Einführung in die Literatur der Neuen Sachlichkeit

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Einführung in die Literatur der Neuen Sachlichkeit
Johannes G. Pankau
Einfhrung in die Literatur der Neuen Sachlichkeit
Einfhrungen Germanistik
Herausgegeben von
Gunter E. Grimm und Klaus-Michael Bogdal
Johannes G. Pankau
Einfhrung in die Literatur
der Neuen Sachlichkeit
Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Einbandgestaltung: Peter Lohse, Bttelborn
Abbildung: Symbolische Darstellung der Durchbrechung des mittelalterlichen Weltbildes, 1888.
Aus: Camille Flammarion: L’atmosphre, et la mtorologie populaire,
Paris 1888. i akg-images.
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i 2010 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
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Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach
Umschlaggestaltung: schreiberVIS, Seeheim
Gedruckt auf surefreiem und alterungsbestndigem Papier
Printed in Germany
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ISBN 978-3-534-18454-23235-2
Inhalt
I. Begriff und Ausprgungen der Strmung
. . . . . . . . . . . . .
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II. Forschungsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Historische, politische und kulturelle Kontexte . . . . . .
1. Stabilisierung und Krise als Hintergrund neusachlicher
Diskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Politische und literarische Kmpfe und Kontroversen .
3. Metropolenkultur: Berlin . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Literatur und Arbeitswelt: Die Angestellten (Kracauer)
5. Die Nachwirkung des Krieges . . . . . . . . . . . . .
6. Die Neue Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Aspekte und Ausprgungen der neusachlichen Literatur
1. Einflsse und Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . .
2. Zeitgenssische Kritik an der Neuen Sachlichkeit . .
3. Gattungen und Prsentationsformen . . . . . . . .
4. Mediale Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Einzelanalysen
. . . . . . . . reprsentativer
. . . . . . . . Werke
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1. Erich Kstner: Fabian . . . . . . . . . . . . . .
2. Mascha Kalko: Das lyrische Stenogrammheft
3. Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter . . . .
4. Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues
5. Friedrich Wolf: Cyankali . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Begriffsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bibliographie
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I. Begriff und Ausprgungen der Strmung
Bei der Literatur der Neuen Sachlichkeit handelt es sich um eine Spielart der
literarischen Moderne, die sich als dominante Strmung seit Mitte der
1920er Jahre ausprgt (vgl. Becker 2007; Becker/Kiesel 2007, 31). Die Situierung innerhalb der literarischen Moderne ist produktiv und problematisch zugleich, denn in der fachwissenschaftlichen Diskussion der letzten
Jahre hat eine Ausweitung des Moderne-Begriffs stattgefunden, die eine „zunehmende Unverbindlichkeit des Terminus“ (Becker 2007, 1) mit sich
bringt. Andererseits wird im Gegensatz zu den frhen, oftmals ideologiekritisch und sozialhistorisch verengten Arbeiten seit einiger Zeit die sthetische
Beschaffenheit und Valenz der Texte selbst strker in den Blick genommen
(vgl. Becker 2000a, 2000b). Die Neue Sachlichkeit bildet in gewisser Weise
einen Endpunkt in der modernistischen Literaturentwicklung. Zugleich hebt
sie sich als eine kulturelle Dominante aus den vielen Tendenzen und Strmungen der Weimarer Zeit deutlich heraus. Verstanden werden muss sie vor
allem als Absetzbewegung vom zuvor das literarische Feld beherrschenden
Expressionismus, von dem sie sich durch die Hinwendung zur Faktizitt und
zum Gebrauchscharakter von Literatur unterscheidet, aber auch dadurch,
dass sie keine kohrenten Gruppenstrukturen und keine vereinheitlichende
Programmatik ausbildet (vgl. Becker 2002, 75).
Zentral fr die Begriffsbildung und insgesamt das Realittsverstndnis der
Neuen Sachlichkeit ist die Neufassung der Kategorien Gegenstndlichkeit
und Wesen. Damit verbunden ist vor allem die Umwertung des Begriffs der
Oberflche: In einem dokumentarischen, quasi fotografischen Verfahren soll
diese abgebildet und gestaltet werden, weshalb innere Vorgnge, wie Gefhle, weitgehend ausgespart bleiben. „Psychologische Schpfungen mssen ebenso untersagt sein wie lyrische Ausschweifungen“ (zit. n. Becker
2000b, 165), heißt es in einer Rezension von Stefan Grossmann zu Kisch.
Die Oberflche definiert sich nicht als Gegenpol zu einem dahinter verborgenen Innern, „sondern als das einzig Sichtbare, das einzig Existierende, als
eine Art Leinwand, auf der alles Geschehen sich abspielt und hinter der sich
nur der leere Raum befindet“ (Kimmich 2002, 170). Der eng mit der Psychologie des 19. Jahrhunderts und der Psychoanalyse verbundenen Literatur
eines Arthur Schnitzler oder Stefan Zweig scheint damit der Boden entzogen: Psychologismus ist im Kontext der Neuen Sachlichkeit berhaupt negativ konnotiert. Die Problematik der Bestimmung einer Realitt, die sich nicht
mehr aus einem vorgestellten bergreifenden Innenbereich, sondern in der
Funktionalitt der Verlufe manifestiert, ist im Zusammenhang mit der
Wahrnehmungstheorie und Literaturtheorie der Neuen Sachlichkeit seit
Ende der 1920er Jahre bis heute immer wieder diskutiert worden, bereits
1924 bei Plessner und noch 1994 bei Lethen.
Das Weiterwirken derjenigen Strmungen, die sich bereits in der Vorkriegszeit entwickelt haben, trgt zum ußerst heterogenen Gesamtbild der
literarischen Szene in der gesamten Weimarer Zeit bei, was auch die syste-
Anfnge
der
literarischen
Moderne
Oberflche
Heterogenitt
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I. Begriff und Ausprgungen der Strmung
Heutige
Begriffsbildung
Neue Sachlichkeit
als Richtung
matische Erfassung der Neuen Sachlichkeit erschwert. Diese zeigt sich zwar
von Beginn durchaus als eigenstndige Richtung und dominiert die mittleren
und spteren Jahre der Republik, aber sie bleibt dennoch nur eine Strmung
unter zahlreichen anderen. Sie ist zudem in sich selbst derart vielfltig und
widersprchlich, dass von einer Epoche im engeren Sinne nicht gesprochen
werden kann. Problematisch ist vor allem die Rckbindung an die Phase der
so genannten relativen Stabilisierung (vgl. dazu II).
Obwohl angesichts dieser Vielzahl an Entwicklungsschritten, Verbindungslinien und Interdependenzen definitorische Festlegungen notwendig
unzulnglich bleiben, hat sich der Begriff Neue Sachlichkeit zu Recht durchgesetzt, da er die wesentlichen Zge der Strmung konzise und handhabbar
in sich zu fassen vermag (vgl. Becker 2000a). Die durch die Forschungen
von S. Becker u.a. forcierte Rckbesinnung auf die spezifisch literarischen
Dimensionen der Neuen Sachlichkeit ermglichte in vieler Hinsicht erstmals
eine fundierte literaturanalytische Erfassung. Allerdings ist hier durch die
mgliche Isolation der im engeren Sinne literarischen Faktoren auch die Gefahr einer neuerlichen Blickverengung nicht zu verkennen. Zu weit gegriffen
wre es wiederum, den Begriff Neue Sachlichkeit als „Chiffre zum pauschalen Verstndnis der literarischen Kultur der 20er Jahre insgesamt“ (Baar
2008, 171) auszulegen. Die Aufteilung literarischer und kultureller Richtungen nach Jahrzehnten, wie sie etwa durch die entsprechend angelegte, von
Faulstich herausgegebene Reihe wieder zum Strukturprinzip gemacht wurde, ist grob vereinfachend und letztlich arbitrr (vgl. Faulstich 2008).
Die Orientierung des fiktionalen Schreibens am Tatschlichen, die Einbeziehung von bisher als unliterarisch betrachteten Bereichen (etwa der Alltags- und Unterhaltungskultur) und die Medialisierung der Literatur (im Sinne einer Aufnahme und Integration der modernen Medien, vor allem des
Films) knnen als gemeinsame Zge neusachlichen Schreibens betrachtet
werden. Unterschiede zwischen einzelnen Autoren wie Richtungen ergeben
sich zum Teil daraus, wie weit die sthetizitt und Literarizitt der Texte zugunsten des rein Dokumentarischen aufgegeben werden oder die Unterhaltungs- bzw. Verkaufsabsicht zu einer Trivialisierung fhrt (etwa beim Kolportageroman) oder auch zu Komplexittsreduktionen wie etwa in Teilen der Lyrik (der Vorwurf der Trivialitt traf etwa immer wieder die Gedichte Mascha
Kalkos). Auf einer zweiten Ebene sind die Differenzen zwischen den verschiedenen neusachlichen Fraktionen auch in der politischen Ausrichtung
zu suchen, d. h. in einer mehr oder weniger progressiven oder konservativen
Zielsetzung und Parteinahme fr bestimmte aktuelle politische Ziele und
Strategien. Da die Neue Sachlichkeit sich nie als exklusive AvantgardeStrmung formierte oder verstand, wurde sie zum Oberbegriff fr eine Vielzahl von literarischen Versuchsanordnungen, die sich an Formen der Realittswiedergabe wie am Gebrauchswert orientierten. Sie ist Produkt des ,Laboratoriums Vielseitigkeit‘, wie die Literatur der Weimarer Republik nicht zu
unrecht genannt wurde (vgl. Fhnders 1998, 222).
Als zentrale Dimensionen der neusachlichen sthetik lassen sich idealtypisch bestimmen:
– Nchternheit/Objektivitt/Entsentimentalisierung
– Przisionssthetik
– Tatsachenpoetik
I. Begriff und Ausprgungen der Strmung
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Realittsbezug/Aktualitt
Reportagestil/Dokumentarismus/Bericht
Antipsychologismus
Gebrauchswertorientierung
Entindividualisierung
Vereinfachung/Anschaulichkeit/Konsumfreundlichkeit (vgl. Becker
2000a, 97ff.; Becker 2003, 191)
– Unterhaltungsfunktion/Massenappeal
– Multimedialitt
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II. Forschungsbericht
Nationalsozialistische Positionen
Aufschwung
der Forschung
nach 1970
Die Neue Sachlichkeit als eigenstndige Strmung ist bereits in der Formationsperiode heftig und kontrovers diskutiert worden. In der Entstehungszeit
wurde sie hufig als eine Modeerscheinung betrachtet, auch in jngerer Zeit
findet sich gelegentlich noch diese Beurteilung (vgl. Schtz in Kisch 1978,
313). In der Literaturwissenschaft hat sie erst relativ spt Wrdigung erfahren. hnlich wie andere der literarischen Moderne oder der Avantgarde des
20. Jahrhunderts angehrige Erscheinungen, wie etwa der Expressionismus
oder die Exilliteratur, passte sich auch die Neue Sachlichkeit den Epochenund Gattungsprferenzen der Forschung seit 1945 nicht an und entsprach in
Themenwahl und Sprachduktus auch lange Zeit nicht den Geschmackskonventionen, die am Werk von Autoren wie Rilke, Thomas Mann, Benn oder
George orientiert waren. So wird etwa in Fritz Martinis viel gelesener Deutscher Literaturgeschichte der Expressionismus als letzte ,Epoche‘ explizit gewrdigt, eine systematische Behandlung der Neuen Sachlichkeit fehlt.
Whrend der Zeit des Nationalsozialismus beschftigte sich die Germanistik aus eindeutig politischen Grnden so gut wie nicht mit der Neuen
Sachlichkeit, die wichtigen neusachlichen Autoren waren schon vor 1933
von den NS-Ideologen als nihilistische Asphaltliteraten denunziert worden.
Allerdings formulierte Goebbels in seiner „Rede ber die Stellung des neuen
Staates zur Kunst“ vom Mai 1933 ein Verstndnis des Sachlichen, das den
nationalsozialistischen Normen von Hrte und autoritrer Formierung entgegen kommt und den Begriff deutsch-vlkisch uminterpretiert (hierzu und
zu hnlichen Stellungnahmen der Nazi-Fhrer vgl. Becker 2000a, 341f.).
Eine im engeren Sinne wissenschaftliche Behandlung des Themas versuchte
der kurze Zeit spter zum NS-Stargermanisten aufgestiegene Heinz Kindermann mit dem Buch Das literarische Antlitz der Gegenwart und seinen Aufstzen von 1930 und 1933, in denen er eine lebensphilosophisch grundierte
„idealistische Sachlichkeit“ postulierte, eine Haltung, die dann in die Dissertation von Gertrud Hilgers zur zeitgenssischen Lyrik einging (vgl. Kindermann 1930, Hilgers 1934). Denunziert wurden allerdings von Beginn die
Werke der wichtigen Exponenten neusachlicher Literatur aus dem linken
Spektrum von Bertolt Brecht bis Robert Neumann, von Vicki Baum bis Mascha Kalko. Sie wurden verfemt und in vielen Fllen in die Emigration gedrngt. Erich Kstner, auch er bedroht und von Berufsverbot betroffen, aber
in Deutschland verbleibend, war die Ausnahme.
Noch 1972 stellte Karl Prmm mit Recht fest: „Die 20er Jahre haben in der
Literaturwissenschaft bisher […] kaum Beachtung gefunden.“ (Prmm 1972,
606) Zugleich merkte er an, dass die Klischeevorstellung der goldenen 20er
Jahre eine ernsthafte Erforschung behindert habe. Allerdings hngt die Abstinenz der Germanistik vor allem mit einer Abwehr von allem direkt Politischen
und Sozialen zusammen, die die Phase der Werkimmanenz bestimmte.
Eine ffnung gegenber modernistischen Richtungen und ein auch politisch motiviertes Interesse an der Literatur der Weimarer Republik entwickel-
II. Forschungsbericht
te sich erst im Gefolge des Paradigmenwechsels nach 1968 (vgl. Fhnders
1998, 226). Helmut Lethen legte mit seinem Buch Neue Sachlichkeit
1924–1932. Studien zur Literatur des ,weissen Sozialismus‘ (1970) die erste
Monographie mit umfassendem Anspruch zum Thema Neue Sachlichkeit
vor. Dabei ging er von einem bezeichnenden Gegensatz in der bis dahin
beraus sprlichen germanistischen Behandlung dieser Epoche und der des
Expressionismus aus: Er konstatierte eine eindeutige Prferenz der expressionistischen Literaturrevolution gegenber einer Dichtung, die sich nach der
Novemberrevolution der neuen realen Situation der deutschen Gesellschaft
stellte (vgl. Lethen 1970, 2).
Lethen selber verstand die Literatur der Neuen Sachlichkeit im Ganzen als
affirmativen Ausdruck einer von der Systemlogik erzwungenen Sachlichkeit,
die ihre Basis in der Produktionssphre hatte. „In den 20er Jahren lsst sich
beobachten, wie die Ideologen der Bourgeoisie mit dem Begriff der ,Sachlichkeit‘ – als einem Normbegriff der herrschenden Klasse – die Arbeit des
Unkenntlichmachens der Klassengesellschaft zu leisten beginnen, und spter, wie der NS-Staat diesen Prozeß […] fortsetzt.“ (Lethen 1970, 8) Die literarischen Produkte der Neuen Sachlichkeit erscheinen, in rechter wie linker
Provenienz, als Ausdruck eines Einverstndnisses mit der in Deutschland
versptet wahrgenommenen Modernisierung unter kapitalistischen Vorzeichen (vgl. Lethen 1983, 168). Daraus ergibt sich eine recht schematische
Darstellung in Gegensatzpaaren (zit. n. Lethen 1983, 172f.):
Verwurzelung
Symbiose
Wrme
Undurchsichtigkeit
Wachstum
Erinnerung
Sammlung
Organismus
Individuum
Original
Natrlicher Zyklus
Dunkelheit
versus
versus
versus
versus
versus
versus
versus
versus
versus
versus
versus
versus
Mobilitt
Trennung
Klte
Transparenz
Planung
Vergessen
Zerstreuung
Apparat
Typus
Reproduktion
Mechanische Zeit
Helligkeit
Hinter diesem habituellen Einverstndnis stecken Lethen zufolge „Parolen
der Synchronisierung“ (Lethen 1983, 169), die er bereits im Dadaismus zu
Beginn der Weimarer Republik entdeckt. Als Ergebnis dieser Synchronizitt
wandeln sich die Figur und die Funktion des Autors, der nun – jeglicher romantischen Aura entkleidet – als Operateur und Konstrukteur von technikanalogen Prozessen erscheint.
Lethens Ansatz war von Beginn nicht unumstritten. Ihm stand, ausgerichtet an den aktionistisch-ideologiekritischen Grundhaltungen der Zeit, bei allem Einfallsreichtum nur ein relativ grobes Instrumentarium zur Verfgung,
zudem fehlte ihm eine ausreichende Quellenbasis. Methodologisch einseitig schlug er die neusachliche Literatur allzu glatt der kapitalistischen Ideologieproduktion zu, was auch durch die meist negative Sichtweise der Kritischen Theorie beeinflusst war. Insbesondere verfehlte er aber das spezifisch
11
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II. Forschungsbericht
Literarische: „Der Versuch, die Neue Sachlichkeit in Zusammenhang mit
ihrer Bindung an die Stabilisierungsphase der Weimarer Republik von 1924
bis 1929 und an deren Scheitern ber vornehmlich ideologische Kriterien
und politisch inspirierte Wertungen zu erfassen, darf heute als gescheitert
gelten.“ (Becker 2000a, 13) Allerdings wird bei Becker wiederum die Verbindung der literarischen mit den anderen kulturellen Diskursen außer Acht
gelassen (zur Kritik an solchen Voraussetzungen vgl. Mller-Seidel 1987,
429). Auch in jngerer Zeit wurde – so von Bengt Algot Sørensen – noch die
These vertreten, ein neusachlicher Stil in der Literatur lasse sich, anders als
in der Malerei und Architektur, kaum ausmachen, das Neusachliche ußere
sich eher in den Themen und Gattungen sowie allgemein in einer bestimmten Haltung Zeitphnomenen gegenber (vgl. Sørensen 1997, 219).
In der frhen literaturwissenschaftlichen Forschung um 1970 wird die von
Benjamin u.a. begrndete Traditionslinie einer negativen Wertung der Neuen Sachlichkeit fortgefhrt. Affirmative Tendenzen der Neuen Sachlichkeit
werden berbetont, etwa in Jost Hermands Aufsatz „Einheit in der Vielheit?
Zur Geschichte des Begriffs ,Neue Sachlichkeit‘“ (Hermand 1978; vgl. dazu
Becker 2000a, 28f.). Hierbei handelt es sich meist um einen begrifflichen
Kurzschluss: Es kann sehr wohl davon gesprochen werden, dass die Produkte
der Neuen Sachlichkeit ein „Einwilligen in das zivilisatorisch Erreichte der
westlich orientierten Massengesellschaft der Weimarer Republik“ (Schmitz
2001, 167) ausdrcken, also eine Affirmation des Gegenstndlichen, dies
schließt aber keineswegs eine radikale Kritik aus.
Die Beeinflussung durch die in der Frhphase gesetzten Forschungsprmissen lsst sich seit den 1970er Jahren klar verfolgen. Auch wenn gewisse
Verstiegenheiten von Lethens frher Sicht der Neuen Sachlichkeit nicht geteilt wurden, so war der hier initiierte takeoff fr die weitere Forschung ber
eine lange Phase doch maßgebend. Einfluss ausben konnte auch das zweite
wichtige Lethen-Buch zum Thema, Verhaltenslehren der Klte. Lebensversuche zwischen den Kriegen (1994), das die aus den Diskussionen der 1920er
Jahre (Plessner) bezogene Klte-Wrme-Metaphorik ausbaute. Lethen hat
die vom Klassenschema bestimmte Bewertung aus seinem ersten Buch hier
stark revidiert oder abgeschwcht. Allerdings hat er, wenn auch mit anderer
Begrndung, an den Prmissen des ersten Buches grßtenteils festgehalten.
Dies betrifft insbesondere die Haltung der Protagonisten der Gegenwart gegenber, nmlich, wie es in den Verhaltenslehren der Klte heißt, die „Entscheidung fr den Zivilisationsbegriff“ (Lethen 1994, 30), also eine Entscheidung fr die vor allem ber Amerika vermittelte technisch-kommerzielle Zivilisation und gegen deren polemische Abwehr zugunsten moralischer,
knstlerischer oder religiser Werte, wie sie der europischen und vor allem
deutschen Tradition zugeschrieben wurde. Lethen entwickelt auch einen Begriff der ,neusachlichen Intelligenz‘, der innerhalb seines Untersuchungsspektrums nicht przisiert werden kann. Becker bezeichnet die „Perspektive
der anthropologischen Mentalitts- und Verhaltensforschung“ (Becker
2000a, 31) als grundstzlich ungeeignet zur Erschließung der sthetisch-literarischen Dimensionen und hlt die Herausarbeitung einer „Epochenidentitt“ (Hppauf 1995, 399) fr unzureichend. In der Tat holt Lethen weit aus
und versucht, die großen Entwicklungslinien der Verhaltensdiskurse zu rekonstruieren, die dann in der Weimarer Zeit zur Neuen Sachlichkeit fhren:
II. Forschungsbericht
Von der Scham- und Gewissenskultur ber Gracins ,kalte persona‘ und
Wahrnehmungs- und Ausdrucksmodelle bis zur Handlungstheorie von Bhler und der Relation Carl Schmitt – Plessner. Die Orientierung an philosophisch-historischen, kulturkritischen und psychologischen Diskursen (Physiognomie-Forschung, philosophische Anthropologie, Behaviorismus) zeigen auch die anderen Arbeiten Lethens zum Thema (vgl. etwa Lethen
1995a, 1997, 2009).
Neben Lethens Versuch einer ideologiekritischen Herleitung des Sachlichkeitsbegriffs wurden auch schon frh strukturelle Vergleiche von programmatischen wie literarischen ußerungen neusachlicher Autoren vorgenommen.
Dies geschah zunchst vor dem Hintergrund der Begriffsgenese, denn bekanntlich verwendete der Direktor der Mannheimer Kunsthalle Georg Friedrich Hartlaub den Begriff im Titel seiner Ausstellung „Neue Sachlichkeit, deutsche Malerei seit dem Expressionismus“ (1925), was zu seiner Verbreitung in
der Publizistik fhrte, obwohl dieser Ausdruck schon gleich nach Ende des Ersten Weltkriegs in kunsttheoretischen Diskussionen gelufig war. Kleinster gemeinsamer Nenner innerhalb der von da an laufenden Bestimmungsversuche
war die Sicht des Neusachlichen als einer im weitesten Sinne gegenstndlichen, realistischen Kunst. Eine direkte bertragung auf die Literatur erwies
sich als letztlich unmglich, obwohl immer wieder Versuche in diese Richtung
gemacht wurden. Eine Wechselbeziehung von Literatur und Malerei stellte
etwa Volker Klotz in einem Aufsatz her, der die Gegenstandsorientierung der
neusachlichen Malerei vor allem auf den Roman bertrug (vgl. Klotz 1972).
Die literaturwissenschaftliche Erforschung der Neuen Sachlichkeit wurde
von zwei Aufstzen angeregt, die sich von Lethens materialistischem Ansatz
betrchtlich unterschieden, von Horst Denklers „Sache und Stil. Die Theorie
der Neuen Sachlichkeit und ihre Auswirkung auf Kunst und Dichtung“
(1968) und Karl Prmms „Neue Sachlichkeit. Anmerkungen zum Gebrauch
des Begriffs in neueren literaturwissenschaftlichen Publikationen“ (1972)
(zur Begriffsbildung in der Frhphase vgl. auch Petersen 1982). Prmm setzt
sich an mehreren Stellen von Lethen ab: Er kritisiert einen gewissen Schematismus, die fehlende Auseinandersetzung mit den expressionistischen Vorlufern, vor allem jedoch, dass Lethens Wertung einseitig sei, das heißt,
ideologische Voreingenommenheiten ihn hinderten, positive Elemente festzustellen und partiell gelungene Versuche, die wahrgenommene Wirklichkeit adquat darzustellen, zu registrieren. Diese blinden Flecke weist Prmm
dann an Lethens Analyse von Regers Industrieroman Union der festen Hand
auf (Lethen 1970, 611).
Neuere Studien wie die von Becker beriefen sich auf diese frhen Arbeiten
(vgl. Becker 2000a, 14). Allerdings lassen sich diese aus heutiger Sicht
hchstens noch bedingt (und kaum im Sinne von Becker) mit dem Forschungsstand synchronisieren, da ihnen ein tragfhiges Moderne-Konzept
und eine entsprechende Begrifflichkeit weitgehend fehlen. So wird bei
Denkler die Rechts-Links-Klassifizierung unhinterfragt bernommen, entsprechend reibungslos werden die Werke von Jnger und Bronnen ebenso
als neusachlich qualifiziert wie die von Renn oder Remarque. Die Frage ist
jeweils, wie die zentralen neusachlichen Kriterien Sachlichkeit, Reportage/
Bericht und Zeitnhe definiert werden (vgl. Becker 2000a, 262). Zeitnhe
muss auch den Werken Ernst Jngers oder des spteren Bronnen, sogar
Stilgeschichte und
Abhngigkeit von
der Kunsttheorie
13

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