Allgemeiner Artikel zur Kampo-Medizin
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Allgemeiner Artikel zur Kampo-Medizin
zkm | Wissen b Kampo-Medizin – Modell für die Integration der ostasiatischen Arzneipflanzentherapie in die moderne Medizin Heidrun Reißenweber-Hewel, Ulrich Eberhard Der Begriff Kampo-Medizin bezeichnet die in Japan praktizierte traditionelle ostasiatische Arzneipflanzentherapie. Dabei werden pflanzliche Arzneidrogen in festgeschriebenen Rezepturen in Form von Dekokten oder Extraktprodukten therapeutisch angewandt. Die Kampo-Medizin wurde vor über 1500 Jahren aus China übernommen, hat sich in Japan aber eigenständig entwickelt. Es kam zu einer Reduktion der Zahl verwendeter Arzneipflanzen und Rezepturen. Die klinischen Anwendungsrichtlinien wurden auf pragmatische, im Sinne der evidenzbasierten Medizin nachvollziehbare Elemente reduziert. Die Autoren geben einen Überblick zum aktuellen Stand dieser Therapiemethode in Forschung und Praxis. Kampo-Medizin – japanische Arzneipflanzentherapie Zweifellos weist Japan ein den USA oder Westeuropa in nichts nachstehendes modernes Medizinsystem ersten Ranges auf, dessen Effizienz sicherlich ein Grund für die weltweit höchste Lebenserwartung der Japaner ist. Doch selbst hier oder gerade hier hat sich eine traditionelle Therapieform gehalten und gewinnt zunehmend an Bedeutung: die japanische Variante der ostasiatischen Arzneipflanzentherapie, auch Kampo-Medizin genannt. Sie hat in Japan nicht die Funktion einer „Primary Health Care“ wie teilweise in China und vielen südostasiatischen Ländern, sondern setzt dort an, wo die moderne Medizin an ihre Grenzen stößt – an postindustriellen Gesundheitsstörungen, an der Überalterung der Gesellschaft, der Zunahme chronischer Zivilisationskrank- 20 Arzneidrogen der Kampo-Medizin. heiten und funktioneller Störungen, und nicht zuletzt in der Prävention. In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Kampo-Medizin in Japan einer wissenschaftlichen Neubewertung und kritischen Überprüfung für ein modernes Gesundheitswesen unterzogen. Dabei wurden nicht nur wesentliche Ergebnisse in Grundlagen- und klinischer Forschung erzielt, sondern auch ein Qualitätsstandard für Rohdrogen und Extraktpräparate entwickelt. In Japan ist es nur approbierten Ärzten erlaubt, Kampo-Therapeutika zu verschreiben. Als Arzneimittel unterliegen sie den gleichen rechtlichen Bestimmungen hinsichtlich pharmazeutischer Qualität und Wirksamkeitsnachweis wie alle Arzneimittel. So erlaubt die in Japan bereits weit fortgeschrittene Integration der traditionellen ostasiatischen Arzneipflanzentherapie in die moderne Medizin einen Zugang zu diesem Ideenpool auf rationaler Basis. Kurze Historie In Japan werden seit über 1500 Jahren pflanzliche Arzneidrogen, meist Wurzeln, Rinden oder Früchte, in festgeschriebenen Rezepturen klinisch eingesetzt. Das Wort Kampo selbst bedeutet „Methode aus dem Han-zeitlichen China“ und bezieht sich auf die Entstehungszeit in China ca. 200 v. bis 200 n. Chr. Ab dem 5. Jahrhundert war die KampoMedizin durch buddhistische Mönchsärzte nach Japan vermittelt worden und hat sich dort nach einer langen Periode der Nachahmung an das chinesische Vorbild schließlich eigenständig entwickelt. Die Arzneidrogenkunde war schon immer Eckpfeiler jeder Therapie. Akupunk- Reißenweber-Hewel H, Eberhard U. Kampo-Medizin – Modell für die Integration der ostasiatischen Arzneipflanzentherapie in die moderne Medizin. ZKM 2011; 1: 20–27 Sonderdruck für private Zwecke des Autors Sonderdruck für private Zwecke des Autors Zusammenfassung b tur und Massage gelten bis heute als ergänzende Verfahren. Insbesondere ab dem 17. Jahrhundert, der Edo-Zeit, in der Japan durch die Abgrenzungspolitik eigene Ideen und Ansätze entwickelte, kam es zur eigentlichen Japanisierung von Medizin und Pharmazie. Es setzten sich innerhalb der Kampo-Therapie pragmatische gegenüber den in der chinesischen Medizin verfolgten eher theoretisch-spekulativen Ansätzen durch. Hauptvertreter dieser pragmatischen Richtung war im 18. Jh. Yoshimasu Todo, der schrieb: „In der klinischen Praxis sollen wir uns nur an dem orientieren, was wir durch die körperliche Untersuchung des Patienten feststellen können.“ Er verfeinerte die bereits seit dem 16. Jh. geübte Bauchdiagnostik (fukushin), die neben der Anamnese bis heute Kernstück der Kampo-Diagnostik ist [3]. Auch die Beschränkung des Arzneidrogenschatzes auf die 250 wirksamsten Arzneidrogen und etwa ebenso viele festgeschriebene Rezepturen fiel in diese Zeit. Dieser pragmatische, symptomorientierte Ansatz der japanischen Phytotherapie hat später das Bemühen um ihre Integration in eine westlich geprägte Medizin erleichtert ( Abb. 1). Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein war die Kampo-Medizin die etablierte Medizin in Japan. Über holländische Kaufleute kamen jedoch zunehmend westliche Einflüsse nach Japan. Besonders die anatomischen Studien wurden nachhaltig von westlichen Lehrmaterialien beeinflusst. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatte bereits ein japanischer Arzt, Sugita Genpaku, eine holländische Kopie der anatomischen Tafeln des deutschen Anatomen Johann Adam Kulmus ins Japanische übersetzt. Im 19. Jahrhundert wurde die KampoMedizin schließlich parallel mit westlichen Methoden eingesetzt. Die meisten Ärzte in Japan zu dieser Zeit waren Eklektiker ( Abb. 2). Sie verwendeten für die Wundversorgung Techniken aus der westlichen Chirurgie, in der Diagnostik und Behandlung von inneren Erkrankungen griffen sie zunächst noch auf traditionelle Methoden und erfahrungsbewährte Rezepturen zurück [10]. Da die Ausbildung der Ärzte nicht einheitlich war, wurde nach einem Ausbildungssystem mit klaren Organisations- Abb. 1 Arzt im Mönchsgewand bei der Rezepturauswahl, der Assistent prüft bei einer Patientin den Puls. Holzschnitt um 1690 [12]. Abb. 2 „Unter dem Schutz der Götter besiegen die guten Arzneien die bösen Krankheiten“, Holzschnitt um 1880. Rechts unten sind verschiedene westliche und Kampo-Arzneien einträchtig nebeneinander metaphorisch dargestellt, die die Krankheiten links unten bekämpfen – Ausdruck des eklektischen Ansatzes der japanischen Medizin bereits im 19. Jh. [7] strukturen gesucht. Die Wahl fiel auf Deutschland. 1876 wurde ein Dekret erlassen, das die deutsche medizinische Lehre für angehende Ärzte zur Pflicht machte. Eine Ausbildung in westlicher Medizin wurde damit Voraussetzung für die Approbation. Der Kampo-Medizin wurde so die offizielle Anerkennung entzogen, das Wissen wurde aber auf privater Ebene in Ärztefamilien weiter bewahrt. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Kampo-Medizin in Japan selbst wieder verstärkt beachtet, nicht als Alternativmethode zur westlichen Medizin, Reißenweber-Hewel H, Eberhard U. Kampo-Medizin – Modell für die Integration der ostasiatischen Arzneipflanzentherapie in die moderne Medizin. ZKM 2011; 1: 20–27 21 Sonderdruck für private Zwecke des Autors Sonderdruck für private Zwecke des Autors zkm | Wissen b 4 2 3 5 5 4 3 2 1 harte Spannung schlaffer Bauch Abb. 3 Technik der Bauchdiagnose mit Erfassen des Spannungszustands der Bauchdecke anhand einer 5stufigen Skala. Sonderdruck für private Zwecke des Autors sondern um deren therapeutische Optionen zu erweitern. Kampo-Medizin im heutigen Japan Unter der Ärzteschaft ist heute die Anwendung von Phytotherapeutika aus der Kampo-Tradition weitverbreitet. Nach einer repräsentativen Erhebung der Zeitschrift Nikkei Medical von 2007 verschreiben mehr als 70% aller japanischen Ärzte Kampo-Arzneimittel in unterschiedlichem Umfang [8]. Im Gegensatz zu anderen asiatischen Ländern ist es in Japan nur approbierten Ärzten erlaubt, Kampo-Therapeutika zu verschreiben. Die japanische Ärztegesellschaft für ostasiatische Medizin (JSOM) hat über 10 000 Mitglieder. Im Jahr 2001 wurde die Kampo-Medizin in den staatlichen Medizinstudiengang inkorporiert. Es gibt auch eine Weiterbildungsordnung zum Spezialisten für Kampo-Therapie, wobei ein Facharztzeugnis in einem Standardgebiet der modernen Medizin für die Zulassung Voraussetzung ist. Die Weiterbildung kann an einer Reihe von Spezialkliniken erfolgen, an vorderster Stelle sind das Forschungszentrum für Ostasiatische Medizin der Kitasato Universität in Tokio und die Abteilung für Japanische Medizin der Universität Toyama zu nennen. Die Spezialeinrichtungen für Kampo-Therapie sind grundsätzlich an eine westliche Klinik angeschlossen. Seit 1967 sind Phytotherapeutika aus der Kampo-Tradition als Arzneimittel zugelassen [6]. Derzeit gelten 148 feste Kombinationen als verschreibungspflichtige 22 Pharmaka, deren Kosten von der Krankenkasse übernommen werden. Da KampoTherapeutika in Japan als Arzneimittel gelten, unterliegen sie den gleichen rechtlichen Bestimmungen hinsichtlich pharmazeutischer Qualität und Wirksamkeitsnachweis wie alle Arzneimittel. Für bereits länger zugelassene Phytotherapeutika wurde durch das japanische Gesundheitsministerium ein Reevaluierungsverfahren eingeleitet, das bspw. auch Doppelblindstudien im Rahmen des Wirksamkeitsnachweises erforderlich macht. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen werden, wie bei allen Pharmaka, durch das Pharmakovigilanzsystem des japanischen Gesundheitsministeriums erfasst. Diagnostik der Kampo-Medizin Die japanische Kampo-Therapie ist eine individualisierte Therapieform und hat einen ganzheitlichen Ansatz – Körper und Geist werden als Einheit betrachtet. Im Vordergrund der Diagnostik steht das sorgfältige Erfassen der subjektiven und objektiven Krankheitszeichen. Subjektive Symptome werden durch eine genaue Anamnese erhoben, objektive Symptome durch die körperliche Untersuchung, die neben der Zungen- und Pulsbeurteilung die Untersuchung des Abdomens in den Mittelpunkt stellt. Für die Japaner war hara, der Bauch, seit jeher Zentrum des Lebens. Die Bauchdeckendiagnostik (fukushin) ist eine spezifisch japanische Errungenschaft und seit dem 16. Jh. das Kernstück der Kampo-Diagnostik. Das Betasten der Bauchdecke und die Interpretation der Spannung und Konsistenz derselben geben wesentliche Hinweise über den Zustand des Patienten ( Abb. 3). Das Gesamtbild der Symptome und klinischen Zeichen ergibt nun ein Beschwerdeprofil, das in der Kampo-Medizin als shô bezeichnet wird. Für jedes shô kennt die Kampo-Medizin eine oder mehrere zugeordnete Rezepturen. Im Idealfall passt das Beschwerdeprofil shô zum Wirkprofil der Rezeptur wie ein Schlüssel zum Schloss. Traditionelle Konzepte der ostasiatischen Medizin sind hier in den Hintergrund gerückt, ihre Kenntnis ist aber für das Verständnis der Konstitution des Patienten und der Differenzierung aktueller Krankheitsstadien hilfreich [1]. Hier werden die Konzepte von ki (Kräftehaushalt), ketsu (Durchblutung) und sui (Wasserhaushalt) vorwiegend zugrunde gelegt, es erfolgt aber auch eine Einordnung des Krankheitsbilds nach den „Acht Leitkriterien“ und den „Sechs Krankheitsstadien“ nach dem Han-zeitlichen chinesischen Therapiehandbuch Shang Han Lun. Anwendungsgebiete In Japan wird in den Spezialambulanzen ein breites Patientenspektrum behandelt – vom Säugling über die Muttermilch, etwa bei Neurodermitis, bis hin zum geriatrischen Patienten mit seiner Vielzahl von Beschwerden. Ziel ist es dabei auch, die Zahl notwendiger synthetischer Pharmaka zu reduzieren, um die Arzneikosten zu senken. Grundsätzlich liegt die Bedeutung japanischer Phytotherapeutika bei chronischen Erkrankungen im adjuvanten Einsatz, bei funktionellen Störungen und in der Prävention ist eine alleinige Anwendung oft möglich. Im klinischen Alltag in Japan besonders häufig behandelte Probleme sind allergische Erkrankungen wie Asthma bronchiale und Neurodermitis sowie chronische Erkrankungen wie Arthritis, Virushepatitis oder diabetische Komplikationen. Hauptindikationen der Kampo-Medizin betreffen immunmodulatorische Eigenschaften der Rezepturen, Wirkungen auf die Mikrozirkulation sowie auf neurovegetative und endokrine Funktionsstörungen: Reißenweber-Hewel H, Eberhard U. Kampo-Medizin – Modell für die Integration der ostasiatischen Arzneipflanzentherapie in die moderne Medizin. ZKM 2011; 1: 20–27 Sonderdruck für private Zwecke des Autors zkm | Wissen zkm | Wissen b Schwerpunkt Immunmodulation ● Allergien – Asthma bronchiale, allergische Rhinitis, Neurodermitis ● Infektanfälligkeit ● Virushepatitis (bei Kontraindikationen von Standardtherapien) ● supportiv bei Autoimmunerkrankungen – wie rheumatoider Arthritis, systemischer Lupus erythematos, Immunthrombozytopenie, Colitis ulcerosa, Morbus Crohn ● Tumorfatigue, Nebenwirkungen onkologischer Behandlungen Rikkunshi-to (Manbyokaishun, 16. Jh., chin. Liu-jun-zi-tang) Traditionelles Wirkprofil geschwächte Patienten mit Magendruck, Völlegefühl, Übelkeit, Neigung zu Diarrhö, Kältegefühl (ki-Mangel, ki-Stagnation) Arzneipflanzen Ginseng Radix Atractylodis lanc. Rhiz. Pinelliae Tuber Pachyma Hoelen Aurantii Pericarpium Zizyphi Fructus Glycyrrhizae Radix Zingiberis Rhizome 4g 4g 4g 4g 2g 2g 1g 0,5 g Ginseng Schwerpunkt Mikrozirkulation Ingwer typischer Abdominalbefund Abb. 4 Komponenten und traditionelles Wirkprofil von Rikkunshi-to. Schwerpunkt neurovegetative und endokrine Regulation ● gastrointestinale Funktionsstörungen (Reizmagen, Reizdarm) ● Rekonvaleszenz, Erschöpfungssyndrome ● funktionelle Herzbeschwerden ● Menstruations- und menopausale Beschwerden ● Fertilitätsstörungen Mögliche Nebenwirkungen japanischer Phytotherapeutika sind in erster Linie eher selten auftretende allergische Reaktionen mit Juckreiz oder Exanthem (< 1 %). Gelegentlich kommt es zu gastrointestinalen Symptomen wie Magendruck, Völlegefühl, Obstipation oder Diarrhö (1–3 %). Wird über solche erwarteten milden Nebenwirkungen hinaus eine neue unerwünschte Wirkung eines japanischen Phytotherapeutikums vermutet, so erstattet der behandelnde Arzt im Rahmen des japanischen Pharmakovigilanzsystems Meldung beim Gesundheitsministerium. Es wird dann im Einzelfall geprüft, ob ein Kausalzusammenhang vorliegen kann. Wichtige Aufgabe ist es hierbei auch, Interaktionen mit synthetischen Arzneimitteln zu erkennen und zu prüfen. Eine genaue Indikationsstellung auch für Phytopharmaka ist deshalb unbedingt erforderlich und vorangehende experimentelle und tierexperimentelle Nachweise von Wirkmechanis- men mit ihren Wirkungen und Nebenwirkungen sind notwendig. Forschungsstand zur Kampo-Medizin Pharmakologische Forschung Da traditionell nicht nur Einzeldrogen, sondern feste Rezepturen aus Drogen verschiedener Arzneipflanzen verwendet werden, ist es nicht nur notwendig, die Inhaltsstoffe einzelner Arzneipflanzen zu untersuchen, sondern auch die Wirkung des Gesamtextrakts. Die experimentelle pharmakologische Forschung an In-vitrosowie Tiermodellen ist in Japan hoch entwickelt, es gibt umfangreiche Untersuchungen zum Nachweis chemischer Strukturen der Leitsubstanzen sowie von Wirkmechanismen aktiver Komponenten. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen bilden die Voraussetzung für die Kontrolle von Qualität und Reinheit der verwendeten Arzneipflanzen, ihrer Bestandteile sowie der daraus hergestellten meist sprühgetrockneten Extraktpräparate. Herstellung und Kontrolle unterliegen der japanischen Pharmakopöe sowie den international gültigen Richtlinien für Good Manufacturing und Good Laboratory Practice, also GMP und GLP-Richtlinien. Auch das Wirkspektrum des Gesamtextrakts, der Fixed Combination, ist in den meisten Fällen entschlüsselt, und für viele Rezepturen sind die Wirkmechanismen inzwischen weitgehend aufgeklärt [11]. Klinische Forschung Der dritte Bereich umfasst die klinische Forschung. Eine kürzlich von uns mitverfasste Übersicht untersuchte den Stand der klinischen Forschung auf dem Gebiet der Kampo-Medizin [14]. Es zeigt sich, dass ein umfangreiches Repertoire an kontrollierten klinischen Studien vorliegt, die einen großen Pool an Sicherheits- und Wirksamkeitsdaten bieten, deren methodische Qualität sich aber erst in den vergangenen Jahren gebessert hat. Während bis 1984 v. a. experimentelle Ergebnisse veröffentlicht wurden, nahm die Zahl der klinischen Studien ab Mitte der 80er-Jahre von ca. 20 auf 500 Veröffentlichungen pro Jahr schlagartig zu. Die meisten klinischen Studien wurden für die Indikationen Allergien, adjuvante Therapie bei Autoimmunerkrankungen, diabetische Angiopathien und funktionelle Erkrankungen des Magen-Darm-Bereichs durchgeführt. Die zwischen 1986 und 2008 veröffentlichten Studien waren zu 35% in englischer und zu 65% in japanischer Sprache publiziert. Einschlusskriterien folgten bisher meistens modernen Indikationen und nur selten traditionellen Indikationen [13]. Reißenweber-Hewel H, Eberhard U. Kampo-Medizin – Modell für die Integration der ostasiatischen Arzneipflanzentherapie in die moderne Medizin. ZKM 2011; 1: 20–27 23 Sonderdruck für private Zwecke des Autors Sonderdruck für private Zwecke des Autors ● diabetische Angiopathien (Neuropathie, Retinopathie, Nephropathie) ● zerebrovaskuläre Erkrankungen ● Tinnitus, Schwindel zkm | Wissen b Als Beispiel für den aktuellen Forschungsstand sei im Folgenden die von uns klinisch untersuchte Rezeptur Rikkunshi-to genannt [9]. Sie ist eine der häufig eingesetzten Kombinationen bei funktionellen gastrointestinalen Beschwerden wie Reizmagen und Reizdarm. Klinisch liegt gehäuft ein Overlap von Symptomen des oberen mit solchen des unteren Gastrointestinaltrakts vor, besonders oft tritt ein Reizmagen in Kombination mit einem Reizdarmsyndrom vom Diarrhötyp auf. Für dieses kombinierte Beschwerdeprofil hat sich in Japan in langer klinischer Erfahrung die traditionelle Rezeptur Rikkunshito aus 8 ostasiatischen Arzneipflanzen bewährt. Komponenten und traditionelles Abb. 4. Das WirkspekWirkprofil zeigt trum der teilweise auch im Westen sehr gut bekannten Einzelpflanzen umfasst mukoprotektive, immunmodulatorische, die Mikrozirkulation fördernde, prokinetische, spasmolytische und antioxidativ wirksame Eigenschaften. Zur Pharmakologie des Gesamtextrakts konnte gezeigt werden, dass Rikkunshi-to durch Förderung der adaptiven Fundusrelaxation und Beschleunigung der antralen Magenentleerung die Magenmotilität reguliert [4]. Insgesamt basiert das Wirkspektrum der Gesamtrezeptur auf den Hauptmechanismen: ● Regulation der Magenmotilität ● Förderung der Magenschleimhautdurchblutung ● intestinale Relaxation Auf der Grundlage dieser pharmakologischen Ergebnisse liegen umfangreiche klinische Forschungsergebnisse vor. Es wurden 30 prospektive, teilweise randomisierte kontrollierte Studien durchgeführt, in einer Studie gelang der Nachweis einer besseren Wirksamkeit als das Prokinetikum Cisaprid. Auch eine placebokontrollierte Doppelblindstudie für die Indikation Reizmagen liegt vor, die eine Überlegenheit von Rikkunshi-to gegenüber Placebo zeigte [5]. So wichtig für den Wirksamkeitsnachweis klinische Studien an größeren Kollektiven bei definierten Indikationen auch sein mögen, sie werden dem komplexen 24 Ein Fall aus der Praxis zur Kampo-Therapie Um das individuelle klinische Vorgehen in der Kampo-Medizin zu verdeutlichen, sei das Fallbeispiel eines 70-jährigen Patienten erläutert. Anamnese Akutes Problem war eine seit 2 Wochen bestehende Lumboischialgie mit Schmerzausstrahlung ins rechte Bein. Die weitere Anamnese ergab, dass der Patient seit ca. 15 Jahren an Diabetes mellitus Typ 2 litt mit Entwicklung einer peripheren sensomotorischen Polyneuropathie. Dabei klagte er über Kribbeln und Taubheitsgefühl strumpfförmig an den unteren Extremitäten. Außerdem bestand ein medikamentös eingestellter arterieller Hypertonus. Aus der Anamnese ergab sich weiterhin, dass ihm bereits seit Monaten eine körperliche Schwäche und rasche Ermüdbarkeit auffiel, besonders die Beine seien schwach und immer, selbst im Sommer, kalt. Er schlafe schlecht wegen mehrmaliger Nykturie, tagsüber ebenfalls häufiges Wasserlassen. Eine benigne Prostatahypertrophie sei bekannt. Diagnostik Die körperliche Untersuchung zur Bestimmung des Beschwerdeprofils (shô) zeigte einen geschwächten, eher hageren Patienten mit den führenden Beschwerden eines muskulären Hartspanns lumbal rechts mit Schmerzausstrahlung ins rechte Bein dorsalseitig bis in die Kniekehle, Schonhaltung bei eingeschränkter Beugung und Streckung der LWS, Nervendehnungsschmerz rechts (Lasègue positiv bei 50°), Patellarsehnenreflex rechts stärker als links, leichte prätibiale Unterschenkelödeme beidseits, kalte Füße, warme Hände. Blutdruck 160/60 mmHg. Die Zunge war hellrot, spiegelnd, der Puls tiefliegend, ohne Kraft. Die Bauchdiagnostik ergab eine schlaffe Mulde zwischen Nabel und Symphyse, in der Tiefe diskrete Verhärtung („Stäbchen“) tastbar, gleichzeitig gespannte Mm. recti ab- dominis im Unterbauch, periumbilikale Pulsation. Therapie und Verlauf Aufgrund des vorliegenden Beschwerdeprofils wurde die Rezeptur Goshajinki-gan (Nieren-ki-Mixtur) ausgewählt ( Abb. 5). Ergänzend erfolgte in den ersten Tagen eine Akuttherapie mit japanischer Akupunktur und Moxibustion. Nach 7 Tagen zeigte sich bereits eine Besserung der Symptomatik bei guter Verträglichkeit der Therapie. Bei der Wiedervorstellung nach 14 Tagen deutliche Stabilisierung, keine Rückenschmerzen mehr, keine Unterschenkelödeme, deutlich geringeres Kältegefühl, allerdings waren die Kribbelparästhesien und das Taubheitsgefühl noch vorhanden. Nach Weiterführung der Therapie war der Patient nach 4 Wochen im Rücken schmerzfrei, die Füße waren meist warm, auch das Kribbeln und die Unruhe in den Beinen sei viel besser geworden, das Taubheitsgefühl jedoch weiterhin vorhanden. Auffallend geringere Blutzuckerschwankungen bei einfacherer Diabeteseinstellung. Blutdruck stabil mit 140/70 mmHg. Fortsetzung der Kampo-Behandlung mit Goshajinki-gan für weitere 4 Monate. und individuellen Therapiekonzept einer ganzheitlichen Methode wie der KampoMedizin selten gerecht. Künftige klinische Studien sollten etwa durch kampo-spezifische Subgruppenbildung diesem Anspruch Rechnung tragen [14]. Ausblick In Japan fand – im Gegensatz zu anderen ostasiatischen Ländern – eine pragmatische Reduktion traditioneller Theorien der ostasiatischen Arzneikunde statt sowie das Bestreben einer Einordnung in die moderne Medizin. Sie lässt dennoch Reißenweber-Hewel H, Eberhard U. Kampo-Medizin – Modell für die Integration der ostasiatischen Arzneipflanzentherapie in die moderne Medizin. ZKM 2011; 1: 20–27 Sonderdruck für private Zwecke des Autors Sonderdruck für private Zwecke des Autors Beispiel: Rikkunshi-to bei funktionellen gastrointestinalen Beschwerden zkm | Wissen b [7] Naito Museum of Pharmacy, Hrsg. Ausstellungskatalog. Gifu; 1982: 61 Goshajinki-gan (chin. Niu-che-shen-qi-wan) Traditionelles Wirkprofil Schwäche, Kraftlosigkeit der unteren Extremitäten, Kältegefühl in Lenden und Beinen, Miktionsbeschwerden, Lumbago (Nieren-yang-Leere, Nieren-ki-Mangel) Arzneipflanzen 5g 3g 3g 3g 3g 3g 3g 3g 1g 1g typischer Abdominalbefund [10] Reißenweber H. Japanische Medizin. In: Gerabek W, Hrsg. Enzyklopädie Medizingeschichte. Berlin: de Gruyter; 2005: 688–694 Bekannte pharmakologische Wirkmechanismen der Rezeptur antikoagulatorisch, vasodilatativ, antioxidativ, Aldose-Reduktaseinhibitorisch, analgetisch über spinale Rezeptoren Sonderdruck für private Zwecke des Autors Abb. 5 Komponenten und traditionelles Wirkprofil von Goshajinki-gan. Raum für einen individuellen therapeutischen Ansatz innerhalb der gesetzten Grenzen. In den vergangenen 40 Jahren erfolgte eine wissenschaftliche Neubewertung und kritische Überprüfung der japanischen Phytotherapie für ein modernes Gesundheitswesen, das mit dem Altern der Bevölkerung und durch chronische Erkrankungen belastet wird. Dazu gehören der Bluthochdruck, Fettstoffwechselerkrankungen, der Diabetes mellitus Typ 2 mit seinen Folgeerscheinungen, die Arteriosklerose, aber zunehmend auch Allergien und funktionelle Erkrankungen insbesondere des Magen-Darm-Trakts. So ergibt sich ein breites Spektrum an Einsatzmöglichkeiten für Kampo-Arzneimittel auch bei uns – gerade in Kombination mit synthetischen Medikamenten. Aufbauend auf den Ergebnissen der Grundlagenforschung bez. pharmakologischer und toxikologischer Daten werden in Japan derzeit verstärkt klinische Prüfungen auf Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und Verträglichkeit der Phytopharmaka durchgeführt. Im Sinne einer rationalen Phytotherapie wird damit ein Weg beschritten, der vorbildhaft die Möglichkeit einer Integration des traditionellen ostasiatischen Arzneiwissens in die moderne Arzneitherapie aufzeigt. 26 [9] Reißenweber H. Japanese phytotherapy (Kampo) in functional dyspepsia and irritable bowel syndrome: clinical observation in German patients. Eur J Integ Med 2008; 1: S26 Interessenkonflikte: Die Autoren erklären, dass keine wirtschaftlichen oder persönlichen Verbindungen bestehen. Online zu finden unter http://dx.doi.org/10.1055/s-0030-1250716 Literatur [1] Eberhard U. Kampo – die japanische Phytotherapie, ein Überblick. DZA 2004; 47: 21– 29 [11] Reißenweber H, Schäfer S. Japanische Phytotherapie (Kampo) – Klinische Relevanz und Qualitätssicherung in der Modernen Medizin. In: Rietbrock N, Hrsg. Phytopharmaka VI. Forschung und klinische Anwendung. Darmstadt: Steinkopff; 2000: 271–277 [12] Shoten T, Hrsg. Yojokun. Japanese Secrets of Good Health by Kaibara Ekiken. Tokyo: Shoten pub.; 1994 [13] Task Force for Evidence Reports, Clinical Practice Guideline Special Committee for EBM, the Japan Society for Oriental Medicine. Evidence Reports of Kampo Treatment 2010: 345 Randomized Controlled Trials. Tokyo: The Japan Society for Oriental Medicine; 2010 [14] Watanabe K, Matsuura K, Gao P et al. Traditional Japanese Kampo Medicine: clinical research between modernity and traditional medicine – the state of research and methodological suggestions for the future. eCAM 2010; online published. DOI: 10.1093/ ecam/neq067 [2] Eberhard U. Leitfaden Kampo-Medizin. München: Elsevier, Urban & Fischer; 2003 [3] Fujikawa Y. Nihon igakushi (History of Japanese Medicine). Tokyo: Nagayama Shoten; 1979 [4] Kido T, Nakai Y, Kase Y et al. Effects of Rikkunshi-to, a traditional japanese medicine, on the delay of gastric emptying induced by NG -Nitro-L-Arginin. J Pharmacol Science 2005; 98: 161–167 [5] Harasawa S, Miyoshi A, Miwa T et al. Double-blind multicenter post-marketing clinical trial of TJ-43 Rikkunshi-to for the treatment of dysmotility-like dyspepsia. Igaku no Ayumi (J Clin Exp Med) 1998; 187: 207–229 [6] Nagasawa M. Development of Kampo preparations for ethical use. Arch Pract Pharm 1991; 51: 9 Weiterführende Informationen Ausbildung Die Deutsche Ärztegesellschaft für Akupunktur e. V. bietet Kurse zur Kampo-Medizin an: www.daegfa.de Literaturtipps Eberhard U. Leitfaden Kampo-Medizin. München: Elsevier, Urban & Fischer; 2003 Otsuka K. Kampo. A Clinical Guide to Theory and Practice. Edinburgh, London: Elsevier Churchill Livingstone; 2010 Reißenweber-Hewel H, Eberhard U. Kampo-Medizin – Modell für die Integration der ostasiatischen Arzneipflanzentherapie in die moderne Medizin. ZKM 2011; 1: 20–27 Sonderdruck für private Zwecke des Autors Rhemanniae Radix Achyranthis Radix Corni Fructus Pachyma Hoelen Dioscoreae Rhizoma Plantaginis Semen Alismatis Rhizoma Moutan Cortex Cinnamomi Cortex Aconiti praep. Tuber [8] Nikkei Medical Group. Utilization survey of Kampo medicines. Nikkei Med J 2007; 10 (Suppl.): 41–47 zkm | Wissen b Sonderdruck für private Zwecke des Autors Praxis für Japanische Medizin Bahnhofstraße 108 82166 Gräfelfing [email protected] www.japanische-medizin-muenchen.de Heidrun Reißenweber ist Fachärztin für Innere Medizin, Schwerpunkt Gastroenterologie, sowie Magister der Japanologie, Promotion in Japanischer Medizingeschichte. Drei Jahre Forschungsstipendiatin am Forschungsinstitut für Ostasiatische Medizin der KitasatoUniversität in Tokio, seitdem klinische und wissenschaftliche Beschäftigung mit Kampo-Medizin; nach langjähriger Tätigkeit an der Ludwig-Maximilians-Universität ist sie nun in eigener Praxis mit Schwerpunkt Japanische Medizin niedergelassen; Lehrauftrag am Kompetenzzentrum für Komplementärmedizin und Naturheilkunde der TU München, Dozentin für Kampo-Medizin der Deutschen Ärztegesellschaft für Akupunktur. Anzeige Dr. med. Ulrich Eberhard Joaquin Montes Jovellar, 4 28002 Madrid [email protected] www.ulrich-eberhard.com Ulrich Eberhard ist Arzt für Allgemeinmedizin und Naturheilverfahren. Nach einem Studienaufenthalt an der Akademie für Traditionelle Chinesische Medizin in Beijing war er 4 Jahre Forschungsstipendiat am Kitasato-Institut der gleichnamigen Universität in Tokio. Seit 1987 in eigener Praxis mit Schwerpunkt Japanische Akupunktur und Kampo-Medizin niedergelassen, seit 2002 in Madrid. Gründer und langjähriger Leiter des Arbeitskreises für Konstitutionelle Akupunktur und Kampo-Medizin (afkam) und Dozent der Deutschen Ärztegesellschaft für Akupunktur. Sonderdruck für private Zwecke des Autors Dr. med. Heidrun Reißenweber-Hewel, M. A.