil über
Emos, trete in allen Szenen auf, darüber ist man
sich einig am Hauptbahnhof. Jeder kennt einige,
die sich selber verletzen, vom Hiphopper bis zum
Streber. Allerdings, wird beschlossen, gebe es vielleicht ein Klischee über Emos, das wahr ist: Sie reden gerne über ihre Probleme. Man muss nicht
auf Teufel komm raus cool sein, es darf ­ einem
auch schlecht gehen. Und dadurch gehts einem
dann irgendwann auch wieder besser. ­Heni hat
ein Beispiel für die heilende Kraft der Emo-Kultur auf Lager, das allerdings äusserst ironisch
endet: Er hat einen Bekannten in die HB-Familie eingeführt, der gamesüchtig war und ziemlich endzeitlich gestimmt. Durch die Emos entwickelte er wieder ein Sozialleben, wurde fröhlicher, passte sich auch äusserlich langsam dem
Stil seiner neuen Freunde an – und wurde dann
deswegen übel zusammengeschlagen. Weil man
Emos eben zusammenschlägt. Seither ward er nie
mehr gesehen, und man munkelt, er trage jetzt
nur noch Anzüge.
Spiegelsüchtig
Justin, Tobi und Nico, alle 17, tauchen am
Hauptbahnhof auf. Die drei sind waschechte
Emos aus dem Raum Bern, die einen anderen
Weg gefunden haben, mit dem Hass und den Vorurteilen umzugehen, als sich vom Stil abzuwenden: Selbstironie. «Emo!» wird schon auf den
ersten Metern gerufen, als sie aus dem Zug aussteigen, Tobi winkt tuntig und macht: «Ho-oi!»
«Manchmal nehmen wir uns auch an den Händen und spazieren so herum, die Leute drehen
durch», kichert Justin. Seine Augen sind stark
mit schwarzem Kajal geschminkt, seine ­ Haare
mit dem Glätteisen gestreckt, er mustert kritisch
Tobis Pony und macht ihn auf eine Haarlücke
aufmerksam. «Oh, nein!» ruft Tobi und schüttelt seine Haare in die Stirn, zupft ein paar Strähnen zurecht, «ich bin voll auf Haarlücken. Ich
hasse Haarlücken. Jetzt gut?» Jetzt gut. Tobi sagt,
dass er momentan nicht perfekt gestylt ist, weil
er ­einen gebrochenen Arm hat und sich darum
nicht so gut schminken und frisieren kann wie
sonst. Justin überprüft sein Make-up im Handspiegelchen und murmelt: «Ich bin einfach spiegelsüchtig.» Nico schminkt sich nie, wird darum
von den anderen beiden scherzhaft auch nur als
«halber Emo» bezeichnet. Alle drei haben Lehrstellen, Justin im Metallbau, Tobi als Hochbauzeichner, und ­Nico wird Informatiker – «so viel
zum Thema ‹Man kriegt keinen Job mit so einer
Frisur›» grinst er. Weder die Chefs noch die Eltern
haben ein Problem mit dem Stil dieser drei. Justins Mutter nutzt im letzten Jahr vor der Volljährigkeit noch ihre Macht und verbietet ihm Snakebites, aber das hat sich auch bald erledigt.
Ein Raunen geht durch die HB-Familie.
«Weisst du, wofür Emo steht? Extremes Mobbing
Opfer!», ruft einer. «Hallo, MoRITZ!» – «Hey,
schau mal, Tokio Hotel!» Die Jungen verhalten
sich wie bornierte Alte. Celi, die türkise SceneQueen, die gerade mit einer Freundin (das Gleiche in Pink) ein Buch über ihr Vorbild Paris Hilton anschaut, versteift sich wie eine Katze, die
­einem Hund gegenübersteht, als sie die Berner
erblickt. «Die wollen jetzt aber nicht hier mit uns
rumhängen oder?», zischt sie. «Oh Gott, schau
die mal an. Solche Möchtegerns. Scheiss-Wannabes. Oh my god.»
Die Emos hingegen, gefragt, was sie von den
beiden Mädchen dort drüben halten, sagen: «Sehen doch nett aus.» Hier zeigt sich der vielleicht
wichtigste Punkt bei Emos: Sie haben nichts gegen andere Szenen. Solange die Leute nett sind,
ist jeder willkommen bei ihnen. «Wir hängen
auch mit Hiphoppern rum oder Punks oder Skatern in Bern. Ist uns doch scheissegal, wie sich
­jemand anzieht. Und wir haben auch kein Prob­
lem damit, wenn einer depro ist oder schwul oder
uncool», sagt Tobi, und in dem Moment wird uns
allen klar, woher die Klischees über Emos kommen. Die Kids ritzen sich nicht, weil sie Emos
sind, sondern sie sind Emos, weil sie sich ritzen.
Die Kids sind nicht bi, weil sie Emos sind, sondern sie sind Emos, weil sie bi sind. Die Kids sind
Die Kids sind nicht bisexuell und ritzen sich nicht,
weil sie Emos sind. Die Kids sind Emos, weil sie bisexuell
sind. Sie sind Emos, weil sie sich ritzen.
24 das magazin 38 – 2008
Eigentlich wollen sich alle nur
aufgehoben fühlen.
das magazin 38 – 2008 25
nicht depressiv, weil sie Emos sind, sondern sie
sind Emos, weil sie depressiv sind. «Mann, wir
sind das Auffangbecken!», ruft Tobi erhellt.
Plötzlich ist alles klar. Warum Emos so gehasst werden – weil es die vielleicht erste Jugendkultur ist, die anstatt Coolness und Abgeklärtheit
Gefühle und Schwächen zeigt. Zelebriert gar. Unsicherheit – in Bezug auf die Zukunft, auf die sexuelle Ausrichtung, auf politische Haltung, nichts
ist fix, alles muss noch herausgefunden werden.
Während es jugendlichen Szenen bisher immer
darum ging, sich gegen aussen hart abzugrenzen mit unmissverständlichen Codes und gegen
innen Homogenität zu demonstrieren, nehmen
Emos verschiedene Codes auf, verwursten sie zu
einer charakteristischen Melange und lassen auch
Stilfremde mitmachen. Das ist Emo. Es ist auch
Emo, unendlich eitel zu sein, Angst vor der Zukunft zu haben und traurige Gedichte zu schreiben. Das ist Emo, das ist Jugend und – das ist vollkommen normal! Jugend und Schmerz gehören
zusammen wie Blitz und Donner. Das Internet
macht bloss sichtbar, was bis anhin unter Matratzen verborgen blieb. Würde man all die tränenbenetzten Tagebücher aus den Achtzigern jetzt ins
Netz einspeisen, wäre der einzige Indikator, der
diese Einträge von denen der heutigen Emos unterscheidet, die Sprache. Scheisse ist jetzt sheis-
se, meint aber immer noch das Gleiche. Ebenfalls
nicht verändert hat sich, dass traurige Teenager
nicht mit bi-ba-buntfröhlichen Pucci-Mäntelchen
und roten Bäckchen, sondern tendenziell düster
rumlaufen. Drama wird für immer das Stilmittel der Jugend sein, Aufmerksamkeit die Droge,
die Peergroup das Mass aller Dinge. Und genauso wie früher und wie für immer und ewig wollen alle eigentlich nur Freunde haben und sich irgendwo aufgehoben fühlen.
Angegafft zu werden macht hungrig: Justin,
Tobi und Nico wollen zu McDonald’s. «Wir ­holen
uns ein DepriMeal!», jubelt Justin. Die drei ziehen frotzelnd davon.
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Michèle Roten ist redaktionelle Mitarbeiterin des
«Magazins». [email protected]
Rico Scagliola und Michael Meier sind freie Fotografen
und studieren Fotografie an der Zürcher Hochschule der Künste. Sie arbeiten an einem Foto-Buch über Jugendkulturen und veröffentlichen Auszüge daraus auf www.onelifetolive.ch. [email protected], [email protected]
Fabian macht
seiner Mutter
eine Freude.
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