Leseprobe - Verlag Karl Alber
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NPh25 (48683) / p. 1 / 16.7.2014 NEUE PHNOMENOLOGIE A NPh25 (48683) / p. 2 / 16.7.2014 In der gegenwärtigen Forschung zur Essstörung Anorexia nervosa dominieren human- und sozialwissenschaftliche Perspektiven, die sich auf körperliche und psychische Symptome konzentrieren. Mit Hilfe der Leibphänomenologie, die nach dem eigenleiblichen Erleben der Betroffenen fragt, eröffnet Marcinski eine neue Sicht auf die Anorexie. Anhand von Schilderungen Betroffener in autobiographischen Texten rekonstruiert die Autorin das Erleben der »Hungerkranken« und weist daran nach, dass das leibliche Spüren grundlegend für die Etablierung und Aufrechterhaltung der Symptomatik ist. Sie versteht die Anorexie als Versuch, durch kulturelle Techniken in das Erleben einzugreifen und es zu gestalten. Das führt zu der zentralen These, dass die Betroffenen mittels körperdisziplinierender Praktiken die Erfahrung von Hunger forcieren. In Hunger, Ekel, Schmerz und ständigem Frieren erfahren sie eine spürbare Selbstgewissheit. Mit dieser Umkehrung der Perspektive auf das Erleben stellt die Untersuchung die diagnostische Annahme einer Körperbildstörung in Frage. Die Anorexie ist gerade nicht, wie die bisherige Forschung annimmt, durch Vergeistigung und Entkörperung, sondern vielmehr durch eine besondere Intensität des leiblichen Spürens geprägt. Zur Autorin Isabella Marcinski hat in Berlin Philosophie und Gender Studies studiert und promoviert derzeit an der Freien Universität Berlin in Philosophie zum Thema Essstörungen. NPh25 (48683) / p. 3 / 16.7.2014 Isabella Marcinski Anorexie – Phänomenologische Betrachtung einer Essstörung NPh25 (48683) / p. 4 / 16.7.2014 Neue Phänomenologie Herausgegeben von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie Band 25 NPh25 (48683) / p. 5 / 16.7.2014 Isabella Marcinski Anorexie – Phänomenologische Betrachtung einer Essstörung Verlag Karl Alber Freiburg / München NPh25 (48683) / p. 6 / 16.7.2014 Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2014 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Herstellung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48683-2 NPh25 (48683) / p. 7 / 16.7.2014 Inhalt 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2. Anorexie im Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. Zur Geschichte der Anorexia nervosa . . . . . . . . . Die Diagnose und ihre Symptome . . . . . . . . . . . Hunger und seine Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . Erklärungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1. Psychotherapeutische und psychiatrische Ansätze 2.4.2. Soziokulturelle Ansätze . . . . . . . . . . . . . 15 18 22 26 28 32 3. Die Neue Leibphänonomenologie von Hermann Schmitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3.1. Das Phänomen des Leibes . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1. Die Räumlichkeit des Leibes . . . . . . . . . 3.1.2. Die Dynamik des Leibes . . . . . . . . . . . 3.1.3. Hunger und Ekel als leibliche Regungen . . . 3.1.4. Techniken der Leibbemeisterung . . . . . . . 3.2. Das leibliche Betroffensein . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Kritische Anmerkungen: Historische, soziokulturelle und biographische Kontexte der Leiberfahrung . . . . . . . . . 40 41 43 48 53 54 . 55 Phänomenologische Psychiatrie und Psychotherapie . 58 4.1. Phänomenologisch-anthropologisch orientierte Psychiatrie und ihre Deutung der Anorexie . . . . . . 4.1.1. Ludwig Binswanger und Ellen West . . . . . . 58 61 4. 7 NPh25 (48683) / p. 8 / 16.7.2014 Inhalt 4.2. Neue Phänomenologie: Krankheiten als Störungen in der Leiblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1. Die Anorexie . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2. Fettsucht oder Binge-Eating-Disorder . . . . 4.3. Thomas Fuchs und die Korporifizierung des Leibes in der Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4. Andrea Moldzio: Selbstverletzendes Verhalten aus leibphänomenologischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . 63 66 69 . 70 . 72 5. Autobiographische Texte als Phänomenbeschreibungen 75 6. Die Anorexie aus neuer leibphänomenologischer Sicht 82 6.1. Die weibliche Pubertät als leibliche Krise . . . . . . . 6.1.1. Ein »Entschluß, das Leben mit hungrigen Augen zu betrachten«? . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2. Ekel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3. Hunger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4. Die Knochen spüren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5. Frieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6. Der Bauch als Leibesinsel . . . . . . . . . . . . . . . 6.7. Einen Ausgleich suchen . . . . . . . . . . . . . . . . 6.8. Die Intensität leiblichen Spürens . . . . . . . . . . . 6.9. Hungerrausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.10. Spürbare Selbstgewissheit . . . . . . . . . . . . . . . 83 89 90 93 97 99 100 103 109 112 115 7. Resümee und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 8. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 8 NPh25 (48683) / p. 9 / 16.7.2014 1. Einleitung »Anorexia nervosa ist eine rätselhafte Krankheit, voll von Widersprüchen und Paradoxien.« 1 Die Anorexia Nervosa, auch als Magersucht bezeichnet, ist eine Essstörung, für die ein exzessives Fasten charakteristisch ist und die mit einem großen Gewichtsverlust einhergeht.2 Betroffen sind vor allem junge, weiße Frauen aus den oberen Schichten moderner westlicher Gesellschaften. Die epidemiologische Forschung geht davon aus, dass circa 90 % der Betroffenen Frauen sind. 3 In Deutschland seien zwischen 0,5 bis 3,7 % der weiblichen Bevölkerung anorektisch. Die Anorexia nervosa (griech./lat.: ›nervlich bedingte Appetitlosigkeit‹) erhielt ihren Namen Ende des 19. Jahrhunderts, als man davon ausging, bei den erkrankten Frauen liege ein nervös be1 Bruch 1986, S. 21. Durch jeden gebräuchlichen Begriff für das hier zu beschreibende Phänomen werden unterschiedliche körperliche und psychische Symptome betont, wie Stephanie Richter kritisch anmerkt. Der Oberbegriff ›Essstörung‹ konzentriert sich auf das Essverhalten, das als abweichend von der Norm gefasst wird. Die ›Anorexia nervosa‹ bezieht sich auf einen psychisch bedingten Appetitverlust und die ›Magersucht‹ auf die körperliche Gestalt der Betroffenen. Im deutschsprachigen Raum wird der Begriff Magersucht favorisiert. Vgl. Richter 2006, S. 26. In der vorliegenden Arbeit wird von ›Anorexie‹ die Rede sein, da der Begriff wissenschaftshistorisch am längsten zurückreicht. Der Zusatz ›nervosa‹ wird vermieden, da er Implikationen mit sich führt, die hinterfragt werden sollen. 3 Vgl. Kersting 2007, S. 178. Daher wird im Folgenden von Anorektikerinnen gesprochen. Die Forschung hat sich in den letzten Jahren auch zunehmend mit Essstörungen bei jungen Männern beschäftigt. Vgl. Kersting 2007, S. 180 ff.; Richter 2006, S. 44 und 433. 2 9 NPh25 (48683) / p. 10 / 16.7.2014 Einleitung dingter Appetitverlust vor. Die Psychoanalytikerin Hilde Bruch nahm in den 1960er und 1970er Jahren sogar an, die Betroffenen seien gar nicht fähig, Hunger wahrzunehmen. 4 Die vorliegende Arbeit wird die Anorexie hingegen als eine »Hungerkrankheit«5 beschreiben, bei der das Spüren von Hunger grundlegend ist. Meine zentrale These ist, dass die Betroffenen mittels körperdisziplinierender Praktiken die Erfahrung von Hunger forcieren. Im Hunger, so die These weiter, spüren sie sich selbst ganz unmittelbar und erleben so eine grundlegende Selbstgewissheit. Damit wird das Hungern zum Medium eines Selbstbezugs. Aus philosophischer Perspektive stellt die Leibphänomenologie von Hermann Schmitz ein Begriffsystem bereit, mit dem sich diese charakteristischen Erfahrungen von Hunger und die weiteren, mit der Selbstaushungerung einhergehenden, Veränderungen des leiblichen Erlebens beschreiben lassen. 6 In der gegenwärtigen Forschung zur Anorexie, und generell zu Essstörungen, dominieren human- und sozialwissenschaftliche Per4 Vgl. Bruch 1986. Fechner 2007, S. 57. Mit diesem Begriff bezeichnet Annika Fechner die Anorexie in dem autobiographischen Bericht über ihre Krankheit. Während Appetit im täglichen Sprachgebrauch als psychisches Verlangen nach Essen gilt, wird Hunger als körperliche Empfindung verstanden, die Menschen veranlasst, Nahrung aufzunehmen. Ich werde mich in dieser Arbeit auf die spürbaren Dimensionen des Hungers konzentrieren. 6 Die Arbeit stellt eine Erweiterung und Konkretisierung der Überlegungen in Marcinski 2010 dar, bei denen vor allem Helmuth Plessners philosophische Anthropologie im Zentrum stand. Hermann Schmitz wurde bisher allein im deutschsprachigen Raum in der Psychiatrie und Psychotherapie rezipiert und auch hier nur vereinzelt. Die erste englische Übersetzung eines kurzen Textes von Schmitz erschien erst 2011. Vgl. Schmitz / Müllan / Slaby 2011. In den englischsprachigen Ansätzen einer phänomenologischen Psychiatrie greifen die Autoren und Autorinnen vor allem auf Heidegger, Husserl, Merleau-Ponty und Sartre zurück. Der Fokus der Untersuchungen, sowohl im deutschsprachigen als auch im englischsprachigen Raum, liegt bisher auf der Schizophrenie und Depression. Vgl. beispielsweise: Fuchs 2000; Paskaleva 2011; Ratcliffe 2008; Slaby / Stephan 2012. Hannah Bowden hingegen beschreibt, ähnlich der vorliegenden Arbeit, das in Erfahrungsberichten artikulierte subjektive Erleben von Anorektikerinnen aus phänomenologischer Perspektive. Sie bezieht sich in ihren Überlegungen jedoch auf die Theorien von Maurice Merleau-Ponty und Jean-Paul Sartre. Vgl. Bowden 2012. 5 10 NPh25 (48683) / p. 11 / 16.7.2014 Einleitung spektiven. Speziell im psychiatrischen und psychotherapeutischen Diskurs besteht eine »symptom- und defizitorientierte Betrachtungsweise«, die sich auf die körperliche und psychische Symptomatik konzentriert. 7 Mit der Leibphänomenologie von Hermann Schmitz kann hingegen nach der subjektiven, unmittelbaren leiblichen Erfahrung von Betroffenen gefragt werden, die ein Forschungsdesiderat bildet. 8 Sie kann Dimensionen des Phänomens eröffnen, die in der bisherigen Forschung nicht erfasst werden (können) und durch die psychiatrische Definition als Krankheit verdeckt werden. 9 Indem die Leibphänomenologie das leibliche Spüren in den Fokus rückt, eröffnet sie eine alternative Sicht auf die Anorexie. Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung sind autobiographische Texte von (ehemaligen) Anorektikerinnen, die eine Annäherung an das leibliche Erleben in der Anorexie ermöglichen. Die dort artikulierten Erfahrungen bieten einen Zugang zum subjektiven Erleben der Betroffenen. Da mittlerweile eine unüberschaubare Zahl publizierter Erfahrungsberichte existiert, wird eine Auswahl als empirisches Material zur Phänomenbeschreibung herangezogen. 10 Eingeleitet wird die vorliegende Arbeit mit einer Übersicht der human- und sozialwissenschaftlichen Diskurse zur Anorexie, von de7 Richter 2006, S. 17. Vgl. auch Fuchs 2010, S. 239. Vgl. Dias 2002, S. 39; Richter, S. 18 und 23. Unter der subjektiven Erfahrung verstehen Dias und Richter allerdings eigene Erklärungsansätze und Umgangsweisen der Betroffenen mit der Anorexie. 9 Damit soll nicht in Frage gestellt werden, dass die Betroffenen selbstzerstörerisch handeln und darunter auch leiden. 10 Schmitz wertet für seine Phänomenbeschreibungen ebenfalls immer wieder die belletristische und psychiatrische Literatur aus, um möglichst viele unterschiedliche Quellen zu konsultieren. Vgl. Schmitz 1992, S. 29 und 32; Schmitz 1999, S. 300; Schmitz 2002, S. 20 f. und 36 f. Texte aus Pro-Ana-Foren im Internet wurden nicht einbezogen, da dies den Rahmen der Arbeit gesprengt hätte. Die Pro-Ana-Foren entstanden Mitte der 1990er Jahren zunächst in den USA. Betroffene haben hier die Möglichkeit sich im Internet auszutauschen und zu vernetzen. Kennzeichnend für die Foren ist, dass die Anorexie nicht als Krankheit, sondern als Lebensstil verstanden wird. Vgl. zu den Foren: Dias 2002; Boero / Pascoe 2012. 8 11 NPh25 (48683) / p. 12 / 16.7.2014 Einleitung nen sich die leibphänomenologische Betrachtung absetzen wird. Innerhalb dieser Diskurse werden physiologische, psychologische und soziokulturelle Modelle mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen entworfen. Es finden sich darin auch Beschreibungen, die in der leibphänomenologischen Analyse zentral sein werden. Dazu gehören ein mit dem Hunger einhergehendes, besonders intensives leibliches und sinnliches Erleben, sowie rauschhafte Zustände. Ebenfalls grundlegend für die Argumentation dieser Arbeit wird die in den soziokulturellen Ansätzen betonte Bedeutung körperdisziplinierender Praktiken für die Anorexie sein. Im zweiten Teil werden die für die vorliegende Arbeit zentralen Aspekte der Leibphänomenologie von Hermann Schmitz dargestellt. Als leiblich charakterisiert Schmitz all dasjenige, was unabhängig von den fünf Sinnen, vor allem dem Seh- und Tastsinn, in der Gegend des eigenen Körpers gespürt wird. Das leiblich Gespürte konstituiere einen eigenen Phänomenbereich, für dessen Beschreibung Schmitz ein ausgesprochen systematisches und differenziertes Begriffssystem entwickelt hat. Neben ganz trivialen Erfahrungen, wie beispielsweise dem Ein- und Ausatmen, befasst er sich auch mit Hunger, Schmerz und Ekel und beschreibt, wie sie leiblich erlebt werden. Der dritte Abschnitt wird auf Perspektiven einer phänomenologischen Psychiatrie und Psychotherapie eingehen, in deren Kontext die vorliegende Arbeit positioniert ist. Hermann Schmitz’ Verständnis von psychischen Krankheiten und speziell der Anorexie werden dabei im Zentrum stehen. Er fragt hinsichtlich psychischer Krankheiten nach pathologischen Veränderungen in der Leiblichkeit, also nach spezifischen in der Leiblichkeit verorteten Krankheitsgründen und Symptomen. 11 Die Anorexie dient ihm als ein paradigmatisches Beispiel dieser so genannten Störungen in der Leiblichkeit. Nach einigen grundsätzlichen Bemerkungen zu den autobiographischen Texten unternimmt die Arbeit schließlich im letzten und 11 Im Folgenden wird von leiblicher Symptomatik in Anlehnung an Schmitz’ Terminologie die Rede sein, da diese Formulierung impliziert, dass die leibliche Perspektive die körperliche und psychische erweitern kann. Vgl. Schmitz 1965, S. 259. 12 NPh25 (48683) / p. 13 / 16.7.2014 Einleitung zentralen Teil eine leibphänomenologische Rekonstruktion des eigenleiblichen Erlebens in der Anorexie anhand der Erfahrungsberichte (ehemals) Betroffener. 12 Dabei werden die Schmitzschen leibphänomenologischen Begrifflichkeiten angewendet und gemeinsam mit seinen Überlegungen zur Anorexie kritisch überprüft. Autobiographische Beschreibungen der Anorexie sind geprägt durch wissenschaftliche Diskurse und kulturelle Vorannahmen über Essstörungen. Die vorliegende leibphänomenologische Analyse wird versuchen, sich dem unmittelbaren anorektischen Erleben anzunähern, noch bevor diese Diskurse und Vorannahmen einsetzen. Dabei wird es nicht um individuelle Erfahrungen gehen, sondern um strukturelle Gemeinsamkeiten, die die leibliche Erfahrung in der Anorexie kennzeichnen. Die Anorexie kann als eine kulturell spezifische Leiberfahrung beschrieben werden, die zurückzuführen ist auf die von jungen Frauen in westlichen Gesellschaften geforderten disziplinären Körperpraktiken, zu denen ganz wesentlich ein restriktives Essverhalten 12 Die von mir gelesenen sehr unterschiedlichen Texte wurden von europäischen und US-amerikanischen Autorinnen ab den 1980er Jahren verfasst: Claire Beeken. Mein Körper, mein Feind (1998); Grace Bowman. Thin. A memoir of anorexia and recovery (2007); Portia de Rossi. Das schwere Los der Leichtigkeit (2011); Maria Erlenberger. Der Hunger nach Wahnsinn (1980); Annika Fechner. Hungrige Zeiten (2007); Andrea Graf. Die Suppenkasperin (1985); Stephanie Grant. Der heilige Hunger (1998); Marya Hornbacher. Alice im Hungerland (2010); Lena S. Auf Stelzen gehen (2006); Sheila MacLeod. Hungern, meine einzige Waffe (1983); Karen Margolis. Die Knochen zeigen (1985); Jenefer Shute. Schwerelos (1994); Valérie Valère. Das Haus der verrückten Kinder (1989). Die weiße Südafrikanerin Jenefer Shute bildet eine geographische Ausnahme, obwohl Südafrika sich bezüglich der Verbreitung von Essstörungen unter der weißen Bevölkerung mit westlichen Ländern vergleichen lässt. In der Literaturrecherche wurden keine autobiographischen Berichte zur Anorexie aus einem nicht-westlichen Land gefunden. Es finden sich jedoch (autobiographische) Romane, in denen die Anorexie einer jungen Frau als wesentliches Moment der Erzählung fungiert. Die Protagonistinnen, die durch eine Nahrungsverweigerung charakterisiert werden, stehen zumeist im Zwiespalt von traditionellen und modernen Werten der Gesellschaft. Als Beispiele wären ›Der Preis der Freiheit‹ (1996) der zimbabweschen Autorin Tsitsi Dangarembga und ›Juletane‹ (1987) von Myriam Warner-Vieyra aus Guadeloupe zu nennen. 13 NPh25 (48683) / p. 14 / 16.7.2014 Einleitung und Sport gehören. Damit stellt die vorliegende Arbeit auch einen Beitrag zur feministischen Phänomenologie dar. Schmitz’ Überlegungen aufgreifend und erweiternd wird die Anorexie als Versuch verstanden, durch kulturelle Techniken in das leibliche Erleben einzugreifen und es zu modulieren. Dabei wird sich zeigen, wie grundlegend das leibliche Erleben für die Etablierung und Aufrechterhaltung der Symptomatik ist. Darüber hinaus wird die Bedeutung der Dimension des Leiblichen für eine Beschreibung psychischer Krankheiten und schließlich für einen grundlegenden Selbstbezug herausgestellt. Die vorliegende Arbeit ist damit als eine Ergänzung der psychiatrischen und psychotherapeutischen Perspektiven zu betrachten. Die Phänomenologie kann und will keine Erklärungen liefern, sondern allein eine Beschreibung des leiblichen Erlebens in der Krankheit. 14 NPh25 (48683) / p. 15 / 16.7.2014 2. Anorexie im Diskurs Für die Konstitution der Anorexia nervosa als psychische Krankheit sind die Entwicklungen der Psychiatrie und Psychotherapie, gesellschaftliche Veränderungen sowie die sie betreffenden human- und sozialwissenschaftlichen Diskurse grundlegend. Diese Diskurse haben eine immense mediale und gesellschaftliche Verbreitung gefunden und strukturieren das in den autobiographischen Berichten geschilderte Erleben. Davon abgesehen, finden sich in den wissenschaftlichen Deutungen auch Überlegungen, die für die leibphänomenologische Beschreibung der Anorexie zentral sein werden. Da weder ein Konsens noch ein volles Verständnis der Mechanismen und Ursachen der Anorexie existiert, wird sie als Syndrom verstanden. 1 Im Folgenden werden die wesentlichen wissenschaftlichen Deutungen dieses Syndroms skizziert. 2.1. Zur Geschichte der Anorexia nervosa Die »freiwillige Selbstaushungerung« 2 wird historisch schon vor der Etablierung des Krankheitsbildes der Anorexia nervosa als Phänomen beschrieben, so beispielsweise bei Mystikerinnen, Wundermädchen und Hungerkünstlern. Dem Fasten kamen soziokulturell 1 Der Pschyrembel definiert ein Syndrom als »Gruppe von Krankheitszeichen, die für ein bestimmtes Krankheitsbild mit meist uneinheitlicher oder unbekannter Ätiologie bzw. Pathogenese charakteristisch sind«. Pschyrembel 1994, S. 1495. 2 Hornbacher 2010, S. 10. Dies ist eine Charakterisierung der Anorexie in dem Erlebnisbericht von Marya Hornbacher. 15 NPh25 (48683) / p. 16 / 16.7.2014 Anorexie im Diskurs sehr unterschiedliche Bedeutungen zu, bis die Medizin es schließlich zum Krankheitssymptom erklärte. 3 Die Anorexie wurde 1873/74 von den Ärzten Charles Lasègue und William Gull ungefähr gleichzeitig und unabhängig voneinander als klinische Entität begründet. Der französischen Arzt Lasègue beschrieb sie 1873 anhand mehrerer Fallberichte als ›Anorexia hysterique‹. Lasègue verstand die Anorexie als eine Variante der Hysterie, die sich in Form von Verdauungsstörungen bei jungen Frauen manifestiere. Der Brite Gull bestritt dagegen den Zusammenhang mit hysterischen Erkrankungen und führte 1874 zum Zwecke der Abgrenzung den Begriff ›Anorexia nervosa‹ ein, der sich durchsetzte. 4 Mit der Bezeichnung ›Anorexia nervosa‹ ging die Annahme einher, das zentrale Symptom sei ein Appetitverlust. Der psychoanalytisch orientierte Medizinhistoriker Tilman Habermas kritisiert, die Ärzte hätten sich von den Rechtfertigungen der Patientinnen täuschen lassen: »Es ist eben nicht Appetitlosigkeit, welche die Magersucht ausmacht: Die Bezeichnung ›Anorexia‹ ist falsch!« 5 Schließlich habe die Psychiatrie jedoch die ›wahren‹ Symptome 3 Vandereycken / Deth / Meermann beschreiben eine Geschichte der ›Selbstaushungerung‹, an deren vorläufigem Ende die heutige Anorexie steht. Die religiöse Fastenaskese verschwand langsam zugunsten der Wundermädchen und Hungerkünstler. Die Wundermädchen brauchten aus unerklärlichen Gründen, die als Wunder Gottes angesehen wurden, nicht mehr zu essen. Die Hungerkünstler dagegen unterzogen sich dem Experiment, wie lange es ihnen möglich war, zu hungern und inszenierten dies zu kommerziellen Zwecken. Auffällig ist, dass die Hungerkunst vor allem von Männern betrieben wurde und ihr Hungern als besondere Leistung aufgrund der Selbstkontrolle angesehen wurde. Dagegen wurde weibliches Hungern als Wunder oder als Krankheit betrachtet. Vgl. Vandereycken / Deth / Meermann 2003, S. 51 f., 71 f., 105 und 269 f. Außerdem Brumberg 1994, S. 9–12; Diezemann 2006, S. 70 und 158; Habermas 1990, S. 72. 4 Vgl. Brumberg 1994, S. 114 f. und 120–124; Diezemann 2006, S. 61; Habermas 1994, S. 64 ff.; Laségue 1997; Richter 2006, S. 27. Essstörungen waren zuvor schon an hysterischen Patientinnen beschrieben worden und Teil der hysterischen Symptomatik. Vgl. Brumberg 1994, S. 122; Habermas 1990, S. 25; Vandereycken / Deth / Meermann 2003, S. 163. 5 Habermas 1994, S. 18 (Herv. i. O.). Zur Anorexia nervosa als einer Fehlbezeichnung vgl. auch Habermas 1994, S. 65, Selvini Palazzoli 1989, S. 37 f. und 40 f.; Thomä 1961, S. 29; Vandereycken / Deth / Meermann 2003, S. 13 und 228. 16 NPh25 (48683) / p. 17 / 16.7.2014 Zur Geschichte der Anorexia nervosa der Selbstaushungerung aufgedeckt, zu denen das Streben nach Schlankheit, die Angst vor dem Dicksein und eine Körperschemastörung gehöre. 6 Gegenwärtig wird im deutschsprachigen Raum der Begriff ›Magersucht‹ favorisiert, da er diese zentralen diagnostischen Merkmale am besten zum Ausdruck bringe. 7 Kulturwissenschaftlich orientierte Medizinhistoriker und Medizinhistorikerinnen betonen hingegen, dass die Bezeichnung ›Anorexia nervosa‹ einst durchaus ihre Berechtigung hatte. Nicht nur die Selbstaushungerung habe eine Geschichte, auch die Psychopathologie der Anorexie unterliege einem Wandel. Die jeweilige Symptomatik der »selbsterzwungenen Auszehrung« 8 habe sich verändert. Die Anorektikerinnen, die Lasègue und Gull beschrieben haben und die sie zu der Bezeichnung ›Anorexia nervosa‹ beziehungsweise ›Anorexia hysterique‹ veranlassten, klagten über Appetitverlust sowie Ekel und Schmerzen bei der Nahrungsaufnahme. Es waren als nervös bedingt verstandene körperliche Beschwerden, die sie als Gründe für ihre Nahrungsenthaltung angaben und die die Voraussetzung dafür bildeten, dass die Ärzte die Anorexie als Krankheit wahrnahmen und anerkannten. Befürchtungen bezüglich Figur und Gewicht seien erst für die heutige Anorexie charakteristische Gründe und Symptome der Nahrungsenthaltung. 9 6 Habermas geht davon aus, dass diese Symptome die Anorexie immer schon konstituiert haben, unabhängig von der psychiatrischen Beschreibung. Vgl. Habermas 1994, S. 36, 110 und 151. Außerdem Vandereycken / Deth / Meermann 2003, S. 301. Kritisch dazu: Brumberg 1994, S. 200; Shorter 1999, S. 378; Watters 2011, S. 60. Shorter schreibt zu dieser Entwicklung: »Was als Selbstaushungerung begann, ist demnach zur ›Körperschemastörung‹ geworden.« Shorter 1999, S. 284. 7 Der Begriff ›Magersucht‹ wurde 1927 in Abgrenzung zur ›Fettsucht‹ von Wilhelm Falta geprägt und sollte eine Abmagerung bezeichnen, deren Ursache unklar war. Vgl. Habermas 1990, S. 129, 146 und 227; Richter 2006, S. 26. Der Begriff Magersucht wird heute auch bevorzugt, da er sich besser eigne, um den diskutierten Suchtcharakter der Anorexie hervorzuheben. Vgl. Fichter 1985, S. 7 f. Kritisch dazu: Richter 2006, S. 33. 8 Margolis 1985, S. 8. So bezeichnet Margolis die Anorexie in ihrem Erfahrungsbericht. 9 Vgl. zum Wandel der Psychopathologie: Brumberg 1992; Brumberg 1994; Diezemann 2006, S. 22 f. und 66 f.; Gordon 1990, S. 66 ff.; Russell 1995, S. 7 ff.; Shorter 1999, S. 249 ff., 270 und 292. 17