polizei- und ordnungsrecht - Juristisches Repetitorium Hemmer

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polizei- und ordnungsrecht - Juristisches Repetitorium Hemmer
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POLIZEI- UND ORDNUNGSRECHT
Polizei- und Ordnungsrecht
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§ 1 INSTRUMENTE DER GEFAHRENABWEHR63
Die Ordnungsverwaltung handelt zur Erfüllung ihrer Aufgaben in
der Regel (und damit auch als Hauptanwendungsfall in einer Klausur) durch Ordnungsverfügung und damit in Form eines Verwaltungsaktes i.S.d. § 35 VwVfG, § 106 I LVwG.
Realakt =
regelungsloses Verwaltungshandeln
(P) Realakt oder
konkludente Duldungsverfügung?
Vielfach ergreifen die zuständigen Behörden aber auch mit eigenen
Mitteln unmittelbar Maßnahmen gegen die Gefahrenlage. Diese
sog. Verwaltungsrealakte sind auf die Herbeiführung eines tatsächlichen Erfolges gerichtet. Im Gegensatz zu einem Verwaltungsakt fehlt es ihnen am Merkmal der „Regelung“.64
Teilweise wird versucht, polizeiliches Realhandeln (z.B. Schlag
mit Polizeiknüppel) als konkludente Duldungsverfügung und
damit als Verwaltungsakt zu qualifizieren, um den Rechtsschutz
durch die Anfechtungs- und Fortsetzungsfeststellungsklage zu gewährleisten.
Da die Rechtsschutzmöglichkeiten jedoch nicht das Vorliegen eines Verwaltungsaktes voraussetzen, ist eine solche Konstruktion
nicht erforderlich. Als statthafte Rechtsbehelfe kommen die allgemeine Leistungsklage (auf Vornahme bzw. Unterlassen polizeilichen Realhandelns) oder die Feststellungsklage (zur rechtlichen
Überprüfung polizeilichen Realhandelns) in Betracht.65
Das Sonderordnungsrecht des Bundes und der Länder bedient sich
vielfach des Genehmigungsverfahrens als Gefahrenabwehrinstrumentarium. Es dient der Gefahrenvermeidung und kontrollierten Gefahrengestattung.
Beispiel: Die Teilnahme am Straßenverkehr mit Kraftfahrzeugen ist nach der
Erfahrung so gefährlich für andere, dass der Gesetzgeber der Verwaltung die
Möglichkeit einräumt, die persönliche Eignung des Verkehrsteilnehmers sowie
den technischen Zustand des Kraftfahrzeugs zu überprüfen (Fahrerlaubnis: § 2
StVG; regelmäßige Hauptuntersuchung: § 29 StVZO).
keine Genehmigung
beantragt:
formelle Illegalität
Genehmigung könnte
nicht erteilt werden:
materielle Illegalität
Fehlt es an einer entsprechenden Genehmigung, spricht man von
einer „formellen Illegalität“. Die Förmlichkeit des Genehmigungsverfahrens wurde nicht durchgeführt. Der Betroffene hat nun
die Möglichkeit, die erforderliche Genehmigung zu beantragen, um
sein Vorhaben ggf. fortzusetzen Könnte diese Genehmigung in
materieller Hinsicht auch nicht erteilt werden, liegt zudem „materielle Illegalität“ vor.
Beispiel: Der Betrieb einer Gaststätte setzt gem. § 2 I GaststättenG eine Genehmigung in Form einer Gaststättenerlaubnis voraus. Wurde sie nicht beantragt,
könnte aber auf Antrag erteilt werden, liegt „formelle Illegalität“ vor. Müsste
eine beantragte Genehmigung wegen Unzuverlässigkeit des Antragstellers gem.
§ 4 I GaststättenG versagt werden, liegt materielle Illegalität vor.
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64
65
Zur Überprüfung einer Gefahrenabwehrverordnung i.S.d. §§ 174,
175 I LVwG vgl. Schlömer/ Hombert, VerwR BT, Bd. 1, § 8 B.
Zum Begriff der Regelung vgl. bereits S. 6 und Hemmer, VerwR I,
Rn. 67 ff.
Dazu siehe oben ab S. 24.
Polizei- und Ordnungsrecht
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Zusammenfassung:
Typisches Instrument zur Gefahrenabwehr ist die Ordnungsverfügung.
Im Fall von polizeilichem Realhandeln (z.B. Schlag mit Polizeiknüppel) ist die Konstruktion einer konkludenten Duldungsverfügung nicht erforderlich, da auch ohne Verwaltungsakt der Rechtsschutz durch die allgemeine Leistungsklage oder die Feststellungsklage gesichert ist.
Im Falle vorgeschriebener Genehmigungsverfahren unterscheidet man zwischen formeller Illegalität (erforderliche Genehmigung wurde nicht beantragt) und materieller Illegalität (erforderliche Genehmigung kann
materiell nicht erteilt werden).
§ 2 DER GEFAHRENBEGRIFF
I. Gefahr
Das Polizei- und Ordnungsrecht ist in erster Linie Gefahrenabwehrrecht. Schutzgut des Gefahrenabwehrrechts ist ganz allgemein die „öffentliche Sicherheit“. Dieses Schutzgut soll vor Gefahren bzw. Störungen bewahrt bleiben.
Basiswissen im POR:
Definition „Gefahr“
Eine Gefahr steht bevor bei einem Sachverhalt, der bei ungehindertem Geschehensablauf in absehbarer Zeit mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für eines der Schutzgüter
der öffentlichen Sicherheit66 führen könnte.
Das Gefahrerfordernis aus § 174 LVwG wird durch § 176 LVwG
in zweifacher Hinsicht konkretisiert:
1. Konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit
Aus § 176 I Nr. 2 LVwG ergibt sich für den Erlass der Verfügung,
dass die Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Einzelfall vorliegen muss. Mit dieser Formulierung wird die Forderung nach einer
konkreten Gefahr umschrieben. Die Schadenswahrscheinlichkeit
muss sich aus einem konkreten Sachverhalt ableiten lassen.
Gefahr:
Wahrscheinlichkeit des
Schadenseintritts
Störung:
realisierte Gefahr
In Abgrenzung dazu ist die abstrakte Gefahr zu sehen, die lediglich von § 174 LVwG für den Erlass von Polizeiverordnungen erfasst wird. Sie setzt nur einen abstrakten Sachverhalt voraus, der
sich nach allgemeiner Lebenserfahrung und Erkenntnis fachkundiger Stellen zu einer konkreten Gefahrensituation entwickeln kann.
2. Störung der öffentliche Sicherheit
§ 176 I Nr. 1 LVwG stellt klar, dass eine Gefahrenabwehrverfügung auch zur Beseitigung Störung, d.h. einer bereits realisierten
Gefahr ergehen kann.
Beispiel: Ein Fahrzeug hat Öl verloren. § 32 StVO verbietet die verkehrsgefährdende Beschmutzung der Straße. Gegen dieses Verbot wurde verstoßen, so dass
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Zu den Schutzgütern der öffentlichen Sicherheit später ab S. 72.
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bereits die „objektive Rechtsordnung“ als Schutzgut der öffentlichen Sicherheit
verletzt ist. Die Gefahr einer Verletzung der Rechtsordnung hat sich also schon
realisiert. Es liegt eine Störung vor.
II. Gefahrenprognose, Grundsätze der Prognose
Gefahrenprognose aus
objektiver ex-ante-Sicht
Die Einschätzung, dass eine konkrete Sachlage sich bei ungehindertem Geschehensablauf so entwickeln wird, dass ein Schaden an
einem Schutzgut eintritt, stellt eine behördliche Prognoseentscheidung dar, die grundsätzlich in vollem Umfang gerichtlich
überprüfbar ist. Diese Prognose erfolgt aus einer ex-anteBetrachtung67 aus der Sicht eines objektiven Beobachters. Grund
dafür ist, dass die Gefahrenabwehrbehörden dazu berufen sind,
Gefahren im Vorfeld zu erkennen und abzuwehren.
Dabei gilt:
Je bedeutender das bedrohte Rechtsgut (und damit je höher der zu
erwartende Schaden), desto geringer sind die Anforderungen an die
Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts.
III. Anscheinsgefahr und Scheingefahr
Probleme ergeben sich dann, wenn sich nachträglich68 herausstellt,
dass entgegen der ex-ante-Prognose der Polizei- und Ordnungsbehörden ein Schaden tatsächlich nicht gedroht hat.
Einerseits verlangt effektive Gefahrenabwehr von den Behörden
immer eine Prognoseentscheidung ex ante. Andererseits darf nicht
jede subjektive Vorstellung der Behörde als ausreichend für das
Bejahen einer Gefahr angesehen werden.
Anscheinsgefahr:
 pflichtgemäße Gefahrenprognose
 Gefahr i.S.d. Generalklausel
Lag bei objektiver und pflichtgemäßer Beurteilung der Sachlage
ex ante eine Gefahr vor, so schadet es nicht, wenn sich ex post
herausstellt, dass in Wirklichkeit ein Schaden nicht drohte. Bei
dieser Konstellation spricht man von einer Anscheinsgefahr, die
eine echte Gefahr i.S.d. der Generalklausel darstellt.69
Beispiel: Aus einer Mietwohnung ertönen laute Schüsse und Schreie. Trotz
wiederholten Klingelns wird die Wohnungstür nicht geöffnet. Daraufhin wird
die Tür in der Annahme eines Gewaltverbrechens von der Polizei gewaltsam
geöffnet. Es stellt sich heraus, dass der Mieter sich nur einen Krimi im Fernsehen anschaut und das Klingeln nicht gehört hat. Die Maßnahme war rechtmäßig.
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Ex-ante-Betrachtung bedeutet, dass die Einschätzung im Vorfeld des
zu erwartenden Schadens vorgenommen wird; bei einer ex-postBetrachtung dagegen wird im Nachhinein festgestellt, ob tatsächlich
eine Gefahr bestanden hat.
Also bei einer ex-post-Betrachtung.
Dass die Maßnahme im Falle einer Anscheinsgefahr rechtmäßig ist,
ändert aber nichts daran, daß die Behörde u.U. zur Kostentragung bei
entstandenen Schäden verpflichtet ist; vertiefend dazu: Schlömer/
Hombert, VerwR BT, Bd. 1, § 10.
Polizei- und Ordnungsrecht
Scheingefahr:
 pflichtwidrige Gefahrenprognose
 keine Gefahr i.S.d.
Generalklausel
 Handeln ist rw
Merkhilfe zur
Abgrenzung:
„Der Schein trügt..!“
Gefahrenverdacht:
 pflichtgemäße Gefahrenprognose mit gewissen Unsicherheiten
 Gefahr i.S.d. Generalklausel
 Gefahrerforschungseingriffe zulässig
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Die Anscheinsgefahr ist stets von der Scheingefahr (Putativgefahr) abzugrenzen, die keine Gefahr i.S.d. Generalklausel darstellt. Hier beruht die Annahme einer Gefahr gerade auf einer
pflichtwidrigen Gefahrenprognose,
die ein idealtypischer
Durchschnittsbeamter nicht vorgenommen hätte.
Beispiel: Im obigen Fall bricht die Polizei die Tür auf, ohne zuvor durch das
Fenster zu sehen. Ein Blick hätte genügt, um den laufenden Fernseher zu erkennen. Das Handeln war daher rechtswidrig.
IV. Gefahrenverdacht
Während die Behörde bei der Anscheins- und der Scheingefahr
sicher ist, dass eine Gefahr vorliegt, sind ihr beim Gefahrenverdacht bestimmte Unsicherheiten bei der Sachverhaltsdiagnose
oder bei der Prognose des Kausalverlaufs bewusst, so dass ihr die
Entscheidung über die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts
erschwert wird.
Aufgrund der bestehenden Zweifel dürfen aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht sofort Maßnahmen zur Gefahrenabwehr
getroffen werden, sondern nur solche zur Gefahrerforschung.
Sie zielen nicht auf Beseitigung des Gefahrenzustandes, sondern
dienen zur näheren Erforschung des Sachverhalts und des notwendigen Umfangs endgültiger Gefahrenabwehrmaßnahmen.
Beispiel: Die Gefahrenabwehrbehörde hat Anhaltspunkte dafür, dass unerlaubt
hormonbehandelte Rinder gehalten und verarbeitet werden.
Eine Gefahr i.S.d. §§ 174, 176 LVwG ist in Form des Gefahrenverdachts gegeben, so dass ein Einschreiten möglich ist. Allerdings, dürfen nicht sofort endgültigen Maßnahmen (Schlachtung der gesamten Herde) ergriffen werden, sondern
zunächst nur stichprobenartige Untersuchungen, um die Hormonbehandlung
nachzuweisen.
V. Gefahrenstufen
Für Gefahrenabwehrmaßnahmen nach der Generalklausel genügt
die Bejahung der vorstehend skizzierten „einfachen“ Gefahr. Im
Sonderordnungsrecht und in den Standardermächtigungen finden sich jedoch häufig besondere Anforderungen an die Gefahrenlagen. Es handelt sich um gesetzliche Qualifizierungen der Gefahrensituation. Diese erfolgen dadurch, dass besondere Voraussetzungen für die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts und/ oder
für die Qualität des drohenden Schadens normiert sind.
 Gegenwärtige Gefahr meint eine Sachlage, bei der das schädigende Ereignis bereits begonnen hat oder höchst wahrscheinlich
unmittelbar bevorsteht. Gleiches gilt für die unmittelbare bzw.
die unmittelbar bevorstehende Gefahr (vgl. §§ 220, 229 II
Nr. 1, 230, 208 II Nr. 3 LVwG; § 15 I VersG).
 Dringende Gefahr verlangt eine Sachlage, in der mit großer
Wahrscheinlichkeit einem besonders wichtigen Rechtsgut Schaden droht (vgl. Art. 13 VII GG).
 Gefahr im Verzug setzt eine Sachlage voraus, bei der ein
Schaden eintreten würde, wenn nicht an Stelle der an sich zu-
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ständigen Instanz eine andere Behörde oder Person tätig wird
(vgl. Art. 13 II GG; §§ 186 I, 208 V LVwG; ferner „unaufschiebbare Maßnahmen“ i.S.d. § 168 I Nr. 3 LVwG).
 Gemeine Gefahr besteht für eine unbestimmte Vielzahl von
Personen oder Sachen; z.B. bei Naturkatastrophen (vgl.
Art. 13 VII GG).
 Erhebliche Gefahr meint eine solche für ein bedeutsames
Rechtsgut, insb. Leben, Gesundheit, Freiheit, wesentliche Vermögenswerte, Bestand des Staates (vgl. § 208 I LVwG).
Zusammenfassung:
Eine Gefahr steht bevor bei einem Sachverhalt, der bei ungehindertem Geschehensablauf in absehbarer
Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für eines der Schutzgüter der öffentlichen
Sicherheit führen könnte.
Die konkrete Gefahr stellt dabei auf einen konkreten Einzelfall, die abstrakte Gefahr auf eine abstrakte
Sachlage ab.
Hat sich die Gefahr realisiert, spricht man von einer Störung. Ob eine Gefahr vorliegt, ist aus einer objektiven ex-ante-Betrachtung zu beurteilen, wobei die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit geringer sind,
je höher der zu erwartende Schaden ist.
Eine Anscheinsgefahr liegt vor, wenn nach objektiver und pflichtgemäßer Beurteilung der Sachlage ex ante
eine Gefahr vorliegt und sich im Nachhinein herausstellt, dass ein Schaden tatsächlich nicht drohte. Sie stellt
eine echte Gefahr dar.
Beruht die Annahme einer Gefahr auf einer pflichtwidrigen Gefahrenprognose, die ein idealtypischer Durchschnittsbeamter nicht vorgenommen hätte, handelt es sich um eine Scheingefahr (Putativgefahr), die keine
Gefahr i.S.d. Generalklausel ist.
Bei einem Gefahrenverdacht bestehen bestimmte Unsicherheiten über das Vorliegen einer Gefahr. Daher
sind nur Gefahrerforschungsmaßnahmen zur Erforschung des Sachverhalts zulässig.
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§ 3 VERANTWORTLICHKEIT
Die Polizei- und Ordnungsbehörden können die festgestellte Gefahr entweder selbst, d.h. mit eigenen Mitteln, abwehren oder bestimmte Personen mittels Verfügung in Anspruch nehmen. Dazu
muss der Adressat der Verfügung grds. für den Gefahrenzustand
verantwortlich sein. Der Verantwortliche wird auch als „Störer“
bzw. „Polizeipflichtiger“ bezeichnet.
verantwortlich:



Verhaltensstörer
Zustandsstörer
Nichtstörer
Greifen zur gefahrenabwehrrechtlichen Verantwortlichkeit keine
Spezialregelungen ein (z.B. §§ 22, 24 BImSchG: Anlagenbetreiber), kommen lediglich die Bestimmungen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts (§§ 217-220 LVwG) in Betracht.
Verantwortliche sind:
 Gem. § 218 LVwG der Verhaltensverantwortliche und
 gem. § 219 LVwG der Zustandsverantwortliche.
Unter den besonderen Voraussetzungen des § 220 LVwG kann
auch ein Nichtstörer subsidiär in Anspruch genommen werden. Er
ist dann zwar Adressat von Maßnahmen, wird aber nicht verantwortlich i.S.d. Ordnungsrechts.
I. Verhaltensverantwortlichkeit (§ 218 LVwG)
Verhaltenspflichtigkeit =
reine Verursacherhaftung
Verantwortlich i.S.d. § 218 I LVwG ist jeder, der durch sein Verhalten eine Störung oder eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit
verursacht hat.
Beispiel: Ein Rentner warnt mit großen Schildern vor Radarfallen der Polizei.
Grundsätzlich ist jeder ausschließlich für sein eigenes Verhalten
verantwortlich. Ausnahmen ergeben sich im Falle von § 218 II und
III LVwG (lesen!), die zu einer Zusatzverantwortlichkeit führen.
II. Zustandsverantwortlichkeit (§ 219 LVwG)
Kommentieren Sie sich neben § 219 III LVwG:
§ 928 BGB
Anknüpfungspunkte für die Begründung der Zustandsverantwortlichkeit sind das Eigentum an einer „störenden” Sache (§ 219 I
LVwG) sowie die tatsächliche Sachherrschaft hierüber (§ 219 II
LVwG). Inhaber der tatsächlichen Gewalt ist, wer auf die Sache
unmittelbar einwirken kann. Bei herrenlosen Sachen gilt § 219 III
LVwG.
Beispiele: Pächter eines kontaminierten Grundstücks (§ 219 II LVwG); Eigentümer stellt sein Auto verkehrswidrig ab (§ 219 I LVwG).
Zustandspflichtigkeit =
reine Verursacherhaftung
(P) reine Verursacherhaftung uferlos!
Eine Sache wird dann als „störend“ bezeichnet, wenn sie den Gefahrenzustand bzw. die Störung der öffentlichen Sicherheit verursacht hat.
Die im Gesetz vorgesehene reine Verursacherhaftung würde bei
uneingeschränkter Anwendung einen uferlosen Kreis von Verantwortlichen bedeuten. Daher ist nach h.M.70 bei wertender Be70
Dazu: Schlömer/ Hombert, VerwR BT, Bd. 1, § 4 D.
Polizei- und Ordnungsrecht
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trachtung darauf abzustellen, ob ein Verhalten oder eine Sache die
unmittelbare und damit letzte steuerbare Ursache für den Eintritt der Gefahr setzt.
Ausnahmefälle der
Unmittelbarkeitslehre:
 Zweckveranlasser
 rechtstreues Verhalten
Ausnahmsweise ist auch derjenige Störer, der die Gefahrengrenze
zwar nicht selbst überschreitet und den Gefahrenzustand nicht
unmittelbar herbeiführt, die Gefährdung bzw. Störung jedoch als
Folge seines Verhaltens bezweckt. Der veranlassende Hintermann
(sog. „Zweckveranlasser“) muss sich das störende oder gefährdende Verhalten Dritter zurechnen lassen.
Beispiel: Der Gewerbetreibende A, führt in seinem Schaufenster eine Modenschau für Dessous durch. Die Werbung lockt so viele Passanten an, dass sich
ständig verkehrshindernde Ansammlungen bilden. Obwohl die Passanten mit
ihrer Verletzung des § 1 StVO die öffentliche Sicherheit unmittelbar gestört
haben, ist ein Vorgehen gegen A als Zweckveranlasser des Massenauflaufs zulässig.
Ist ein bestimmtes Verhalten oder ein bestimmter Sachzustand ausdrücklich durch Rechtsnormen erlaubt, kann aber auch bei unmittelbarer Verursachung eines Gefahrenzustandes keine polizeirechtliche Verantwortlichkeit begründet werden. Wer nur von seinem Recht Gebrauch macht, der schadet niemanden.
Kommentieren Sie sich
neben § 220 LVwG:
§§ 221, 223 LVwG
Beispiel: Wer um seinen Garten eine dichte Hecke wachsen lässt und dadurch
den Kraftfahrern auf der angrenzenden Straße die Kurveneinsicht nimmt, ist
nicht Störer. Ein Einschreiten gegen den Eigentümer der Hecke kommt nur unter
den Voraussetzungen des § 220 LVwG in Betracht (Folge: §§ 221, 223 LVwG).
III. Inanspruchnahme des Nichtstörers (§ 220 LVwG)
Die Inanspruchnahme eines Nichtstörers kommt gem. § 220 LVwG
in Betracht, wenn belastende Gefahrenabwehrverfügungen gegen unbeteiligte Dritte gerichtet werden müssen, die weder Zustands- noch Verhaltensstörer sind, weil anders eine Gefahrenabwehr nicht möglich ist
Beispiele: Einweisung von Obdachlosen in privaten Wohnraum („Obdachlosenfälle“); Verbot einer an sich rechtmäßigen Versammlung zum Zwecke der
Verhinderung anders nicht abwendbarer gewalttätiger Konfrontationen mit Gegendemonstranten („Versammlungsfälle“).
Die Inanspruchnahme eines Nichtverantwortlichen ist nur möglich
zur Abwehr einer gegenwärtigen, erheblichen Gefahr, bei der
weder ein Störer i.S.d. §§ 218, 219 LVwG erfolgversprechend in
Anspruch genommen werden kann, noch die Behörde selbst oder
von ihr Beauftragte zur effektiven Gefahrenabwehr in der Lage
sind und der Nichtstörer nicht selbst erheblich gefährdet wird.
Liegen diese in § 220 LVwG genannten Voraussetzungen kumulativ vor, kann eine Inanspruchnahme des Notstandspflichtigen erfolgen, die jedoch auf das zeitlich und sachlich erforderliche
Mindestmaß beschränkt sein muss.
Polizei- und Ordnungsrecht
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IV. Verantwortlichkeit von Anscheins- und Gefahrenverdachtsstörer
(P) Verantwortlichkeit
von Anscheins- und
Gefahrenverdachtsstörer
Ex-ante-Sicht auf
Primärebene,
ex-post-Sicht auf
Sekundärebene
Die Problematik der Anscheinsgefahr bzw. des Gefahrenverdachts
findet ihre Fortsetzung im Rahmen der Verantwortlichkeit. Gefahrenabwehrrechtlich sind Anscheinsgefahr und Gefahrenverdacht
der objektiven Gefahrenlage gleichgestellt.
Die h.M.71 stellt auch Anscheinsstörer und Gefahrenverdachtsstörer dem „echten“ Störer gleich. Für eine effektive Gefahrenabwehr ist die ex-ante-Sicht auf der gesamten Gefahrenabwehrebene (Primärebene) unerlässlich. Eine ex-post-Betrachtung
ist vielmehr bei der Frage nach der Kostentragung bzw. Entschädigung (Sekundärebene) vorzunehmen, da es dort nur noch um die
Herbeiführung eines gerechten Lastenausgleichs geht.72
Zusammenfassung:
Die Verantwortlichkeit betrifft die Frage, gegen wen die Behörde zur Abwehr einer Gefahr vorgehen kann
und richtet sich bei Fehlen von Spezialregelungen nach §§ 217-220 LVwG.
Verhaltensverantwortlich (§ 218 LVwG) ist, wer die Gefahr durch sein eigenes Verhalten verursacht hat
oder für das Handeln Dritter verantwortlich ist.
Zustandsverantwortlich (§ 219 LVwG) ist, wer das Eigentum an oder die tatsächliche Sachherrschaft über
eine „störenden” Sache hat oder bei herrenlosen Sachen letzter Eigentümer war. Entscheidend ist dafür, wer
die unmittelbare und damit letzte steuerbare Ursache für den Eintritt der Gefahr setzt.
Ausnahmsweise ist auch Störer, wer die Gefährdung durch sein Verhalten bezweckt. Der Zweckveranlasser
muss sich das Verhalten Dritter zurechnen lassen. Rechtstreues Verhalten dagegen führt nicht zur Polizeipflichtigkeit.
Ausnahmsweise ist auch die Inanspruchnahme eines Nichtstörers möglich (§ 220 LVwG).
Anscheinsstörer und Gefahrenverdachtsstörer stehen dem „echten“ Störer zur effektiven Gefahrenabwehr
gleich. Auf der Kostenebene ist allerdings eine ex-post-Betrachtung vorzunehmen.
§ 4 ERMESSEN
Das Polizei- und Ordnungsrecht räumt der Behörde auf Rechtsfolgenseite grundsätzlich Ermessen ein.
Beispiele: § 174 LVwG; §§ 24, 25 BImSchG; § 15 II GewO.
Den Polizei- und Ordnungsbehörden ist ein sog. „doppeltes Handlungsermessen“ eingeräumt:
doppeltes Handlungsermessen: „Ob“ + „Wie“
 Entschließungsermessen („Ob“ gehandelt wird)
 Auswahlermessen („Wie“ gehandelt wird )
hinsichtlich der Auswahl der Maßnahme und der Störer.
71
72
Dazu: Schlömer/ Hombert, Verw BT, Bd. 1, § 4 D.
Hat der Anscheinsstörer den Anschein der Gefahr bei ex-post-Betrachtung nicht zurechenbar gesetzt bzw. hat der Gefahrenverdachtsstörer den Verdacht einer Gefahr nicht zurechenbar verursacht, so sollen beide einen Entschädigungsanspruch analog § 221 LVwG zugesprochen bekommen und kostenrechtlich freigestellt werden.
Polizei- und Ordnungsrecht
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Auf beiden Ermessensebenen können Ermessensfehler auftreten;
auf beiden Ebenen kann es zu einer Ermessensreduzierung kommen.
I. Entschließungsermessen („Ob“)
Das Entschließungsermessen behandelt die Frage, „Ob“ überhaupt
eingeschritten wird und eröffnet der Behörde bei mehreren Gefahren die Möglichkeit, das Wichtigere vor dem weniger Wichtigen zu
tun und Bagatellen nicht zu verfolgen.
Klausurrelevant wird das Entschließungsermessen der Behörde
immer dann, wenn der Bürgers von dieser ein ordnungsrechtliches
Einschreiten verlangt (Verpflichtungssituation). Ein derartiger Anspruch kann sich aus einer drittschützenden Norm ergeben, deren
Verletzung die Behörde zum Einschreiten verpflichtet. Eine solche
Handlungspflicht der Behörde besteht jedoch nur, wenn jede andere Entscheidung ermessensfehlerhaft wäre (Ermessensreduktion auf
Null).73
Beispiel: Eine hochschwangere Obdachlose könnte aus §§ 174, 176 LVwG
gegen die Behörde einen Anspruch auf Einweisung in ihre vorherige Wohnung
haben. Der Wohnungseigentümer wäre dabei als Nichtstörer Adressat eines
Verwaltungsaktes.74
73
74
Vgl. zur Ermessensreduktion S. 15.
Zum Begriff des Nichtstörers vgl. S. 66.
Polizei- und Ordnungsrecht
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II. Auswahlermessen („Wie“)
Auswahlermessen bei
der Wahl von
Mittel und Adressat
Entscheidet sich die Behörde zum Einschreiten, hat sie ein Auswahlermessen (bei mehreren in Betracht kommenden Maßnahmen) hinsichtlich der Wahl des Mittels und (bei mehreren Verantwortlichen) des Adressaten (Störerauswahl).
Bei der Wahl der Maßnahme erschöpft sich das Auswahlermessen
grundsätzlich in der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.
Das Auswahlermessen hinsichtlich der Wahl des Adressaten der
Gefahrenabwehrverfügung wird immer dann prüfungsrelevant,
wenn für einen Gefahrenzustand mehrere Personen (nebeneinander) verantwortlich sind.
Beispiel: Baggerführer F beschädigt eine Ölleitung, so dass Öl im Erdreich versickert. F und sein Chef sind verhaltensverantwortlich; der Pächter des Grundstücks und der Eigentümer sind zustandsverantwortlich.
Anmerkung:
Beachten Sie den Unterschied zwischen der Prüfung der Verantwortlichkeit und der Störerauswahl:
Unter dem Prüfungspunkt „Gefahrenabwehrrechtliche Verantwortlichkeit“ stellt sich in der Fallbearbeitung die Frage, ob der
Adressat einer Gefahrenabwehrverfügung für die Gefahr verantwortlich ist. Im Unterschied dazu entscheidet die Frage der Störerauswahl bei mehreren verantwortlichen Personen darüber, gegen
welche von ihnen am sinnvollsten vorgegangen werden kann, um
eine schnelle und effektive Gefahrenabwehr zu gewährleisten.
maßgeblich für die Störerauswahl:
Gefahrennähe, Sachkenntnis und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit
Im Rahmen des Auswahlermessens sind stets die Effektivität der
Gefahrenabwehr und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu
beachten. Maßgebliche Indizien für eine effektive Gefahrenabwehr
sind Gefahrennähe, Sachkenntnis und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Störers.
Zusammenfassung:
Der Behörde ist bei der Gefahrenabwehr ein Entschließungsermessen („Ob“ gehandelt wird) und ein Auswahlermessen („Wie“ gehandelt wird) hinsichtlich der Auswahl von Maßnahme und Störer eingeräumt.
Das Entschließungsermessen kann sich u.U. zu einer Handlungspflicht reduzieren, auf die ein Dritter einen
Anspruch hat. Das Auswahlermessen hinsichtlich der Mittelwahl misst sich am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Bei der Störerauswahl stehen Schnelligkeit und Effektivität der Gefahrenabwehr im Vordergrund.
70
Polizei- und Ordnungsrecht
§ 5 RECHTMÄSSIGKEIT EINER GEFAHRENABWEHRVERFÜGUNG
Prüfungsaufbau für eine Gefahrenabwehrverfügung
I. RGL
 Welche Gefahr ?
 SpezG
 Abwehr einer
speziellen Gefahr
 Standardmaßnahmen,
§§ 177 ff., 199 ff. LVwG
 Generalklausel,
§§ 174, 176 LVwG
II. Formelle RM
1. Zuständigkeit
 SpezG
 LVwG
a. sachlich
Grds.: § 165 I
 Behörde
Ausn.: § 168 I Nr. 3  Polizei
(Eilzuständigkeit)
[b. örtlich]
2. Form
3. Verfahren
*)
**)
III. Materielle RM
1. Vorauss. der RGL
 Gefahr für öff. Sicherheit
 (P) des Gefahrbegriffs
2. Verantwortlichkeit §§ 217 ff. LVwG*)
3. Allg. RM des VA
insbesondere:
a. Möglichkeit, § 113 IV LVwG
b. Bestimmtheit, § 108 LVwG
[ c. Verhältnismäßigkeit ] **)
4. Ermessen
Ermessensfehler, § 114 VwGO
a. Entschließungsermessen („Ob“)
b. Gestaltungsermessen („Wie“)
c. Auswahlermessen („Gegen wen“)
vertretbar: Prüfung der Verantwortlichkeit i.R.d. Ermessens
sehr gut vertretbar: Prüfung der Verhältnismäßigkeit i.R.d. Ermessens
Bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Gefahrenabwehrverfügung ergeben sich nur wenige Besonderheiten gegenüber dem bekannten Grundschema.75 Lediglich im Rahmen der materiellen
Rechtmäßigkeit müssen Sie im Gefahrenabwehrrecht immer auf
die Verantwortlichkeit eingehen und das „doppelte Handlungsermessen“ prüfen.
I. Rechtsgrundlage
Denken Sie an die Grundsätze zum Auffinden der Befugnisnorm.76
Machen Sie sich gedanklich klar, welche Gefahr abgewehrt werden
soll und prüfen Sie zuerst das Eingreifen von Spezialgesetzen.
Vorrang des
spezielleren Gesetzes
Soweit es um die Abwehr einer identischen Gefahr geht, verdrängt das spezielle Sonderordnungsrecht das allgemeine Ordnungsrecht (Standardmaßnahmen der §§ 177 ff., 199 ff. und Generalklausel §§ 174, 176 LVwG).77 I.R.d. allgemeinen Ordnungsrechts gilt Gleiches für das Verhältnis zwischen Standardmaßnahmen und Generalklausel.
75
76
77
Siehe dazu S. 11.
Dazu oben, S. 11.
Vgl. §§ 173 II, 163 II 2 LVwG.
Polizei- und Ordnungsrecht
Sperrwirkung des
spezielleren Gesetzes
(P) Polizeifestigkeit
der Versammlung
71
Darüber hinaus ist zu beachten, dass im Falle der Eröffnung des
Anwendungsbereichs einer speziellen Norm ein Rückgriff auf allgemeine Befugnisse grundsätzlich nicht mehr zulässig ist, auch
wenn im konkreten Fall ein Vorgehen nach der Spezialnorm nicht
möglich ist. Das spezielle Gesetz entfaltet eine Sperrwirkung.
Beispiel: Will die Behörde eine Versammlung auflösen, könnten sich mögliche
Befugnisnormen sich aus dem VersammlG und dem allgemeinen Polizei- und
Ordnungsrecht ergeben. Greift das speziellere VersammlG ein, kann die Versammlung nach § 15 III, I VersammlG nur bei einer „unmittelbaren Gefährdung
der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ aufgelöst werden. Fehlt es daran, ist
ein Rückgriff auf das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht trotz denkbarer
Befugnisnormen (Platzverweis; Generalklausel) insoweit unzulässig. Ein Vorgehen gegen die Versammlung als solche soll nur unter den qualifizierten Voraussetzungen des VersammlG möglich sein. Man spricht von der „Polizeifestigkeit“
einer Versammlung.78
Nur wenn der Anwendungsbereich einer Spezialnorm überhaupt
nicht betroffen oder die Spezialnorm nicht abschließend ist, darf
auf allgemeine Befugnisnormen zurückgegriffen werden.
Anmerkung:
Lesen Sie bereits jetzt zum Anwendungsbereich des Versammlungsgesetzes S. 86.
II. Formelle Rechtmäßigkeit
In formeller Hinsicht sind wie üblich Zuständigkeit, Verfahren und
Form zu beachten.
1. Zuständigkeit79
Grundsatz:
Allzuständigkeit der
Ordnungsbehörden
Kommentieren Sie sich
neben § 165 I LVwG die
Ausnahmen:
§§ 45, 44 StVO; §§ 19a,
12a VersammlG, § 168 I
Nr. 3 LVwG
a) Sachliche Zuständigkeit
Die sachliche Zuständigkeit ist eine Berechtigung und Verpflichtung zur Vornahme bestimmter Aufgaben innerhalb des Bereichs
der Gefahrenabwehr.
Nach § 165 I LVwG sind die Ordnungsbehörden grundsätzlich
vor der Polizei sachlich zuständig, soweit nichts anderes bestimmt
ist. Die sachliche Zuständigkeitsverteilung innerhalb der Ordnungsbehörde bestimmt sich nach §§ 165 II – IV LVwG und durch
eine Reihe von Landesverordnungen.
Die Polizei ist nur ausnahmsweise zur Gefahrenabwehr sachlich
zuständig, insbesondere bei gefahrenabwehrenden Eilentscheidungen, § 168 I Nr. 3 LVwG.
78
79
§ 1 I shLPresseG garantiert auch eine „Polizeifestigkeit“ der Presse in
dem Sinne, dass eine Präventivbeschlagnahme von Presseerzeugnissen
aufgrund landesrechtlicher Bestimmungen unzulässig ist. Die strafprozessualen Beschlagnahmevorschriften sind insoweit abschließend.
Zum Begriff der Zuständigkeit bereits S. 11.
Polizei- und Ordnungsrecht
Ausnahme:
Zuständigkeit der Polizei
(z.B. Gefahr im Verzug)
72
Anmerkung:
Nach § 168 I Nr. 3 LVwG gilt die Eilzuständigkeit der Polizei,
soweit die Gefahrenabwehr durch die Verwaltungsbehörde zu
spät käme. Dennoch dürfen Sie nicht bereits an dieser Stelle prüfen, ob tatsächlich auch eine Gefahrenabwehrmaßnahme und damit verbunden auch eine Gefahr vorliegt. Diese Frage ist erst Teil
der materiellen Prüfung.
b) Örtliche Zuständigkeit
Die örtliche Zuständigkeit der Ordnungsbehörden ist in § 166
LVwG, die der Polizei in den §§ 169-171 LVwG.
2. Verfahren
Im Rahmen des Verfahrens gelten die allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätze.80 Insbesondere ist auch vor Erlass einer
Ordnungsverfügung grundsätzlich eine Anhörung der Betroffenen
erforderlich (§ 28 I VwVfG, § 87 LVwG). Eine Ausnahme gilt jedoch gem. § 28 II Nr. 1 VwVfG, § 87 II Nr. 1 LVwG bei „Gefahr
im Verzug“.
3. Form
Der Erlass einer Ordnungsverfügung ist grds. an keine bestimmte
Form gebunden.
III. Materielle Rechtmäßigkeit
Im Rahmen der materiellen Rechtmäßigkeit wird überprüft, ob die
Tatbestandsvoraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage vorliegen und der Adressat der Verfügung polizeipflichtig ist. Ferner
muss die behördliche Maßnahme bestimmt, möglich und verhältnismäßig und die Entscheidung ermessensfehlerfrei sein.
1. Generalklausel, §§ 174, 176 LVwG
Aufgrund der zentralen Bedeutung der Generalklausel für das gesamte Polizei- und Ordnungsrecht wird die Rechtmäßigkeitsüberprüfung einer auf ihr beruhenden Verfügung bei der folgenden
Darstellung im Mittelpunkt stehen.
a) Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage
Tatbestand §§ 174, 176
LVwG:
Gefahr für die öffentliche
Sicherheit
Der Tatbestand der ordnungsrechtlichen Generalklausel (§§ 174,
176 LVwG) verlangt nach einer bevorstehenden (konkreten) Gefahr bzw. Störung der öffentliche Sicherheit.81
80
81
Vgl. S. 12 sowie Hemmer, VerwR I, Rn. 304 ff.
Vgl. zu den Begriffen der Gefahr bzw. Störung bereits S. 61.
Polizei- und Ordnungsrecht
73
(1) Begriff der öffentlichen Sicherheit
Öffentliche Sicherheit i.S.d. Gefahrenabwehraufgabe ist die Unverletzlichkeit:
Basiswissen im POR:
Definition „öffentliche
Sicherheit“:
Schutz von
 Rechtsordnung,
 Individualrechten
 Staat und seinen Einrichtungen
 der objektiven Rechtsordnung,
 der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen sowie
 des Staates und seiner Einrichtungen.
(a) Schutz der objektiven Rechtsordnung
Der Schutz der „objektiven Rechtsordnung“ ist der wichtigste Anwendungsfall des Schutzgutes der öffentlichen Sicherheit. Er umfasst die Einhaltung aller Gesetze, Verordnungen und Satzungen,
die den Bürger zu einem bestimmten Verhalten gegenüber dem
Staat oder einem Dritten verpflichten.
Beispiel: E stellt sein völlig zerstörtes Auto verkehrswidrig ab. Die zuständige
Straßenverkehrsbehörde sieht in dem Fahrzeug ein Verkehrshindernis i.S.d. § 32
StVO und verlangt die Beseitigung. § 32 StVO ist als Verbotsnorm Bestandteil
der objektiven Rechtsordnung und wird vom Schutzgut der öffentlichen Sicherheit erfasst.
(b) Schutz von Individualrechtsgütern
(P) Anspruchsqualität
der Generalklausel
Unter das Schutzgut der „öffentlichen Sicherheit“ fallen auch private Rechte (z.B. Eigentum, Besitz, Persönlichkeitsrecht, Ansprüche) und Individualrechtsgüter (z.B. Leben, Gesundheit, Freiheit,
Vermögen). Allerdings ist der Subsidiaritätsgrundsatz des § 162 II
LVwG zu beachten.
Der Generalklausel kann Schutznormcharakter für Individualrechtsgüter zukommen, wenn der Bürger von den Behörden ein
ordnungsrechtliches Einschreiten verlangt (Verpflichtungssituation) und eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt.
Beispiel: In den Fällen der „unfreiwilligen Obdachlosigkeit“ kann sich der Betroffene auf seine Individualrechtsgüter aus Art. 1, 2 II GG berufen.
(c) Schutz des Staates und seiner Einrichtungen
Funktionsfähigkeit des
Staates und seiner Einrichtungen
Der Schutz staatlicher Einrichtungen und Veranstaltungen umfasst
u.a. die Funktionsfähigkeit aller Rechtssubjekte des öffentlichen
Rechts, insb. der Behörden, Organe (z.B. Gemeindevertretung) und
sonstigen zugeordneten Einrichtungen (Theater, Museen, Bibliotheken etc.).
Beispiel: Die Rechtsprechung sieht in Warnschildern vor Radarfallen eine Beeinträchtigung der polizeilichen Verkehrsüberwachungsaufgabe und damit die
Störung der Funktionsfähigkeit einer staatlichen Einrichtung.
Polizei- und Ordnungsrecht
74
(2) Vorliegen einer Gefahr
Hinsichtlich des Gefahrenbegriffs wird auf die obigen Ausführungen verwiesen.82 Bringen Sie die prognostischen Erwägungen beim
Gefahrenbegriff in den Zusammenhang mit der öffentlichen Sicherheit.
b) Verantwortlichkeit
An dieser Stelle müssen Sie prüfen, ob die in Anspruch genommene Person gefahrenabwehrrechtlich verantwortlich ist. Auf die entsprechenden Ausführungen wird verwiesen.83
c) Bestimmtheit, Möglichkeit, Verhältnismäßigkeit
Die Gefahrenabwehrverfügung muss ferner den allgemeinen Anforderungen an einen rechtmäßigen Verwaltungsakt gerecht werden. Zu überprüfen sind insbesondere Bestimmtheit, Möglichkeit
und Verhältnismäßigkeit der Verfügung.
(1) Bestimmtheit, § 37 VwVfG, § 108 LVwG
Der Tenor der Gefahrenabwehrverfügung muss so abgefasst sein,
dass der Adressat weiß, was genau von ihm verlangt wird
Beispiele: Wegen mangelnder Bestimmtheit rechtswidrig: Gebot an einen Gastwirt, einen „geräuscharmen“ Ventilator einzubauen; Gebot, an einem Baum
einen „fachgerechten Auslichtungs- und Rückschnitt um ca. 25 %“ vorzunehmen.
(2) Möglichkeit
Die gefahrenabwehrrechtliche Verfügung darf dem Adressaten
nicht etwas tatsächlich oder rechtlich Unmögliches aufgeben. Tatsächliche Unmöglichkeit liegt vor, wenn das Verlangte objektiv
nicht erfüllbar ist (Rechtsfolge: VA ist nichtig, § 44 II Nr. 4
VwVfG, § 113 II Nr. 4 LVwG).
Rechtliche Unmöglichkeit besteht, wenn öffentlich-rechtliche
Hindernisse der Erfüllungshandlung entgegenstehen (Rechtsfolge:
VA ist rechtswidrig). Bei privatrechtlichen Hindernissen ist die
Rechtsfolge dagegen umstritten.
(P) privatrechtliche Hindernisse:
e.A.: Verfügung rw., „Rettung“
über Duldungsverfügung
wohl h.M.: Verfügung rm.,
Duldungsverfügung nur für
Vollstreckung erforderlich
Beispiel: Die Ordnungsbehörde erlässt gegenüber A die Verfügung, das kontaminierte Erdreich auf seinem Grundstück zu beseitigen. A sieht sich nicht in der
Lage, der Verfügung nachzukommen, da Miteigentümer B der Erdreichbeseitigung nicht zustimmt.
Nach e.A. ist die Ordnungsverfügung rechtlich unmöglich und damit rechtswidrig. Die Behörde kann ihre Verfügung „retten“, wenn sie dem B gegenüber eine
entsprechende Duldungsverfügung erlässt. Nach wohl h.M. berührt das privatrechtliche Hindernis jedoch nicht die Rechtmäßigkeit der Verfügung. Die fehlende Zustimmung des B begründet lediglich ein beachtliches Vollstreckungshindernis beim Vollzug der Maßnahme, welches jedoch mittels Duldungsverfügung aus dem Weg geräumt werden kann.
82
83
Zum Gefahrbegriff und den Gefahrenstufen vgl. S.61 bzw. S. 63.
Vgl. S. 65.
75
Polizei- und Ordnungsrecht
(3) Verhältnismäßigkeit
Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss die Gefahrenabwehrverfügung ein zulässiges Ziel verfolgen und ferner geeignet, erforderlich und angemessen sein.84 Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit wird regelmäßig einer der Klausurschwerpunkte
sein.
Im Falle eines Gefahrenverdachts ist an dieser Stelle zu klären, ob
tatsächlich nur „Gefahrerforschungsmaßnahmen“ vorgenommen
wurden. Gefahrenabwehrmaßnahmen sind nicht verhältnismäßig.85
Anmerkung:
Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme kann auch im
Rahmen der Ermessensprüfung erfolgen. Genau genommen hat die
Behörde nämlich sogar ein dreifaches Handlungsermessen:
Sie entscheidet über
das „Ob“ des Einschreitens 
über das „Wie“

und „gegen wen“ sie vorgeht 
Entschließungsermessen,
Gestaltungsermessen
Auswahlermessen.
Die Entscheidung auf welche Weise der polizeiliche Zweck erreicht, die Gefahr also abgewehrt werden soll, gehört zum Gestaltungsermessen und kann daher auch dort geprüft werden.
d) Ermessen
Denken Sie an dieser Stelle an das „doppelte Handlungsermessen“
bezüglich des „Ob“ und „Wie“ der Gefahrenabwehr. Die gerichtliche Kontrolle beschränkt sich auf die Prüfung von Ermessensfehlern, also Über-, Unterschreitung, Fehlgebrauch oder Nichtgebrauch des Ermessens (§ 114 VwGO).86
Beispiele: A, B und C sind gefahrenabwehrrechtlich verantwortlich. Ergreift die
Behörde eine Maßnahme gegen A, weil sie von B und C nichts weiß, liegt ein
Fall des (Auswahl-) Ermessensnichtgebrauchs vor, da die Behörde glaubt,
keine Auswahl zu haben und sich gebunden fühlt. Weiß sie nur von C nichts,
liegt eine Ermessensunterschreitung vor, da zwar eine Auswahl (zwischen A
und B) getroffen wurde, jedoch C nicht in die Erwägungen miteinbezogen worden ist. Wendet sich die Behörde gegen den völlig unbeteiligten Z, handelt es
sich um eine Ermessensüberschreitung, da die Behörde die Grenzen des Ermessens verkannt hat und sich nicht i.R.d. gesetzlichen Maßstäbe hält. Nimmt
sie B in Anspruch, weil dieser häufiger in Leserbriefen die Politik der Verwaltung heftig kritisiert hat, liegt ein Ermessensfehlgebrauch vor. Die Behörde hat
eine zwar abstrakt zulässige Rechtsfolge gewählt, jedoch ist diese vom Zweck
der Ermächtigung nicht gedeckt.
84
85
86
Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit S. 16.
Dazu bereits S. 63.
Zur allg. Ermessensfehlerlehre vgl. Hemmer, VerwR I, Rn. 356 ff.
sowie S. 16 in diesem Skript.
Polizei- und Ordnungsrecht
76
2. Standardmaßnahmen im Überblick
Die sog. Standardmaßnahmen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts (§§ 177 ff., 199 ff. LVwG) enthalten die Befugnis zum
Erlass typischer Gefahrenabwehrverfügungen und werden daher
hier nur in aller Kürze dargestellt. Sie sind spezielle Ausprägungen
der ordnungsrechtlichen Generalklausel. Die Überprüfung von Verfügungen aus diesem Bereich weist daher – abgesehen von weiteren Tatbestandsmerkmalen – nur wenige Besonderheiten auf.
Die §§ 177 – 198 LVwG enthalten Standardermächtigungen zu
Erlangung und Umgang mit persönlichen Daten.
Die §§ 199 - 216 LVwG enthalten die die Befugnisnormen (und
Verfahrensvorschriften) zu den „klassischen“ Standardmaßnahmen:







Vorladung (§ 199 LVwG),
Platzverweisung (§ 201 LVwG),
Durchsuchung von Personen (§ 202 LVwG),
Gewahrsam von Personen (§ 204 LVwG),
Durchsuchung von Sachen (§ 206 LVwG),
Betreten und Durchsuchen von Räumen (§ 208 LVwG),
Sicherstellung von Sachen (§ 210 LVwG).
Zusammenfassung:
Die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Gefahrenabwehrverfügung erfolgt nach dem üblichen Schema.
I. Rechtsgrundlage
Beim Auffinden der Rechtsgrundlage gelten Vorrang und Sperrwirkung des spezielleren Gesetzes. Die Generalklausel des §§ 174, 176 LVwG greift erst, wenn nicht Sonderordnungsrecht oder Standardmaßnahmen
einschlägig sind.
II. Formelle Rechtmäßigkeit
Grds. ist die Ordnungsbehörde nach § 165 I LVwG vor der Polizei sachlich zuständig. Ausnahmen gelten
insb. in Eilfällen. Die örtliche Zuständigkeit richtet sich nach § 166 bzw. §§ 169 – 171 LVwG. Eine Anhörung des Betroffenen ist grds. erforderlich, sofern keine Ausnahme wegen „Gefahr im Verzug“ greift.
Eine besondere Formbedürftigkeit besteht nicht.
III. Materielle Rechtmäßigkeit
1. Tatbestand der Rechtsgrundlage
Ist Rechtsgrundlage §§ 174, 176 LVwG bedarf es einer bevorstehenden (konkreten) Gefahr bzw. Störung
für die öffentliche Sicherheit. Öffentliche Sicherheit bedeutet dabei die Unverletzlichkeit der objektiven
Rechtsordnung, der Individualgüter Dritter und der Funktionsfähigkeit des Staates und seiner Einrichtungen. Die Generalklausel kann Schutznormcharakter für Individualrechtsgüter haben und Anspruchsgrundlage für den Bürger sein.
2. Verantwortlichkeit
Die die in Anspruch genommene Person müsste gefahrenabwehrrechtlich verantwortlich sein.
3. Bestimmtheit, Möglichkeit, Verhältnismäßigkeit
Die Gefahrenabwehrverfügung muss ferner bestimmt genug, möglich und verhältnismäßig (geeignet,
erforderlich, angemessen) sein.
4. Ermessen
Gem. § 114 VwGO kann das Gericht die Ausübung des „doppelten Handlungsermessens“ auf das Vorliegen von Ermessensfehlern, also Über- oder Unterschreitung, Fehlgebrauch oder Nichtgebrauch des Ermessens überprüfen.
Polizei- und Ordnungsrecht
77
§ 6 VOLLSTRECKUNG EINER GEFAHRENABWEHRVERFÜGUNG
Grund-VA =
Vollstreckungstitel
Hat die Gefahrenabwehrbehörde eine Verfügung erlassen und leistet der Adressat dieser keine Folge, so kann die Behörde den Verwaltungsakt durch die Anwendung von Zwangsmitteln vollstrecken. Der Verwaltungsakt hat insoweit unmittelbar Titelfunktion.
I. Rechtsgrundlagen
Zwangsmitteleinsatz
unterliegt Vorbehalt des
Gesetzes
Liegen keine Sondervorschriften vor,87 richtet sich die Vollstreckung nach §§ 228 ff. LVwG.
II. Zwangsmittel
Die zulässigen Zwangsmittel, die der Verwaltung zur Durchsetzung der Verfügung zur Seite stehen, werden von § 235 I LVwG
abschließend aufgelistet:
 Zwangsgeld (mit der Möglichkeit der Ersatzzwangshaft),
 Ersatzvornahme und
 unmittelbarer Zwang.
Zwangsmittel haben
ausschließlich Beugefunktion
Sie dienen nicht der Bestrafung, sondern sind ausschließlich Beugemittel, um die Durchsetzung der Verfügung herbeizuführen.
1. Zwangsgeld (und Ersatzzwangshaft)
Zwangsgeld nach §§ 235 I Nr. 1. 237 LVwG kommt zur Durchsetzung von Handlungen bzw. bei der Verpflichtung zur Duldung
oder Unterlassung einer Handlung in Betracht.
Probleme mit der Beugefunktion des Zwangsgeldes ergeben sich
immer dann, wenn ein einmaliges Handeln, Dulden oder Unterlassen durchgesetzt werden soll.
Beispiel: Die Behörde verbietet B den Verkauf seiner hormonbelasteten Tiere
und droht je Tier und Zuwiderhandlung ein Zwangsgeld von 1.500 € an. A verkauft die Tiere dennoch auf einen Schlag. Gegen die Erhebung des Zwangsgeldes ließe sich einwenden, dass der Beugezweck nicht mehr erreicht werden
kann, weil alle Tiere verkauft sind und gegen das auferlegte Verbot nicht noch
einmal verstoßen werden kann. Dennoch sind Festsetzung und Beitreibung nach
h.M. rechtmäßig, da das Zwangsmittel ansonsten leerlaufen würde.
Ist das Zwangsgeld uneinbringlich kann als Fortsetzung Ersatzzwangshaft angeordnet werden (§ 240 LVwG).
2. Ersatzvornahme
Die Ersatzvornahme gem. §§ 235 I Nr. 2, 238 LVwG ist die Ausführung einer Verfügung durch die Behörde selbst oder durch beauftragte Dritte auf Kosten des Verantwortlichen.
87
Teilweise sind in den Standardmaßnahmen eigene Vollstreckungsregeln enthalten (z.B. §§ 181; 202 f.; 204 f.; 206 f.; 210 ff. LVwG).
78
Polizei- und Ordnungsrecht
Beispiel: Hauseigentümer H kommt der Abrissverfügung der Behörde für sein
einsturzgefährdetes Haus nicht nach. Die Behörde lässt den Abriss durch ein
privates Unternehmen durchführen.
3. Unmittelbarer Zwang
Führen Ersatzvornahme oder Zwangsgeld nicht zum Erfolg oder
sind sie untunlich (Ausdruck der Verhältnismäßigkeit), so kann die
Vollstreckungsbehörde gem. §§ 235 I Nr. 3, 239, 250 ff. LVwG
den Pflichtigen mit unmittelbarem Zwang (§ 251 I LVwG) zur
Handlung, Duldung oder Unterlassung zwingen.
88
Beispiele: Sog. „finaler Rettungsschuss“ auf einen Geiselnehmer;
Wasserwerfern zur Auflösung einer Versammlung.
Einsatz von
Grundsatz:
mehraktiges Verfahren
III. Die Vollstreckungsverfahren im Überblick
Ausnahme:
einaktiges Verfahren
Das Vollstreckungsrecht kennt zwei grundsätzlich unterschiedliche
Vollstreckungsverfahren:
 Das mehraktige Vollstreckungsverfahren, § 229 LVwG,
 das einaktige Vollstreckungsverfahren, § 230 LVwG.
Abgrenzungskriterium:
Grund-VA
mehraktiges Verfahren:
1. Akt: Grund-VA
2. Akt: Vollstreckung
Kommentieren Sie sich in
§ 229 I Nr. 2 LVwG über
„aufschiebende Wirkung“:
§ 80 II Nr. 2, 4 VwGO
einaktiges Verfahren:
Vollstreckung
ohne Grund-VA
Maßgebliches Abgrenzungskriterium beider Verfahrenstypen ist
das Vorliegen eines Grundverwaltungsakts:89
Beim mehraktigen Vollstreckungsverfahren muss stets ein GrundVA vorausgegangen sein, der entweder unanfechtbar ist (§ 229 I
Nr. 1 LVwG) oder bei dem ein Rechtsbehelf keine aufschiebende
Wirkung entfaltet (§ 229 I Nr. 2 LVwG, im POR regelmäßig über
§ 80 II Nr. 2 oder 4 VwGO (lesen!)). Dieser wird sodann unter Beachtung spezieller Vollstreckungsvoraussetzungen vollzogen. Das
mehraktige Verfahren ist der Regelfall.
Ausnahmsweise kann bei einer nicht anders abwendbaren, gegenwärtigen Gefahr zur effektiven Gefahrenabwehr auf die
Grundverfügung verzichtet und unmittelbar vollstreckt werden
(einaktiges Verfahren).
Beispiel: An einem heißen Sommertag steht ein abgeschlossenes schwarzes
Auto in der Sonne. Auf dem Rücksitz sitzt ein dreijähriges Kind, während die
Innentemperatur ständig steigt. Der Fahrer des Fahrzeugs ist nicht in Sicht. Da
hier eine gegenwärtige Gefahr für Leib und Leben des Kindes besteht, kann die
Polizei auf eine Grundverfügung verzichten und das Kind durch Einschlagen des
Fensters befreien.
IV. Rechtmäßigkeit der Vollstreckung
Die Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Vollstreckungsmaßnahme folgt im Grundsatz dem allgemeinen Prüfungsmuster:
88
89
Vgl. dazu umfassend: Schlömer/ Hombert, VerwR BT, Bd. 1,
§ 11 A. I.
Als Grund-VA wird im Vollstreckungsrecht die zu vollziehende Verfügung bezeichnet.
Polizei- und Ordnungsrecht
79
 Auffinden der Rechtsgrundlage für Vollstreckungsmaßnahme,
 formelle Rechtmäßigkeit der Vollstreckungsmaßnahme,
 materielle Rechtmäßigkeit der Vollstreckungsmaßnahme.
Anmerkung:
Prüfen Sie zumindest gedanklich, ob eine Grundverfügung vorliegt.
Ist dies der Fall, prüfen Sie das mehraktige (§ 229 LVwG), sonst
das einaktige Verfahren (§ 230 LVwG).
1. Mehraktiges Verfahren
a) Rechtsgrundlage
Rechtsgrundlage für die Anwendung von Zwangsmitteln ist § 229 I
LVwG i.V.m.:
 § 237 LVwG für die Anordnung von Zwangsgeld,
 §§ 237, 240 LVwG für die Ersatzzwangshaft,
 § 238 LVwG für die Ersatzvornahme und
 § 239 LVwG für die Anwendung unmittelbaren Zwangs.
b) Formelle Rechtmäßigkeit
Im Rahmen der formellen Rechtmäßigkeit ist im Vollstreckungsrecht regelmäßig nur auf die Zuständigkeit einzugehen. Zuständig
für die Vollstreckung ist gem. § 231 LVwG die Behörde, die auch
für den Erlass des Grund-VAs zuständig ist.
c) Materielle Rechtmäßigkeit
(1) Wirksame (HDU-) Grundverfügung
Kommentieren Sie sich
über „Verwaltungsakt“
in § 229 I LVwG:
§ 112 LVwG
Grundvoraussetzung für das mehraktige Verfahren ist das Vorliegen einer wirksamen90 Grundverfügung, die auf die Vornahme einer bestimmten Handlung, Duldung oder Unterlassung gerichtet
ist, § 228 I LVwG.
Lesen Sie die Norm!
(2) Vollziehbarkeit der Grundverfügung
Grundsätzlich muss die Grundverfügung weiterhin vollziehbar
sein, d.h. sie muss entweder unanfechtbar sein oder ein gegen sie
eingelegter Rechtsbehelf darf keine aufschiebende Wirkung
entfalten.
bei § 229 I Nr. 1 LVwG:
Rechtmäßiger Grund-VA
unstreitig nicht erforderlich
(3) Problem: Rechtmäßigkeit der Grundverfügung
Ist die Grundverfügung wirksam und unanfechtbar (§ 229 I Nr. 1
LVwG), so berührt der Einwand ihrer Rechtswidrigkeit nicht die
Rechtmäßigkeit der Vollstreckung. Anderenfalls würden die Fristen für die Anfechtung von Verwaltungsakten umgangen.
90
Die Wirksamkeit setzt Bekanntgabe voraus; ferner darf die Verfügung nicht aufgehoben oder nichtig sein.
Polizei- und Ordnungsrecht
bei § 229 I Nr. 2 LVwG:
Streitig, ob rechtmäßiger
Grund-VA erforderlich
e.A.:
Einwendungen gegen die
Vollstreckung möglich
a.A.:
Einwendungsausschluss
auf Primärebene, aber
Berücksichtigung des
rechtswidrigen GrundVAs auf Sekundärebene
80
Umstritten ist hingegen, ob bei sofortiger Vollziehbarkeit der
wirksamen Grundverfügung nach § 80 II VwGO (§ 229 I Nr. 2
LVwG) ihre Rechtswidrigkeit dem Vollstreckungsakt entgegengehalten werden kann.
Dies wird teilweise aus Gründen des Rechtsschutzes bejaht. Der
Vollzug der Grundverfügung würde den Betroffenen der Möglichkeit berauben, die Anordnung bzw. Wiederherstellung des Suspensiveffekts über Rechtsbehelfe (§ 80 IV, V VwGO) herbeizuführen.
Auf der anderen Seite widerspricht es der Forderung nach effektiver Gefahrenabwehr, das Vollstreckungsverfahren mit Einwendungen zu belasten, die den Grund-VA betreffen, obwohl dieser
wirksam und vollziehbar ist.
Daher spricht vieles für einen Einwendungsausschluss im Vollstreckungsrecht auf Primärebene, während bei der Frage nach der Kostentragung auf Sekundärebene die Rechtswidrigkeit der Grundverfügung zugunsten des Pflichtigen berücksichtigt wird.
Anmerkung:
Diese Problematik ist der „Klassiker“ im Vollstreckungsrecht und
ein beliebter Prüfungsaufhänger.
Stellen Sie das Problem dar, ohne sich für eine Ansicht zu entscheiden. Prüfen Sie anschließend inzident die Grundverfügung. Ist
sie rechtmäßig, kann der Streit offen bleiben. Ansonsten folgen Sie
einer Meinung.
(4) Androhung des Zwangsmittels
Grundsätzlich muss das Zwangsmittel dem Pflichtigen gem.
§ 236 I 1 LVwG angedroht werden, im Eilfall kann aber ausnahmsweise darauf verzichtet werden, § 236 I 2 LVwG.
(5) Zwangsmittelspezifische Erfordernisse
Teilweise enthalten die Zwangsmittel zusätzliche Erfordernisse, die
sich in den einzelnen Normen finden lassen.
(6) Ermessen, Verhältnismäßigkeit
Die Entscheidung nach §§ 228 ff. LVwG steht im Ermessen der
Behörde („ist zulässig“) und ist daher lediglich auf Ermessensfehler (§ 114 VwGO) zu überprüfen.91
91
Dazu bereits S. 15.
Polizei- und Ordnungsrecht
81
2. Einaktiges Verfahren (sofortiger Vollzug)
a) Rechtsgrundlage
Rechtsgrundlage:
§ 230 LVwG i.V.m. der
Befugnisnorm für den
Grund-VA
Rechtsgrundlage für den sofortigen Vollzug einer Maßnahme ist
§ 230 LVwG. Zwar ist der Erlass einer Grundverfügung aus Eilgründen nicht erforderlich. Dennoch müssen alle Voraussetzungen
vorliegen, welche die Behörde berechtigen würden, eine solche
Grundverfügung zu erlassen. In den Obersatz sollten Sie daher bereits neben § 230 LVwG auch die Rechtsgrundlage dieses sog. hypothetischen Grund-VAs aufnehmen.
Beispiel: Im obigen Fall „Kind auf dem Rücksitz“ wäre Rechtsgrundlage §§ 230
i.V.m. 174, 176 LVwG.
b) Formelle Rechtmäßigkeit
Zuständig für den Sofortvollzug ist die Behörde, die für den Erlass
des entsprechenden Verwaltungsaktes zuständig wäre. Dabei ist
insb. die Eilzuständigkeit der Polizei nach § 168 I Nr. 3 LVwG.
c) Materielle Rechtmäßigkeit
(1) Gegenwärtige Gefahr ist anders nicht abwendbar
Der sofortige Vollzug setzt zunächst eine gegenwärtige Gefahr
voraus, die nicht anders abwendbar ist. Diese qualifizierte Gefahr
verlangt in zeitlicher Hinsicht das unmittelbare Bevorstehen eines
schädigenden Ereignisses für die öffentliche Sicherheit.92
(2) Rechtmäßigkeit der hypothetischen Grundverfügung
Unterstreichen Sie sich in
§ 230 I LVwG:
„innerhalb ihrer Befugnisse“
Auf die Grundverfügung darf nur verzichtet werden, weil eine besondere Eilbedürftigkeit besteht. Dennoch müssen alle Voraussetzungen vorliegen, welche die Behörde berechtigen würden, die
Grundverfügung zu erlassen. Das ergibt sich aus § 230 I LVwG
(„innerhalb ihrer Befugnisse“). Daher fordert die h.M.,93 dass geprüft wird, ob man denn – falls Zeit gewesen wäre – einen rechtmäßigen Grund-VA hätte erlassen können.
Zu diesem Zweck der rechtlichen Überprüfung des behördlichen
Vorgehens wird die tatsächlich nicht vorliegende Grundverfügung fingiert. Dieser fingierte oder hypothetische Grund-VA muss
formell und materiell rechtmäßig sein. An dieser Stelle prüfen Sie
daher die Rechtmäßigkeit des Grund-VAs nach dem üblichen
Schema.94
Wäre der Grund-VA rechtswidrig, so ist es auch die Vollstreckung.
92
93
94
Vgl. dazu die Übersicht der Gefahrenstufen S. 63.
Vgl. dazu umfassend – wenn auch a.A. – Mehde NordÖR 05, 145.
Dazu bereits S. 70 ff.
Polizei- und Ordnungsrecht
82
(3) Ordnungsgemäßer Zwangsmitteleinsatz
Kommentieren Sie sich
neben § 230 LVwG:
§ 236 I 2 LVwG
Die zulässigen Zwangsmittel müssen schließlich ordnungsgemäß
eingesetzt werden. Eine Androhung der Zwangsmittel ist nach
§ 236 I 2 LVwG nicht erforderlich.
(4) Ermessen, Verhältnismäßigkeit
Wie bereits beim mehraktigen Verfahren steht die Entscheidung im
Ermessen der Behörde und ist daher auf Ermessensfehler (§ 114
VwGO) zu überprüfen.
Zusammenfassung:
Rechtsgrundlage für die Vollstreckung von Gefahrenabwehrverfügungen sind §§ 228 ff. LVwG. Die zulässigen Zwangsmittel des § 235 LVwG dienen als Beugemittel, um die Durchsetzung der Verfügung herbeizuführen.
Bei der Ersatzvornahme wird die Ausführung einer Verfügung durch die Behörde selbst oder durch Dritte
auf Kosten des Verantwortlichen übernommen. Als weitere Möglichkeit besteht die Festsetzung eines
Zwangsgeldes. Zudem kann die Behörde den Pflichtigen unmittelbaren Zwang zur Handlung, Duldung
oder Unterlassung zwingen.
Das Vollstreckungsrecht kann mit oder ohne den vorhergehenden Erlass einer Grundverfügung erfolgen
(mehraktiges bzw. einaktiges Vollstreckungsverfahren).
Beim mehraktigen Vollstreckungsverfahren (Regelfall) muss stets ein Grund-VA vorausgegangen sein, der
entweder unanfechtbar ist oder bei dem ein Rechtsbehelf keine aufschiebende Wirkung entfaltet und der
dann unter Beachtung spezieller Vollstreckungsvoraussetzungen vollzogen wird.
Ausnahmsweise kann im einaktigen Verfahren bei einer nicht anders abwendbaren, gegenwärtigen Gefahr ohne Grundverfügung vollstreckt werden.
Ist beim mehraktigen Verfahren der wirksame Grund-VA unanfechtbar (§ 229 I Nr. 1.LVwG), so berührt
der Einwand ihrer Rechtswidrigkeit die Rechtmäßigkeit der Vollstreckung nicht.
Ob dies auch bei sofortiger Vollziehbarkeit der Grundverfügung (§ 229 I Nr. 2. LVwG) der Fall ist, ist
streitig (e.A.: (-), Rechtsschutz; a.A.: (+), Effektivität der Gefahrenabwehr, aber Berücksichtigung auf der
Kostenebene), kann aber offen bleiben, wenn die Grundverfügung rechtmäßig ist (Inzidentprüfung).
Polizei- und Ordnungsrecht
83
Rechtmäßigkeit einer Vollstreckungsmaßnahme
Mehraktiges Verfahren, § 229 LVwG
Einaktiges Verfahren, § 230 LVwG
I. Vorprüfung: Grund-VA liegt vor
I. Vorprüfung: Kein Grund-VA
II. RGL: §§ 229 I i.V.m. 235 ff. LVwG
II. RGL: §§ 230 i.V.m. 235 ff. LVwG
und Befugnisnorm für Grund-VA
III. Formelle Rechtmäßigkeit
III. Formelle Rechtmäßigkeit
IV. Materielle Rechtmäßigkeit
 wirksamer (HDU-) Grund-VA
 Vollziehbarkeit des Grund-VA
 P) Rechtmäßigkeit Grund-VA
 Androhung des Zwangsmittels
 zwangsmittelspezifische Erfordernisse
 Ermessen, Verhältnismäßigkeit
IV. Materielle Rechtmäßigkeit
 gegenwärtige Gefahr ist nicht anders abwendbar
 Rechtmäßigkeit des hypothetischen Grund-VA
 Zwangsmitteleinsatz
 Ermessen, Verhältnismäßigkeit
§ 7 RECHTSSCHUTZ
I. Rechtsweg bei polizeilichem Handeln
Wendet sich der Betroffene gegen eine Maßnahme der Polizei, so
stellt sich bei der Prüfung des Verwaltungsrechtswegs die Frage
nach einer abdrängenden Sonderzuweisung.95
Polizei kann präventiv u.
repressiv tätig werden
bei Handeln der Polizei
i.R.d. Prüfung des Verwaltungsrechtswegs immer an
§ 23 EGGVG als abdrängende Sonderzuweisung
denken!
(P) Polizei wird gleichzeitig präventiv und
repressiv tätig
Die Polizei handelt nicht allein zur Abwehr von Gefahren (präventive Tätigkeit). Vielmehr sind ihr auch Aufgaben bei der Erforschung und Verfolgung von Straftaten übertragen (repressive Tätigkeit).
Der Verwaltungsrechtsweg ist nur für die Kontrolle präventiver
Polizeimaßnahmen nach § 40 I VwGO eröffnet. Repressive Polizeitätigkeit lässt sich bei den ordentlichen Gerichten überprüfen.96
Handelt die Polizei, muss daher bei der Prüfung des Verwaltungsrechtswegs im Rahmen der abdrängenden Sonderzuweisung unter Hinweis auf § 23 EGGVG (lesen!) immer eine Abgrenzung
zwischen präventiver und repressiver Tätigkeit vorgenommen werden.
Problematisch ist die Abgrenzung bei sog. doppelfunktionalen
Maßnahmen, wenn die Polizei mit einer Maßnahme zugleich zum
Zwecke der Gefahrenabwehr und zur Ermittlung einer Straftat tätig
wird. Nach h.M. entscheidet in diesen Fällen der Schwerpunkt der
95
96
Dazu bereits S. 22.
Zur systematischen Einordnung vgl. Hemmer, VerwR I, Rn. 48 ff.;
VerwR II, Rn. 103 ff.
Polizei- und Ordnungsrecht
h.M.:
Rechtsweg bestimmt
sich nach (obj.) Schwerpunkt der Maßnahme
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polizeilichen Tätigkeit aus der Sicht eines objektiven Beobachters
(Schwerpunkttheorie).97
Beispiel: Bei einem Einbruch in eine Apotheke werden einige Packungen Kokainpulver und zwei unbeschriftete Beutel mit Arsenstaub gestohlen. Die Polizei
befürchtet, dass die Diebe das Arsen im Milieu irrtumsbedingt als Kokain anbieten und damit Menschenleben gefährden und durchsuchen nach einem Hinweis
eine Privatwohnung. Zum Zeitpunkt des Einschreitens bestand immer noch eine
große Lebensgefahr für evtl. Konsumenten des Arsenstaubs. Der Schwerpunkt
der polizeilichen Tätigkeit lag damit im präventiven Bereich, so dass der Verwaltungsrechtsweg über § 40 I VwGO eröffnet ist
II. Statthafte Klageart
Wendet sich der Betroffene gegen eine Gefahrenabwehrverfügung,
ist problemlos die Anfechtungsklage statthaft. Im Falle einer Ermessensreduktion auf Null können Ermächtigungsgrundlagen auch
Anspruchsgrundlagen für behördliches Handeln sein.98 Insoweit ist
die Verpflichtungsklage einschlägig.
Ersatzvornahme und unmittelbarer Zwang grds.
Realakt, es sei denn, festgesetzt  VA
Im Vollstreckungsrecht ist hinsichtlich der verschiedenen Maßnahmen zu differenzieren: Ersatzvornahme und unmittelbarer
Zwang sind regelungsloses Verwaltungshandeln (Realakte) und
implizieren grds. keinen Verwaltungsakt,99 sondern werden durch
die auf Feststellung der Rechtswidrigkeit gerichtete allgemeine
Feststellungsklage erfasst.
Kommentieren Sie sich
neben § 229 und § 230:
Werden diese Zwangsmittel jedoch ausdrücklich gegenüber dem
Pflichtigen festgesetzt, wie es beim Zwangsgeld immer der Fall ist,
liegt ein Verwaltungsakt vor, ebenso bei der Androhung eines
Zwangsmittels.100 Widerspruch und Anfechtungsklage entfalten
gem. § 248 I LVwG jedoch keinen Suspensiveffekt.101
§ 248 I LVwG
Zusammenfassung:
Bei der Prüfung des Verwaltungsrechtswegs ist bei polizeilichem Handeln § 23 EGGVG als abdrängende Sonderzuweisung zu beachten Der Verwaltungsrechtsweg gilt nur für präventive (Gefahrenabwehr), nicht für repressive Tätigkeit (Strafverfolgung).
Bei doppelfunktionalen Maßnahmen entscheidet der Schwerpunkt der polizeilichen Tätigkeit aus der Sicht
eines objektiven Beobachters.
Ersatzvornahme und unmittelbarer Zwang sind grds. Realakte. Werden sie ausdrücklich festgesetzt, liegt darin
jedoch wie bei der Androhung eines Zwangsmittels ein Verwaltungsakt, gegen den Widerspruch und Anfechtungsklage gem. § 248 I LVwG keine aufschiebende Wirkung entfalten.
97
Vertiefend: Schlömer/ Hombert, VerwR BT, Bd. 1, § 11 A I.
Vgl. zu den „Obdachlosenfälle“ S. 66.
99
Zur früheren Konstruktion der „konkludenten Duldungsverfügung“
siehe S. 60.
100
Die Regelung liegt in der Auswahl eines konkreten Zwangsmittels.
101
Dieser kann jedoch gem. § 80 V VwGO beantragt werden, vgl. S. 50.
98
Polizei- und Ordnungsrecht
85
§ 8 BESONDERHEITEN DES
VERSAMMLUNGSRECHTS
§ 14 VersammlG:
Anmelde-, nicht Erlaubnispflicht
An dieser Stelle soll etwas ausführlicher auf die Besonderheiten
des Versammlungsrechtes eingegangen werden. Verschaffen Sie
sich zumindest einen kurzen Überblick über die Grundprobleme,
die das Versammlungsrecht bietet.
I. Anmeldepflicht
Eilversammlung,
Spontanversammlung
Gem. § 14 I VersammlG bedarf eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel der Anmeldung, die spätestens 48 Stunden vor
der Bekanntgabe zu erfolgen hat. Es handelt sich dabei nicht um
eine Erlaubnispflicht.
Im Hinblick auf Art. 8 GG bedarf es allerdings einer verfassungskonformen Auslegung des VersammlG: Danach ist dieses 48 hErfordernis zu reduzieren, wenn der Entschluss zu einer Versammlung erst später gefasst wird (Eilversammlung). Unter Umständen
kann die Anmeldungspflicht auch ganz wegfallen (Spontanversammlung).
II. Minusmaßnahmen
Auf S. 70 wurde bereits die „Polizeifestigkeit der Versammlung“
erörtert.
Minusmaßnahmen:
Rückgriff auf die Rechtsfolgen des allg. POR bei
Vorliegen der Voraussetzungen des § 15 III
VersammlG
Ausnahmsweise kann die Behörde dennoch auf das allgemeine
Gefahrenabwehrrecht zurückgreifen, wenn die strengen tatbestandlichen Voraussetzungen des § 15 III VersammlG erfüllt sind. Eigentlich könnte die Polizei die Versammlung auflösen. Statt dessen
kann sie auch auf die Auflösung verzichten und auf die milderen
und flexibleren Rechtsfolgen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts als sog. „Minusmaßnahmen“ zurückgreifen.
Beispiel: Anlässlich einer öffentlichen Versammlung der Partei P kündigt eine
Gruppe von Studenten eine „Gegendemo“ an, um sich selbst darzustellen und
die Versammlung zu „sprengen“. Als sich die „Gegendemo“ dem Marktplatz
nähert, erteilt die Polizei Platzverweise und nimmt einzelne „Steinewerfer“ in
Gewahrsam.
Die „Gegendemo“ ist als Versammlung grundsätzlich „polizeifest“. Da die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 15 III VersammlG jedoch vorliegen, kann
die Polizei auf die Auflösung verzichten und auf die milderen und flexibleren
Rechtsfolgen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts in Form von Platzverweisen und Ingewahrsamnahmen als „Minusmaßnahmen“ zurückgreifen.
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Polizei- und Ordnungsrecht
III. Nichtöffentliche Versammlung
(P) Nichtöffentliche
Versammlung
Tagt eine Versammlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit, handelt es sich um eine nichtöffentliche Versammlung. Das VersammlG gilt gem. § 1 I nur für öffentliche Versammlungen. Der
Anwendungsbereich des VersammlG ist damit nicht eröffnet. Ein
Rückgriff auf das allgemeine Ordnungsrecht wäre somit eigentlich
möglich.
e.A.:
VersammlG analog
Teilweise wird dieser Rückgriff jedoch abgelehnt und das VersammlG analog herangezogen, da die strengeren Eingriffsvoraussetzungen VersammlG erst recht für eine nichtöffentliche Versammlung gelten müssen, von der für die Allgemeinheit grundsätzlich geringere Gefahren ausgehen.
h.M.:
allg. POR restriktiv
Die h.M. lehnt die analoge Anwendung des VersammlG wegen
einer fehlenden Regelungslücke des Gesetzes ab. Allerdings legt
sie den Eingriffstatbestand aus dem allgemeinen Ordnungsrecht im
Lichte des Art. 8 GG aus, so dass die Auflösung der Versammlung
nur zum Schutz der Grundrechte Dritter bzw. sonstiger Verfassungsgüter dienen darf.
IV. Vorfeldmaßnahmen
(P) Vorfeldmaßnahmen
Ein weiteres Problem stellt sich bei polizeilichen Maßnahmen im
Vorfeld der Versammlung (z.B. auf dem Hinweg). Hier ist zu differenzieren: Richtet sich die Maßnahme gegen die Versammlung
als solche, d.h. wird die Versammlungsteilnahme bewusst beschränkt oder verhindert und damit in Art. 8 I GG eingegriffen, so
ist das VersammlG anwendbar. Soweit sich die Vorfeldmaßnahmen
nicht gegen die Versammlung selbst richten, weil sie z.B. der Verhütung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten dienen, ist das
allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht anwendbar.
Zusammenfassung:
Verhältnis VersammlG – allg. POR
Maßnahmen im Vorfeld
Maßnahmen während
Maßnahmen nach
der Versammlung
der Versammlung
der Versammlung
anwendbar
nicht anwendbar
bei versammlungstypischen
Gefahren („Polizeifestigkeit“)
nach Auflösung
VersG in der Regel nicht anwendbar,
Ausnahme: Maßnahme ist gegen die
Versammlung als solche gerichtet
POR
anwendbar,
anwendbar
anwendbar bei:
wenn sich Maßnahme nicht gegen die  nichtversamml.typ. Gefahren,
Versammlung als solche richtet bzw.  hins. der R.folgen bei „Minusmaßnahmen“,
Anreise selbst keine Versammlung ist
 nichtöffentl. Vers. (h.M.)