Der Schriftsteller Hermann Kant

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Der Schriftsteller Hermann Kant
FWU – Literatur und Theater
VHS 42 02884 30 min, Farbe
Gefeiert und verdammt –
Der Schriftsteller
Hermann Kant
FWU –
das Medieninstitut
der Länder
®
Zur Einführung
tschechische Dramatiker und Dissident, der
seiner postsozialistischen Heimat für zwei
wichtige Amtsperioden ganz prosaisch als
Ministerpräsident diente ...
Wie ist das eigentlich mit dem diffizilen Verhältnis von Geist und Macht? Gibt es Möglichkeiten, das unvereinbar Scheinende miteinander zu arrangieren? Wege, die Metternichsche Zensur in ein wohlwollendes Fördern und Lenken umzudeuten? Kann sich
der Intellektuelle, der Wissenschaftler, der
Künstler gar einem Staat, einer Politik, einer
Ideologie andienen, ohne dabei seiner
selbst – sprich seiner aus subjektiver Unabhängigkeit erwachsenden Glaubwürdigkeit–
verlustig zu gehen? Wie steht es mit dem
politischen Engagement des Künstlers:
beschädigt es seinen Ruf, sein Werk? Sollte
aber nicht auch ein Staat den Künstler
angemessen in sein Machtgefüge integrieren dürfen, um als Machtapparat glaubwürdig für alle zu stehen?
Aber: Es geht hier um Kant, Hermann, geboren 1926 in Hamburg; ein sprachgewandter,
scharfsichtiger und genau beobachtender
Erzähler einerseits, der sich selbst, seine
Biografie und sein gesellschaftliches Umfeld
DDR in geschliffener Prosa satirisch bricht,
und zum anderen ein dem Staat dienender
Funktionär: „Er schrieb gegen die Dummheit
der Mächtigen und war selbst verliebt in die
Macht“ – so lautet die Eingangsthese des
Films; ein Biermann-Lied hat dafür die knappe Formel „Funktionär funktioniert“
geprägt ...
Literatur aus Leben – Zum Film
Zur Diskussion derartiger Fragen könnten
zahlreiche Beispiele herangezogen werden.
Der Lyriker Johannes R. Becher etwa, der im
siebten Lebensjahrzehnt in der jungen DDR
unter Ulbricht – sein expressionistisches
Frühwerk verleugnend – zum Stalin besingenden Staatsdichter und Kulturminister
avancierte. Jener Pablo Neruda, der in seinen lyrischen Gesängen die sozialistische
Regierung seines Heimatlandes Chile unter
Salvador Allende bis zu ihrem blutigen Sturz
1973 unterstützte. Herr von Goethe sogar,
der Geheime Rat, der im Dienste des Weimarer Hofes stehend Dinge billigte und tat, die
vor der Feder des Dichters Johann Wolfgang
kaum Gnade gefunden hätten. Ein Günter
Grass, der sich mit dem Grafiker Klaus Staeck und anderen Künstlern in Bundestagswahlkämpfen der 60er und 70er Jahre exponiert vor den Karren der Sozialdemokratie
spannte und sie mit in die Regierungsverantwortung zog. Oder Vaclav Havel, der
Leonore Brandts Dokumentation der MDRReihe „Lebensläufe“ versucht eine Annäherung an den Schriftsteller, den Kulturfunktionär, vor allem an den Menschen Hermann
Kant, der zweifellos zu den bekanntesten
„Kulturschaffenden“ – so der typische DDRAusdruck für die künstlerische Intelligenz –
seines im Jahr 1990 untergegangenen Staates gehörte. Der Film bedient sich dazu
mehrerer Ebenen.
Da sind ganz sachlich die Stationen der Biografie. Nach jahrelanger Kriegsgefangenschaft in Polen und der Sowjetunion geistig
umerzogen in ein zerstörtes Land, das nach
sich selbst sucht, zurückkehrend, stellt sich
Kant in den Dienst der als gut erkannten,
neuen Sache: Der Aufbau einer antifaschistischen, sozialistischen Gesellschaft im Osten
Deutschlands. Seine Herkunft aus einfachsten proletarischen Verhältnissen ebnet (Bildungs-)Wege; Erfahrungen, die der zunächst
2
journalistisch Tätige bald literarisch verarbeitet.
Da ist das für sich sprechende erzählerische
Werk des Autors. Schon der erste Roman
„Die Aula“ (1964) wird zum Kultbuch, passt
er doch inhaltlich wie formal in eine Zeit,
die nach dem Bau der Berliner Mauer und
dem Propagieren einer eigenen sozialistischen Nationalkultur den großen Gesellschaftsentwurf literarisch zu zwingen sucht:
„Die Spur der Steine“ (Erik Neutsch), „Ole
Bienkopp“ (Erwin Strittmatter) oder „Der
geteilte Himmel“ (Christa Wolf) heißen andere Gesellschaftsromane jener Jahre, in
denen spezifische Ausschnitte der Gesellschaft (Industrialisierung, Kollektivierung
der Landwirtschaft, Konfrontation der deutschen Staaten) durchaus nicht unkritisch,
doch den Sozialismus insgesamt bestätigend, reflektiert werden. Kants „Aula“ – obligatorischer Unterrichtsstoff der DDR-Schule,
auch erfolgreich in der Bühnenfassung –
zeigt im humorvoll verklärten Rückblick der
erzählenden Hauptfigur Trullesand den naivengagierten Aufbruch der Nachkriegsjugend
in eine neue Zeit. Die Widersprüche und
Konflikte haben – in der Darstellung des
Autors – ihre Ursachen nicht etwa in der
Gesellschaft, sondern in den Figuren selbst,
in ihrer begrenzten subjektiven Ein-Sicht in
gesellschaftliche Erfordernisse. Ein zeittypisches, literarisch bedeutsames Buch, das zu
differenzierter Bewertung auffordert – und
diese auch vier Jahrzehnte nach seinem
Erscheinen noch immer erhält! So nennt
Marcel Reich-Ranicki die „Aula“ im Film „ein
vollkommen verlogenes Buch, denn es zeigt
die DDR ... als ein glückliches, wunderbares
Land des Lächelns. Aber es ist ein Buch, das
anders als die Bücher vieler Autoren dieser
Zeit doch etwas Kritisches über die DDR zu
sagen versucht. Es versucht auch zu
erklären, warum es eigentlich in meiner
Sprache verlogen ist, das heißt Kant hat
versucht zu erklären, warum er die Welt der
DDR so sieht. Ihm schien das richtig, und es
wäre eine Unterstellung, wollte man sagen,
ihm schien das richtig, weil die SED es so
gewünscht hat.“ Und Günter de Bruyn, einer
der wichtigsten DDR-Autoren und so ganz
anderer Generationsgefährte Kants, urteilt:
„Eine besonders geschickte Form der Verklärung, die Unwissende für Kritik halten
konnten, hatte Hermann Kant in seinem
vielgelesenen Roman Die Aula gefunden,
indem er die rigorosen Methoden und ideologischen Engstirnigkeiten der Anfangsjahre
in putzige Kuriositäten verwandelt und die
Opfer verschwiegen hatte. Ein heiterer
Rückblick auf schwere und von Idealismus
erfüllte Jahre wurde hier von einem Sieger
gegeben, der von Schuld nichts weiß.“ 1 Dennoch: „Wenn spätere Historiker einmal wissen wollen, was die Nachkriegsgeneration
mit der DDR verband, was sie zu diesem
Staat hinzog, werden sie es aus diesem
Roman erfahren“ 2, so der Literaturwissenschaftler Werner Mittenzwei, und selbst die
Konrad-Adenauer-Stiftung empfiehlt „Die
3
Aula“ inzwischen wieder als zeitgemäße
Schullektüre ...
Der historische Hintergrund
Zu Beginn der 60-er Jahre lässt die DDR
durch den Bau der Mauer in Berlin sowie
durch eine sich deutlich verändernde Argumentation in Bezug auf die deutsche Nation
und die deutsche Nationalkultur das Ziel
eines wieder vereinten Deutschlands auch
nach außen sichtbar fallen. Von nun an geht
es für die DDR-Bürger vor allem darum, sich
innerhalb der „Geschlossenen Gesellschaft“
(Volker Braun) des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden einzurichten. Durch Partei und Staat argwöhnisch
beobachtet und teilweise rigide unterdrückt
werden jegliche „Einflüsse der kapitalistischen Unkultur und Unmoral“ (Erich
Honecker), die vor allem in der Jugendkultur, der Beatmusik, aber auch der Literatur,
der Malerei und dem Film vermutet werden.
Bezeichnend sind tendenziöse Schlagworte
wie bürgerliche Dekadenz, Sektierertum
oder Nihilismus. Die 11. Tagung des ZK der
SED im Dezember 1965 wird zum Tribunal
gegenüber unbequemen Künstlern und
Intellektuellen. Walter Ulbricht gibt als Orientierung aus: „Der Schriftsteller kann nur
vom Standpunkt der sozialistischen und wissenschaftlich-technischen Perspektive
Kunstwerte von nationaler Bedeutung schaffen. Nur die Meisterung der marxistischleninistischen Wissenschaft und die enge
Verbindung mit dem Leben des Volkes öffnen dem Schriftsteller den Weg zur Erkenntnis des Fortschrittlichen, das sich entwickelt, und zur künstlerischen Meisterschaft, die nur realistisch sein kann“. 4 Erich
Honecker fordert „in allen Bereichen der
Kunst den entschiedenen Kampf gegen das
Alte und Rückständige aus der kapitalistischen Vergangenheit“ 5. Filme wie „Spur der
Steine“ oder „Das Kaninchen bin ich“ werden verboten, Intellektuelle wie Robert
Da gibt der Film dem Kant von heute breiten
Raum zur rückschauenden Selbstauskunft,
zur Erklärung, zur Rechtfertigung auch,
ohne dass dem Betrachter die Wertung des
Gesagten abgenommen würde. Eine wesentliche Qualität dieses Films: Er hält Widersprüche aus.
Und da werden schließlich Zeitzeugen –
Weggefährten wie kritische Beobachter –
befragt, Dokumentaraufnahmen und Filmzitate montiert, Schauplätze ins Bild gesetzt.
Wortlose Kommentare liefert die Kamera:
Berliner Straßenszenen, die S-Bahnen und
Spreebrücken, der Abriss im Zentrum der
ehemaligen Hauptstadt der DDR, das leere
Emblem am Staatsratsgebäude; eine Uhr
zeigt 5 vor 12. Dass dies alles bei knapp 30
Minuten Filmlänge weder überladen noch
flüchtig wirkt, ist der sensiblen, ruhigen und
im Ergebnis offenen Grundanlage der Filmemacherin geschuldet, der man die Absicht
glaubt, sie selbst wolle verstehen, „warum
Kant so wurde, wie er ist“ (Filmzitat). Das
Besondere in diesem Leben wird gesucht,
die Leistung, aber auch die Tragik, die – mitunter nur im Blick oder Tonfall bei Kant sich
andeutend – sein Wirken exemplarisch
macht für ein Land, in dem sich Autoren als
„Dichter im Dienst“ verstanden und dessen
Führungselite von Beginn an als Devise ausgab, „Aufgabe der Künstler ist es, dem
Leben vorauszueilen und durch ihr Schaffen
Millionen Menschen für die großen Aufgaben
des Aufbaus des Sozialismus zu
begeistern“. 3
4
Havemann und Künstler wie Wolf Biermann
angeprangert und geächtet. Hofiert und
durch staatsnahe Autoren wie Gisela
Steineckert, Heinz Kahlau oder Peter Hacks
protegiert wird hingegen die FDJ-Singebewegung, die nach 1966 zu einer DDR-spezifischen Form junger, gesellschaftlich engagierter – und politisch zunehmend instrumentalisierter – Kunst geriet.
noch fast im Stillen – die kritische Rockgruppe „Renft“ verboten; mehrere Mitglieder, darunter der Leipziger Liedermacher
Gerulf Pannach, reisen nach Stasi-Haft in
den Westen aus. Spätestens die Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976
macht dann öffentlich klar, wie eng die Toleranzgrenzen der DDR-Führung gegenüber
kritischen Stimmen sind. Das passiert im
selben Jahr, in dem der IX. Parteitag der SED
unmissverständlich festlegt: „Die sozialistische Kultur und Kunst haben die Aufgabe,
die Entwicklung sozialistischer Persönlichkeiten und deren bewusste schöpferische
Tätigkeit zu fördern, zur Stärkung des sozialistischen Bewusstseins und zur Ausprägung
der sozialistischen Lebensweise beizutragen.“ 6 In der Folge werden zahlreiche
Schriftsteller, Künstler, Schauspieler, Musiker und Intellektuelle das Land in Richtung
Westen verlassen; ein nicht zu verkraftender
Aderlass an Ideen, Kreativität, Popularität.
Die Staatsmacht selbst aber zeigt sich ebenso unbeweglich wie unbeeindruckt: „Unsere
Partei bringt allen Bemühungen der Schriftsteller Verständnis und Aufmerksamkeit
entgegen, die unsere sozialistisch-realistische Literatur bereichern und ihre ideologische Wirkungskraft verstärken. ... Geistiges
Schöpfertum setzt in unserer Zeit voraus,
das Verständnis für die Erfordernisse des
Klassenkampfes zwischen Sozialismus und
Imperialismus ständig zu vertiefen und die
Beziehungen zum Leben des Volkes unablässig zu festigen.“ 7
Als Honecker 1971 die führenden Ämter in
Partei und Staat von Ulbricht übernimmt, ist
dieser Wechsel für nicht wenige Intellektuelle der DDR mit der Hoffnung auf größere
Toleranz, auf schöpferische Freiräume, auf
ein offeneres geistiges Klima verbunden. Die
„X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten“ 1973 in Ostberlin scheinen diese Tendenz zu bestätigen. Auch kritische Kunst
findet nun Öffentlichkeit: Ulrich Plenzdorfs
Stück „Die neuen Leiden des jungen W.“
erlebt 1972 nach erzwungenen Jahren in der
Schublade am Theater in Halle seine Uraufführung, Günter de Bruyns „Preisverleihung“ und Kants Roman „Das Impressum“
entlarven satirisch das Missverhältnis von
Schein und Sein im sozialistischen Alltag,
Franz Fühmanns Ungarn-Tagebuch „22 Tage
oder Die Hälfte des Lebens“ stellt sich der
deutschen Vergangenheit auf sensiblere
Weise als bisher üblich (was 1977 Christa
Wolf in „Kindheitsmuster“, aber auch auf
Hermann Kant mit „Der Aufenthalt“ fortführen werden), Erwin Strittmatter kann den
zweiten Teil seiner „Wundertäter“-Trilogie
veröffentlichen (der bald fertige dritte Teil
muss allerdings bis 1980 auf die Druckfreigabe warten), die bildende Kunst bereichert
den sozialistischen Realismus um neue Farben und Themen, und die Liedermacher und
Rockmusiker der DDR emanzipieren sich mit
selbstbewusst eigener Stimme. Doch die
Hoffnung hält nicht lange vor. 1975 wird –
„... der schlimmste Fehler seines Lebens“
Zum Kulminationspunkt für die klaffende
Schere zwischen Macht und Geist wird das –
auch in der filmischen Dokumentation ausführlich thematisierte – Jahr 1979 mit dem
Ausschlussverfahren des Schriftstellerver5
bandes der DDR gegen missliebige Kollegen,
darunter Stefan Heym, Erich Loest, Joachim
Seyppel, Rolf Schneider. Diese sollen
schlicht mundtot gemacht werden, auch
wenn die kriminalisierenden Vorwürfe auf
Devisenvergehen, Urheberrechtsverletzungen oder die verbotene Meinungsäußerung
mittels westlicher Massenmedien lauten.
Noch im Mai 1978 war Kant auf Grund einer
schweren Erkrankung von der Funktion des
Vizepräsidenten des Verbandes zurück
getreten; nun ist er selbst Verbandspräsident und schwingt sich – offenbar nicht
ungern oder gar gezwungen – zum „Chorführer“ und „Einüber des Ausschlusses“
(Werner Mittenzwei) auf. Die inzwischen veröffentlichten Protokolle 8 der damaligen Versammlung der Berliner Sektion des Schriftstellerverbandes sowie das faktenreiche,
wenngleich subjektiv eingefärbte Werk „Die
Intellektuellen“ 9 des ehemaligen DDR-Literaturwissenschaftlers und Akademiemitglieds
Werner Mittenzwei bieten ein ausgezeichnetes Kontextmaterial für diese filmische
Dokumentation, auch wenn dies hier aus
Platzgründen nicht ausführlich dargestellt
werden kann. Hermann Kant jedenfalls
gefällt sich sichtlich als wortgewandter Vollstrecker, der die bereits feststehenden
Beschlüsse des Gremiums durchaus elegant
und eloquent zu bemänteln sucht. Freunde
macht er sich damit auf keiner Seite; selbst
die Staatsmacht, der „Apparat“, bewertet
Kant als nicht zuverlässig genug, wie Mittenzwei zu berichten weiß 10. „Vielleicht den
schlimmsten Fehler seines Lebens“ nennt
der Filmkommentar die Rolle, die Kant beim
Rauswurf der neun Kollegen aus dem Verband spielt. Wie eine Farce klingt Honeckers
etwa zeitgleich abgegebene Versicherung:
„Im Kunstleben unserer sozialistischen
Gesellschaft hat jeder Schriftsteller Platz
und Raum, der mit seinem Werk dem Frie-
den, dem Humanismus, der Demokratie, der
antiimperialistischen Solidarität und dem
realen Sozialismus verpflichtet ist.“ 11 Und
Joachim Walther, seinerzeit unter den
immerhin rund 60 Gegenstimmen des Verfahrens, urteilt später: „Die Ausschlüsse, die
Ruhe schaffen sollten, erzeugten allerdings
ein Echo, das den errungenen Sieg der Kulturfunktionäre in einen weiteren ihrer Pyrrhussiege verwandelte.“ 12 Werner Mittenzwei
sieht in Kants Verhalten auf diesem Tribunal
sogar eine gewisse Tragik, da dieser wohl
erwartet habe, durch eine hartes, kompromissloses Durchgreifen einerseits dem Verband insgesamt und seinen treuen Schriftstellern Vorteile und Freiräume verschaffen
und zugleich mit sprachlichem Schliff sein
eigenes Gesicht wahren zu können, doch:
„Was sich Kant erhoffte, trat nicht ein.“ 13
Zwischen Konfrontation und Kompromiss
Zu einer direkten und aufschlussreichen
Auseinandersetzung kommt es während dieser Sitzung zwischen Stefan Heym (Jg. 1913),
Stephan Hermlin (Jg. 1915) und Hermann
Kant beim Thema persönliche Vergangenheit. Kant wirft zunächst Heym vor, sich in
Bezug auf seine Zeit in den USA (der Jude
Heym war nach der Machtergreifung Hitlers
in die USA emigriert und hatte in US-Uniform als Presseoffizier an der Befreiung
Deutschlands teilgenommen) widersprüchlich geäußert zu haben. Darauf reagiert
Heym so: „Wer in der falschen Uniform,
unter dem falschen Abzeichen, in ein
falsches Lager geriet, sollte lieber nicht
gegen jene zu Felde ziehen, die damals in
der richtigen Uniform, auf der richtigen
Seite, für die richtige Sache kämpften.“ Hermann Kant erwidert: „Ich muss mich eines
bestimmten Stücks meiner Vergangenheit
schämen. Für die vier Wochen, in denen ich
6
Soldat gewesen bin, muss ich mich schämen. Und ich kann dazu nur sagen, ich habe
es bei der Scham nicht gelassen.“ Hermlin,
um ausgleichende Sachlichkeit bemüht, gibt
zu bedenken: „Ich möchte meinen Freund
Heym daran erinnern, dass er und ich und
andere, die damals gegen Hitler standen,
täglich an Menschen wie meinen Freund
Hermann Kant dachten, wie wir sie retten,
wie wir sie auf unsere Seite bringen könnten ... Menschen wie Hermann Kant haben
uns nicht enttäuscht, sie haben unserem
Kampf überhaupt erst einen Sinn gegeben.“ 14
1977 war Kants dritter, viel beachteter
Roman „Der Aufenthalt“ erschienen, in dem
er – projiziert auf den Ich-Erzähler Mark Niebuhr – die Erfahrungen seiner vierjährigen
Kriegsgefangenschaft in Polen literarisiert.
Die differenzierte Figurenzeichnung des
Romans bricht mit manchen Klischees der
antifaschistischen Literatur früherer Jahre;
Werner Mittenzwei bescheinigt Kant, mit
diesem Buch habe „er sich den Respekt
auch seiner westlichen Kritiker“ 15 erworben.
In der Dokumentation bieten Ausschnitte
aus der erfolgreichen Verfilmung des
Romans (DEFA 1983) einen quasi biografischen Zugang zu einer Lebensprägung, die
manche spätere Entscheidung und Haltung
Kants verständlich werden lässt. „... da musste mir keiner irgendwas verordnen“, sagt
Kant selbst über diese wegweisende Erfahrung im Interview, und die subjektive Ehrlichkeit ist spürbar, wenn er über den Sozialismus made in GDR reflektiert, „es musste
versucht werden!“
Möglichkeiten des Einsatzes im Unterricht
Die Dokumentation kann thematisch in
unterschiedlichen Unterrichtszusammenhängen der Fächer Deutsch, Geschichte,
Politik/Gesellschaftskunde oder Ethik – vor
allem wohl in der gymnasialen Oberstufe –
eingesetzt werden. Da der Film Fragen und
Probleme aufwirft, ohne eindimensionale
Lösungen zu liefern, bietet es sich methodisch an, ihn in Einführungs-, Motivationsund Informationsphasen zu nutzen, die
Raum für individuelle Meinungsbildung und
Diskussion lassen.
Ansätze für den Unterricht können sein:
· Die Auseinandersetzung mit der grundsätzlichen Frage, ob und wie sich politisches Engagement und künstlerisches
Schaffen vereinbaren lassen. Dazu können
verschiedene Beispiele aus der Geschichte
und der Gegenwart recherchiert und verglichen werden, insbesondere auch jene
Fälle, in denen sich Künstler durch Diktaturen missbrauchen und instrumentalisieren ließen (stalinistische Heroisierung,
faschistische Ästhetik usw.). Was könnte
man unter einer „Verantwortung des
Künstlers in seiner Zeit“ verstehen?
· Die vertiefende Beschäftigung mit der
deutschen Nachkriegsgeschichte. Der Film
erwähnt oder verweist auf Ereignisse, Personen, Kunstwerke, die sich schwerlich aus
dem Film allein erschließen. Während oder
nach der Erstrezeption des Films sollten
die Schülerinnen und Schüler deshalb
einen Katalog der zu klärenden Punkte
aufstellen. Diese könnten dann arbeitsteilig abgearbeitet und im Unterricht vorgestellt werden. Geeignete Kontextmaterialien lassen sich dafür unschwer finden bzw.
bereitstellen. Mit den gewonnenen
7
· Der methodisch interessante Vergleich
von literarischem Text und seiner Verfilmung. Dazu bietet sich vor allem „Der Aufenthalt“ an; eventuell kann auch „Die
Aula“ (Vergleich Roman – Bühnenfassung)
genutzt werden.
Erkenntnissen kann eine vertiefende
Rezeption des Films erfolgen, wobei ggf.
nach der Erstrezeption abgegebene spontane Wertungen überprüft werden können.
· Der Zugang zur Literatur Hermann Kants
im Kontext deutschsprachiger Literatur in
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Kants literarische Bedeutung sollte an
Hand von Auszügen aus „Die Aula“ oder
„Der Aufenthalt“ sowie unter Berücksichtigung zeitgenössischer Rezensionen und
reflektierender Aussagen über die Texte
bzw. den Autor (Reich-Ranicki, Mittenzwei,
de Bruyn ...) thematisiert werden. Eventuell könnte auch eine der kürzeren Erzählungen aus den Bänden „Ein bisschen Südsee“ oder „Der dritte Nagel“ komplett
gelesen werden. Insbesondere die Analyse
der literarischen und stilistischen Mittel
(Erzählsituationen, Zeitkonstruktionen,
Satire, Ironie) ermöglicht Vergleiche mit
zeitnah entstandenen epischen Werken
der deutschsprachigen Literatur. Ein Lektüretipp, der in der Dokumentation unerwähnt blieb, der aber gerade heute im
schwierigen Prozess des zusammenwachsenden Europa interessant sein könnte:
„Die Summe“ (Berlin 1987).
· Die Rezeption der Dokumentation unter
formal-ästhetischen, mediengestalterischen und -erzieherischen Gesichtspunkten. Welche filmischen Mittel setzt Leonore
Brandt ein, wie kombiniert sie Bild und
Text, welche Ebenen werden montiert, was
zeigt uns die Kamera und aus welcher Perspektive? Welche möglichen Subtexte sind
dem Film eingeschrieben, welche Absicht
verfolgt die Filmemacherin, was erwartet
der Film vom Rezipienten?
Die Beschäftigung mit dem Autor, dem Funktionär, dem Menschen Hermann Kant im
Unterricht könnte eine Möglichkeit sein,
Marcel Reich-Ranickis Fazit am Ende der
Dokumentation zu entsprechen: „Eigentlich
war er nie langweilig, eigentlich hat er
immer Witz und Temperament gehabt, und
dafür sollten wir ihm heute danken!“
8
Herausgabe
FWU Institut für Film und Bild, 2003
Produktion
Studio DD im Auftrag des mdr, 2001
Archivmaterial
Progress Film Verleih: Der Aufenthalt, DEFA 1983 (Ausschnitte)
Henschel-Schauspiel-Theater Verlag = Die Aula (Ausschnitte aus Theateraufführung)
Die Wiedergabe der Lesung aus H. Kant: Ein bisschen
Südsee sowie die Abbildung der Kant’schen Buchausgaben erfolgte mit freundlicher Genehmigung der
Rütten & Loening Berlin GmbH, 2002
Ausschnitte aus Produktionen des DFF, lizensiert
durch Deutsches Rundfunkarchiv.
Buch und Regie
Leonore Brandt
Kamera
Till Ludwig
Begleitkarte
Paul Bartsch
Bildnachweis
Aufbau Verlag / Foto: Günter Prust, Berlin
Pädagogische Referentin im FWU
Annegert Böhm
Nur Bildstellen/Medienzentren: öV zulässig
© 2003
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Fußnoten
1
Günter de Bruyn: Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht,
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main
1998, S. 232.
2
Werner Mittenzwei: Die Intellektuellen. Literatur und
Politik in Ostdeutschland 1945 – 2000, Verlag Faber
& Faber, Leipzig 2001, S. 315.
3
Walter Ulbricht: Die gegenwärtige Lage und die
neuen Aufgaben der SED. Dietz Verlag, Berlin 1952,
S. 112.
4
Walter Ulbricht: Probleme des Perspektivplanes bis
1970. Referat auf der 11. Tagung des ZK der SED, 15.18.12.1965, Dietz Verlag Berlin, 1966, S. 109.
5
Erich Honecker: Bericht des Politbüros an die 11.
Tagung des ZK der SED, ebenda, S. 56.
6
Direktive des IX. Parteitages der SED zum Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft in der
DDR in den Jahren 1976 – 1980. Dietz Verlag, Berlin
1976, S. 112.
7
Erich Honecker: Aus dem Gruß des ZK der SED an
den Schriftstellerkongress. In: Neues Deutschland
vom 29.05.1978.
8
„So, los, abstimmen!“ DER SPIEGEL 51/1990, S. 108ff,
sowie: Joachim Walther: Das Tribunal. In: DER SPIEGEL 52/1990, S. 148ff.
9
Werner Mittenzwei: Die Intellektuellen. A.a.O.; hier
insbesondere das Kapitel „Zwei Taktiken auf einem
Tribunal“, S. 310ff.
10
Vgl. ebenda, S. 318.
11
Unerschütterliches Bündnis zwischen Partei und
Kulturschaffenden. Beratung Erich Honeckers mit
Kultur- und Kunstschaffenden der DDR am 22. Juni
1979, Berlin 1979, S. 52f.
12
Joachim Walther: Das Tribunal. In: DER SPIEGEL
52/1990, S.
13
Werner Mittenzwei, a.a.O., S. 317.
14
Alle Zitate aus: DER SPIEGEL 51/1990.
15
Werner Mittenzwei; a.a.O., S. 315.
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Der Schriftsteller Hermann Kant
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des DDR Schriftstellerverbandes und Autor eindringlicher Romane, die sich mit der Zeit des zweiten Weltkriegs und mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit in der
DDR auseinandersetzen, gibt hier Auskunft über sein
Selbstverständnis, seine Ideale, bzw. die Kompromisse,
die er damit geschlossen hat, sowie seine literarische
Tätigkeit. Ein Schwerpunkt des vorliegenden Videos
behandelt eines seiner am häufigsten gelesenen Werke,
den Roman „Der Aufenthalt“. Aus der bekannten Verfilmung dieses Werks sind umfangreiche Ausschnitte enthalten.
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