Leseprobe
Transcription
Leseprobe
SUBJEKTILE Herausgegeben von Marcus Coelen und Felix Ensslin Monique David-Ménard Deleuze und die Pychoanalyse Ein Streit Aus dem Französischen von Franziska Schottmann diaphanes Titel der französischen Originalausgabe: Deleuze et la psychanalyse: L’altercation © Presses universitaires de France 2005 1. Auflage ISBN 978-3-03734-097-4 © diaphanes, Zürich-Berlin 2009 www.diaphanes.net Alle Rechte vorbehalten Satz und Layout: 2edit, Zürich Druck: Majuskel, Wetzlar Inhalt Prolog: Deleuze, ein Gefährte für Psychoanalytiker? Die Zeit der Verzweiflung in der Übertragung Eine neue transzendentale Ästhetik in der Kur? »Die unversöhnte Zeit« 7 9 14 16 I. Klinik und Philosophie Das Problem Die Polemik 23 23 28 II. Loblied auf den Masochismus, Kritik am Begriff der Lust 39 III. Philosophie der Wiederholung Die drei Wiederholungen Das Unbewusste und die Probleme 53 57 69 IV. Der organlose Körper Artaud und Van Gogh Distanznahme zum Organismus Die »Werdeweisen« und ihr »immanentes Ziel« 75 76 80 83 V. 97 Die Werdeweisen und die disjunktiven Synthesen Die disjunktiven Synthesen und die Erfindung von Leben und Denken Wiederholen und Erfinden nach Deleuze und Freud Die Ambivalenz der Wiederholung in der Psychoanalyse 97 101 107 VI. Philosophie des Unendlichen Die Affinität der Philosophie mit dem Unendlichen Das Unendliche und die kontingente Vernunft Über Alain Badious Deleuze-Lektüre Bringt eine begriffliche Erfindung das Unendliche ins Spiel? 113 115 119 121 VII. Die disjunktiven Synthesen ohne das Unendliche Ein klinisches Beispiel für das, was sich in den Kuren als ›das Negative‹ darstellt 139 132 150 VIII. Kant und das Negative Historische Darstellung Systematische Darstellung Die Zukunft der negativen Größen bei Kant und darüber hinaus Zusammenfassung: Der philosophische Ort der Psychoanalyse 157 161 167 172 179 Prolog Deleuze, ein Gefährte für Psychoanalytiker? »Das sind die beiden großen originalen Figuren [Billy Budd und Bartleby], die man überall im Werk Melvilles wiederfindet, die Panoramaaufnahme und Fahrt, stationärer Prozess und unendliche Geschwindigkeit. […] Es verhält sich wie bei den großen Figuren des Malers Bacon, der eingesteht, das Mittel noch nicht gefunden zu haben, um zwei solche Figuren in einem einzigen Bild zu vereinen. Und dennoch wird Melville es finden. Wenn er sein Schweigen bricht, um schließlich Billy Budd zu schreiben, dann weil dieser letzte Roman unter dem durchdringenden Auge des Kapitäns Vere die beiden Originale wieder vereint, das dämonische und das versteinerte.«1 Diese Worte von Gilles Deleuze sollen veranschaulichen, inwiefern mich als Analytikerin seine Überlegungen zu Kunst und Philosophie bei der Arbeit mit meinen Patienten begleiten können; insbesondere mit denjenigen Patienten, die es mir sehr schwer machen, mir ausgehend von dem, was ich höre, eine Geschichte vorzustellen oder auf irgendeinen Sinn oder irgendwelche Signifikanten zu hoffen, die konstitutive Knoten markieren würden. Deleuze’ Denken über Kunst als eine Weise, wie sich ein Original in der Nähe des Unhörbaren und Ungeformten hält, und sein Denken über die Philosophie als Wagemut in den Fluten des Undenkbaren, beschreiben einen Ort der Sublimierung, wie ihn die Kuren von als psychotisch bezeichneten Patienten für den Analytiker hervorrufen können. Aber die Analyse ist zunächst kein Ort der Sublimierung, und zwar ebenso wenig in der Arbeit mit psychotischen wie mit anderen Patienten, zumindest wenn man unter Sublimierung eine Umgestaltung versteht, die um die Probleme der Triebe und ihrer Wiederholung kreist. Die Analyse geht anders zu Werke: Ausgehend von dem, was plötzlich in der Wiederholung auftaucht, geht es darum, einen Statuswechsel der Wiederholung selbst zu bewirken und sie zum Anlass einer Veränderung zu machen. Die Texte von Deleuze sind für den Analytiker 1 Gilles Deleuze: »Bartleby oder die Formel«, in: ders.: Kritik und Klinik, übers. v. Joseph Vogl, Frankfurt a. M. 2000, S. 94–123, hier S. 114f. 7 Begleiter in den Kuren und liefern ihm einen zusätzlichen Kommentar zu der Angst, die durch den »anomalen« Charakter seiner Patienten, die man als »Originale« bezeichnen könnte, in ihm ausgelöst wird. Aber gerade die Angst ist der Ausgangspunkt seiner Arbeit: Der Analytiker ist herausgefordert, sich einer Verzweiflung am Sinn und einem Zerspringen der Zeit, die zugleich erstarrt ist und in den Verknüpfungen aufblitzt, zu stellen. Beide, Zeit und Verzweiflung, entstehen manchmal auf den Abwegen der Sitzungen und lassen ihn ohne Stimme zurück. Die Möglichkeit, eine Analyse mit einem psychotischen Patienten durchzuführen – eine Analyse, die nach Octave Mannonis Ausdruck eher eine Desanalyse ist – beruht zunächst auf dem, was passiert, wenn der Patient das Risiko eingeht, das Schweigen bloßzulegen, welches in ihm wohnt – oder genauer: die Beziehung zwischen Schweigen und Sprechen, die bei den beiden Protagonisten einer Kur auf verschiedene Weisen miteinander verknotet sind. Etliches in Deleuze’ Worten ließe sich mit der Übertragungserfahrung vereinbaren, welche mit Menschen entsteht, die stärker vom Schweigen und von Katastrophen betroffen sind als der Großteil unserer Patienten. Nichts jedoch kann das Ereignis der Übertragung in diesem Zusammentreffen in Zeit und Raum zwischen zwei Menschen ersetzen, die unterschiedliche Zugänge zur Sprache haben. Der Nutzen des Denkens von Deleuze und Guattari, mit und trotz ihrer Polemik gegen die Psychoanalyse, tritt erst dann zu Tage, wenn man beschreibt, welche Funktion eine Zeit der Verzweiflung in diesen Kuren haben kann. Diese Beschreibung steht weder im Namen einer philosophischen Wahrheit noch erfolgt sie, um ein anderes Bild des Denkens oder eine andere Doktrin von Zeit und Raum zu verteidigen als diejenige, die Kant als transzendentale Ästhetik formuliert hat; vielmehr ist sie ein perlender Bericht von einer Begegnung mit dem Unmöglichen, dem sich zwei Menschen auf verschiedene Weise annähern. Vorausgesetzt, der Patient geht das Wagnis ein, einige Elemente seiner A-topie preiszugeben: Die Möglichkeit, dass sich sein Leben – zumindest ein wenig – umgestaltet, hängt davon ab, inwiefern er die Angst des anderen, des Analytikers, herausfordert und ihn gewissermaßen zur Verzweiflung treibt. 8 Die Zeit der Verzweiflung in der Übertragung Der Aspekt der Verzweiflung des Analytikers ist in Bezug auf die Übertragung an das Hier und Jetzt gebunden, das mit seinen spezifischen Koordinaten die Erschöpfung eines Sprechens charakterisiert, welches sich mitten in den Sätzen des Patienten verliert, ohne dass diese jemals sinnvoll enden würden. Sicher ist in jeder Analyse der Sinn nur ein scheinbarer. Aber wenn der Analytiker denen zuhört, die man als Neurotiker bezeichnet, kann er den Sinn als Schein ansehen, als ein immer nur provisorisches Resultat von etwas anderem. Kommt hingegen ein Patient über Jahre hinweg regelmäßig zu den Sitzungen, die jener Schwelle des Sprechens, an der er verharrt, Konsistenz geben, beweist er damit, dass diese Schwelle selbst das Entscheidende ist und nicht die Hoffnung, sie zu überschreiten. Dann aber gilt es gerade aus dem Scheitern eines jeden Satzes, der hartnäckig in Schweigen erstickt wird, einen Stil zu erzeugen, den Stil eines schwierigen Lebens. Sicherlich gibt es in diesen Analysen einige zeitliche Anhaltspunkte, die scheinbar eine Geschichte entwerfen: der Weggang des Vaters etwa, als die betreffende Patientin neun Jahre alt war; die Unmöglichkeit zu wissen, ob er sich, wie angekündigt, umgebracht hatte oder noch irgendwo anders lebte (er hatte schon zu seinen Lebzeiten »anderswo« Kinder gezeugt); die Tatsache, dass sein Weggang weitere Abwesenheiten wiederholte: »Meine Eltern haben geheiratet, weil mein Vater einen Unfall hatte. Er wurde von einer Straßenbahn überfahren, als er ein Kind davor retten wollte. Er wurde trepaniert.2 Meine Mutter sagt, dass die Eltern meines Vaters die Ehe nach diesem Unfall stark befördert hätten, wenngleich sie sie nicht mochten. Die Ärzte hatten gesagt, dass es in ein paar Jahren Schwierigkeiten geben würde, und im vorausgesagten Zeitraum verschwand er. Als ich geboren wurde, war er nicht da, er war auf einer Demonstration und verbarrikadierte sich hinter einer Straßenbahn gegen die Polizei.« Aber diese Daten, die Anhaltspunkte zu sein scheinen, zersprengen in ihrer blinden Hellsichtigkeit die Zeit; sie glätten das Leben und sogar, wenn sie in einer solchen Erzählung abgehandelt werden, die Möglichkeit einer biographischen Geschichte mit ihren Drehungen, Wendungen und 2 Unter einer Trepanation versteht man die Anbohrung des Schädels zur Herabsetzung des Gehirndrucks, u.a. in Folge von Ödembildung; A.d.Ü. 9 Scheingebilden. Woher kommt überhaupt die Gewalt in diesem zeitlosen Bericht von einer Katastrophe, die sich seit jeher angekündigt hat? Die Analytikerin hat kaum Zeit, sich diese Fragen zu stellen, als in der Kur für lange Zeit Schweigen eintritt. Eine der Ideen, die der Analytikerin in den Sinn kommen, ist natürlich die Theorie der Verwerfung des Namens des Vaters: Meiner Patientin ist die Inexistenz dieses Vaters sowohl als Mann für die Mutter als auch als unheimlicher Vater für die Kinder durch den Diskurs einer Mutter überliefert worden; und über meine Patientin gelangte er zu mir. Aber diese negative und rein beschreibende Bestimmung sagt – trotz ihrer Charakteristik für die differentielle Diagnostik der Psychose mit Bezug zur Neurose – nichts darüber aus, wie die Gewalt dieser Worte entstanden ist, die aus einer Geburt einen Fluch machen. Zumal sich die Analytikerin weniger die Frage stellt, worum es sich bei diesen aufblitzenden Verknüpfungen handelt; eher nimmt sie zur Kenntnis, dass ein Diskurs, der das Sprechen verschließt, in eine Rückkehr zum Schweigen hic et nunc übergeht. Diese junge Frau wurde während der schweigenden Sitzungen ganz abwesend, manchmal verrenkte sich ihr Körper in Sekundenschnelle – sekundenschnell für die ihr gegenübersitzende Analytikerin –, ihr Blick entglitt, während Arme und Beine sich krümmten, bis zu dem Moment, in dem sich ein Rhythmus einstellte, der in einem Schaukeln und einer kreisenden Bewegung derselben Hand bestand, mit der sie einen Faden des Pulloverärmels aufzwirbelte. In diesem Moment suchte ihr Blick kurz den der Analytikerin, beruhigte sich dann und verlor sich anderswo, und erst die Stimme der Analytikerin, die wie ein Clown in der Leere von der Möglichkeit des Sprechens zeugte, ließ die junge Frau aufschrecken. Wie sich gegenüber der Tatsache verhalten, dass diese Wahrheitssequenz unverzüglich die Hoffnung auf ein Sprechen zerschlägt? Der entscheidende Punkt an der Übertragung ist die Nutzlosigkeit für eine Interpretation der aufeinander bezogenen Elemente trepaner – t’es pas née.3 Aber das ist keine negative Angelegenheit: Die Patientin kommt Sitzung für Sitzung, um die Weise, in der sie auf das Schweigen beschränkt ist, als Handlung aufzuführen. Die gebannte Analytikerin beginnt von dem zu träumen, was 3 Dieser Ausdruck ist unübersetzbar und spielt mit dem Gleichklang von »trépaner« [trepanieren; in den Schädel bohren] und »t’es pas née« [du bist nicht geboren]; A.d.Ü. 10 in ihrer eigenen Geschichte einige Menschen mit dem sprachlosen Tod und den Körper mit dem Verschwinden verbindet. Aber es genügt nicht, dass sie in sich selbst erkennt, womit sie sich gegen die Gefahr des Schweigens und die Absurdität verteidigt, die unter jeder symbolischen Organisation schwelt. Denn in dieser Kur geht es sowohl für die Analytikerin als auch für die Patientin eher darum, ihre jeweiligen Bedingungen für den Zugang zur Sprache zu akzeptieren. Gewiss spielt die Analytikerin manchmal auf die biographische Geschichte an, wenn sie die Patientin auf ihr Schweigen anspricht: Jene erzählt dann bruchstückhaft von ihrer Stummheit als Jugendliche; über lange Monate hinweg hatte sie sich nach dem Verschwinden ihres Vaters, über das nichts Sicheres gesagt wurde, in ihrem Zimmer verschanzt. »Es gab da weder etwas Wahres noch etwas Falsches, also…« Und wie jedes Mal mündet das ansetzende Sprechen in einen Satz, der zu wahr ist, und dann in Schweigen. Vier Jahre lang, drei Mal pro Woche, eine dreiviertel Stunde pro Sitzung. Ich frage mich, wozu ich nütze bin und schwanke zwischen dem Drang, meine Patientin woanders hinzuschicken, und der Hoffnung, die Sitzungen würden für sie eine entscheidende Bedeutung gewinnen – letztere war zweifellos zu stark, wie mir ein Detail zeigte: Wenn sich der Moment einstellt, in dem sich der Satz nach seinem Beginn verliert, betone ich dieses Ereignis durch eine kurze Bemerkung (»Ach!« oder auch »Wie wird wohl das Schweigen beschaffen sein, das sich nun ankündigt?«) und durch ein Lächeln, das sie erwidert. Monat um Monat gewöhnen wir uns daran, über den Schwund der Rede im Moment ihrer Entstehung zu lächeln. Wir gewöhnen uns auch an das Warten auf das (jedes Mal unwahrscheinlichere) Auftauchen einer sofort verpuffenden Satzsequenz. An guten Tagen sage ich mir, dass nichts und niemand dazu gezwungen ist, auf nur eine einzige Weise in die Sprache und die Welt der Menschen einzutreten, dass man es auch auf diese minimale Weise tun kann, und dass es völlig in Ordnung ist, dies zuzulassen. Und überhaupt ist doch der Entwurf einer Erzählung, die sich um die Frage nach den Ursprüngen und dem Ödipuskomplex zentriert, viel weniger wichtig als diese minimale Begegnung am Rande eines Abgrunds, dessen Koordinaten für Patientin und Analytikerin verschieden sind. Manchmal akzeptiert die Patientin meine Einladung, sich an einem Ort zu begegnen, an dem das Sprechen möglich wäre, doch die meiste Zeit lässt sie sich nicht darauf ein. Nie würde sie anderen Ausdrucksmitteln zustimmen; an 11 dem Tag etwa, an dem ich ihr vorschlug, sich durch Zeichnungen auszudrücken, sah sie mich an, als sei ich verrückt oder ganz einfach lächerlich. Als ihre Großmutter mütterlicherseits starb und ihren »Körper der Medizin stiftete« – noch ein Körper, der verschwindet, sage ich mir –, erzählt sie mir von einem Alptraum: Sie befand sich mit den Eltern ihres Vaters auf dem Hang eines Tals, das in der Stadt lag, die diese Großmutter bewohnte. Sie wollte ihnen gern ein Zeichen geben, sie aber nicht treffen. Sie stieg auf den Grund des Tals hinab, wo sich Tiere befanden, die von Menschen geschlagen wurden. Es war widerlich: ein Kamel, das keinen Schädel, sondern nur ein Hirn hatte und das man dort prügelte. »Kamel?« »Das war ein Ausdruck meiner Großmutter, sowie auch das Zeichen, das ich den andern Großeltern machte.« Die Kopfverletzung erinnerte sie an ein kleines Mädchen, das sie während eines Krankenhausaufenthalts gesehen hatte, wo sie mit zehn Jahren wegen einer Missbildung, die mit ihrer Geburt verbunden war, operiert werden sollte und die ihre Mutter als ein Verhängnis ansah. Sie hatte dieses kleine Mädchen, das einen Blutsturz hatte, im Gang gesehen und erneut an sie gedacht, als eine Mitschülerin an einem Hirntumor starb. Ein anderer Traum, einige Tage später: Sie war bei Freunden zum Frühstück, die in großer Eile zur Arbeit aufbrechen mussten, möglicherweise war auch ihre Mutter da. Sie erhob sich und als sie sich umdrehte, war der Tisch bereits abgeräumt und erneut für den Abend gedeckt. Es war ein runder Tisch mit weißem Tischtuch und tiefen Tellern. Es war merkwürdig. Sie ging fort und sah in einem Brunnen in ihrem Viertel tote Kaulquappen treiben. Da erwachte sie, es war widerlich. Eines Tages sagte sie: »Ich glaube, ich werde nicht wiederkommen. Wenn ich hier bin, werden die Worte fest, ich sehe eine Menge Worte an der Wand und am Rande der Worte stürzt jemand in die Leere. Ich spreche nur über Katastrophen.« Dennoch kam sie noch einige Monate lang und eines Tages erzählte sie von einem Traum, der kein Alptraum war: Sie war in einem Frauengefängnis, in dem alles ekelhaft war, überall war Kot, aber sie ging von dort weg und machte einen Spaziergang zum Supermarkt. Dort suchte sie Schokolade einer bestimmten Marke, »Pic-Nic«, die sie zunächst nirgends finden konnte, bis ein kleines Mädchen sie ihr in einem erhöhten Regal zeigte. Nach diesem Aus- 12 flug kehrte sie in das Frauengefängnis zurück, »das war alles, was möglich war.« Ich spreche sie auf diese kleinen Mädchen in ihren Alpträumen an. Das heißt, ich sage nicht mehr über die Mädchen, als dass sie da sind. Natürlich denke ich an das Zerspringen der Zeit für das kleine Mädchen, das sie ist und an das, was für sie in einer Zeit verhärtet ist, die nicht nur mit dem Verschwinden des Vaters zusammenfällt. »Jedenfalls«, sagte sie eines Tages, »war das immer so, selbst vor…«. Vor was? Das wird nicht gesagt, niemals benennt sie, was ich in meiner Sprache zu Unrecht in Ereignissen zusammenfasse. Nach diesem Traum, beim Verlassen meines Arbeitszimmers, zögert sie, kehrt auf dem Absatz um, macht erneut Anstalten zu gehen, und mir kommt der Titel des Stücks von Musset in den Sinn, den ich in fragendem Tonfall einwerfe: »Muss eine Tür offen oder geschlossen sein?«4 Dann geht sie und kommt nicht wieder… Ich versuche nicht sie zurückzuhalten und denke an ihren Traum mit den Klos in einem Frauengefängnis und der Schokolade und auch daran, wie ich auf ihr »das war alles, was möglich war« mit einem Satz von Musset »geantwortet« habe. Wenn ich das Wort ergriff, schwang in dem Klang der Sätze oft eine beinah unerträgliche Gewalt mit. Daher mein Eindruck, tatsächlich eine ungeheure Gewalt auszuüben und nicht nur völlig danebenzuliegen, sondern sogar Gefahr zu laufen, sie abermals in die Abwesenheit zu stoßen. Ich fürchtete, sie durch die Wahl, vor die sie der Titel von Musset stellte, einer Unmöglichkeit und einer ausschließlichen Entscheidung ausgesetzt zu haben, die ihr die Schwelle der Rede, an der sie sich auf das Schweigen öffnet, in dem sie sich hält, unpassierbar machte. Zugleich sage ich mir, dass ja gerade die Gewalt, als deren Vermittler ich durch meine Worte immer wieder aufs Neue eingesetzt werde, für sie die Bedingung für jedweden Zugang zur Sprache markiert, und sie ihn deshalb vielleicht in ihrem Nein-Sagen ertragen kann. Zudem habe ich halbwegs Vertrauen in das, was sie im Traum formuliert. Die Jahre vergehen… vier oder fünf. Eines Tages ruft sie an und kommt zurück. Ich bin glücklich, sie am Leben zu wissen; sie hat ihr Leben geändert, ist nach einer äußerst anspruchsvollen technischen Ausbildung Chemie-Ingenieurin geworden und hat eine sehr technische Arbeit gefunden, die ihr die 4 Dies ist eine Anspielung auf ein Drama von Alfred de Musset mit dem Titel Il faut qu’une porte soit ouverte ou fermée (1845); A.d.Ü. 13 Tatsache zu ertragen erlaubt, dass es »mit den anderen zu hart ist«. Sie will wiederkommen, weil »es viele Dinge gibt, die ich nicht machen kann«. Ich versuche zunächst, mich zu drücken und sage ihr, dass ich nicht weiß, ob wir auf andere Weise weitermachen können, aber durch ihr stilles Beharren begreife ich, dass sie zurückgekommen ist, um eben nirgendwo anders hinzugehen, und so erkläre ich mich bereit, sie wieder regelmäßig zu empfangen. Eine neue transzendentale Ästhetik in der Kur? Meine Absicht ist nun nicht, den Fortgang dieser Kur zu erzählen. Die unbewegliche Zeit, die diese Frau immer wieder zu derselben, im Alptraum verbildlichten Katastrophe und an die Schwelle ihres Zugangs zur Sprache zurückführte, der sich gerade als die Unmöglichkeit darstellte, in die Sprache einzutreten – »I would prefer not to«, in den Worten von Melvilles Bartleby – trieb mich selbst in Verzweiflung. Hiervon ausgehend möchte ich darstellen, wie diese junge Frau wieder anfangen konnte zu träumen, und sie träumte nun nicht mehr immer wieder von der gleichen Katastrophe, sondern in unendlich verschiedener Weise davon, was für sie in Raum und Zeit nicht stimmte. »Das, was nicht stimmt« ist ein negativer Ausdruck, doch in dieser zweiten Phase der Analyse fand sie in ihren Träumen Formen für außergewöhnliche Raumanordnungen und neue zeitliche Kurzschlüsse und Sequenzen, für nie gesehene Farben und Eindrücke, die die Originalität ihrer vorbildlosen Welt offenbarten. So träumte sie beispielsweise von einem Ausflug auf einen Campingplatz, auf dem sich zwei Zelte gegenüber standen, nur dass die Heringe in dieser Anordnung immer asymmetrisch waren. »Es ist ein Raum, wo ›gegenüber‹ keinen Platz hat.« Oder sie badete in einem Meer, das erkaltete und »niemals wieder warm werden konnte«. Einmal befand sie sich mit ihrem älteren Bruder in einem Auto, sie saß am Steuer und plötzlich blieb sie mit etwas an einem Schalthebel hängen und alles veränderte sich: Sie verlor das Raumgefühl, und alles, »die Rückspiegel zum Beispiel«, zog sich zusammen, sie bekam keine Luft mehr und ihr Bruder war nicht mehr da. Doch am Ende konnte sie wieder atmen. Es war weniger wichtig, dass sie nun einige Traumelemente mit Bruchstücken ihrer Geschichte oder mit Tagesresten assoziierte, sondern wichtiger war, dass sich ganz unerwartet eine Erfindungs- 14 gabe entfaltete, um Bilder für das Unmögliche entstehen zu lassen, das sich in Zeit und Raum einschleicht. In einem anderen Traum war sie mit Kollegen am Meer: Zuerst sah sie von der einen Seite eine ruhige Küste, dann aber von der anderen tosende Wellen; es gab jedoch »keine Grenze zwischen den zwei Ansichten«. Am Ufer versuchten ihre Kollegen auf dem Wasser zu gehen, zu treiben: Sie hielten ein Seil hinter ihren Rücken, so dass sie auf dem Wasser gehen konnten. Sie selbst glaubte es zunächst nicht zu können und immer einzusinken, schließlich ging es aber doch. Als sie auf dem Wasser trieb, bemerkte sie jedoch, dass das Gegenüber der beiden Meere, einerseits aufgewühlt, andererseits ruhig, ein Gemälde war. Diese Entdeckung führte zu einem anderen Teil des Traumes, in dem sie ihr Handy verloren hatte. Diese Träume versetzten mich aber nun nicht mehr in gebanntes Staunen oder in – angesichts des Herannahens des immergleichen unheilbaren Risses – angsterfülltes Schweigen. Vielmehr war ich voll Bewunderung für ihre Fähigkeit, eine Form für die Einzigartigkeit ihrer Welt und die Aspekte des Unmöglichen in ihr zu finden. Was jedoch keineswegs die Aufhebung ihrer Verwerfung bedeutete. Denn auch wenn sie jetzt über ihre Träume reden konnte, sagte sie: »Ich weiß nicht, was ich hier fabriziere, ich bin immer schon ständig ins Stocken geraten.« »Immer schon?« »Ja, meine Schwester hat das genervt, wenn ich als kleines Kind gesungen habe. Ich komme ins Stocken und gerate in etwas hinein und danach gibt es überhaupt keine Kontinuität mehr, es existiert weder ein Davor noch ein Danach. Ich sehe Dinge, die nicht existieren, Menschen, die abwechselnd auftauchen und verschwinden, und die für mich wirklicher sind als alles andere.« Wenn sie in ihren Traumschöpfungen in Panik geriet, dann waren ihre Träume zugleich Ausdruck und Bestandteil ihres Verlangens, »das Spiel zu beruhigen«: »Ich war Tiefseetauchen. Ein Mann half mir und ich hatte Vertrauen, doch plötzlich ging es zu schnell, es gab einen ohrenbetäubenden Lärm und ich versuchte, alles zu verlangsamen.« Ich dachte daran, wie sie beim geringsten Geräusch zusammenzuckte, an ihre Unempfindlichkeit gegenüber Kälte (sie trug niemals einen Mantel) und zugleich an die außergewöhnliche Subtilität ihrer Gefühlspalette, die in ihren Träumen freigesetzt wurde. Es schien mir, als beruhe die Möglichkeit dieser Kur auf der Tatsache, dass das, was nur in der negativen Sprache des Unmöglichen 15 oder Irreparablen kodiert werden konnte, nunmehr variierte und infolgedessen positive Anordnungen hervorbringen konnte. Zunächst musste für die Asymmetrie der Positionen, die immer gefährlich nah an der Absurdität und einer in Endzeitszenarien zerspringenden Zeit waren, eine Sprache gefunden werden: die Sprache einer Analysandin, welche weder eine Wahrheit, die den Wahnsinn idealisiert, noch eine abwehrende Verweigerung gegenüber einer zersplitterten Welt ist, sondern eine Angst, die sich während der Sitzungen entwickelte und auf dem Spiel stand. Aus der Zerrüttung eines Sprechens, das nur begann, um sich in einer Unterbrechung zu verlieren, entstanden ganz verschiedene Formen des Neuen: Dieser Statuswechsel des Negativen ermöglichte, die Zeit eines Lebens zu erfinden, das von Verzweiflung bedroht war. Diese Verzweiflung, die in Unbeweglichkeit erstarrte, um nicht übermächtig zu werden, wurde zwar nicht aufgehoben, aber immerhin mit anderen Dingen vereinbar: »Es gibt Dinge, die ich nicht tun kann«, hatte meine Patientin gesagt, als sie nach langer Abwesenheit wiederkam. Die Zeit ist für sie nicht endgültig versöhnt; viele Dinge, die andere tun, kann sie nicht machen; sich zu verlieben zum Beispiel ist eine furchtbare Bedrohung: »Wenn mir das zustößt, wird alles imaginär, dann gibt es weder Tag noch Nacht.« Aber zumindest kann sie nun in Situationen und Beziehungen leben, in denen ihre seltsame Eigenart als sonderbare und kostbare Eigenschaft geschätzt wird. »Die unversöhnte Zeit« Dieses Herannahen des Unmöglichen, das sich in negativer Weise durch eine Einfaltung des Sprechens äußert, formulierte Deleuze auf bemerkenswerte Weise in seinem Text »Bartleby oder die Formel«: »Bei jedem Fall kommt in der Umgebung Bartlebys Verblüffung auf, als habe man das Unsagbare oder etwas vernommen, dem man nicht entgegentreten kann. Und eben das Schweigen Bartlebys, als habe er mit einem einzigen Sprachstreich alles gesagt und erschöpft. Bei jedem Vorfall gewinnt man den Eindruck, dass der Wahnsinn zunimmt: nicht derjenige Bartlebys ›im besonderen‹, sondern jener um ihn herum und besonders der Wahnsinn des Anwalts, der sich zu sonderbaren Vorschlägen und noch sonderbareren Verhaltensweisen hinreißen lässt. 16