Leonardo Boff, zeitgeistig
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Leonardo Boff, zeitgeistig
Neue Z}rcer Zeitung FEUILLETON Donnerstag, 13.04.2000 Nr.88 67 Ethos der Achtsamkeit Leonardo Boff, zeitgeistig Was ist nur aus der lateinamerikanischen Befreiungstheologie geworden? Leonardo Boff, nicht nur in kirchlichen Kreisen bis vor wenigen Jahren fast so bekannt wie sein grosser Ordensvater Franziskus von Assisi, war eine der Leitfiguren dieser Bewegung. Jetzt betätigt sich der Brasilianer als Konstrukteur eines neuen Ethos der Achtsamkeit. Durch ein päpstliches Publikationsund Lehrverbot (1992) wurde Boff zum Austritt aus seinem Orden gedrängt. Seit er sich in den Laienstand versetzen liess, wirkt er als Inhaber eines von seiner Regierung eigens für ihn eingerichteten Lehrstuhls für «Ethik und Spiritualität» an der staatlichen Universität in Rio de Janeiro. Zwar schreibt Boff in seinem neuen Amt anscheinend immer noch täglich mindestens eine Seite und liest wenigstens deren zehn, aber seine neueste Veröffentlichung wirkt weniger homogen als die früheren. Während er als Franziskaner ehedem unter anderem kämpferische Pamphlete wider die Ausbeutung der Armen veröffentlichte und auf die gesellschaftsverändernde Kraft von Basisgemeinden setzte, schreibt er jetzt erbauliche Meditationsliteratur. So nimmt der laisierte Priester das allgemeine Priestertum aller Gläubigen wahr. Boff ist allerdings nur in einem sehr vermittelten Sinne noch christlicher Priester. Er kreiert eine weltumfassende Spiritualität, welche die Erneuerung der westlichen Zivilisation befördern soll. Um die Veränderung gesellschaftlicher und politischer Strukturen geht es Boff kaum noch, Strukturen und Verhältnisse sind allenfalls ein Appendix. Um Denken und Handeln verändernde christliche Gruppen geht es auch nicht mehr. Im Mittelpunkt seines Nachdenkens stehen derzeit das unter seinen lebensweltlichen Bedingungen leidende Individuum, der isolierte Grossstadtmensch oder der vereinsamte Alte. Vielleicht sind diese neuen Entwicklungen in Boffs Theologie und Spiritualität bedingt durch seine neue Lebenssituation als Laie; vielleicht sind die neuen Themen aber auch dem Zeitgeist geschuldet, der sich immer stärker auf das Individuum konzentriert. Dem spirituell interessierten Leser hat Boff ein Andachtsbüchlein voll von allgemeinem synkretistischem Relativismus einerseits, voll von stereotypen Vorstellungen und abstrakter Sprache andererseits geschenkt. Angelika Dörfler-Dierken © 2000 Neue Zürcher Zeitung AG Blatt 1 Neue Z}rcer Zeitung FEUILLETON Donnerstag, 13.04.2000 Nr.88 67 Leonardo Boff: Die Logik des Herzens. Wege zu neuer Achtsamkeit. Patmos-Verlag, Düsseldorf 1999. 226 S., Fr. 32.50. © 2000 Neue Zürcher Zeitung AG Blatt 2