Prolog entfernt

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Prolog entfernt
Haithabu, 822 n. Chr.
Eirik Karrsson erwachte mit dem Gesicht im Dreck. Schlamm füllte
seinen Mund und knirschte ihm zwischen den Zähnen. Er würgte und
spuckte Erde und Galle. Ein stechender Schmerz fraß sich durch seine
Schulter, seine Brust, seinen Kopf, machte ihn schwach und zu einer leichten Beute.
Wolfsfutter.
Jemand wimmerte. Ein Mitleid erregender, klagender Laut wie der eines
Weibes, der zu einem Schluchzen und Stöhnen anschwoll. Erbärmlich.
Eirik presste die Lippen aufeinander und das Geräusch verstummte.
Dafür hörte er jetzt etwas anderes. Ein Rascheln, Stimmen, nicht weit
von ihm entfernt. Sie waren gekommen, um ihn zu suchen. Die Feiglinge
wollten sich nicht darauf verlassen, dass er ertrunken war.
Er stemmte sich hoch und sah sich um. Der Schmerz war nun das
Geringste, wenn sie ihn bloß nicht erwischten. Die Strömung hatte ihn ans
Schleiufer getrieben, wo er im dichten Schilf hängengeblieben war. Es
dämmerte bereits. Nicht mehr lange, und sein Körper würde vollends mit
den Schatten verschmelzen. Eirik drückte sich auf den Boden und rührte
sich nicht. Sie kamen näher. Das Rascheln von trockenem Schilf wechselte
sich mit dem Geräusch knirschenden Kieses ab. Zwei Männer, zwei wohlvertraute Stimmen. Ein galliger Geschmack stieg seinen Hals hinauf,
brannte auf seiner Zunge. Er schlucke ihn hinunter und hielt den Atem an.
„Lass uns umkehren. Es wird schon dunkel.“
„Hast du Angst vor der Dunkelheit?“ Ein kehliges Lachen.
„Nein, aber in der Nacht sieht man kaum die Hand vor Augen.“ Der
Sprecher stockte, sprach dann leiser weiter. „Und es ist Fenrirs liebste
Stunde.“
„Fenrir hat es nicht auf uns abgesehen, sondern auf ihn.“
„Was kümmert es uns dann, ob er tot ist oder lebendig? Soll der vargr
den Rest erledigen.“
Unwillkürlich wanderte Eiriks Hand zu seinem Gürtel, tastete nach dem
prallen Lederbeutel. Wenigstens sein Silber war ihm geblieben. Das würden sie nicht bekommen, ebenso wenig, wie sein Leben.
Jemand stocherte im Schilf herum. Ganz nah. Eirik zitterte. Er ballte die
Fäuste vor seinem Leib. Augenblicklich erwachte der Schmerz in seiner
Schulter zu neuem Leben. Ein Stecken fuhr neben ihm in den Schlamm.
Wasser spritzte in sein Gesicht. Eirik spannte sich an, machte sich bereit,
um aufzufahren und mit bloßen Händen anzugreifen. Besser, im Kampf zu
sterben, als aufgespießt wie ein Stück Dörrfisch. Aber die Götter schienen
ihn noch nicht verlassen zu haben, denn der erwartete Stoß blieb aus.
„Du hast recht, bei Nacht ist es zwecklos. Wir gehen, bevor die anderen
Verdacht schöpfen.“
Die Schritte entfernten sich, verstummten schließlich ganz. Eirik blieb
allein mit der Dunkelheit und dem Schmerz. Die Kälte kroch durch seine
durchnässte Kleidung in seine Haut, stieß ihre Klauen in seine Knochen. Er
musste aus dem Wasser, und zwar schnell. Dennoch gab er seine
Deckung nur ungern auf.
Sie kommen nicht wieder, sagte er sich, aber Fenrir holt dich und
schleift dich hinab in die Tiefen Utgards, wenn du hier liegenbleibst. Wage
es nicht, zu sterben!
Der Gedanken an das Biest war es, der ihm die Kraft verlieh, zum Ufer
zu kriechen, wobei er in dem trockenen Schilf einen solchen Lärm veranstaltete, dass alle Götter in Asgard es hören mussten.
Er taumelte über den Kiesstrand und fühlte sich dabei nackt und schutzlos, bis er im Gestrüpp des Waldes Deckung fand.
Hinter seinen Augen tanzten bunte Lichter, nahmen ihm die Sicht, narrten ihn. Er musste schlafen ...
Eirik stolperte, fiel auf feuchtes Laub und schloss die Augen. Keine
Schmerzen mehr, keine Kälte. Nur Dunkelheit und süßes Vergessen.
Aber in der Dunkelheit lauerte er. Fast konnte Eirik seinen fauligen Atem
riechen, seine Zähne blitzen sehen, das dumpfe Grollen aus seiner Kehle
hören.
Er schlug die Augen auf. Nein. Fenrir sollte ihn nicht bekommen. Nicht,
solange sie in den Händen der Verräter war. Nicht, solange er sich nicht
gerächt hatte. Er zog sich einhändig an einer jungen Birke empor, presste
seinen nutzlosen rechten Arm dicht an den Körper. In der Ferne sah er das
Danewerk und die Herdfeuer der Siedlung, Haithabu. Sie versprachen ein
warmes Lager, eine Mahlzeit, ein starkes Bier, um ihm den Schmerz zu
nehmen – und den sicheren Tod.
Nein, dorthin konnte er nicht zurückkehren. Noch nicht.
Er brauchte ein Versteck. Schutz, um sich auszuruhen. Eirik wanderte
umher, musste immer wieder innehalten und Kräfte sammeln. Seine Augen
brannten. Er hatte Fieber.
Schließlich fand er, was er gesucht hatte: Ein umgestürzter hohler
Baumstamm bot ihm Deckung vor Witterung und Feinden. Er legte sich
darunter und zwängte sich so tief wie möglich hinein. Nachlässig häufte er
Laub über seinen unterkühlten Leib und stöhnte vor Schmerz und Erleichterung, als es geschafft war.
Er machte die Augen zu und wartete auf den Schlaf. Wie eine Geliebte
legte sich das Fieber über seine Sinne, umgarnte ihn und zog ihn in die
Tiefe.
Er sah Svana, das Miststück, ihr Lächeln, als sie sich über ihn beugte
und ihre Lippen auf seine presste. Sie schmeckten nach süßem Honigwein.
Ihr Atem strich über sein Gesicht, ihre Finger über seine Wange. So verlockend. So zerstörerisch.
Das Gesicht der Schönen veränderte sich, schwarzes Haar spross aus
milchweißer Haut, die Zähne verwandelten sich in gefletschte Fänge, die
Hände in messerscharfe Klauen ...
Er schrie, wand sich, versuchte, dem fauligen Atem der Bestie zu entkommen. Vergebens.
Eirik tauchte aus dem fiebrigen Sumpf auf und blickte in einen mit Sternen übersäten Himmel. Sein Verstand war ebenso klar und kühl wie die
Luft, und ein Gedanke überfiel ihn mit einer Deutlichkeit, die ihn bis ins
Mark erschütterte. Fenrir hatte ihn erwischt. Heute Nacht würde er sterben.