Predigt Jörg Frey zu Psalm 22,2
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Predigt Jörg Frey zu Psalm 22,2
Predigt im Hochschulforum-Gottesdienst am 25.9.2011 um 11 Uhr in der Predigerkirche Zürich Prediger: Prof. Dr. Jörg Frey Text: Psalm 22,2-23 Wir haben die Gesten der Klage gesehen, liebe Gemeinde, wir haben die Worte des Psalms vernommen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?...“ Bekannt sind uns diese Worte aus der Passionsgeschichte. Jesu letzte Worte am Kreuz. Aber sie weisen uns zurück in den Psalter, das Gebetbuch Israels, die Sprachschule des Glaubens. Und wenn wir in den Gottesdiensten in diesem Semester Formen des Gebets bedenken wollen, dann können wir uns von dieser Sprachschule anregen lassen: Der Psalter ist – wie Martin Luther einmal sagte - eine „kleine Biblia“. Er enthält das ganze Leben, alle Lebensäußerungen von der Geburt bis zum Tod, vom „Halleluja“ bis zum drängenden „Warum?!“ – und wieder zurück. I. Klagen – vielleicht haben wir ja gar keinen Grund dazu. Uns geht’s gut. Wir können nicht klagen. Wir leben in einer reichen Gesellschaft, haben ein Dach überm Kopf, gutes Essen, Kultur und Bildung, liebe Menschen… wenn es so ist: Gott sei Dank! Und wenn es heute so ist, umso besser! Doch vielleicht kennen Sie auch die anderen Situationen, die dunklen, die hoffnungslosen: Wenn der erhoffte Erfolg im Studium ausbleibt trotz aller Anstrengung, wenn mich Krankheit lähmt, wenn eine langjährige Beziehung zerbrochen ist und ich erst einmal ins Bodenlose falle – oder wenn mir ein geliebter Mensch genommen wird: die Grossmutter, die immer für mich Zeit hatte, der Vater, der immer Sicherheit ausstrahlte. Dann wird es dunkel, sehr dunkel. Not und Trauer verschließen den Mund, und ich verkrieche und verstecke mich. So verletzt, so kraftlos, so unattraktiv will ich mich auch anderen nicht zeigen. Wer weiss, was die dann denken…? Vielleicht spitzen sie den Mund und tuscheln: „Habs ja schon immer gesagt, die packts nicht…“ Man will ja auch kein Weichei sein und keine Heulsuse. Not, auch innere Not, Depression und Trauer verschließen das Herz und den Mund. Sie lassen mich allein sein, allein mit der Dunkelheit, allein mit der Angst. ist?“ „Hat das einen Sinn, dass ich hier im Unglück sitze?“ „Gott, bist du nicht ungerecht?“ Und weil das so ist, deswegen geschieht das Klagen bei uns eher im Verborgenen. Hinter den glänzenden Fassaden, hinter zugezogenen Gardinen, in der Psychiatrie und im Altenheim, bei Obdachlosen und verschämt Armen. Da wird geklagt, oder auch nur gejammert und geweint, vor sich hin, ohne eine Perspektive, ohne Erwartungen, ohne Aussicht auf Änderung. Kann man, darf man so reden? Viele haben das verneint: Das ist ‚unfromm‘ oder gar blasphemisch! „Gib dich zufrieden und sei stille!“ Schick dich und klage nicht. Und die Kirche? Auch in ihr wird wohl mehr gejammert als geklagt: ob zu Recht oder zu Unrecht, sei dahingestellt. Und wenn man klagt, dann gerne in der Öffentlichkeit über etwas, oder man klagt an: die Gesellschaft oder die Politik, die schuld sind an den Zuständen. Man klagt über bedrohliche Entwicklungen wie die Klimaveränderung oder Atomrisiken – und dass aus diesem Diskurs ein Anstoß wird zu überlegen, wie wird alle besser und nachhaltiger leben könnten, ist ja durchaus sinnvoll. Aber wagen wir es auch in solchen Fragen noch, Gott ins Spiel zu bringen? Wagen wir zu klagen, ihm das „Warum“ entgegenzuschleudern wie ein Hiob oder eben wie unser Psalmbeter: „Warum lässt Du diese Welt so laufen wie sie Und andere würden sagen: Lass bleiben. Das bringt nichts. Gott – wenn es ihn gibt – ist weit weg. Hilf dir selbst! Ob Gott dir helfen kann, ist unsicher! Die Sprachschule des Glaubens, der Psalter, lädt uns ein, es anders zu versuchen. Er lädt uns ein, die Vorhänge aufzuziehen, das Fenster zu öffnen – und den Mund. Er lädt uns ein, mitzusprechen, kühne Worte zumal. Und so wird aus dem Jammern ein Klagen, aus dem Selbstgespräch eine Anrede. Klage ist adressiert. Sie geht nicht irgendwohin, sondern an ein Gegenüber, ein Du. Gewiss, es ist ein Wagnis, so mit einem Gegenüber zu rechnen – doch nur wer dies wagt, wird damit seine Erfahrungen machen. Der Gott der Bibel präsentiert sich als ein solches Gegenüber, als ein Du – ganz anders als der Gott der Gott der Philosophen. Der „gestirnte Himmel über mir“ lässt sich nur ehrfürchtig betrachten; ein „höheres Wesen, das wir verehren“ lässt uns sprachlos bleiben; der biblische Gott redet uns Menschen an, von der ersten bis zur letzten Seite der Bibel: von dem Wort im Paradies: „Adam / Eva, wo bist du?“ bis zur Verheißung am Ende „Ich mache alles neu“? Der Gott der Bibel lädt zur Antwort ein, auch zur Widerrede. Er erträgt Beschwerden und wütende Beschimpfungen: „Warum? Wozu hast Du mich verlassen?“ „Warum hörst zu mir nicht zu?“ „Was soll es, dass Du schweigst und mir nicht antwortest.“ „Siehst du nicht, wie dreckig es mir geht…?“ „Jetzt mach endlich!!!“ – So können nur Kinder ihre Eltern bedrängen, und man kann es ihnen nicht übelnehmen. So will Gott bedacht werden – nicht nur mit dem Lob, auch mit der Klage und der Not unseres Herzens. II. Lassen wir uns also ein auf den Psalm und seinen Beter, irgendwo in Israel. Schlecht geht es ihm, und er findet drastische Bilder: „Ich bin ein Wurm und kein Mensch mehr.“ „Alle, die mich sehen, verziehen den Mund und schütteln den Kopf.“ Dem kann keiner mehr helfen, vielleicht noch Gott. Ist der Mensch krank? Ist er wirtschaftlich am Ende? Ist er gesellschaftlich isoliert? Fühlt er sich nur ausgestoßen? All das könnte sein. Und darum sind seine Worte und Bilder auch dafür offen, dass andere sich einfinden, und sie benutzen. Darum ist seine Klage zum Lied für viele andere Leidende geworden. Mit ergreifenden Bildern, die bis heute in ähnlicher Weise in Angstträumen vorkommen: Wilde Tiere umringen mich, bedrohen mich: Da ist keine Entkommen. Ich bin gefesselt an Händen und Füßen und kann mich nicht mehr bewegen. Ich kann alle meine Knochen zählen, bin ausgepowert bis zum letzten. Die Zunge klebt mir am Gaumen – das Reden fällt schwer, die Worte versiegen. Und dann, dann gibt es noch die, die sich an meinem Unglück weiden, die ihren Profit daraus ziehen und ihren Spass daran haben. Gott, warum siehst du da tatenlos zu? Die Bilder mögen wir nachvollziehen. Aber wagen wir es, dies alles so Gott entgegenzuhalten? Uns bei Gott zu beklagen? Wie kann der Beter das? Wie können wir es? Da mag es helfen zu sehen, dass dieser Psalm immer wieder oszilliert zwischen Klage und Vertrauen. Zwischen der schlimmen Situation und der Erinnerung daran, dass da einer ist, der schön öfter ‚da war‘. Ja, ganz dreist wird Gott bei seiner Verantwortung behaftet: „Du hast mich aus dem Mutterleib gezogen.“ Auf dich bin ich geworfen von Geburt an – jetzt fang mich auch auf! Auf dich, Gott, haben unsere Väter und Mütter vertraut – und haben ihre Erfahrungen gemacht. Ihnen hast du geholfen. Nun nimm deine Verantwortung wahr, hilf auch mir! Rette mich – vor den Hunden, vor dem Spott der Leute. Mach deinem Namen Ehre und tu, wofür du bekannt und berühmt bist. Und wenn du es tust – dann, ja dann will ich dich auch wieder loben und den Leuten sagen, dass du geholfen hast. Gewiss – aufgeschrieben und weitergegeben wurde der Psalm, weil Menschen offenbar Hilfe erfahren haben. Wie das geschah, wie sich ihre Not wendete, das wissen wir nicht. Aber so ist der Psalm selbst ein Zeugnis dessen, dass Gebete wohl nicht nur im Raum verhallt sind. Vielleicht ist es ja schon das Aussprechen und Hinausschreien der Not, das befreiend wirkt. Und wo das Fenster auf geht und Licht ins Dunkel kommt, wo die Trauer weicht und neuer Lebensmut einzieht, da hat der Beter dann auch Gründe zu sagen: Ja, du hast mich erhört. Du hast mich wieder ins Weite gestellt. Du hast mich aus dem Fast-tot-Sein wieder ins Leben gebracht, aus der Dunkelheit ins Licht. Eine Erfahrung, die weitergegeben und mit anderen geteilt werden will, die Vertrauen und neues Gebet ermöglicht. III. Wie können wir diesen Psalm beten? Wie können wir einstimmen in diese Klage und in den anschließenden Dank? Schauen wir dazu noch einmal auf den einen, in dessen Mund der Psalm uns dann auch begegnet: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ So betet es Jesus am Kreuz. Mehrfach begegnet dieser Psalm in der Passionsgeschichte: „Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los über mein Gewand.“ „Alle, die mich sehen, verspotten mich, verziehen den Mund und schütteln den Kopf.“ „Rette dich selbst – und steig herab vom Kreuz!“ Das ist die Szene: Der Leidende, zur Schau gestellt und zum Spott gemacht. Er steigt nicht herab vom Kreuz. Er klagt. „Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?“ Und stirbt. Und Gott schweigt. Wie jedes Leiden in der Welt ratlos und sprachlos macht, so macht dieses Leiden erst recht sprachlos: Der, der Gottes heilvolle Herrschaft verkündigte, stirbt schweigend. Verspottet von Menschen, verlassen von seinen Freunden, verlassen auch von Gott. Sollte man nicht sagen: „Lasst alle Hoffnung fahren“? Aber nun steht dieser Hoffnungslosigkeit im Tod und in der Einsamkeit das Psalmgebet Israels entgegen. Und nach dem Markusevangelium stirbt der leidende Gottesknecht nicht einfach schweigend, sondern mit dem Klagegebet auf den Lippen. „Mein Gott, Mein Gott, wozu hast Du mich verlassen?“ Und auch wenn dieser Satz im Evangelium keine unmittelbare Antwort erfährt, steht er doch im Rahmen des ganzen Psalms, seiner Vertrauensäußerungen und letztlich auch des Bekenntnisses, dass der Gott der Klagenden schon vielen Hilfe und Rettung zukommen ließ und „das Trauergewand in Freude“ gekehrt hat (Ps 42). Und diese Hoffnung berührt selbst die Todeszone: Dass Gott den, der mit ihm verbunden ist, „nicht dem Tode preisgeben“ (Ps 16) wird. Und selbst im Tod ist der Gott der Lebendigen „auch da“ (Ps 139). Kühn sind diese Vertrauensäußerungen, gewiss: „Was habe ich außer Dir, Gott?“ Mögen Leib und Leben vergehen: „Du hältst mich an deiner rechten Hand und nimmst mich am Ende in Ehren auf…“ Das ist die kühne Hoffnung der Beter Israels, die sich verbindet auch mit dem letzten Klageruf Jesu. Darum ist Gottes Ferne nicht das Letzte. Die Geschichte ist nicht zu Ende mit dem Klagewort. Von Ostern her rückt auch die Klage in ein neues Licht: Weil Gott den, der an ihm festhielt, nicht im Stich gelassen, sondern sich zu ihm gestellt hat, deshalb können auch wir in unserem Klagen und in unseren Nöten die Zusage fassen: Keine Tiefe ist zu tief, kein Dunkel zu dunkel, als dass nicht auch dort Gottes Hand da sein könnte – die dich hält und trägt und letztlich rettet. Selbst im Tod. Die Not, die Ratlosigkeit, das was uns oft verstummen lässt, ist damit nicht einfach aufgehoben. Aber die Botschaft gilt, dass wir auch in der Not und in der Tiefe nicht mehr verlassen sind. Denn Christus selbst hat den Ort der Verlassenen aufgesucht. Gott will nicht mehr ‚für sich‘ sind, sondern der ‚Gott mit uns.‘ Weil Gott selbst sich ‚bewegt‘ hat, sind auch wir nicht mehr fern, sondern umgriffen von seiner Hand. Der ‚Gott mit uns‘ ist auch in unseren Tiefen da, auch wenn wir gar nichts ‚spüren‘. Im leidenden Jesus tritt er uns an die Seite. Und durch den Auferstandenen stiftet er uns die Hoffnung ein, dass unsere Klage nicht ungehört verhallt. Darum brauchen wir nicht im selbstbezogenen Jammern zu bleiben, sondern können unsere Klagen und Bitten adressieren. Von Ostern her hat die Klage einen Sinn – und überhaupt das Gebet zu einem Du, zu dem Gott der Lebendigen, der uns angeredet hat - und auf Antwort wartet. Und auch diese Antwort wird uns zugesungen im Buch der Psalmen. Wir brauchen nur einzustimmen und uns tragen zu lassen von dem Klang, der aus der Tiefe erklingt und emporträgt, der in die Weite führt und in das Bekenntnis mündet: „Du hast mich erhört. In der Versammlung will ich dich loben.“ Amen.