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54 GESELLSCHAFT FAMILIE UND PARTNERSCHAFT
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Samstag/Sonntag, 14./15. Februar 2015, Nr. 37 DEFGH
von christian mayer
D
as Geschrei im Kinderzimmer
war gewaltig. Viviane heulte
auf vor Wut, sie konnte und
wollte sich gar nicht mehr beruhigen, Tränen flossen in
Strömen über ihr Gesicht auf den Schlafanzug, ihr ganzer Körper bebte auf ihrem
Bett, so als habe sie gerade die größte Demütigung ihres Lebens erfahren.
Was hatte das Drama bei der Vierjährigen ausgelöst?
Die Dummheit ihres Vaters, der das blutige Ende von „Schneewittchen“ beim Vorlesen spontan abmildern wollte, was schon
deshalb eine blöde Idee ist, weil das Märchen an sich ja ein Krimi ist. Gleich vier
Mal versucht die eifersüchtige Königin in
ihrem Schönheitswahn, ihre noch schönere Stieftochter auf möglichst kreative Weise ins Jenseits zu befördern. Am Ende
kann „das böse Weib“ nicht verhindern,
dass Schneewittchen doch noch zum
Leben erwacht und den Königssohn heiratet. Und zur Strafe muss die Königin so lange mit glühend heißen Eisenpantoffeln tanzen, bis sie vor der versammelten Hochzeitsgesellschaft tot zur Erde fällt: Diese
Pointe hatte der Vater unterschlagen, es
war ja schon spät . . .
„Papa, du liest alles falsch, sie muss sterben!“, schrie die Vierjährige im Bett. Die böse Königin hat den Tod verdient! Ist doch logisch! Viviane kannte „Schneewittchen“
aus dem Kindergarten und von den Hörkassetten – ihr konnte man nichts vormachen.
Es ist schon faszinierend, was die uralten Geschichten, die die Brüder Grimm vor
zwei Jahrhunderten gesammelt und in
Form gebracht haben, heute noch bei
jungen Zuhörern auslösen. Im Unterschied
zu den pädagogisch korrekten Kinderbuchhelden der Gegenwart, die schon nach dem
ersten Kennenlernen ihren Reiz verbraucht haben, gewinnen „Hänsel und Gretel“, „Aschenputtel“ oder „Rotkäppchen“
mit jedem weiteren Vorlesen. Was auch daran liegt, dass man als Erwachsener das Gefühl hat, wirklich der Erzähler einer Geschichte zu sein, die man selbst vor langer
Zeit einmal gut gekannt hat – manchmal
wird aus der Lesung dann ein richtiges
Schauspiel, eine Begegnung mit der Vergangenheit.
Tod und Teufel
Die Märchen der Brüder Grimm machen süchtig, wenn man nicht
aufpasst. Vor allem leben sie von ihrer urtümlichen Kraft – deshalb sollte man
sie auf keinen Fall entschärfen: Kinder lieben das Gute wie das Böse
ren“, dem seine Großmutter aus Mitleid
mit dem armen, aber vollkommen furchtlosen Helden sämtliche Geheimnisse
entlockt.
Im Grunde geht es im Märchen um die
Dinge, die Kinder schon früh beschäftigen:
Die gar nicht immer heldenhaften Hauptfiguren müssen ihre Aufgaben erfüllen, sie
sehnen sich nach Liebe, Mitgefühl, Glück
und Anerkennung – und sie lernen ein
paar wichtige Dinge, etwa dass die Überheblichen, die Gierigen und die Arroganten am Ende als Verlierer dastehen. Wer
am Anfang verlacht wird, kann am Ende
König sein, so die Botschaft. Bei Lesungen
in Flüchtlingsunterkünften oder an Schulen, wo viele Kinder aus Hartz-IV-Familien
stammen, kommen diese Geschichten daher besonders gut an, sagt Silke Fischer.
Noch populärer sind sie nur noch bei
den Fernsehmachern. Seit einigen Jahren
sind die Produzenten und Programmchefs
ganz scharf auf Märchenverfilmungen,
denn sie wissen: Damit erreicht man mit Sicherheit ein Millionenpublikum, selbst bei
der dritten Wiederholung. Kaum ein
Grimm- oder Andersen-Klassiker, den sie
noch nicht in einen familientauglichen Unterhaltungsfilm verwandelt haben. Oft
spielen bekannte Schauspieler die Hauptrollen, was die Wohlfühl-Regie und die historische Kostümierung erträglich macht.
Matthias Brandt, Henriette Confurius, Heiner Lauterbach, Nina Kunzendorf, Anna
Maria Mühe, Dieter Hallervorden, Edgar
Selge, Anna Thalbach: Sie tragen dazu bei,
dass auch die Erwachsenen dabei sein wollen, wenn an kalten Winterwochenenden
gerade wieder „Sterntaler“ oder „Die drei
Federn“ laufen.
Kinder gruseln sich ungeheuer
gerne, sie testen die
Grenzen des Erträglichen
Selbstoptimierung durch
Downsizing: Auch das gibt es
schon bei den Brüdern Grimm
Aber was macht die Anziehungskraft
der Märchen aus? Warum geht zum Beispiel von „Hans im Glück“ diese seltsame
Magie aus? Ein naiver junger Mann wird
von seinem Meister mit einem Goldklumpen reich belohnt und tauscht ihn auf seiner Reise nach Hause immer weiter ein,
gegen ein Pferd, eine Kuh, ein Schwein,
eine Gans und einen Stein, bis am Ende
nichts mehr übrig ist. Schon bei den Brüdern Grimm gibt es also den tröstlichen
Gedanken, dass wir ohne überflüssigen
Ballast glücklicher und freier durchs
Leben gehen: Selbstoptimierung durch
Downsizing. Wenn man sich im Kinderzimmer so umsieht, das vor lauter Barbies und
Schleichis, Lillifees und Pegasus-Pferden,
Polly Pockets und Hello Kittys schier überquillt, dann sieht man den fröhlichen Wegwerfer Hans mit ganz anderen Augen.
Silke Fischer beschäftigt sich seit Jahren mit der Ideenwelt der Brüder Grimm,
2004 hat sie den Berliner Verein Märchenland mitgegründet. Mehr als 1500 Veranstaltungen organisiert der Verein im Jahr,
es gibt Lesungen, Tagungen und jede Menge Erlebnisangebote, etwa Märchenstunden mit Politikern wie Sigmar Gabriel, der
Ende Februar Berliner Schülern im Wirtschaftsministerium vorliest. Warum der
ganze Aufwand? „Die Geschichten füllen
Erklärungslücken“, sagt Fischer, „Kinder
lernen die Welt kennen, und die Welt
steckt voller Abenteuer.“ Erzählerisch lassen die Geschichten keinen Wunsch offen,
weil es sofort zur Sache geht – oft nach einer deutlichen Warnung an die handelnden Personen, die erst einmal vom richtigen Weg abkommen.
„Märchen vermitteln, dass jeder
Mensch eine zweite Chance verdient hat“,
sagt der preisgekrönte Literaturwissenschaftler Hans-Jörg Uther, der an der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen
die „Enzyklopädie des Märchens“ mitherausgibt. „Häufig entwickeln sich die Unscheinbaren oder Außenseiter zu den wahren Helden“: Auch diese Botschaft gefällt
den Kindern. Manchmal muss man dafür
buchstäblich durch die Hölle gehen, so wie
in „Der Teufel mit den drei goldenen Haa-
„Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“: Hans Baluschek war ein
großer Maler und Zeichner. Seine Illustrationen für eine Taschenbuchausgabe von
Grimms Märchen stammen aus den Zwanzigerjahren.
ZEICHNUNG: HANS BALUSCHEK
Wunderbare Märchenwelt: Man findet
hier den Schlüssel zur eigenen Kindheit.
Man hat Erzählstoff, der Generationen verbindet. Die Geschichten selbst dürfen gerne düster, traurig, gewaltig und lebensgefährlich sein. Wir wissen ja: Am Ende geht
alles gerade noch mal gut aus.
Aber stimmt nicht auch der alte Vorbehalt, dass die Märchen mit Vorsicht zu
genießen sind? Dass gerade die populärsten Volkssagen der Brüder Grimm aus
einer finsteren Epoche stammen, dass in
ihnen die Barbarei des Dreißigjährigen
Krieges festgeschrieben ist, die Hungerkatastrophen der frühen Neuzeit, die Tragödien von bettelarmen Familien, die ihre
Kinder verstoßen mussten, sogar Fälle von
Kannibalismus und Inzest? Wer nur diesen Aspekt sieht, unterschätzt die Fähigkeit der Kinder, sich im geschützten Raum
eigene Gedanken zu machen. „Die Märchen breiten ja die Grausamkeit nicht aus“,
sagt Silke Fischer. Auch grausame Dinge
passieren einfach, auf selbstverständliche
Weise: Zum Beispiel im Märchen von den
Sieben Raben, in dem die einzige Tochter
auf der Suche nach ihren verzauberten Brüdern zuletzt zum magischen Glasberg gelangt, aber den Schlüssel verloren hat – ohne zu zögern, schneidet sich das Mädchen
einen Finger ab, um damit das Tor aufzuschließen.
Ein Akt der Selbstverstümmelung, ein
Schockeffekt wie im Horrorfilm? Nein, nur
ein cleverer Trick, um die Brüder von
ihrem Leid zu erlösen, das versteht doch jedes Kind. Dazu braucht man keine Genderforschung, keine erzähltheoretischen
Abhandlungen und keine Psychoanalyse,
nur gesunden Menschenverstand.
Kinder gruseln sich ungeheuer gerne,
sie testen die Grenzen des Erträglichen,
und wenn ihnen der Schrecken in die Glieder gefahren ist, können sie sich immer
noch unter der Bettdecke verstecken. Die
Impressionen entstehen im Kopf, sie sind
deshalb beherrschbarer als die Bilder, die
im Fernsehen oder im Computer laufen.
Beim Märchen lässt sich die Phantasie
selbst steuern, wie mit einem Regler.
Was Kinder wirklich aufregt, ist für
Erwachsene oft verblüffend. Die inzwischen fünfjährige Viviane brach im Märchenwald Wolfratshausen in Tränen aus,
als sie vor der Hütte von Max & Moritz
stand, wo die Streiche auf etwas drastische
Weise abgebildet sind. Diese grässlichen
Käfer, mit denen die Lausbuben ihren Onkel Fritz ärgern, gingen ihr nicht mehr aus
dem Kopf, selbst nach fünf Fahrten in der
Eichhörnchenbahn. Noch Tage später
träumte sie von den schwarzen Insekten,
die an der Wand klebten.
Mit dem Gruseln ist es eben so eine Sache: Es kommt immer dann, wenn man es
gar nicht erwartet.
Die Liebe verändert alles. Die Tochter (20)
hatte große Pläne: ein Jahr Ausland, Sprache
lernen, Examen. Dann kommt dieser Kerl daher. Plötzlich ist das Studium im Ausland doof,
man kriegt eh keine Kurse angerechnet und
aus zehn Monaten werden im Glücksfall vier.
Oder: Das Studium in Ort X ist prestigereich,
preisgekrönt. Aber dieses neue Mädchen im
Leben des Sohnes studiert in Augsburg.
Plötzlich ist Augsburg der Knaller. Mama und
Papa zahlen trotzdem weiter und ärgern sich.
Wie verhalten wir uns korrekt?
Kathrin C., 55, München
PA/DPA(2), BISCHOF
DAS FAMILIENTRIO
Kirsten Boie:
Es sollte weniger darum gehen,
was „korrekt“ ist, sondern was für
Ihr Kind hilfreich ist. Darum können Sie Ihre Bedenken mit den Kindern besprechen – ohne den
Freund einen „Kerl“ zu nennen
und ohne „Augsburg“ abzuwerten. Aber Sie müssen aushalten, dass Ihre erwachsenen Kinder ihre
Entscheidungen jetzt selbst treffen. Sie mit dem
Hinweis zu erpressen, dass Sie nicht mehr bereit
sind zu zahlen, wollen Sie sicher nicht. Schließlich
dealen Ihre Kinder ja nicht mit Drogen oder wollen
alles hinschmeißen und nur noch chillen (das hätte
auch passieren können!). Sie wollen einfach an Orten studieren, die aus Ihrer Sicht nur zweite Wahl
sind. Eltern müssen irgendwann lernen: Kinder
sind nicht auf der Welt, um Elternträume real werden zu lassen. Vielleicht hilft es, sich Folgendes bewusst zu machen:
1. Wir alle haben in unserer Jugend Entscheidungen
getroffen (oft auch unsinnige), die unsere Eltern
nicht gebilligt haben – und das Leben hat trotzdem
geklappt.
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2. Es geht nicht nur um den beruflichen Erfolg.
3. Oft gelangt man im Leben auf einem Umweg viel
besser ans Ziel als auf dem direkten Weg, oft entdeckt man dabei sogar neue Ziele. Kinder müssen
ihre eigenen Erfahrungen machen. Sie werden Fehler machen wie wir auch und vielleicht daraus lernen. Wenn es nicht um die ganz großen Fragen
geht, sollten Eltern versuchen, gelassen zu bleiben
– und zuversichtlich!
Jesper Juul:
Teilen Sie mit Ihren Kindern Ihre
Gedanken und Ihre Meinung –
unredigiert. Und hoffen Sie, dass
Sie damit deren Entscheidungen
im Positiven beeinflussen können.
Katia Saalfrank:
„Korrekt“ im Sinne von „richtig“ oder „falsch“ gibt
es nicht. Sie stehen ja in keiner geschäftlichen Beziehung miteinander, obwohl es sich ein wenig danach anhört. Vielleicht fühlt es sich für Sie so an?
Man kann Ihren Ärger deutlich spüren. Es wäre
gut, wenn Sie mit Ihren Kindern über Ihren Unmut
sprechen könnten. Voraussetzung
dafür ist, genauer zu schauen, was
in Ihnen diese Unzufriedenheit auslöst. Worüber ärgern Sie sich genau? Darüber, dass die Kinder ihre
Meinung geändert haben und auf
einmal andere Ziele verfolgen oder
darüber, dass Sie die Gründe dafür nicht nachvollziehen können? Vielleicht wäre es gut, grundsätzlich darüber zu sprechen, wie Sie sich die Finanzierung der Berufsausbildung für sie vorstellen, wie
lange Sie zahlen können und wollen, und dabei
auch aushandeln, welchen Beitrag Sie sich für eine
zunehmende Unabhängigkeit auch von den Kindern wünschen? Ihre Kinder sind zwischen einer finanziellen Abhängigkeit und dem Gefühl der persönlichen Autonomie hin- und hergerissen. Sie wollen Sie nicht ärgern, sondern machen unterschiedliche Erfahrungen, die auch zum Leben und Selbständigwerden dazugehören. Gut ist es, wenn Sie
sie wertschätzend unterstützend in die komplette
Selbständigkeit und Unabhängigkeit begleiten können, ohne die finanzielle Abhängigkeit als Machtinstanz zu missbrauchen.
Kirsten Boie ist Schriftstellerin und Autorin
von mehr als hundert Kinder- und Jugendbüchern, darunter die allseits bekannten
und geliebten Geschichten „aus dem
Möwenweg“ oder die Abenteuer des kleinen
„Ritter Trenk“.
Jesper Juul ist Familientherapeut in
Dänemark und Autor zahlreicher internationaler Bestseller zum Thema Erziehung
und Familie.
Katia Saalfrank ist Pädagogin, Musiktherapeutin und wurde als Fachberaterin in
der Sendung „Die Super Nanny“ bekannt.
Heute arbeitet sie in ihrer eigenen Praxis in
der Eltern- und Familienberatung.
Haben Sie auch eine Frage?
Schreiben Sie eine E-Mail an:
[email protected]
svra039
SZ20150214S2531281

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