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Fakultät Wirtsc chaftswisssenschaften 7 Sächsischer M 7. Mittel- und u Ostteuropa tag G Grenze en ü übe erw winden! Reegionale e Kooperationeen und national n le Mindderheite en als Brückkenbaueer im ve ereinten n Europaa Zweisprachiges Z s Ortsschild in Oberschlesien, O Polen. P Zw wickaau, 27..10.20 010 gefördert durch Sächsissches Staatssministeriuum des Inn neren (SMI)) Koordination / Kontakt Prof. Dr. Ralph M. Wrobel (Leitung) Frau Antje Hübner (Koordinationsbüro) Fakultät Wirtschaftswissenschaften Westsächsische Hochschule Zwickau Postfach 20 10 37, 08012 Zwickau Telefon: ++49(0)375/536-3496 E-Mail: [email protected] [email protected] Paper zum 7. Sächsischen Mittel- und Osteuropatag 1. Aliona Dietel Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze am Beispiel der rumänischen Minderheit in der Ukraine 2. Elena Temper Kontroverse um Kurapaty Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus 3. Werner Imhof Das deutsch-tschechische Zeitzeugenprojekt „Geschichte verbindet“ 4. Urban Kaiser Ethnische Minderheiten und Konsolidierung der Demokratie in den baltischen Staaten 5. Daniela Pelka Der deutsch-polnische Sprachkontakt in Oberschlesien am Beispiel der „Oberschlesischen Nachrichten“ 6. Małgorzata Świder „Entgermanisierung“ und „Polonisierung“ in den oberschlesischen Schulen 1945 bis 1950 7. Stefan Troebst Vorläufer der friedlichen Revolution 1989 in den osteuropäischen Nachbarstaaten 8. Jördis Winkler Sprachenpolitik am Beispiel ausgewählter Minderheiten in Russland und Deutschland ( Sorben in Deutschland und Burjaten in Russland) 9. Ralph Wrobel Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit am Beispiel der Dorfschule in Kerpen, Kr. Neustadt/OS Aliona Dietel Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze unter besonderer Berücksichtigung der rumänischen Minderheit in der Ukraine 1. Zur gegenwärtigen Minderheitensituation in der Ukraine In der letzten Zeit wird der Minderheiten-Thematik immer mehr Aufmerksamkeit gewidmet und das betrifft insbesondere den postsowjetischen Raum, die Länder der ehemaligen Sowjetunion, die plötzlich ihre Unabhängigkeit erhielten und vor der Frage der nationalen Selbstfindung und des nationalen Selbstbewusstseins standen, aber auch mit den nationalen Minderheiten in dem Land zurecht kommen müssen. Die Ukraine, das zweitgrößte Land des postsowjetischen Raumes und mit mehreren Regionen, in denen minderheitliche Bevölkerungsgruppen verschiedener ethnischer Herkunft zusammenleben, blieb davon auch nicht verschont. Nur wenige Länder in Europa haben so viele objektive Schwierigkeiten bei der Ausarbeitung einer angemessenen Minderheitenpolitik zu überwinden wie die Ukraine. Die russische Minderheit ist im östlichen Teil des Landes und auf der Krim kompakt angesiedelt: Das sind die Gebiete, in denen 1991 die Unabhängigkeit der Ukraine und somit das Austreten aus der Jahrhunderte langen institutionellen Union mit Russland am wenigsten begrüßt wurde. Außerdem ist die russische Sprache nicht nur die Muttersprache von ca. acht Millionen 1 ukrainischen Staatsbürgern (Gesamtbevölkerung des Landes betrug zum 01.03.2011 ca. 45,75 Mio. Einwohner 2 ), sondern auch die zweite Sprache von weiteren Millionen Ukrainern, die sie zumindest so gut sprechen wie ihre eigene. Schließlich 1 2 Ukrainische Volkszählung (2001), Internet-Version: http://2001.ukrcensus.gov .ua/eng/results/general/nationality/ (letzter Zugriff: 11.05.2011). Ukrajins´ka pravda žytja, 18.04.2011, Internet-Version: http://life.pravda.com .ua/society/2011/04/18/77487/ (letzter Zugriff: 11.05.2011). 2 Aliona Dietel erschwert die Tatsache, dass sich die meisten Russen in der Ukraine politisch mit einer Partei identifizieren, die von der Ideologie der Sowjetunion keinen deutlichen Abstand genommen hat, eine sachliche und neutrale Minderheitenpolitik. Ein weiteres Problem stellen die so genannten deportierten Völker, vor allem die Krimtataren dar. Die Rückkehr der aus politischen Gründen Deportierten bzw. ihrer Nachkommen ist ein verständliches Postulat, das jedoch nicht ohne Kompromisse mit den Völkern zu verwirklichen ist, die mit der Überzeugung eingewandert sind, auf der Krim eine bessere Zukunft zu finden. Trotz der Tatsache, dass sich wie auch internationale Organisationen bestätigen - die ukrainische Regierung den Forderungen der Tataren gegenüber aufgeschlossen zeigte und nicht die ukrainische Regierung, aber die sowjetische für deren Deportationen verantwortlich war, sind die Tataren Kiew gegenüber eher kritisch und richten ihre Sympathien auf Moskau. Die Schwierigkeiten mit polnischen und ungarischen Minderheitengruppen, die kompakt in den westlichen Regionen der Ukraine wohnen, sind vielleicht nicht so groß, dennoch fehlt es nicht an Spannungen, da sie in bestimmten Bezirken die Mehrheit darstellen und gegen die östlichen russischsprachigen Landesteile starkes Misstrauen und manchmal sogar Feindseligkeit hegen. Die zweitgrößte Minderheit, nach der Russische, in der Ukraine ist die rumänische Minderheit. Trotz dieser Tatsache erhalten die Rumänen in der Ukraine noch wenig Aufmerksamkeit seitens der Forschung, obwohl, wie schon erwähnt, im Allgemeinen die Bedeutung des Themas „Minderheit“ bzw. „Minderheitenschutz“ und „Minderheitenpolitik“ im letzten Jahrzehnt sehr zugenommen hat. Das Hauptinteresse sowohl der internationalen als auch der ukrainischen und russischen Sozialwissenschaft liegt allerdings auf der Analyse der Beziehungen zwischen der russischen und der ukrainischen Bevölkerungsgruppen und ihren Sprachen. Die kleineren ethnischen Minderheiten werden wesentlich weniger berücksichtigt, da sie keine Gefahr für die Polarisierung der Gesellschaft und somit für die staatliche Sicherheit des Landes sind. Einen Sonderfall stellt die rumänische Sprachwissenschaft bzw. Soziolinguistik dar, die ein Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze 3 ständiges Interesse für die Situation des Rumänischen als Minderheitensprache (zweitgrößte kompakt siedelnde Minderheit in den Grenzgebieten) in der Ukraine zeigt. 2. Demographische Lage Der letzten Volkszählung von 20013 zufolge stellen die Ukrainer mehr als drei Viertel der Gesamtbevölkerung dar. Die Russen sind mit 17,3 % Bevölkerungsanteil und mehr als 8 Mio. Menschen die größte Minderheit in der Ukraine. Die anderen Minderheiten machen weniger als ein % der Gesamtbevölkerung aus. Zu den größeren Minderheiten mit mehr als 100.000 Angehörigen zählen Weißrussen, Moldauer, Krimtataren, Bulgaren, Ungarn, Rumänen, Polen und Juden, die größtenteils durch Eingliederung ihrer Siedlungsgebiete in die heutige Ukraine gekommen sind, im Vergleich zu der russischen Bevölkerung, die überwiegend erst viel später im Rahmen der sowjetischen Industrialisierung eingewandert ist. Die Gruppierung der rumänischsprachigen Bevölkerung (aufgeteilt in „Rumänen“ und „Moldauer“) liegt auf der Liste der ethnischen Gruppen einmal auf dem vierten Platz (Moldauer) und einmal auf dem achten Platz (Rumänen). Zusammen stellen sie eine Ethnie von 409 600 Menschen - diese Zahl wird nur von den Ukrainern selbst und den Russen überboten.4 Territorial gesehen besetzen die meisten Minderheiten den westlichen und südlichen Teil des Landes. Rumänen und Moldauer leben vorwiegend im Gebiet Czernowitz, in Transkarpatien und im Gebiet 3 4 Ukrainische Volkszählung (2001), Internet-Version: http://2001.ukrcensus .gov.ua/eng/results/general/nationality/ (letzter Zugriff: 11.05.2011). Gemäß der letzten Volkszählung von 2001 hat die Ukraine 48.457.000 Einwohner, aber Ukrajins´ka pravda zytja vom 18.04.2011 bringt uns eine viel niedrigere Zahl von 45,75 Mio. Einwohner, was eine erstaunliche Verminderung der ukrainische Bevölkerung innerhalb von zehn Jahren um ca. 2,7 Mio. zeigt: http://life.pravda.com.ua/society/2011/04/18/77487/ (letzter Zugriff: 11.05.2011). Vgl. Ukrainische Volkszählung (2001), Internet-Version: http://2001.ukrcensus .gov.ua/eng/results/general/nationality/ (letzter Zugriff: 11.05.2011). 4 Aliona Dietel Odessa. In der Region Czernowitz sind die Rumänen (12,5 %) und die Moldauer (7,3 %) die beiden größten Minderheiten und verfügen über die meisten Schulen mit Rumänisch als Unterrichtsprache (80 von insgesamt 101). Die ungarische Minderheit befindet sich geschlossen im Gebiet Transkarpatien, mit 12,1 % die größte Minderheit dieser Region. Die polnische Minderheit lebt vorwiegend in die Regionen Shytomyr (3,5 %), Chmelnyzkyj (1,6 %) und Lemberg/Lwiw (0,7 %). Geschlossen siedeln auch die Bulgaren und die turksprachigen orthodoxen Gagausen in der Region Odessa, die Krimtataren auf der Krim sowie die Griechen in der Region Donezk.5 3. Zur Minderheitensituation im Blickwinkel der Gesetzgebung in der Ukraine 3.1 Die hauptsächlichen Grundlagen des Minderheitenschutzes Die wichtigsten Bestimmungen des Minderheitenschutzes sind in der ukrainischen Verfassung6 7 zu finden. Danach hat der Staat nicht nur 5 Ebd. Vgl. Konstytucija Ukrajiny (1996, letzte Änderung am 01.02.2011), InternetVersion: http://www.president.gov.ua/content/constitution.html , (letzter Zugriff: 19.05.2011). 7 Ab dem 30. September 2010 gilt in der Ukraine WIEDER das Grundgesetz bzw. die Verfassung von 1996 (Internet-Version: http://zakon1.rada.gov.ua/cgibin/laws/main.cgi?nreg=254%EA%2F96%2D%E2%F0 , letzter Zugriff: 11.05.2011) und nicht mehr die von Wiktor Juschtschenko im 2004 geänderte Verfassung. Ab dem Tag ist die Ukraine wieder eine Präsidialrepublik bzw. Semipräsidialrepublik. Diese Entscheidung hat das Verfassungsgericht getroffen, weil die politische Reform vom Dezember 2004, die das Land in eine Parlamentsrepublik verwandelt hatte, nicht mit dem Verfassungsgericht vereinbart worden war und verstößt deswegen gegen das Grundgesetz - stellte das Gremium fest. Die Entscheidung hat allerdings eine neue Welle von Widersprüchen ausgelöst. Präsident Viktor Janukowitsch forderte dazu auf, die Entscheidung des Verfassungsgerichts zu akzeptieren. Die ukrainischen Medien nannten dieses Urteil „die zweite Machteinführung Janukowitschs“, weil er ausgerechnet jetzt und nicht direkt nach seinem Wahlsieg (im Januar 2010) umfangreiche Vollmachten bekommen hat. Das unter Wiktor Juschtschenko eingeführte Gesetz zur Machtbegrenzung des Präsidenten wurde rückgängig gemacht, und die Presse wird zunehmend zensiert. 6 Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze 5 für die Entwicklung der ukrainischen Mehrheitsbevölkerung, sondern ebenso für den Schutz und die Entwicklung der ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Eigenarten der übrigen alteingesessenen Völker und nationalen Minderheiten der Ukraine Sorge zu tragen (Art. 11). Ein bevorzugter Platz ist dabei mit Art. 10 Abs. 3 den Minderheitensprachen zugewiesen: „Die Ukraine garantiert freie Entwicklung, Gebrauch und Schutz der Sprache aller nationaler Minderheiten.“8 und weiter im Art. 11: „Der Staat trägt [...] zur Entwicklung der ethnischen Spezifik, der Kultur, der Sprache und Religion [...] der einheimischen nationalen Minderheiten der Ukraine bei.” 9 Art. 53 Abs. 5 der Verfassung garantiert den Gebrauch der Minderheitensprachen im Schulwesen: „Den Bürgern, die nationalen Minderheiten angehören, wird per Gesetz das Recht auf Unterricht in der Muttersprache oder Unterrichtung der Muttersprache in den staatlichen und kommunalen Bildungseinrichtungen oder mittels der national-kulturellen Vereinigungen garantiert“10, aber ohne konkreten Hinweise dazu. Das Recht, darüber zu entscheiden, wird den regionalen Bildungsministerien zugeordnet. Die anderen wichtigen Regelungen sind die Deklaration über die Rechte der Nationalitäten in der Ukraine vom November 199111, das Gesetz über die nationalen Minderheiten in der Ukraine vom 25. Juni 199212 und das Sprachengesetz vom 28. Oktober 1989 bzw. 199513. 8 Vgl. Konstytucija Ukrajiny (1996, letzte Änderung am 01.02.2011), InternetVersion: http://www.president.gov.ua/content/constitution.html , (letzter Zugriff: 19.05.2011), Teil 1. Art. 10 Abs. 3. 9 Ebd., Teil. 1. Art. 11. 10 Ebd., Teil. 2. Art. 53. Abs. 5. 11 Deklaracija prav nacional´nostej Ukrajiny, vom 01.11.1991, Internet-Version: http://jurconsult.net.ua/zakony/zakon_show.php?zakon_id=676&dbname=laws uk_1991 , (letzter Zugriff: 25.05.2011). 12 Zakon Ukrajiny „Pro nacional´ni menšyny v Ukrajini“, vom 25.06.1992, Internet-Version: http://zakon.rada.gov.ua/cgi-bin/laws/main.cgi?nreg=2494-12 , (letzter Zugriff: 25.05.2011). 13 Zakon Ukrajiny „Pro movy v Ukrajini“, vom 28.10.1989, Internet-Version: http://zakon.rada.gov.ua/cgi-bin/laws/main.cgi?nreg=8312-11 , (letzter Zugriff: 25.05.2011). 6 Aliona Dietel Im Bezug auf den Sprachgebrauch der Minderheiten finden wir die einzelnen Bestimmungen in verschiedenen Fachgesetzen wie Bildungsgesetze, Gerichts- und Mediengesetze.14 Weil das noch in sowjetischer Zeit verabschiedete Sprachengesetz 199515 nur teilweise an ukrainische Gesetze angepasst wurde, bleiben immer noch Unklarheiten und endlose Konfliktsituationen in Bezug auf die Sprachen im Land. Ein Versuch, diese zu lösen, ist der am 13.12.2006 registrierte Gesetzesentwurf „Über die Sprachen der Ukraine“16, der von drei Abgeordneten des Parlaments aus der Partei der Regionen vorgelegt wurde. Er wurde jedoch von der Regierung am 26.02.08 abgelehnt; auch wurden das Gesetzesprojekt "Über Regionalsprachen und Minderheitensprachen" (am 03.04.2008) und der Vorschlag zur Ergänzung des Gesetzes "Über die Sprachen in der Ukrainischen SSR" zurückgewiesen.17 Das Gesetz „Über die Sprachen der Ukraine“ sollte dem schwelenden Sprachkonflikt, das Russische als zweite Amtsprache anzuerkennen, ein Ende setzen. Gleichzeitig soll es das gesamte Sprachproblem der Ukraine lösen, indem es Klarheit schafft über Freiheiten und Einschränkungen sowohl für das Ukrainische (als einzige Amtsprache) als auch für die zahlreichen Minderheitensprachen. 18 14 Vgl. Carmen Schmidt, Minderheitenschutz im östlichen Europa. Ukraine, 2005. Internet Version: http://www.uni-koeln.de/jur-fak/ostrecht/minderheitenschutz/ , (letzter Zugriff: 11.05.2011), S. 14. 15 Vgl. Zakon Ukrajiny „Pro movy v Ukrajini“, vom 28.10.1989, InternetVersion: http://zakon.rada.gov.ua/cgi-bin/laws/main.cgi?nreg=8312-11 , (letzter Zugriff: 25.05.2011). 16 Projekt des Gesetzes „Über die Sprachen der Ukraine“, registriert am 30.11.2006. Internet-Version: http://gska2.rada.gov.ua/pls/zweb_n/webproc 4_1?id=&pf3511=28857 (letzter Zugriff: 11.05.2011). 17 Vgl. Beschluss der Werchowna Rada, Internet-Version: http://gska2.rada. gov.ua/pls/zweb_n/webproc6_main?id3D&pid0693D120&Ses3D0&Skl3D7 (letzter Zugriff: 07.06.2008). 18 Vgl. Evgenij Kušnarjov, „My postaralis´podgotovit´takoj zakonoproekt, kotoryj by polnost´ju ureguliroval jazykovuju problemu v Ukrajine“. Materialy presskonferencii, 2006, Internet-Version: http://www.kushnaryov.com/interviews /45719490431c9/, (letzterZugriff: 07.06.2008). Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze 7 Russisch ebenso wie Weißrussisch, Bulgarisch, Gagausisch, Jiddisch, Krim-Tatarisch, Moldauisch, Deutsch, Neugriechisch, Polnisch, Rumänisch, Slowakisch und Ungarisch werden hier als „Regionalsprachen“ bezeichnet. Dieser Punkt ist nach Meinung der Verfasser in genauer Übereinstimmung mit der in der Ukraine ratifizierten Europäischen Charta der Regionaloder 19 20 Minderheitensprachen , die neben der Ukrainischen Verfassung die Hauptgrundlage dieses Gesetzentwurfes ist. 3.2 Schulpolitik in der Ukraine Das Bildungssystem der Ukraine hat sich seit Beginn der Unabhängigkeit allmählich verändert und sich dabei zunehmend an Westeuropa orientiert. Die zehnklassige Schule sowjetischen Typs wurde durch ein zwölfklassiges System mit einer vierjährigen Eingangsstufe abgelöst. Das neue System wurde am 1. September 2002 eingeführt, galt aber nur für die erste Klasse. Da jedoch das ganze Programm teilweise angepasst werden muss, erleben auch die anderen Klassen viele Veränderungen. Doch bereits nach nur acht Jahren verabschiedete Werchowna Rada ein neues Gesetz über die allgemeine mittlere Bildung 21 , laut welchem ab dem 1. September 2010 eine elfjährige Schulausbildung festgelegt wurde. Dabei wurden ein verpflichtendes Vorschuljahr für die Kinder ab fünf Jahre hinzugefügt und die Frist der Profilausbildung in älteren Klassen auf ein Jahr verkürzt. Im Ergebnis beinhaltet die heutige Ausbildung für die Hochschulreife ein Jahr Vorschule, vier Jahre Grundschule, fünf Jahre Elementarschule und zwei Jahre Oberschule. Als Hauptgrund 19 Zakon Ukrajiny „Pro ratyfikaciju Evropejs´koi hartiji regional´nyh mov abo mov menšyn, vom 15.05.2003, Internet-Version: http://zakon.rada.gov.ua/cgibin/laws/main.cgi?nreg=802-15 (letzter Zugriff: 09.05.2011). 20 Vgl. Konstytucija Ukrajiny (1996, letzte Änderung am 01.02.2011), InternetVersion: http://www.president.gov.ua/content/constitution.html , (letzter Zugriff: 19.05.2011). 21 Vgl. Zakon Ukrajiny „Pro zagal´nu serednju osvitu“, vom 13.05.1999, (letzte Änderung am 06.07.2010), Internet-Version: http://osvita.ua/legislation/law /2232 (letzter Zugriff: 11.05.2011). 8 Aliona Dietel für die Auflösung der zwölfjährigen Schulausbildung durch die elfjährige wurde von Experten und Werchowna Rada angegeben, dass die erste Reform ungerechtfertigt große Ausgaben aus dem Staatshaushalt nach sich zog, insbesondere für die Bezahlung der größeren Anzahl von Lehrkräften. Nach dem neuen Modell bezahlen die Eltern das Vorschuljahr im Kindergarten und so werden seitens des Staates die Kosten für ein Jahr gespart. Der Gebrauch der Sprachen im Schulwesen ist nur im Sprachengesetz22 geregelt. Konkretisierungen in den Bildungsgesetzen sind nicht erfolgt und insofern wird hier oftmals auf das Sprachengesetz hingewiesen. 23 Eine ausführliche Analyse des Sprachengesetzes unternimmt Carmen Schmidt in 2005.24 Sie betont auch, dass nach dem Sprachengesetz das Recht auf die Wahl der Unterrichtssprache ein unveräußerliches Recht der ukrainischen Bürger darstellt. Gemäß diesem Gesetz wird der Unterricht in der Muttersprache auf allen Ebenen der Bildung garantiert. So hat jedes Kind das Recht auf Erziehung und Erlangung von Bildung in der Nationalsprache bzw. der jeweiligen Muttersprache. Der Staat verpflichtet sich zur Schaffung von Vorschuleinrichtungen und Schulen (Art. 25) sowie Fach- und Hochschulen (Art. 28) mit minderheitensprachlichem Unterricht. Die Errichtung von Vorschuleinrichtungen und allgemeinbildenden Schulen mit Unterricht in einer Minderheitensprache oder die Einrichtung spezieller Klassen mit minderheitensprachlichem Unterricht wird in das Belieben des Staates gestellt und zudem auf die Orte begrenzt, an denen eine Minderheit 22 Vgl. Zakon Ukrajiny „Pro movy v Ukrajini“, vom 28.10.1989, InternetVersion: http://zakon.rada.gov.ua/cgi-bin/laws/main.cgi?nreg=8312-11 , (letzter Zugriff: 25.05.2011). 23 Vgl. Zakon Ukrajiny „Pro zagal´nu serednju osvitu“, vom 13.05.1999, (letzte Änderung am 06.07.2010), Internet-Version: http://osvita.ua/legislation/law /2232 (letzter Zugriff: 11.05.2011); und Zakon Ukrajiny „Pro zagal´nu serednju osvitu“, vom 17.01.2002, in: Vidomosti Verhovnoji Rady Ukrajiny, 2002, №20. 24 Vgl. Carmen Schmidt, Minderheitenschutz im östlichen Europa. Ukraine, 2005, Internet- Version: http://www.uni-koeln.de/jur-fak/ostrecht/minderheitenschutz/ (letzter Zugriff: 11.05.2011), S. 14. Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze 9 geschlossen siedelt. Wenn keine ausreichende Zahl an Schülern für die Einrichtung gewöhnlicher Schulen/Klassen zustande kommt, können auf der Grundlage der am 04.11.1992 vom Bildungsministerium und dem Republikrat der national-kulturellen Vereinigungen gebilligten Regelung Sonntagsschulen an deren Stelle treten.25 In Fach- und Hochschulen, die an Orten gelegen sind, in denen eine Minderheit geschlossen angesiedelt ist, kann zugleich neben Ukrainisch auch die Sprache dieser Minderheit die Unterrichtssprache sein. Dieses Recht begünstigt aber in der Tat nur die russische Minderheit an Fach- und Hochschulen in der Ostukraine. Verschiedenen Publikationen zufolge sind in den ersten Jahren der Unabhängigkeit der Ukraine zunächst die russischen Vorschuleinrichtungen drastisch zurückgegangen. Der Anteil der Kinder in russischen Einrichtungen ist im Zeitraum 1991 - 2002 um fast 30 (von 48,8 auf 19) % gesunken, während in ukrainischen Kindergärten der Anteil um fast 30 % gestiegen ist, von 50,8 % im Jahre 1999 auf 80,5 % im Jahre 2002.26 Zunehmend schicken selbst die russischen Eltern ihre Kinder in ukrainischsprachige Vorschuleinrichtungen. Eigentlich ist dies nach der Wende charakteristisch für alle Minderheiten, einschließlich auch für die rumänische Minderheit. Ähnliche Tendenzen sind bei den allgemeinbildenden Mittelschulen, die nach dem neuen Gesetz über die allgemeine mittlere Bildung 27 drei Stufen - Stufe 1 (4 Jahre), Stufe 2 (5 Jahre) und Stufe 3 (2 Jahre) umfassen, sowie bei den höheren Lehreinrichtungen festzustellen. Der Anteil des Unterrichts in Ukrainisch ist in den allgemeinbildenden Tagesmittelschulen von 1991/92 bis 2002/03 von 49 auf 73 % 25 Vgl. Eugen Patraş, Minorităţile naţionale din Ucraina şi Republica Moldova. Statutul juridic, Ediţia a 2-a, Editura Alexandru cel Bun, Cernăuţi, 1999, S. 85. 26 Vgl. Statističnij Ščoričnik Ukraïni za 2002 Rik/Statistical Yearbook of Ukraine for 2002, Kiew 2003, S. 501. 27 Vgl. Zakon Ukrajiny „Pro zagal´nu serednju osvitu“, vom 13.05.1999, (letzte Änderung am 06.07.2010), Internet-Version: http://osvita.ua/legislation/law /2232 (letzter Zugriff: 11.05.2011). 10 Aliona Dietel gestiegen.28 Zwischen 1990 und 1997 wurden rund 700 Schulen mit Russisch als Unterrichtssprache in Schulen mit Ukrainisch als Unterrichtssprache umgewandelt.29 Allerdings verfügen alle Minderheiten in ihren Siedlungsgebieten über Schulen in ihrer Sprache, bilinguale Schulen oder spezielle Klassen oder Gruppen mit Unterricht in der Minderheitensprache. Die Minderheitenschulen umfassen jedoch nicht immer alle Schulstufen. Über bis zur Hochschulreife führende Gymnasien oder Lyzeen verfügen neben der russischen Minderheit nur die ungarische und die rumänische Minderheit in Transkarpatien und in Czernowitz sowie mit einem trilingualen Gymnasium, in dem offiziell drei Sprachen (Ukrainisch, Russisch, Bulgarisch) Unterrichtssprache sind, auch die bulgarische Minderheit. Gleichzeitig ist der Anteil der Studenten im Hochschulbereich, die ihr Studium in Ukrainisch absolvieren, gestiegen (landesweit von 55 % in den Jahren 1995/96 auf 82 % in 2002/03 bei Stufe 1 und 2, von 51 auf 78 % bei Stufe 3 und 4).30 3.3 Sprachgebrauch Der Gebrauch der Muttersprache im privaten Bereich wird grundsätzlich nicht beschränkt. Das Recht, die Nationalsprache oder jede andere Sprache zu gebrauchen, ist im Gegenteil in der 28 Vgl. Carmen Schmidt, Minderheitenschutz im östlichen Europa. Ukraine, 2005, Internet- Version: http://www.uni-koeln.de/jur-fak/ostrecht/minderheitenschutz/ (letzter Zugriff: 11.05.2011), S. 26. 29 Als Gegenbeispiel könnte die Autonome Republik Krim dienen – in dieser Region gibt es keine Schule mit Ukrainisch als Unterrichtssprache und die über 5 Mio. dort lebenden Ukrainer geben die russische Sprache als ihre Muttersprache an. Dies zeigt, wie stark sich sowohl die Mehrheitsbevölkerung als auch die Minderheiten der jungen, unabhängigen Ukraine zu ihren kulturellen und ethnischen Wurzeln bekennen. Gleichzeitig kann man bei einem bedeutenden Anteil der Bevölkerung die verbliebene sowjetische Prägung erkennen, die durch die Sprache sehr offensichtlich geäußert wird. 30 Vgl. Statističnij Ščoričnik Ukraïni za 2002 Rik/Statistical Yearbook of Ukraine for 2002, Kiew 2003, S. 514, 516. Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze 11 Verfassung (Art. 10 & 11)31 ausdrücklich garantiert und stellt nach der Präambel des Sprachengesetzes "ein unveräußerliches Recht des Bürgers" dar 32 . Einzelne Beschränkungen bestehen allerdings im Bereich der Wirtschaft. Staatssprache der Ukraine und damit Amtssprache der Behörden und sonstigen Staatsorgane ist nach der Verfassung (Art. 10 Abs. 1) und dem Sprachengesetz (Art. 2 Abs. 1) allein Ukrainisch. 4. Die Rumäner und das Rumänisch als Minderheitssprache in der Ukraine Im Folgenden werde ich mich hauptsächlich auf die Region Czernowitz (Siehe dazu auch Punkt 2) als Untersuchungsfeld beziehen, weil sie sowohl quantitativ als auch qualitativ gesehen die repräsentativste rumänische soziokulturelle Zone der Ukraine ist. Die Analyse bezieht sich hauptsächlich auf die persönlich durchgeführten Interviews mit Lehrern und Schülern aus den Schulen mit Rumänisch als Unterrichtsprache sowie gemischtsprachigen Schulen aus der Region in dem Zeitraum von 2005 bis 2009. 4.1 Die aktuelle Situation des rumänischen schulwesens Minderheiten- Wie schon oben erwähnt, nach der russischen ist die rumänische Minderheit mit ca. 409 600 Personen die zweitgrößte in der Ukraine. Ein Drittel dieser Minderheit lebt heute in der Region Czernowitz etwa 181.780 Personen 33 . Damit, aus der Sicht der geschlossenen Zusammenleben der Minderheit, ist sie in dieser Region die 31 Vgl. Konstytucija Ukrajiny (1996, letzte Änderung am 01.02.2011), InternetVersion: http://www.president.gov.ua/content/constitution.html , (letzter Zugriff: 19.05.2011). 32 Vgl. . Zakon Ukrajiny „Pro movy v Ukrajini“, vom 28.10.1989, InternetVersion: http://zakon.rada.gov.ua/cgi-bin/laws/main.cgi?nreg=8312-11 , (letzter Zugriff: 25.05.2011), Art. 85. 33 Ukrainische Volkszählung (2001), Internet-Version: http://www.ukrcens us.gov.ua/results/general/nationality , (letzter Zugriff: 11.05.2011). 12 Aliona Dietel zahlreichste und hier befinden sich auch die meisten Schulen mit Rumänisch als Unterrichtssprache (80 von insgesamt 101 entsprechenden Schulen, die von 17 % der Schüler der Region besucht werden) 34 und die meisten Schulen (11), in denen in zwei Unterrichtssprachen unterrichtet wird: Ukrainisch und Rumänisch. 35 Bis zur Unabhängigkeitserklärung der Ukraine im Jahr 1990 war das Russische die vorherrschende Sprache in Öffentlichkeit, Verwaltung und Bildungswesen, doch seitdem rückt mehr und mehr das Ukrainische an dessen Stelle. So muss seit dem Schuljahr 1991/92 in den Mittelschulen mit Rumänisch als Unterrichtssprache (sowie in allen anderen Minderheitenschulen) auch Ukrainisch unterrichtet werden.36 Seither sind weitere Anordnungen in Kraft getreten, die auf einen Abbau der für die Minderheitensprache zur Verfügung stehenden Unterrichtsstunden zugunsten des Ukrainischen hinauslaufen. Entsprechend der statistischen Daten sank die Zahl der Schulen mit Rumänisch als Unterrichtssprache in der Region Czernowitz von 86 Schulen im Schuljahr 1991/1992 auf gegenwärtig 80 Schulen. In all diesen Schulen wurden weder die Eltern noch die Pädagogen oder die Schüler selbst nach ihrer Meinung zu dieser Veränderung gefragt. Diese Entwicklungen ordnen sich in die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in nahezu allen ehemaligen Sowjetrepubliken eingetretenen Veränderungen ein, in deren Verlauf die nunmehr 34 35 36 Statistische Daten aus der regionalen Bildungsverwaltung: Außer der rumänischen Minderheit (mit 20 % der Gesamtbevölkerung der Region Czernowitz) verfügt die russische Minderheit über zwei Schulen mit Russisch als Unterrichtsprache und sieben Schulen, die Russisch und Ukrainisch als Unterrichtsprache haben. Die polnische Minderheit (0,5 % der regionalen Bevölkerung) verfügt über keine Schule mit Polnisch als Unterrichtssprache. Polnisch wird jedoch als Fachunterricht an drei Schulen angeboten. Die deutsche Minderheit hat eine Sonntagsschule mit drei Gruppen von jeweils 35 Schülern. Die jüdische Minderheit verfügt über eine Schule, wo Jiddisch als Unterrichtsfach gelehrt wird. Statistische Daten aus der regionalen Bildungsverwaltung. Vgl. Jurij Pradid, Movni pytannja v Ukrajini. 1997 – 2000: Dokumenty i materialy. Simferopol´ 2003, S. 156-195. Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze 13 unabhängigen Staaten in ihren Verfassungen oft den politischen, sozialen und rechtlichen Status ihrer ethnischen Minderheiten und deren Sprachen neu bestimmten. Wie in dem Abschnitt 3.1 dieses Aufsatzes zu lesen ist, das ukrainische Gesetzt garantiert verschiedene Freiheiten der Entwicklung und des Schutzes für die eigenen Minderheiten in dem Land. Die Realität jenseits der rechtlichen Beschlüsse sieht jedoch anders aus. 37 Bei allen Rechten und Freiheiten für die nationalen Minderheiten in der Ukraine muss bemerkt werden, dass das rumänischsprachige Unterrichtswesen in den letzten Jahren gravierende Rückschläge hinnehmen musste: Die Stundenzahl für den Unterricht der rumänischen Sprache und Literatur wurde seit 1991 schrittweise, bis zu 30 %38, zugunsten der ukrainischen Sprache und Literatur reduziert, rumänische Literatur ist als eigenständiger Unterrichtsgegenstand aus den Lehrplänen verschwunden und wird lediglich im Rahmen der Weltliteratur behandelt, womit die spezifisch rumänischen Bildungsinhalte stark verringert wurden. Mit der Verordnung über den Abschluss des Schuljahres 1997/98 in den Mittelschulen der Ukraine ist lt. Anordnung Nr. 33 vom 3. Februar 1998 des Bildungsministeriums in den Abschlussprüfungen der Status der rumänischen Sprache und Literatur herabgestuft worden39, da die Pflichtprüfungen nunmehr ukrainische Sprache und Literatur sind, während die Prüfungen in der Muttersprache und der dazugehörigen Literatur wahlweise erfolgen. Auf diese Weise sinkt das Interesse am 37 Diese Situation wird auch von anderen Forschern diskutiert. Vgl. dazu Klaus Bochmann, „Rumänen in der Ukraine. Eine Minderheit zwischen den Fronten“, in: P. Nelde/Rosita Rindler Schjerve (Hrsgg.): Minderheiten und Sprachpolitik, St. Augustin 2001, S. 217- 226; Eugen Patraş, Minorităţile naţionale din Ucraina şi Republica Moldova. Statutul juridic, Ediţia a 2-a, Editura Alexandru cel Bun, Cernăuţi, 1999; Aleksandr Ševčenko, Ukrajinskie rumyny kak primer dejstvija Zakona o jazyke, 1999, Internet-Version: http://www.eawarn.ras.ru /centr/eawarn/news/1999/05_99/05_05.htm , (letzter Zugriff: 11.05.2011). 38 Vgl. Vasile Bizovi, „Unele aspecte ale funcţionării limbii române în şcolile româneşti din regiunea Cernăuţi“, in: Glasul Bucovinei, Nr. 2, Cernăuţi – Bucureşti, 1998, S. 88-91. 39 Vgl. Eugen Patraş, Minorităţile naţionale din Ucraina şi Republica Moldova. Statutul juridic, Ediţia a 2-a, Editura Alexandru cel Bun, Cernăuţi, 1999, S. 88. 14 Aliona Dietel Studium dieser Fächer, da sich die Schüler auf die Pflichtfächer und jene Fächer konzentrieren, die ihnen eine Perspektive sichern. Ebenso wird ausgeschlossen, die Zulassungsprüfungen für das Hoch- und Fachschulstudium in der Muttersprache abzulegen40, womit gegen die Empfehlung 1353 des Europarates vom 27. Januar 1998 gehandelt wird, in der es heißt, dass “die Studenten der Minderheitengruppen die Möglichkeit haben müssen, die Zugangsprüfungen zu den Hochschulen in ihrer Muttersprache abzulegen”41. Hinzu kommt: Alle Bewerber (einschließlich derjenigen, die eine Schule mit anderer Unterrichtssprache als der Staatssprache absolviert haben) müssen seit 1997 eine obligatorische Prüfung zur ukrainischen Sprache ablegen – unabhängig vom angestrebten Studienfach. Obwohl in den letzten Jahren die Schüler der rumänischsprachigen Schulen das Ukrainische sehr gut beherrschen, haben sie Schwierigkeiten mit den Zugangsprüfungen der Hochschulen, weil sie das entsprechende Fachwissen auf Rumänisch erworben haben. Dementsprechend sind sie – im Vergleich zu ihren ukrainischmuttersprachlichen Mitbewerbern – oft benachteiligt. Um das zu verhindern, verwenden viele Lehrer im Unterricht auch oder nur ukrainische Lehrbücher. So können die Schüler den Fachwortschatz auf Ukrainisch beherrschen, meistens leidet unter dieser Konzentration auf das Ukrainische jedoch ihr rumänischer Wortschatz. Nachteilig für die Rumänischkenntnisse wirkt es sich zudem oft aus, dass die Lehrer für die nicht rumänisch-philologischen Fächer an den rumänischsprachigen Schulen ausschließlich in der Staatssprache Ukrainisch ausgebildet werden. Die sprachlichen Probleme, die sich daraus ergeben, sind als klare Konsequenz dieses Defizits zu bewerten. Besonders junge Fachlehrer, die ihr Fachwissen auf Ukrainisch erworben haben und dieses den Schülern in deren Muttersprache vermitteln müssen, tun dies zwangsläufig in einem mit 40 In der USSR haben die Minderheitenangehörigen die Zugangsprüfungen zu den Hochschulen in ihrer Muttersprache abgelegt und mit der zweiten Prüfung wurden die Russischkenntnisse (damalige Staatsprache) geprüft. 41 Vgl. Eugen Patraş, Minorităţile naţionale din Ucraina şi Republica Moldova. Statutul juridic, Ediţia a 2-a, Editura Alexandru cel Bun, Cernăuţi, 1999, S. 88. Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze 15 Ukrainismen und Russismen durchsetzten Rumänisch. Sie sind gezwungen, bei der Unterrichtsvorbereitung doppelte Arbeit zu leisten, indem sie den Stoff übersetzen oder – im besten Fall – auf Material aus Rumänien zurückgreifen. Auf diese Weise entfernt sich das in der Ukraine geschriebene und gesprochene Rumänisch schrittweise vom gültigen Standard und wird (wieder) zu einem dialektalen und von slawischen Elementen geprägten Idiom. Dazu trägt auch die Übermacht der Radio- und Fernsehstationen, der Presseerzeugnisse und Bücher in den Staatssprachen Ukrainisch und Russisch bei. Die aus Rumänien und der Republik Moldau zu empfangenden elektronischen Medien können aufgrund ihrer geringen Dichte kein Korrektiv entgegensetzen. In den letzten Jahren wurde stark propagiert, an rumänischen Schulen parallel zu Rumänisch die Unterrichtssprache Ukrainisch einzuführen. So kommen wir heute in der Region auf die von 11 rumänischukrainischen Schulen. 42 Damit vollzieht sich eine Wandlung der rumänischen Schulen hin zu gemischtsprachigen Schulen, was im nächsten Schritt eine weitere Veränderung mit sich bringen kann: die Entwicklung einsprachiger Schulen mit Ukrainisch als Unterrichtssprache. Das alles hat nicht nur zur Verschlechterung der Kenntnisse der Muttersprache bei den rumänischen Schülern, sondern auch zur Änderung der sprachlichen Verhaltensweisen der Schüler geführt. Man beobachtet in der Region Czernowitz wachsende ukrainische Interferenzen (zuzüglich zu den bisherigen russischen) im Rumänischen und unter den Jugendlichen wird die Frage nach dem Sinn, sich des Rumänischen zu bedienen, immer lauter. Dementsprechend ist die Zahl der an der Nationalen Universität Czernowitz für rumänische Philologie eingeschriebenen Studenten seit 1994 von 150 auf knapp 80 Personen heute gesunken. Die Zahl der jährlich neu Immatrikulierten liegt beim Direktstudium bei ca. 10 Studenten und beim Fernstudium bei ca. 6 Studenten. Zudem ist es für die Absolventen des Rumänischstudiums auch immer schwerer geworden, Arbeitsplätze zu finden. 42 Statistische Daten aus der regionalen Bildungsverwaltung. 16 Aliona Dietel 1997 wurde die Czernowitzer Buchhandlung „Luceafărul“ auf Anweisung staatlicher Behörden geschlossen. Sie war in der Zeit der Sowjetunion gegründet worden und war stets die einzige Buchhandlung mit rumänischsprachigen Büchern in Czernowitz. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine konnte man bei „Luceafărul“ jedoch keine rumänischen Bücher mehr finden. Schließlich wurde „Luceafărul“ geschlossen. Heute steht an ihrer Stelle die ukrainische Buchhandlung „Kniga“.43 Trotz der oben genannten Rückschläge, die die rumänische Minderheit in der Region Czernowitz verzeichnen musste, bringt die ukrainische Unabhängigkeit letztlich mehr Freiheit für die Minderheiten-Bevölkerung. Seit 1991 ist ein wesentlicher Gewinn für die rumänischen Schulen die Wiedereinführung der Lateinschreibung sowie die Bezeichnung „Rumänisch“ als Name der Sprache und der Schulen, statt der in sowjetischer Zeit verwendeten Bezeichnung „Moldawisch“. Es ist als Vorteil für die rumänischsprachigen Schulen zu werten, dass die Lehrkräfte für die Unterstufe an der Pädagogischen Schule, die der Nationalen Jurij-Fedkowitsch-Universität Czernowitz angeschlossen ist, auf Rumänisch ausgebildet werden. An derselben Universität befindet sich, wie erwähnt, auch der Lehrstuhl für rumänische und klassische Philologie, an welchem die Fachkräfte für rumänische Sprache und Literatur ihre Fachdisziplinen in rumänischer Sprache studieren können, während die sekundären Disziplinen44 auf Russisch und Ukrainisch angeboten werden. 43 44 Vgl. Ion Beldeanu, Bucovina care ne doare, Iaşi 2001, S. 72-73. Alle allgemeinbildenden Fachseminare, die nicht direkt die Fachkenntnisse der rumänische Sprache und Literatur vermitteln, wie z.B. Logik, Informatik, Pädagogik, Weltliteratur, ukrainische Geschichte, Sprachwissenschaftstheorie u.a. . Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze 17 4.2 Spracheinstellung bzw. Sprachbewusstsein bei Lehrern und Schülern an rumänischen Schulen Die aktuelle linguistische Situation in der Ukraine, deren Teil auch die Situation der rumänischen Sprache in der Ukraine ist, ist das Ergebnis der verschiedenen sozialen und sprachlichen Veränderungen im Verlaufe von mehreren Jahrzehnten. Eine markante Zeitspanne für die aktuelle rumänische Sprachsituation in der Ukraine ist die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der politischen und sprachpolitischen Entwicklung der Nachkriegszeit, die in zwei Etappen mit unterschiedlichen Einflüssen geteilt werden kann: Die erste ist die sowjetische Nachkriegszeit (1944-1991) mit diesbezüglichen Ideologiekonzepten und Glottopolitik bzw. mit der nachhaltigen Russifizierungspolitik aller Nationen der Sowjetunion. Sie hat Spuren in der heutigen Sprachsituation sowie im Sprachbewusstsein und den Einstellungen der Bevölkerung zur Muttersprache oder anderen Verkehrsprachen in der Ukraine hinterlassen. Menschen, die die russische Sprache perfekt beherrschten, galten als gebildet und kultiviert und hatten bessere Chancen auf eine gute Karriere. So verlor die Muttersprache der anderen Ethnien immer mehr an Wert und immer mehr russische Wörter fanden Eingang in die Umgangssprache. Wir beobachten auch heute den großteils andauernden Wert der russischen Sprache und deren Einfluss auf das Sprachbewusstsein der Bevölkerung, indem bei der Volkszählung von 2001 29,6 % der Bevölkerung die Russische Sprache als Muttersprache gewählt hat, obwohl die Russen in der Ukraine lediglich 17,3 % der Bevölkerung ausmachen. Hierbei wählten auch 2.265 (1,5 %) Rumänen bzw. 45.514 (17,6) Moldauer das Russische und 9.362 (6,2 %) Rumänen bzw. 27.670 (10,7) Moldauer das Ukrainische als Muttersprache.45 Die zweite – noch anhaltende – Etappe ist die Zeit der unabhängigen und demokratischen Ukraine (seit 1991), die eine besondere Rolle für die Bildung eines Nationalkonzeptes und einer neuen Sprachpolitik im Bezug auf die nationalen Minderheiten spielt – einschließlich der 45 Ukrainische Volkszählung (2001), Internet-Version: http://2001.ukrcensus.gov. ua/eng/results/general/nationality/ (letzter Zugriff: 11.05.2011). 18 Aliona Dietel rumänischsprachigen Minderheit. Eine Vergleichsanalyse der Volkszählungsergebnisse von 1989 mit denen von 2001 46 zeigt eindeutig auf, dass das Sprachbewusstsein bzw. das sprachbezogene Identitätsbewusstsein aller Bevölkerungsschichten der Ukraine, einschließlich der rumänischsprachigen Bevölkerung, in der Zeit der Unabhängigkeit der Ukraine offensichtliche Veränderungen erlebt hat. Im Vergleich zu 1989 zeigt die Statistik von 2001 ein Wachstum von 29,4 % bei Einwohnern, die das Rumänische als Muttersprache angeben. 47 Offenbar hat der starke „Moldowenisierungsprozess“ der Rumänen in der Nachkriegszeit (nachweislich zwischen 1959-1989) einem sprachlichen "Rerumänisierungsprozess“ Platz gemacht. Ausnahme macht die Situation in der Region Odessa, wo versucht wird, ein moldauisches Sprachbewusstsein aufrecht zu erhalten und Moldauisch in der Schule zu lehren. i Die Spracheinstellung der Rumänen ist deutlich in der folgenden Tabelle zu sehen: 46 Vgl. Ion-Horia Bîrleanu / Gheorge Jernovei, Dialectologia limbii române, Partea I, Ed. Ruta, Cernăuţi 2005, S. XXVII-XLI. 47 Im Jahr 1989 wählten von 134 825 (100 %) Rumänen 83 966 (bzw. 62,28 %) das Rumänische als eigene Muttersprache. Aber bereits nach 10 Jahren, im Jahr 2001, wählten von der gesamten Zahl der Rumänen in der Ukraine (151 000) schon 138 467 (bzw. 91,7 %) das Rumänische als Muttersprache (Moldauer werden in der Tabelle der Volkszählung in der Ukraine getrennt von den Rumänen angegeben). Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze 19 Tabelle Nr. 1. Spracheinstellung der als Rumänen registrierten Bevölkerung der Ukraine zur eigenen Muttersprache oder anderen Verkehrsprachen in der Zeit kurz vor und nach Unabhängigkeit der Ukraine. Jahr 1989 2001 Anzahl Anzahl 48 ± %Punkte absolut in % absolut in % in 2001 im Vergleich zu 1989 Rumänisch 83 966 62,3 138 467 91,7 + 29,4 Ukrainisch 13 203 9,8 9 362 6,2 - 3,6 4 670 3,5 2 265 1,5 - 2,0 32 986 24,5 906 0,6 - 23,9 134 825 100 151 000 100 Sprache Russisch Eine andere Sprache Insgesamt Einige Veränderungen im Sprachbewusstsein der Moldauer aus der Ukraine sind jedoch schon im Jahr 1989 (im Vergleich zum Jahr 1959) zu beobachten, als das Rumänische (statt des Moldawischen) mit einem kleinen Wachstum von 0,08 Prozentpunkten als Muttersprache angegeben wurde. 49 Andererseits sind starke Veränderungen im Sprachbewusstsein der registrierten Rumänen in der Nachkriegszeit (zwischen 1959 und 1989) zu beobachten (Siehe hier Tabelle Nr. 2). Die Statistik zeigt einen deutlichen „Moldowenisierungsprozess“50 in dieser Zeit. So wählten 1989 bereits 48 Ion-Horia Bîrleanu / Gheorge Jernovei, Dialectologia limbii române, Partea I, Ed. Ruta, Cernăuţi 2005, S. XXXIV. 49 Vgl. ebd., Tabelle Nr. 4, S. XXXI. 50 „Moldowenisierungsprozess“ – eine Art des Russifizierungsprozesses der sowjetischen Zeit, bei dem durch kyrillische Schreibweise und die Bezeichnung „moldawische Sprache“ für die rumänische Sprache die Verfremdung der rumänischsprachigen Bevölkerung der Ukraine von eigenen ethnischen und kulturellen Wurzeln verfolgt wurde. 20 Aliona Dietel 22,81 Prozentpunkten mehr Rumänen die Rubrik „andere Sprache“, was Moldauisch bedeuten soll, als eigene Muttersprache. Tabelle Nr. 2. Spracheinstellung der als Rumänen registrierten Bevölkerung der USSR zur eigenen Muttersprache oder anderen Verkehrsprachen in der sowjetischen Zeit. Jahr 51 1959 1989 Anzahl Anzahl ± %Punkte in 1989 im Vergleich zu 1959 absolut in % absolut in % Rumänisch 85 048 84,32 83 966 62,28 - 22,04 Ukrainisch 12 917 12,81 13 203 9,79 - 3,02 Russisch 1 222 1,21 4 670 3,46 + 2,25 Eine andere 1 676 1,66 32 986 24,47 + 22,81 Sprache Sprache Insgesamt 100 863 100 134 825 100 Die erläuterten politischen und sozialen Veränderungen auf dem Territorium der heutigen Ukraine haben entsprechende Veränderungen in dem Bewusstsein und der Spracheinstellung sowie den Sprachkenntnissen bei der Bevölkerung hinterlassen. Der Unterschied zwischen dem gesprochenen Rumänisch der interviewten Schüler und Lehrer 52 und dem in Rumänien geltenden Standardrumänisch ist relativ groß und bezieht sich auf alle grammatikalischen 51 Ion-Horia Bîrleanu / Gheorge Jernovei, Dialectologia limbii române, Partea I, Ed. Ruta, Cernăuţi 2005, S. XXX. 52 Die Aussage bezieht sich auf eine persönliche Interviewaufnahme der Autorin mit Lehrern und Schülern sowie auf aufgezeichnete Unterrichtsstunden. Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze 21 Ebenen der Sprache. 53 Im Hinblick auf die Abweichungen vom Standard unterscheiden sich Schüler und Lehrer der rumänischsprachigen Schulen in den untersuchten Fällen nicht stark voneinander. Eine Ausnahme bilden allenfalls die Fachlehrer für rumänische Sprache und Literatur, die eine philologische Ausbildung erhalten haben. Die Sprache der anderen Lehrer ist in höherem Maße vom Russischen und Ukrainischen beeinflusst. Die Ursache dafür liegt darin, dass sie ihr Studium, wie bereits dargelegt, in ukrainische Sprache absolvieren müssen bzw. dies früher auf Russisch taten und es an den notwendigen Lehrmaterialien in rumänischer Sprache mangelt.54 Gerade die Sprachkompetenz und die Spracheinstellung der Lehrer sind besonders wichtig, weil diese in größtem Maße das Sprachverhalten der Schüler direkt beeinflussen. In diesem Fall kann das Sprachbewusstsein nicht nur reflexiv sein, sondern kann mitunter sogar zum Katalysator für bestimmte weitgreifende sprachliche Veränderungsprozesse werden. Insofern ist die Schule der wichtigste und letztlich entscheidende Ort für die Pflege, den Erhalt und die Konsolidierung der Minderheitensprache. Neben der Schule spielt auch die Familie (in dem Fall) eine wichtige Rolle bei der Sprachvermittlung. Gemäß der von der Autorin aufgezeichneten Interviews sind zudem schichtspezifisch unterschiedliche Spracheinstellungen zu beobachten. Kinder aus intellektuellen Familien oder solchen mit höherer Berufsqualifikation und anspruchsvoller Tätigkeit sprechen sowohl ein gepflegteres Rumänisch als auch ein besseres Ukrainisch. Gemäß ausgeführter Interviewanalyse erkennen Schüler aus den Schulen mit Rumänisch als Unterrichtssprache der Region Czernowitz überwiegend das Rumänische als ihre Muttersprache an, weil es die 53 Vgl. Aliona Iakobeţ, „Gesprochenes Rumänisch in der Schule der rumänischen Minderheit in der Ukraine“, in: Klaus Bochmann (Hrsg.), Gesprochenes Rumänisch in der Ukraine. Soziolinguistische Verhältnisse und linguistische Strukturen, Leipzig 2004, S. 53-69. 54 Die Aussage bezieht sich auf eine persönliche Interviewaufnahme der Autorin mit Lehrern und Schülern sowie auf aufgezeichnete Unterrichtsstunden. 22 Aliona Dietel Sprache der Kommunikation in der Familie oder die Muttersprache eines Elternteiles und die Unterrichtssprache der besuchten Schule sei. Dabei geben jedoch fast 50 % der Stadtschüler an, dass sie sich im Ukrainischen besser ausdrücken können. Überwiegend identifizieren sich die rumänischsprachigen Schüler als ethnische Rumänen. Demgegenüber sehen sich 1/3 der interviewten Kinder aus gemischtsprachigen Familien sowohl als Rumänen als auch als Ukrainer an. Die beiden Sprachen werden aktiv in der Familie gebraucht und die Lebensweise der Familie ist zumeist von zwei kulturellen Traditionen beeinflusst. In solchen Fällen können sich die Kinder häufig nicht für eine einzige ethnische Zugehörigkeit entscheiden. Wie auch bei anderen ethnischen Gruppen spielt für die Identität der Rumänen die Sprachloyalität eine sehr wichtige Rolle. Das Bekenntnis zu einer Muttersprache (Rumänisch/ Moldawisch, manchmal Russisch oder Ukrainisch) führt zu einer Sprachidentität. In diesem Fall fungiert die Sprache als Gruppensymbol, weil sie den sozialen Status und persönliche Beziehungen, gesellschaftliche Ziele, Werte und Interessen anzeigt.55 Durch die gesprochene Varietät des Rumänischen und durch die Ukrainisch- und Russischkenntnisse werden sozialer Status und Bildungsstand angedeutet, aber auch die Region, aus welcher der Sprecher kommt, wird erkannt. Die stark geäußerte Selbst- und Fremdbewertung durch Sprache hat somit zur Folge, dass die Sprache zum Identitätssymbol bei der Minderheit in der Ukraine geworden ist. Ein Sprachwechsel im Sinne einer Sprachwahl, womit gemeint ist, dass ein Mensch eine Sprache zu Gunsten einer anderen aufgibt – was bei Angehörigen der rumänischen Minderheit in Czernowitz zunehmend zu beobachten ist – gilt oft als äußeres Zeichen eines Identitätswechsels. Obwohl Rumänisch als Muttersprache meist von den interviewten Schülern (und Lehrern) anerkannt wird, wird dem Ukrainischen im sozialen Feld der Vorrang gegeben. Dennoch sind fast alle Probanden 55 Vgl. Joshua A. Fishman, Soziologie der Sprache. Eine interdisziplinäre sozialwissenschaftliche Betrachtung der Sprache in der Gesellschaft, München 1975, S. 15. Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze 23 der Meinung, dass die rumänische Sprache in der Ukraine erlernt werden sollte und dass es rumänische Schulen geben solle. Gleichzeitig messen sie dem Ukrainischen56 einen höheren Stellenwert bei, weil sie es als Sprache ihrer Zukunft empfinden, da sie mit dem Ukrainischen studieren und ihren beruflichen Weg gehen werden. Das Sprachbewusstsein der Kinder unterscheidet sich nach Wissen, Erfahrung, Verhalten, Schul- und Elternerziehung und Zukunftsplänen. Bei denjenigen, die studieren möchten, ist die Neigung, Ukrainisch zu lernen, stärker ausgeprägt. Diese Kinder verwenden diese Sprache nicht nach Belieben, sondern nach dem jeweiligen Bedarf. Trotzdem, neben dem starken Wunsch der meisten jungen Rumänen der Minderheit, in das neue ukrainischsprachige Elitemilieu 57 durch die ukrainische Sprache integriert zu sein, ist bei der Minderheit der Wunsch, die eigene Sprache, Kultur und Tradition zu pflegen und weiter zu erhalten immer deutlicher zu beobachten. Jeder zweite Schüler ist der Meinung, dass es nützlich sein kann, mehrsprachig zu sein. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine ist die Zahl der Zeitungen in rumänischer Sprache gestiegen. Es wird mehr auf Nationalfeiertage und Tradition geachtet. Auf der anderen Seite gibt es eine stark zunehmende Entwicklung, dass eine bemerkenswerte Anzahl der Lehrer und Eltern auf dem Land sich bemüht, die Schulkinder das Ukrainische zu lehren, weil es die Sprache ihrer Zukunft sein wird bzw. die Sprache des Studiums und des Berufslebens. Aus diesem Grund tritt das Rumänische bei der Sprachvermittlung in den Hintergrund. Hier werden viele Maßnahmen zwecks erfolgreichen Lernens des Ukrainischen unternommen. Ein Beispiel dafür ist, dass viele Eltern ihre Kinder in ukrainische Vorschuleinrichtungen schicken. Diese Kinder kommen nach dem Besuch einer ukrainischen Vorschuleinrichtung ohne ausreichende Rumänischkenntnisse zur 56 Manchmal auch dem Russischen, obwohl Russisch nicht mehr in der Schule unterrichtet wird, aber immer noch als Verkehrsprache in der Gesellschaft gilt. 57 Vgl. Marina Höfinghoff, „Zur Frage russisch-ukrainischer Zweisprachigkeit in der Ukraine“, in: Europa Ethnica, 63. Jahrgang, Wien ½ 2006, S. 26. 24 Aliona Dietel Schule. Sie verstehen das Rumänische, antworten jedoch oft auf Ukrainisch und unterhalten sich in den Schulpausen auf Ukrainisch. Auch der Wert des Rumänischen hat sich in solchen Fällen sehr gemindert. Diese ständige Sprachvermischung, sogar in der schulischen Umgebung, verwirrt die Schüler in jungem Alter gewissermaßen sprachlich und führt zur Bildung eines konfusen Sprachbewusstseins. Die Kinder können demzufolge keine der Sprachen korrekt sprechen. Andere Elterngruppen beweisen im Allgemeinen eine positive Einstellung zur Muttersprache und bemühen sich, das Rumänische in der Ukraine weiterhin am Leben zu erhalten. 4.3 Minderheitensprache Verkehrsprache versus Staatssprache oder Wie bereits erwähnt wurde, sind die Angehörigen der rumänischen Minderheit (mit wenigen Ausnahmen bei der älteren Generation) meistens dreisprachig. Jede Sprache wird bewusst nur in bestimmten Lebensbereichen mit einem bestimmten Ziel benutzt. Dementsprechend stehen alle drei in Korrelation zueinander, die sich häufig als Konkurrenz zueinander auswirkt. Dies beeinflusst das Kenntnisniveau aller gesprochenen Sprachen. Rumänisch wird im Vergleich zum Ukrainischen und zum Russischen nur auf den Gebrauch im privaten Bereich 58 beschränkt, was zum Erwerb und Gebrauch eines begrenzten Wortschatzes führt. Stattdessen wird versucht, die Beherrschung der Staatssprache zu verbessern. Dies wird auch durch die Einrichtung ukrainischer Klassen in rumänischen Schulen unterstützt. Auf diesem Wege werden die rumänischen Schulen in gemischtsprachige Schulen umgewandelt. Dies erfolgt entweder per Antrag durch mehrere Eltern oder auf Initiative der Schulverwaltung. Es gibt Fälle, in denen die Eltern sich gegen die Initiative des Schuldirektors, ukrainische Klassen zu eröffnen, gestellt haben. 58 Und in der Schule selbstverständlich. Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze 25 Diese Art Bilingualismus bzw. Trilingualismus kann instabil werden, wenn die in der Öffentlichkeit dominante Sprache auch im Bereich der Familie Dominanz entwickelt. Diese Gruppe definiert sich nicht mehr über die Minderheitensprache, was zum Verlust des symbolischen Identitätswertes der Gruppe führt. Dieser Fall ist in gemischtsprachigen Familien oder in Familien ethnischer Rumänen, die in die Stadt umgezogen sind und deren Kommunikationssprache in der Familie das Ukrainische oder das Russische geworden ist, vorhanden. Um das Ukrainische besser zu beherrschen wird auch in den letzten vier Jahren der Unterricht der Fächer Geschichte der Ukraine, Geographie und Militärvorbereitung in den Klassen 8 – 11 in ukrainischer Sprache erlaubt bzw. empfohlen. Diese Empfehlung des Bildungsministeriums ist nur von wenigen rumänischen Schulen, meistens in Dörfern, akzeptiert worden. Eine Erklärung dafür ist, dass die ländliche Bevölkerung (in diesem Sinn die älteste Bevölkerung) in ihren Ukrainischkenntnissen unsicher ist. Das bestätigt auch die durchgeführte Interviewanalyse. Im Vergleich zu den Schülern haben die Lehrer eine etwas zurückhaltendere Einstellung zur ukrainischen Sprache. Sie haben Komplexe, weil es für sie zum Teil schwieriger ist, diese Sprache neu zu lernen. Diese Ängste und Komplexe sind bei den Dorflehrern offensichtlicher. Wie auch im Falle der Schüler beherrschen die Stadtlehrer ein Rumänisch, das näher zur literarischen Sprache ist als das Rumänisch der Dorflehrer. Gleichzeitig muss die Tatsache erwähnt werden, dass die meisten Lehrer oft nicht akzeptieren wollen, dass die oben genannten Fächer in Ukrainisch unterrichtet werden sollen. Nach Auswertung der Interviews tendiert die Wahl der Sprache für die Freizeitliteratur meistens zu Gunsten des Ukrainischen. Die Schüler lesen mehr in Ukrainisch oder Russisch – sie möchten dadurch das Ukrainische besser beherrschen. Zudem gibt es sowohl in den Buchhandlungen als auch in den Bibliotheken der Ukraine wenig – manchmal gar keine – Literatur auf Rumänisch.59 59 Siehe dazu auch Punkt 4.1.: die einzige Buchhandlung mit rumänischsprachigen Büchern in Czernowitz „Luceafărul“ wurde 1997 geschlossen. 26 Aliona Dietel Der Mangel an notwendigen Lehrbüchern auf Rumänisch führt zur Bevorzugung der ukrainischen Sprache. Die Lehrer sind gezwungen, entweder selbst oder mit den Schülern die Inhalte der Lehrbücher während des Unterrichts zu übersetzen. Diese Situation beeinflusst selbstverständlich den Sprachgebrauch bei der Minderheit. Es hat sich durch die Interviews gezeigt, dass es wesentliche Unterschiede im Sprachgebrauch in Czernowitz und in der ländlichen Umgebung gibt. In der Stadt messen die Lehrer und Eltern dem Rumänischen und dem Ukrainischen fast den gleichen Wert bei. Sie sind der Meinung, dass die Schüler die beiden Sprachen gut beherrschen sollen, weil beide Sprachen für die Zukunft nützlich sein werden. Andererseits sprechen die Stadtkinder, schon allein wegen des mehrsprachigen Raumes, die ukrainische Sprache gut. Diese Situation wird in gewissem Maße von der Einstellung der Eltern und Lehrer zu beiden Sprachen beeinflusst. Allgemein gesehen haben die meisten rumänischen Kinder keine Probleme mit der Amtssprache (mit einer Ausnahme von ca. 20 % der Schüler in ländlichen Gebieten) und sind sicher, dass sie auch in der Lage sein werden, auf Ukrainisch eine Berufsausbildung oder ein Hochschulstudium zu absolvieren. 7 von 32 interviewten Schülern – sowohl aus der Stadt als auch vom Land – geben zu, dass sie auf Ukrainisch besser lesen, verstehen und Aufsätze schreiben können. Es ist zu bemerken, dass das Russische sehr gut beherrscht wird und auch beliebt ist, obwohl es in der Schule nicht mehr unterrichtet wird. Die Schüler haben es selbstständig gelernt: aus der Kommunikation mit anderen Kindern, aus Büchern und Medien, die zu 99 % auf Ukrainisch und Russisch sind. Die Medien beeinflussen stark die Einstellung zu der einen oder anderen Sprache. Im Vergleich zu den Schülern lässt sich bei den Lehrern mehr Sympathie für die russische Sprache als für das Ukrainische beobachten. Hier spielt das Alter eine wichtige Rolle. Die ältere Generation kann gut Russisch, aber hat große Schwierigkeiten Ukrainisch zu lernen, was zu den oben erwähnten generationsspezifischen Merkmalen führt. Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze 27 Bei der jüngeren Generation dagegen ist die Sympathie für die Staatsprache oder „perspektivgebende“ Sprache so groß, dass einige Probanden sich russische oder ukrainische Ehepartner und Freunde wünschen. Ungefähr ¼ der Schüler kann sich auch vorstellen, seine zukünftigen Kinder ausschließlich in der ukrainischen oder einzig in der russischen Sprache zu erziehen, was einen Vollintegrationswunsch in die Mehrheitsgesellschaft zeigt. Als Folge dieser Integrationsbemühung wird in solchen Familien kein Rumänisch mehr gesprochen. Im Allgemeinen ist die junge Generation der Minderheit sehr offen für das Lernen, den Fremdsprachenerwerbung, für das Neue, aber auch für die Erhaltung der eigenen Sprache und Kultur. Wenn jemand der Meinung ist, dass er Rumänisch nicht weiter lernen und pflegen braucht, passiert dies meist wegen des präsenten Marginalisierungsgefühls, Minderwertigkeitskomplexen oder der Unfähigkeit, sich als Rumänisch-Muttersprachler in die ukrainischsprachige Gesellschaft zu integrieren. 4.4 Codewechsel In Kommunikation mit anderen zweisprachigen Personen beschränken sich die Ukraino-Rumänen (die rumänischsprachige Bevölkerung) nicht auf eine Sprache. Sie nutzen vielmehr ihr sprachliches Repertoire optimal aus, indem sie nach Bedarf zwischen den ihnen zur Verfügung stehenden drei Sprachen hin- und herwechseln. Einsprachig können sie nur in rumänischsprachigen Dörfern sein. In der Stadt müssen sie in der Regel zum Russischen oder Ukrainischen wechseln, was oftmals auf Grund der wenigen Erfahrung und mangelnden oder fehlenden Sprachkompetenz zur Sprachmischung und zur spontanen Übersetzung führt. Gemäß den aufgezeichneten Interviews wechseln mehr als die Hälfte der Schüler und fast alle Lehrer (mit Ausnahme der älteren Generation im Umgang mit dem Ukrainischem) in der Kommunikation mit Vertretern anderer Sprachgemeinschaften problemlos von einer Sprache in die andere. Trotz dieser Aussagen ist der Wechsel zur anderen Sprache nicht fehler- und anstrengungslos. In einem Interview berichtet eine 13 28 Aliona Dietel jährige Schülerin, dass sie sich nach einem achtzehntägigen Aufenthalt in einem Ferienlager an Ukrainisch und Russisch gewöhnt habe und Schwierigkeiten mit dem Rumänischen hatte, als sie nach Hause zurückkam,. Am häufigsten sind bei der Kommunikation mit dem Vertreter anderer Sprachgemeinschaften die spontanen direkten Übersetzungen von der eigenen Sprache ins Russische oder Ukrainische. Aber auch die Sprachmischung 60 – in jeder der gebräuchlichen drei Sprachen – werden bei Schülern oftmals beobachtet. Sie sind nicht sicher, was den genauen Sinn mancher neuen bzw. selten verwendeten Vokabeln betrifft und benutzen sie oft in einer falschen Bedeutung. 5. Schlussfolgerungen Laut der Gesetzgebung der Ukraine genießen alle anerkannten Minderheiten des Landes und damit auch die rumänische Minderheit und das Rumänische als Minderheitensprache den Schutz und die Förderung durch den Staat. In Bezug auf die Sprachsituation im Bereich des Schulwesens bietet die Verfassung der Ukraine einen geeigneten Rahmen für den muttersprachlichen Unterricht auf allen Bildungsebenen. Die Wirklichkeit sieht jedoch oft anders aus. In zahlreichen Fällen gibt es eine beträchtliche Diskrepanz zwischen den deklarierten Rechten der Minderheit und deren Umsetzungen in der gesellschaftlichen Praxis. Jedoch hat die Unabhängigkeit der Ukraine auch viele Freiheiten und Entwicklungsmöglichkeiten für die rumänische Sprache und Minderheit gebracht, wie Name der Sprache – Rumänisch statt Moldawisch, Rückkehr zur lateinischen Schrift, mehrere wissenschaftliche und politische Kontakte mit Rumänien, Förderunterstützung seitens Rumänien für verschiedene kulturelle bzw. wissenschaftliche Veranstaltungen sowie Studienplätze für Absolventen und Weiterbildungskurse für Lehrer. Trotz allem ist die Bedeutung der Prestigesprache – also des Ukrainischen – sehr groß. Diese Sprache wird zur wichtigsten und 60 Wenn innerhalb derselben Äußerungen Einheiten und Regelmäßigkeiten beider Sprachen vermengt sind. Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze 29 notwendigsten Sprache bei allen Sprachinteraktionen. Die Minderheitensprache ist zu einer sekundären Sprache geworden, die in der Kommunikation mit der Familie, der Verwandtschaft oder den Freunden benutzt werden kann, aber nicht muss – dementsprechend sinken die Kenntnisse des hochsprachlichen Rumänisch immer mehr. Eines der Hauptprobleme bei einem großen Teil der rumänischen Minderheit der Ukraine besteht darin, dass sie versucht, den heutigen, unabhängigen ukrainischen Kulturraum zu betreten, ohne ihren eigenen rumänischen Kulturraum zu besitzen. Eine Gesellschaft, die sich selbst achtet und es versteht, auf ihre Errungenschaften stolz zu sein, wird auch bei der anderen Achtung hervorrufen. Der einfachste Weg, einer Gesellschaft Selbstachtung zurückzugeben, ist, die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf ihre Kultur zu lenken. Ein anderes Problem ist die Qualität des gesprochenen Rumänisch. Um die Sprachqualität zu verbessern, sollt man dem Sprachunterricht in der Schule mehr Zeit und größere Aufmerksamkeit widmen bzw. einen größeren Wert sowie Achtung für die eigene Muttersprache beim Schüler entwickeln. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Rumänen in der Ukraine bzw. in der Region Czernowitz sich ihrer Muttersprache bewusst sind, sie in der Zukunft lernen möchten und wollen, dass es in der Ukraine auch weiterhin rumänische Schulen gibt. Gleichzeitig lässt sich eine starke Tendenz dahingehend beobachten, dass dem Ukrainischen einen größerer Wert als der eigenen Muttersprache beigemessen wird, weil es als eine Prestigesprache empfunden wird. Dieses Verhalten der Abwertung der Muttersprache seitens der Probanden spiegelt die Lage des Rumänischen in der ukrainischen Gesellschaft wider. Die unterentwickelten soziokulturellen Funktionen führen ebenfalls zur Abwertung der rumänischen Sprache im Vergleich zum Ukrainischen. Diese Einstellung der rumänischen Sprecher hindert sie daran, sich für die Entwicklung der soziokulturellen Funktionen der Muttersprache einzusetzen. Daraus ergibt sich auch die Rolle der Schule bei der Entwicklung der rumänischen Sprache in der Ukraine. Es liegt nahe, dass das Abschaffung der rumänischen Schulen oder deren Umwandlung in 30 Aliona Dietel gemischte Schulen mit Unterrichtssprache Ukrainisch zu einer steigenden Abwertung der rumänischen Sprache führen wird. i Vgl. Polina Kiseolar, „Die sprachliche Individuation der Rumänischsprachigen im Südwesten der Region Odessa“, in: Klaus Bochmann / Vasile Dumbrava (Hrsg.): Sprachliche Individuation in mehrsprachigen Regionen Osteuropas, Band II. Ukraine, Leipzig 2009, S. 156-178. Elena Temper Kontroverse um Kurapaty Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus 1. Einführung Der Osten Europas beschäftigt sich seit nun mehr als zwanzig Jahren mit der postkommunistischen Konstruktion nationaler Räume. Mit der Loslösung aus dem sowjetischen Machtbereich haben sich die Nationen nicht nur ihre Geschichte „zurückgeholt“. Vielmehr wurde die Geschichte zur Grundlage einer neuen postsowjetischen Identität. Belarus stellt jedoch eine Ausnahme dar. Das Land gehört zu einigen wenigen postkommunistischen Staaten, in denen die amtliche Geschichtsdeutung nicht mit der nationalen Konzeption belarussischer Geschichte zusammenfällt. Die Spaltung des Geschichtsbildes in ein nationales und ein antinationales hat zu einer geteilten Erinnerungskultur der belarussischen Gesellschaft geführt. Die nach 1991 neu entworfene nationale Geschichte der Belarussen, die in erster Linie ihren nicht russischen Charakter akzentuierte, unterliegt seit dem Machtantritt von Präsident Aljaksandr Lukašėnka im Jahr 1994 anderen Prämissen. Die starke Verankerung der belarussischen Führung in der sowjetischen Vergangenheit beeinflusst nicht nur die Transformation des Landes, sondern auch seine Geschichtsund Erinnerungspolitik. Belarus gehört zu den wenigen erinnerungskulturell zerrissenen Staaten in Europa, in denen antagonistische Geschichtsnarrative zur Spaltung der Gesellschaft beitragen. Insbesondere die historischen Jubiläen des Jahrs 2008 ließen eine klare gesellschaftspolitische Trennlinie erkennen, da sie sich nicht mit dem offiziellen Geschichtsverständnis deckten. Am 25. März feierten Intellektuelle und Künstler, die zur belarussischen Opposition zählen, den 90. Jahrestag der Gründung des ersten belarussischen Staates, Belaruskaja Narodnaja Rėspublika (Belarussische Volksrepublik, BNR). Dieser unter dem Protektorat des untergehenden Wilhelminischen Deutschen Reiches gegründete Staat bestand nur von März bis 2 Elena Temper Dezember 1918. Trotz ihrer Kurzlebigkeit besitzt die Belarussische Volksrepublik für die belarussische Unabhängigkeitsbewegung seit dem Ende der 1980er Jahre eine große Symbolkraft. Nach dem Vorbild der baltischen Volksfronten entstand am 19. Oktober 1988 das Organisationskomitee der Belarussischen Volksfront (Belaruski Narodny Front Adradžėn’ne, BNF). Dies geschah zeitgleich mit der Gründung von Martyrolah Belarusi (Martyrium von Belarus), der ersten „Belarussischen gesellschaftlichen historisch-pädagogischen Gesellschaft zur Erinnerung an die Opfer des Stalinismus“, die sich als das belarussische Gegenstück zur Moskauer Menschenrechts- und Geschichtsgesellschaft Memorial verstand.1 Vorsitzender von Martyrolah Belarusi und der Volksfront Adradžėn’ne wurde der Minsker Archäologe Zjanon Paz’njak. Adradžėn’ne (Wiedergeburt) ist die drittälteste unter den nationalen Organisationen der Ex-Sowjetrepubliken und als einzige heute noch aktiv.2 Die Entstehung von Martyrolah und der Volksfront war eine direkte Reaktion auf die am 3. Juni 1988 erschienene Publikation von Zjanon Paznjak und Jaŭhen Šmyhalëŭ. In dieser beschrieben die beiden die von ihnen im Waldgebiet Kurapaty bei Minsk entdeckten Massengräber, die aus der Zeit des stalinistischen Massenterrors stammten.3 Die Entdeckung der Massengräber erschütterte die belarussische Öffentlichkeit weit über die intellektuellen Kreise hinaus und rüttelte sie aus ihrer jahrzehntelangen Lethargie. Die Massengrä1 2 3 Zu den Gründern von Martyrolah Belarusi gehörten Intellektuelle wie Vasil’ Bykaŭ, Aleh Belaussaŭ, Michail Dubjanecki, Sjarhej Hrachoŭski. Zur Entstehung von Martyrolah und BNF zuletzt : Sjarhej Navumčyk: Sem hadoŭ Adradžennja. Frahmenty najnoŭšaj belaruskaj historyi (1988-1985). Prag 2006, S. 11. Zur belarussischen Wiedergeburtsbewegung Ende der 1980er Jan Zaprudnik: Byelorussian Reawakening, in: Problems of Communism 4/1989, S. 36–52. – Astrid Sahm: Von der BSSR zur Republik Weißrußland – Belarus (1988–2001), in: Dietrich Beyrau, Rainer Lindner (Hg.): Handbuch der Geschichte Weißrußlands. Göttingen 2001, S. 178-199. – Dies.: Die weißrussische Nationalbewegung nach der Katastrophe von Tschernobyl (1986–1991). Münster 1994. 1999 spaltete sich die Belarussische Volksfront (BNF) in einen christlichkonservativen und einen liberalen Flügel. Paz’njak wurde zum Vorsitzenden der Christlich-Konservativen Partei-BNF. Kurapaty – daroha smerci, in: Literatura i mastactva, 3.6.1988. Kontroverse Kurapaty – Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus 3 ber in Kurapaty wurden zum Fanal des demokratischen Aufbruchs in Belarus. Zusammen mit der Katastrophe von Tschernobyl (belarussisch Čarnobyl’) wurde Kurapaty zu einem der Hauptbestandteile des antisowjetischen bzw. postsowjetischen Geschichtsbildes. Es beschleunigte die Delegitimierung des Sowjetsystems und diente der Belarussischen SSR (BSSR) als Argument für die staatliche Loslösung aus dem Verband der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die staatliche Unabhängigkeit. 2. Ein Land – zwei Gesellschaften Fast zwei Jahrzehnte nach der Unabhängigkeitserklärung ist es in Belarus nicht gelungen, verschiedene Gesellschaftskreise zu einer belarussischen Nation zu verschmelzen. Auf dem Territorium der Republik Belarus leben zwei Parallelgesellschaften mit eigenen Symbolen, Sprachen, Erinnerungskulturen und politischen Orientierungen. Obwohl sich beide Belarussen nennen, liegen ihrem Nationenverständnis unterschiedliche Konzeptionen zugrunde. Es gibt zwar keine eindeutige Demarkationslinie, die beiden Gruppen räumlich voneinander trennen würde, jedoch lebt in Belarus – ähnlich wie dies lange Zeit für die Ukraine galt – die Mehrheit der europäisch orientierten regierungskritischen Bevölkerung im Westen des Landes. Die nationalgesinnte Opposition sieht sich in der Tradition des Großfürstentums Litauen, jenes mittelalterlichen Staates, dessen Kernterritorium aus belarussischen Gebieten bestand, und fühlt sich der europäischen Tradition verbunden. Dagegen identifiziert sich die Lukašėnkatreue Mehrheit der belarussischen Gesellschaft über die Erinnerung an die Sowjetgesellschaft und insbesondere an den Großen Vaterländischen Krieg, der als die Geburtsstunde der modernen belarussischen Nation gesehen wird. Russland behält in dieser Sichtweise die sowjetische Rolle als der „große slawische Bruder“, obgleich die Union zwischen Belarus und Russland und der damit verbundene Verlust der 4 Elena Temper staatlichen Unabhängigkeit für die meisten Belarussen schon lange nicht mehr in Frage kommen.4 Die beiden geteilten Erinnerungsdiskurse beziehen sich zudem auf unterschiedliche nationale Symbole. Die nationaloppositionellen Eliten des Landes identifizieren sich mit dem mittelalterlichen Reiterwappen Pahonja und der weiß-rot-weißen Fahne. Die Sowjetnostalgiker proklamieren hingegen ein typisch sowjetisches in einen Ährenkranz eingebettetes Wappen und die rot-grüne Fahne mit einem weißroten Ornament an der Seite als die belarussischen Staatssymbole.5 Gravierende Unterschiede gibt es auch in der Feiertagssymbolik. Während die von restaurativ-sowjetischen Tendenzen geprägte belarussische Mehrheit den Tag der Großen Oktoberrevolution zelebriert und den Unabhängigkeitstag seit 1995 nicht wie 1991 gesetzlich beschlossen am 27. Juni, dem Tag der Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung der BSSR von der Sowjetunion im Jahr 1990, sondern am 3. Juli, dem Tag der Befreiung von Minsk von der nationalsozialistischen Okkupation begeht, entwickelte die belarussische Opposition ihren eigenen Feiertagskanon.6 So wird der Unabhängigkeitstag am 25. März zur Erinnerung an die Gründung der Belarussischen Volksrepublik gefeiert und jedes Jahr am 29. Oktober, am Ahnentag Dzjady der Opfer des Stalinismus gedacht. 4 5 6 Aleh Manaeŭ: Langer Marsch – bloß wohin? Integrationsvorstellungen im Wandel, in: Konturen und Kontraste. Belarus sucht sein Gesicht. Berlin 2004 [= OSTEUROPA, 2/2004], S. 228–238. Zu den belarussischen Staatssymbolen siehe Elena Temper: Belarus verbildlichen: Staatssymbolik und Konstruktion(en) der Nation seit 1990. Diss. Uni Leipzig 2009. Dmitri Semuschin: Wappen und Staatssymbolik der Weißrussen vom Mittelalter bis in die Gegenwart, in: Beyrau, Lindner, Handbuch [Fn. 1], S. 49–69. – Dazu auch Staatssymbolik und Geschichtskultur [= OSTEUROPA 7/2003], hier Einschub, Abb. 48–57. Das Datum wurde durch das umstrittene Referendum vom 14 Mai 1995 geändert. Das Referendum fand parallel zum ersten Wahlgang der Parlamentswahlen statt. Durch das von Präsident Lukašėnka initiiertes Plebiszit wurde Russisch als die zweite Staatssprache, die etwas modifizierten sowjetischen Staatssymbole eingeführt sowie die wirtschaftliche Annäherung an Russland und die Erweiterung der präsidialen Vollmachten beschlossen. Kontroverse Kurapaty – Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus 5 Nicht zuletzt sind die zeremoniellen Inszenierungen der Feiern ein Zeugnis für konkurrierende kollektive Erinnerungskulturen. Aufwändige Militärparaden, wie sie schon zu Sowjetzeiten üblich waren, bestimmen seit dem Regierungsantritt von Präsident Lukašėnka den Tag des Sieges. Die Veranstaltungen der nationalorientierten Opposition finden dagegen als friedliche Märsche oder Versammlungen zumeist unter weiß-rot-weißen Fahnen statt. Zum Abschluss jedes Zusammenkommens wird die religiöse Hymne der belarussischen Opposition Mahutny Boža (Allmächtiger Gott) gesungen. Die staatlichen Denkmäler und Gedenkstätten bilden die kollektive Erinnerungskultur von Belarus. Geprägt wird diese Kultur von den schmerzlichen Erfahrungen, die das belarussische Volk während der Kriegsjahre 1941 bis 1945 machen musste. Die Festung von Brest, das Museum des Großen Vaterländischen Krieges, der Hügel des Ruhmes, „Minsk – die Heldenstadt, Chatyn, „die Stalinlinie“ – an all diese Orte werden Touristen geführt, die das Land besuchen. Dabei bleibt das historische Gedächtnis selektiv. In der offiziellen Erinnerungskultur genießen Erzählungen vom heldenhaften „Partisanenkrieg“ eine zentrale Rolle. Die Tragik des Krieges findet in den Reden nur marginale Erwähnung, statt dessen wird im Heroismus geschwelgt. Weltweit sind die Orte der Massenvernichtung Auschwitz, Treblinka, Majdanek bekannt, aber nur wenige haben bis heute von Trostenez (Trascjanec) bei Minsk gehört – dem viertgrößten Vernichtungslager in Europa gemessen an der Zahl der dort getöteten Menschen, die überwiegend jüdischer Herkunft waren.7 Die sowjetische Geschichte gehört in Belarus ähnlich wie in Russland und der Ukraine nicht der Vergangenheit an, sondern ist gegenwärtig und bestimmt die kulturelle Erinnerungslandschaft. „Vorsicht, die Türen schließen! Nächste Station – Leninplatz, Oktoberplatz, Platz des Sieges, Proletarskaja, Moskovskaja, Pervomajskaja!“ hören Passagie7 Evhenij Cumarov: Trostenec: Polveka bespamjatstva, in: Ihar Kuznecov, Jakaŭ Basin: Belarus’ u XX stahoddze. Vypusk 3, o. O. 2004. – Das Buch ist online zugänglich: <homoliber.org> – Ihor’ Kuznecov: Pravda o Trostence, in: Repressivnaja politika Sovetskoj vlasti v Belarusi. Sbornik naučnych rabot, 3/2007. <http://homoliber.org/rp0703.html>. 6 Elena Temper re der Minsker U-Bahn. Die Namen und die Gestaltung der Haltestellen im Stil des sozialistischen Realismus spiegeln viel von der jüngsten belarussischen Geschichte wider. Straßennamen künden von Revolutionären, Kommandeuren der Partisanen sowie von Untergrundkämpfern. Sowjetische Feiertage sind bis heute auch in Belarus gesetzliche Feiertage. Vor dem Haus der Regierung, auf dem Platz der Unabhängigkeit grüßt der Führer des Proletariats Vladimir Il’ič (Ul’janov) Lenin. In dem gegenüberliegenden, im stalinistischen „Zuckerbäckerstil“ erbauten Gebäude, Sitz des Komitees für die Staatssicherheit, steht die Büste des „Eisernen Felix“ Dzeržinskij, des Gründers und Leiters der Geheimpolizei Čeka, die nach dem Vorbild des während der Französischen Revolution praktizierten Großen Terrors mit allen Mitteln sogenannte Konterrevolutionäre beseitigte, wobei sie oft den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf Abschreckung statt auf Wahrheitsfindung legte.8 Während in allen anderen Nachfolgestaaten der UdSSR beinahe sämtliche Dzeržynskij-Denkmäler fielen, – allen voran wurde das Denkmal in Moskau vor der Lubjanka, dem KGBGebäude, gestürzt – weihten Präsident Lukašėnka und die Leiter der Staatssicherheitsorgane und Sondereinheiten der GUS-Staaten im Oktober 2004 eine neue Dzeržinski-Gedenkstätte in seiner Geburtsstadt Dsjaržynsk (früher Koŭdanaŭ) feierlich ein.9 Auch die über vier Kilometer lange Minsker Hauptstraße trägt den Namen des Čeka-Chefs. Ende Mai 2006 wurde auf dem Territorium der Militärakademie in Minsk ein weiteres Dzeržinskij-Denkmal errichtet, das eine kleinere Kopie des Moskauer Denkmals ist. Der staatliche Dzeržinskij-Kult in Belarus bedeutet zugleich die Verdrängung der Erinnerung an Tausende Opfer von Erschießungskommandos „des bewaffneten Arms der Diktatur des Proletariats“ wie die Bol’ševiki die Organe der Staatssicherheit nannten. 8 9 Die Čeka wurde 1922 in die Politische Hauptverwaltung GPU (Glavnoe Političeskoe Upravlenie), die eine Staatspolizei in der Sowjetunion war und zum Innenministerium gehörte, umstrukturiert. Die Behörde existierte bis 1954 und war die Vorgängerin des KGB. 2004 wurde auch in Russland, in Dzeržinsk nahe Nižnij Novgorod, ein neues Dzeržinskij-Denkmal, errichtet. Es ist eine Kopie der Lubjanka-Variante und ersetzt ein 2003 eingestürztes. Kontroverse Kurapaty – Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus 3. 7 Kurapaty 1937 – die „Straße in den Tod“ In unvergesslichen Weiten Auf unzähligen Knochen Der Menschheit zeigten wir Den richtigen Schritt und den richtigen Weg (Todar Kljaštorny)10 1937, als überall in der Sowjetunion Feiern zum hundertsten Todestag Puškins stattfanden, ist zum Synonym für den „Großen Terror“ geworden, die sowjetische Form des Zivilisationsbruches.11 Nachdem Nikolaj Ežov die Leitung des NKVD übernommen hatte, begannen ab September 1936 landesweite „Säuberungsaktionen“. In den folgenden zwei Jahren verhafteten die „Sicherheitsorgane“ mitten im Frieden 10 11 Todar Kljaštorny war ein bekannter belarussischer Schriftsteller und Übersetzer. Er wurde am 29. Oktober 1937 im NKVD-Gefängnis in Minsk erschossen. Der Begriff „Zivilisationsbruch“ geht auf Dan Diner zurück. Dazu: Dan Diner (Hg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt/Main 1988, S. 7– 13. – Ders.: Den Zivilisationsbruch erinnern. Über die Entstehung und Geltung eines Begriffs, in: Heidemarie Uhl (Hg.): Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur. Das 20. Jahrhundert in der Erinnerung des beginnenden 21. Jahrhunderts. Innsbruck u.a. 2003, S. 17–35. – Wolfgang Kissel: Der Zivilisationsbruch als Kategorie der russischen Kultur- und Literaturgeschichte, in: Eckart Goebel, Wolfgang Klein (Hg.): Literaturforschung heute. Berlin 1999, S. 153–165. – Zum Thema Stalinismus vgl. auch (nur eine exemplarische Auswahl): Manfred Hildermeier: „Stalinismus und Terror“, in: OSTEUROPA 6/2000, S. 593–605. – Terry Martin: Terror gegen Nationen in der Sowjetunion, in: ebd., S. 606–616. – Mikola Iwanou: Terror, Deportation, Genozid: Demographische Veränderungen in Weißrußland im 20. Jahrhundert, in: Beyrau, Handbuch [Fn. 1], S. 392-408. – Rainer Lindner: Der „Genozid“ im kulturellen Gedächtnis der Ukraine und Weißrußlands. Vernichtungstraumata in sowjetischer und nachsowjetischer Zeit, in: Forum für Osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 2/2003, S. 109–151. – Jörg Baberowski: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus. München 2003. – Memorial: Das Jahr 1937 und die Gegenwart. Thesen von Memorial, in: Das Lager schreiben. Varlam Šalamov und die Aufarbeitung des Gulag. Berlin 2007 [= OSTEUROPA, 6/2007], S. 387–394. 8 Elena Temper etwa drei Millionen Menschen, von denen schätzungsweise eine Million größtenteils durch Erschießungskommandos hingerichtet wurde. Die Massenexekutionen fanden teils in regulären Gefängnissen, teils in sogenannten eigens eingerichteten „Exekutionslagern“ statt. Solche Lager, meist größere Waldflächen, gab es überall in der Sowjetunion. Eins davon wurde 1988 im Waldgebiet Kurapaty, nordwestlich von Minsk entdeckt. Hinrichtungsstätten dieser Art gab es auch in der Nähe anderer größerer Städte. Nach Befragungen von Augenzeugen nur in Minsk und Umgebung konnten bisher fünf Erschießungsplätze ausfindig gemacht werden, wo während des Großen Terrors Zehntausende Menschen umgebracht wurden. Die ersten Funde gab es schon in den 1960er Jahren, als der Minsker Autobahnring, der direkt durch das Waldstück Kurapaty führt, gebaut wurde. Damals wurde das Verbrechen der deutschen Wehrmacht angelastet, die das Land von 1941 bis 1944 besetzt hatte und der Bevölkerung grausames Leiden zugefügt hatte. Bei den Opfern habe es sich um Juden aus Hamburg gehandelt, die für Zwangsarbeiten nach Belarus gebracht und anschließend in Kurapaty getötet worden seien. Die Sachlage schien klar und so wurde keine offizielle Ermittlung zur Aufklärung des Sachverhalts durchgeführt. Die Gebeine wurden in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit LKWs weggebracht und der Straßenbau fortgesetzt.12 Erst am 3. Juni 1988 wurde in der populären Zeitung Literatura i mastactva (Literatur und Kunst) der Artikel Kurapaty – daroha smerci (Kurapaty – die Straße des Todes) veröffentlicht.13 Die Autoren Paz’njak und Šmyhalëŭ, ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiter des Instituts für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der BSSR und Leiter der Ausgrabungen, behaupteten in dem Artikel, dass in 12 Z Kurapataŭ bačny cen’ Lucypara nad Belarussju, in: Belarus’ – naša zjamlja. <http://nashaziamlia.org/2006/04/12/33/>. 13 Kurapaty – daroha smerci, in: Literatura i mastactva, 3.6.1988. – Z. Paz’njak, J. Šmyhalëŭ, A. Ioŭ: Kurapaty. Mensk 1994. – Uladzimer Adamuška: Palityčnyja rėprėsii 20-50-ych hadoŭ na Belarusi. Minsk 1994, S. 12ff. – Tarnavskij, H., Sobolev, V., Horelik, E.: Kuropaty – sledstvie prodolžaetsja. Minsk 1990. David R. Marples: Kuropaty: The Investigation of a Stalinist Historical Controversy, in: Slavic Review, Vol. 53, No. 2, 1994, S. 513-523. Neuste Ereignisse, Artikel, Fo tos zu Kurapaty unter: < http://www.kurapaty.org/>. Kontroverse Kurapaty – Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus 9 Kurapaty Opfer der zwischen dem Ende der 1930er/Anfang 1940er Jahre stattgefundenen Stalinschen Repressionen begraben seien. Der Artikel fand ein enormes öffentliches Echo. Schon der Name Kurapaty ließ schaudern. Denn Kurapaty/Kurapatki bedeutet auch Rebhühner, Vögel, die zum Abschuss freigegeben sind. Deshalb gibt es im Belarussischen die Redewendung „Erschossen wie ein Rebhuhn“. Diese metaphorische Assoziation des Namens war für Paz’njak ausschlaggebend, seinen Artikel so zu betiteln, denn die ursprüngliche Bezeichnung des Gebietes war Brod. Der Name Kurapaty kam erst später auf, vermutlich nach dem Krieg. Auf einem Gelände von etwa 30 Hektar wurden 510 Massengräber entdeckt, in denen vor allem Belarussen, aber auch Polen, Juden und Litauer verscharrt wurden. Die gefundenen Patronen und Hülsen konnten eindeutig den Revolvern von Typ „Nahan“ und „TT“ zugeordnet werden. Beide Revolvertypen gehörten zur Standardausstattung der NKVD-Mitarbeiter. Den Angaben des Generalstaatsanwaltes der BSSR, Heorhij Tarnavskij, zufolge, der das erste Strafermittlungsverfahren leitete, handelte es sich dabei um schätzungsweise 30 000 Opfer. Unterdessen wird die Zahl der Opfer auf 250 000 geschätzt. Am 29. Oktober 1937, dem Tag des Lenin-Komsomol und dem zwanzigsten Jahrestag der Oktoberrevolution wurden im Minsker NKVDGefängnis „Amerikanka“ mehr als 100 Menschen, darunter 22 belarussische und jüdische Literaten sowie 52 Vertreter der Intelligencija erschossen.14 Dieses Ereignis war der Anfang der Massenrepressio14 Zu den Opfern der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober 1937.: Leanid Marakoŭ: Achvjary i karniki. Mensk 2007, S. 3–91. – Das Buch besteht aus drei Teilen. Der erste widmet sich den Opfern dieser Nacht. Im zweiten Teil sind die Namen der zwischen August 1937 und November 1938, des sogenannten „blutigen Tunnels des Todes“ (Kravavy tunėl’ smerci) im Minsker NKVD-Gefängnis erschossenen Menschen verzeichnet. Der letzte Teil besteht aus Informationen über die Vollstrecker der Todesbefehle. – Marakoŭs einzigartige Enzyklopädie in zehn Bänden (insgesamt 15 Bücher) gibt detaillierte Auskunft über die Biographien von über 6000 Opfer unter der belarussischer Intelligenz. – Ders.: Rėprėsavanyja litaratynavukoŭcy, rabotniki asvety, hramadzkija i kul’turnyja dzejačy Belarusi. Ėnzyklapedyčny davednik u 10 tamach. (T. 1, T. 2), Smalensk 2001; T. 3 (1), Mensk 2003 und T. 3(2), Mensk 2004. – Ders.: Rėprėsavanyja litaratynavukoŭcy, rabotniki asvety, hramadzkija i kul’turnyja dzejačy Belarusi. Ėnzyklapedyčny 10 Elena Temper nen in Belarus, von denen alle Bevölkerungsschichten betroffen waren. Am stärksten gerieten jedoch die belarussischen Bauern ins Visier der stalinistischen Exekutionskommandos. Insgesamt wurden 65 Prozent der Landbevölkerung, 15 Prozent der Arbeiter, 5 Prozent der Intelligenz und ein Prozent der Geistlichen Opfer von Repressionen.15 In offiziellen Statistiken wird die Zahl aller Opfer auf dem Territorium der BSSR mit 600 000 angegeben. Die unabhängigen Wissenschaftler gehen jedoch davon aus, dass mehr als eine Million Menschen Opfer des Großen Terrors wurden, wobei ihre Familienangehörigen noch erfasst werden müssten.16 Bei dem am 14. Juni 1988 eingeleiteten Ermittlungsverfahren zur Aufklärung des Verbrechens wurde eindeutig festgestellt, dass es sich bei den in Kurapaty gefundenen menschlichen Überreste nicht um Juden handelt, die von der deutschen Wehrmacht ermordet worden waren, sondern um Opfer des stalinistischen Terrors. In diesem Verfahren wurde zum ersten Mal in der sowjetischen Justizgeschichte der Staat mit Verbrechen seiner Sicherungsorgane konfrontiert. 15 16 davednik u 10 tamach. T. 4 (Kniha 1 i 2): Rėprėsavanyja nastaŭniki Belarusi. 1917 – 1954. Mensk 2007. – Hier werden die zwischen 1917 und 1954 Lehrer vorgestellt, die Opfer der Repression wurde – Ders.: Rėprėsavanyja litaratynavukoŭcy, rabotniki asvety, hramadzkija i kul’turnyja dzejačy Belarusi. Ėnzyklapedyčny davednik u 10 tamach. T. 5. Rėprėsavanyja medycynskija i vetėrynarnyja rabotniki Belarusi. 1917–1960. – In dieser sich im Druck befindliche Enzyklopädie sind die Namen Mediziner und Veterinärmediziner zusammengestellt, die zwischen 1917 und 1960 Opfer der Repression wurde. In seinem enzyklopädischen Wörterbuch in zwei Bändern nennte Marakoŭ die Namen von knapp drei Tausend zwischen 1917–1967 Geistlichen, die den Repressionen zum Opfer fielen. Ders.: Rėprėsavanyja pravaslaŭnyja svjaščėnna- i carkoŭnaslužyceli Belarusi. 1917–1967. Mensk 2007. – Auch: Igor’ Kuznecov: Zasekrečennye tragedii sovetskoj istorii. Rostov-na-Donu 2007. – Aljaksandar Lukašuk: „Zakipučaj čėkistkaj rabotaj“: Z žic’cja kataŭ. Mensk 1997. Bei den Opfern handelt es sich sowohl um Erschossene als auch Unterdrückte belarussische Bürger. Vgl.: Uroki prošlogo: Zaveršilis’ obščestvennye slušanija „Prestuplenija stalinisma v Belarusi“ <http://news.open.by/333/2006-1027/21023/>. Auch: Belarus gedenkt den Opfern stalinistischer Repressionen, in: BelarusNews. de <http://www.belarusnews.de/de/sozial/belarus/ Igor’ Kuznecov: Repressii na Belarusi v 1920-1940-e hh, in: Ders. (Hg.): Repressivnaja politika sovetskoj vlasti v Belarusi, Bd. 2. Minsk 2007. S. 5–15. Kontroverse Kurapaty – Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus 11 Am 30. Oktober 1988 folgten etwa 10 000 Minsker Einwohner dem Aufruf der Belarussischen Volksfront (BNF) unter Zjanon Paznjak und kamen mit weiß-rot-weißen Fahnen zur ersten Kundgebung nach Kurapaty, um der Opfer der kommunistischen Repressalien zu gedenken. Obwohl die Demonstration weitgehend friedlich verlief, wurde sie von einer Armee aus Miliz und Sondereinheiten mit Gummiknüppeln und Tränengas aufgelöst. Diese Aktion löste eine Welle der Empörung in der gesamten UdSSR aus.17 4. Kurapaty – ein Politikum Kurapaty gab den Anstoß für eine Neubewertung der belarussischen Geschichte. Der Ort wurde zum Symbol des Kampfes gegen das kommunistische Regime und für ein unabgängiges Belarus. Kurapaty wurde dadurch selbst zu ein einem Politikum. Obwohl der Ministerrat der BSSR in seinem Beschluss vom 18. Januar 1989 „Über die Verewigung des Gedächtnisses der Opfer der Massenrepressalien 1937– 1941 Jahre im Waldmassiv Kurapaty“ die Errichtung eines Denkmals beschloss, ist dies bis heute nicht geschehen. Symbolisch wurde damals ein Monolith aufgestellt, an dessen Stelle, so heißt es auf dem Schriftzug, den Opfern der Massenrepressalien ein Denkmal erbaut werden sollte. Zwar steht der Name Kurapaty seit 1993 auf der offiziellen Liste des historischen und kulturellen Erbes der Republik Belarus als „Ort der Vernichtung der Opfer der politischen Repressalien der 1930–40er Jahre“. Doch alle Denkmäler die sich in Kurapaty befinden, gehen auf private Initiativen verschiedener zivilgesellschaftlicher Organisationen zurück. Das Jahr 1993 ging in die belarussische Geschichte auch dadurch ein, dass der Oberste Sowjet der Republik Belarus der im August 1991 verbotenen Kommunistischen Partei ihren öffentlichen Status wiederherstellte. Seitdem schreitet die öffentli- 17 Zu den Ereignissen in Kurapaty: David R. Marples: Kuropaty: The Investigation of a Stalinistic Historical Controversy, in: Slavic Review, 2/1994, S. 513–523. – Zu den Folgen: Astrid Sahm: Transformation im Schatten von Tschernobyl. Um welt- und Energiepolitik im gesellschaftlichen Wandel von Belarus und der Ukraine. Münster 1999, S. 71. 12 Elena Temper che Reanimation der sowjetischen Vergangenheit voran. Eine kritische Auseinandersetzung findet damit nicht statt. In Lukašėnkas Belarus gehört Kurapaty nicht zum amtlichen Erinnerungskanon. Geschichtslehrbücher enthalten keine Informationen dazu, offizielle Exkursionen gibt es nicht. Der Staatspräsident hat sich ebenfalls noch nicht nach Kurapaty verirrt. Bill Clinton ist bis heute der einzige Staatsmann, der im Januar 1994 Kurapaty besuchte und mit einer gestifteten Granitbank, die die Aufschrift trägt: „Vom Volk der Vereinigten Staaten von Amerika dem belarussischen Volk zum Gedenken“, der Opfer von Kurapaty gedachte. Bereits ein Dutzend Mal wurde die „Clinton-Bank“ von Vandalen heimgesucht. Bereits ein Dutzend Mal wurde die „Clinton-Bank“ zum Objekt des Vandalismus. Auch Gräber wurden auf der Suche nach Gold mehrmals ausgehoben und die von den Bürgern errichteten Kreuze geschändet. Kein einziges Mal gab es eine offizielle Strafverfolgung. Stattdessen wurden immer neue staatliche Untersuchungen der Erschießungen veranlasst, deren Ergebnisse nicht veröffentlicht werden.18 Als vor der Präsidentschaftswahl 2001 beschlossen wurde, die Autobahn zu erweitern, die unmittelbar an den Massengräbern von Kurapaty vorbeiführt, drohte die Situation zu eskalieren.19 Zu diesem Zweck mussten mehrere Bäume im Wald von Kurapaty gefällt werden. Die Straße sollte somit über Gräber gehen. Acht Monate zelteten junge Belarussen, meist Mitglieder der oppositionellen Jugendorganisationen Malady Front“ und Zubr, in den Kieferwäldern am Rande des Denkmals.20 Die Demonstranten errichteten auf dem Gelände über 18 19 20 Die Untersuchungen sollten beweißen, dass es sich bei den Getöteten um Opfer der deutschen Okkupation handelt. Vgl.: Adam Zaleski: ...I vse-taki fašisty, in: Tovarišč, 19.01.1996. <http:/katyn.ru/. Ders.: Stalin i kovarstvo ego političeskich protivnikov. Minsk 2002. – Vsë li my znaem o Kurapatach?, in: Respublika, 01.02.1996. – Pljaksi vokrug Kuropatskich mogil, in. Chartyja’97 <http:/charter97.org/bel/news/2002 Vgl.: Weißrusslands Regierung lässt nahe der Hauptstadt eine Autobahn ausbauen – auf den Leichen von Stalin-Opfern, in: taz, 23.11.2001, S. 11. Sjargej Dubavec (Hg.): Daroga praz Kurapaty. Kniha adnaho rėpartažu Praha 2002. In einer Art Tagebuch mit Abbildungen ist hier der Kampf um Kurapaty beschrieben. Kontroverse Kurapaty – Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus 13 hundert Kreuze und blockierten unter anderem die Baufahrzeuge, um die am Tag des zweiten Amtsantritts von Präsident Lukašėnka begonnenen Bauarbeiten zu stoppen. Die Initiative wurde von der Christlich-Konservativen Partei-BNF, der Volksfront Adradžėn’ne und Martyrolah Belarusi unterstützt.21 Eine Woche nach einem Solidaritätsbesuch polnischer Diplomaten kam es am 8. November, am Gedenktag der Großen Oktoberrevolution, zu schweren Ausschreitungen. Nahezu alle aufgestellten Holzkreuze wurden zerstört, Hundertschaften von Miliz und OMON-Spezialtruppen des Innenministeriums prügelten wahllos auf die Demonstranten ein. Danach kam es zu zahlreichen Anklagen, Gefängnis- und Geldstrafen gegen die Kurapaty-Aktivisten. Die Niederschlagung der Kurapaty-Aktion am gesetzlichen Feiertag der Großen Oktoberrevolution zeigte eine drastische Wende der staatlichen Geschichtspolitik zurück zum sowjetischen Wertekanon. Ungeachtet der Proteste und der öffentlichen Unterstützung der Verteidigung von Kurapaty durch alle oppositionellen Parteien sowie Schriftsteller, Historiker und andere prominente belarussische Intellektuelle, wurden die Bauarbeiten fortgeführt. 5. Kurapaty – Denkmal und Symbol „Erinnert euch!“ riefen die einen, „Jetzt ist es aber genug!“ fanden die anderen. Günter Grass22 Als Antwort auf den Autobahnausbau entstand im Herbst 2001 eine Bürgerinitiative „Für die Rettung der Totenstätte in Kurapaty“ (Za ŭratavanne memaryjala Kurapaty). Der Initiative, die von mehr als 21 22 Kurapaty – nasha bol’, nash pamjac’, nasha tryvoha, in: Narodnaja volja, 10.10.2001. – Zjanon Paz’njak: Novae stahodze. Waršawa 2002, S. 93–96.ė Günter Grass: Ich erinnere mich... Rede im Rahmen der Litauisch-deutsch-polnischen Gespräche über die Zukunft der Erinnerung, in: Günter Grass, Czeslaw Milosz, Wislawa Szymborska, Tomas Venclova: Die Zukunft der Erinnerung. Göt tingen 2001, S. 27–34, hier S. 33. 14 Elena Temper dreißig gesellschaftlichen Organisationen und zahlreichen Vertretern der belarussischen Intelligenz unterstützt wurde, gelang es, eine öffentliche Debatte über die Errichtung einer Gedenkstätte anzustoßen. Zwei Konzeptionen standen zur Diskussion. Das erste Konzept der „Jugend für den Schutz von Kurapaty“ und der „Die Initiative für die Rettung der Totenstätte in Kurapaty“ wurde am 19. Februar 2002 der Öffentlichkeit vorgestellt. Es sah zunächst vor, das Gelände von Kurapaty nach belarussischer Tradition der Totenbestattung zu umzäunen und ein Eingangstor zu errichten.23 Den Mittelpunkt der zukünftigen Gedenkstätte sollte das bei der ersten Kundgebung am Ahnentag Dzjady 1989 zum Gedenken an die Stalinistischen Opfer errichtete sieben Meter hohe Kryž Pakuty (Kreuz des Leidens) bilden. Das Kreuz wurde bei seiner Errichtung von Priestern der vier größten Konfessionen in Belarus, der orthodoxen, katholischen, evangelischen und der unierten, zeremoniell geweiht. Ferner waren Kapellen verschiedener Konfessionen, ein Museum für die Opfer des Stalinismus sowie Informationsstätten außerhalb des Geländes geplant. Ein beabsichtigter Nebeneffekt war, auf diese Weise weitere Baumaßnahmen zu unterbinden. Eine andere Konzeption, die vom belarussischen Friedenskomitee ausgearbeitet wurde, sah die Errichtung eines Mahnmals zum Gedenken an die Opfer der Repression vor. Das „Mahnmal des vergossenen Blutes“ in Form eines Hufeisens, das Verständigung, Glück und Versöhnung symbolisieren sollte, stieß jedoch auf heftige Kritik. Hufeisen heißt auf Belarussisch padkova ščasc’cja (Hufeisen des Glückes). Ein derart positiv konnotiertes Symbol konnte nach Meinung der Kritiker nicht für das Leiden der Opfer stehe.24 Zjanon Paz’njaks Vision von einem Kurapaty-Denkmal war eine Gedenkstätte, die die belarussischen Bürgern selbst initiieren und finanzieren sollten. Angesichts der negativen Haltung der Regierung Kurapaty gegenüber, so Paz’njak, sei ein amtlich verordnetes Denkmal den 23 24 Predložena konzepzia Kuropat, in: Belorusy i rynok, 25.2.2002. Z Kurapataŭ bačny cen’ Lucypara nad Belarussju, in: Belarus’ – naša zjamlja. <http://nashaziamlia.org/2006/04/12/33/>. Kontroverse Kurapaty – Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus 15 Opfern sowie der Bedeutung der Katastrophe in der kollektiven Erinnerung nicht angemessen.25 Der Anfang für ein solches Narodny Memorial Belaruskaj Martyralëhii (Nationale Gedenkstätte des Belarussischen Martyriums) war bereits mit der kollektiven Errichtung des Kryž Pakuty vor über zwanzig Jahren gemacht. Am 29. Oktober 2000 organisierten die BNF und Adradžėn’ne einen kilometerlangen „Kreuz“-Marsch durch Minsk nach Kurapaty. Jeder Teilnehmer trug ein selbstgemachtes mit einem weiß-rot-weißen Band umbundenes Kreuz in der Hand. Anschließend wurden die Kreuze als symbolische Sichtbarmachung der Erschossenen auf dem Gelände von Kurapaty errichtet. Die Zahl der Kreuze nahm jedes Jahr zu und sollte zu einem „Wald von Kreuzen“ (Paz’njak) wachsen. So würde eine lebendige Erinnerungsstätte für die Toten entstehen. Eine ähnliche Gedenkstätte, also eine Kreuz-Landschaft im Entstehen, findet sich im polnischen orthodoxen Kloster Grabarka. Die dortige Holzkirche aus dem 18. Jahrhundert ist von zahllosen Kreuzen umgeben.26 Paz’njaks Projekt fand breite Zustimmung unter Kurapaty-Aktivisten. Zum einen lag es an seiner vergleichbar einfachen Realisierung, zum anderen an der Idee eines Denkmals im permanenten Entstehen und seiner symbolischen Funktion als Spiegel der Gesellschaft.27 Obwohl die Vertreter der wichtigsten Konfessionen von Belarus Kurapaty als einen Gedenkort der stalinistischen Massenrepressionen anerkannt hatten und dem „Kreuz des Leidens“ durch die Weihung eine sakrale Bedeutung verliehen, wurde es mehrmals geschändet. Im Land des „orthodoxen Atheisten“, wie sich Präsident Lukašėnka selbst bezeichnet, gab es bis März 2008 trotz zahlreicher Bürgerproteste noch keiner strafgerichtlichen Verfolgung gegen die Denkmalsschänder. Die Passivität der Behörden ist sogar gesetzlich begründet, denn 25 26 27 Kurapaty – nasha bol’, nasha pamjac’, nasha tryvoha, in: Narodnaja volja, 10.10.2001 und in: Zjanon Paz’njak: Novae stahodze. Waršawa 2002, S. 93-96. Jedes Jahr am 19. August, dem orthodoxen Fest der Verklärung Christi, kommen Tausende Pilger aus Polen, der Ukraine und Belarus’ hierher, um ihr Glaubens bekenntnis zu erneuern, und bringen kleine und große Kreuze mit, in die ihre Wünsche geritzt sind. Zjanon Paz’njak: Narodny memaryjal Kurapaty <http://kurapaty.org//index.php? option=com_content&task=view&id=41&Itemid=1>. 16 Elena Temper laut Artikel 20 Punkt 2 des Gesetzes „Zum Schutz des historischen und kulturellen Erbes“ können die von Bürgern errichteten Gedenkzeichen nicht in die offizielle Liste des historischen und kulturellen Erbes aufgenommen werden, so der Stellvertretende Kulturminister von Belarus, Uladzimir Hrydzjuška, in einem Schreiben an KurapatyAktivisten nach einem weiteren Vandalismusakt im Oktober 2007.28 Am 29. Oktober 2004 errichtete die Jüdische Gemeinde von Belarus ein Mahnmal zum Gedenken an die Opfer der Repression. Auf dem braunen Granitstein, einem Teil des einstigen Stalin-Denkmals, das in der Nacht vom 29. zum 30. Oktober 1962 in Minsk demontiert worden war, steht in Hebräisch und Belarussisch die Aufschrift: „Unseren Glaubensbrüdern – Juden, Christen und Muslimen – den Opfern des Stalinismus von den belarussischen Juden“. Der David-Stern wurde seitdem mehrmals entfernt und der Gedenkstein mit neo-nazistischen Parolen sowie Hakenkreuzen beschmiert. Auch hier übten sich die Behörden in Gleichgültigkeit. Erst als am 12. März 2008 Unbekannte mehr als dreißig Kreuze demoliert hatten, leitete der Staatsanwalt des Bezirks Minsk ein erstes Strafverfahren wegen Vandalismus ein. Möglicherweise reagierten die Behörden diesmal unter dem Eindruck des vorangegangenen Gedenkjahres an die Opfer der stalinistischen Repressionen. 6. 1937 – Gedenkjahr des Großen Terrors 2007 jährten sich zum siebzigsten Mal die tragischen Ereignisse von 1937, als der Stalin-Terror seinen Höhepunkt erreichte. Am 23. November 2006 wurde von der „Belarussischen Gesellschaft zum Schutz von historischen und kulturellen Denkmälern“ unter Vorsitz des Historikers und Totalitarismusforschers Ihar Kuznjacoŭ das „Organisationskomitee des Gedenkjahres an die Opfer der stalinistischen Repressionen“ (Arhkamitėt ŭšanavan’nja pamjaci achvjaraŭ stalinskich rėprėsijaŭ) gegründet. Der Vorschlag der Organisatoren, das Jahr 2007 zum offiziellen Gedenkjahr auszurufen sowie den 29. Oktober 28 Ministėrstva kul’tury: U Kurapatach njama historyka-kul’turnych pomnjkaŭ, in: NN.by, 21.11.2007, < http://pahonia.org/str/2007-11/405.htm>. Kontroverse Kurapaty – Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus 17 zum Gedenktag an die Opfer der stalinistischen Repressalien zu erklären, fand jedoch keinen Rückhalt in der belarussischen Regierung. Mehr als fünfzig Intellektuelle und zahlreiche gesellschaftliche Organisationen unterstützten dagegen diese Initiative. Zum zentralen Ereignis des Gedenkjahres wurden die landesweiten Versammlungen an jedem 29. des Monats zum Gedenken an die Opfer der Repression, die an den jeweiligen Exekutionsstellen durchgeführt wurden. Außer in Kurapaty und im Minsker Park „Čaljuskincy“ fanden die Gedenkaktionen in Barysaŭ, Vilejka, Valožyn, Sluck, Bjaraza, Homel’, Mazyr und in vielen anderen Städten statt. Das Hauptanliegen dieser und anderer Aktivitäten war, die offizielle und gesellschaftliche Anerkennung der stalinistischen Verbrechen gegen die belarussische Bevölkerung als historischen Tatbestand zu erreichen.29 Über die Aktivitäten während des Gedenkjahres wurde im Newsletter Recha HULAHu (Das Echo des GULAG) berichtet, das einmal das Presseorgan der in den 1990er Jahren tätigen Organisation Belaruskaja asacijacyi achvjaraŭ palityčnych rėprėsij (Belarussische Assoziation der Opfer von politischen Repressionen) gewesen war. Insgesamt erschienen sieben Ausgaben, die an Museen, Schulen, Zeitungsredaktionen, Bibliotheken und gesellschaftliche Organisationen aller Couleur verteilt wurden. Im Gedenkjahr 2007 erschien ein gut recherchierter Sammelband belarussischer und ausländischer Autoren zur „Repressiven Politik der Sowjetmacht in Belarus“.30 In dem dreibändigen Werk mit 60 Beiträgen von 35 Autoren aus Belarus, Israel und Russland, das von Memo29 30 Auf der Basis der Materialien zum „Jahr des Gedenkens“ erschien eine Sammelpublikation: „Pakajan’ne – zlačynstva kamunistyčnaha rėžymu i antytatalitarny supraciŭ: das’ledvan’ni, dakumenty, s’vedčan’ni“. <http://represiiby.info/index.php?dn=info&pa=supraciu>. Diese Internetseite repräsentiert das Projekt der Partei „Belarussische Christliche Demokratie“ Pakajanne (Reue). Hier sind Informationen, Materialien, Fotos und Multimediadokumente über die kommunistischen Repressionen in Belarus zusammengestellt. Igor’ Kuznecov, Jakov Basin (Hg.): Represivnaja politika sovetskoj vlasti v Belarusi. Minsk 2007. 18 Elena Temper rial herausgegeben wurde, werden die Geschichte totalitärer Herrschaft in Belarus und die Entwicklung des Landes nach Stalins Tod am 5. März 1953 untersucht. Die Bücher enthalten Memoiren, biographische Dokumente und andere Quellen über das tragische Schicksal von Aktivisten der belarussischen Nationalbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts. Zu einem herausragenden Ereignis gehörten die am 16. Juni 2007 in acht ex-kommunistischen Ländern – Belarus, Lettland, Litauen, Estland, Albanien, Makedonien, der Slowakei und der Ukraine – parallel durchgeführten Konferenzen zum Thema „Kommunismus vor das internationale Tribunal“. Die Tagungsbeiträge, darunter auch sieben von belarussischen Historikern, sollen in einem englischsprachigen Sammelband veröffentlicht werden.31 Die Initiative zu dieser Veranstaltung kam aus Litauen, wo bereits 2000 eine ähnliche Konferenz stattgefunden hatte. Ungeachtet einiger Schwierigkeiten fand die belarussische Konferenz am Sitz der Belarussischen Volksfront statt. Der Schwerpunkt der Minsker Tagung lag auf dem Großen Terror. Belarussische Intellektuelle, darunter die Historiker Leanid Lyč, Uladzimer Konan oder Ėmanuil Iofe präsentierten der Öffentlichkeit neue Erkenntnisse und wissenschaftliche Publikationen.32 Im Gedenkjahr wurden an Orten der Massenerschießungen zahlreiche Gedenktafeln angebracht und Denkmäler aufgestellt. Die Initiative ging vom „Organisationskomitee zur Verewigung des Gedenkens an 31 32 Kamunism pad trybunal, <www.charter97.org/bel/news/2007/06/15/tribunal >. Vgl. Igor’ Kuznecov: Zasekrečennye tragedii sovetskoj istorii. Rostov-na-Donu 2007.– Ders.(Hg.): Belarus’ v XX stolet’e und Repressivnaja politika sovetskoj vlasti v Belarusi. Unter <homoliber.org, kamunikat.org und pakutniki.narod.org>. – Vorgelegt wurde eine DVD-Dokumentation: „Rėprėsii na Belarusi. 1937–2007. Pakajan’ne“. Darauf sind die Filme „Daroha na Kurapaty“ (1988) und Pavel Šeremet „Dzikae paljavanne-II“ (2000) sowie die Bücher von I. Kuznecov: Zasekrečennye tragedii sovetskoj istori; Z. Paz’njak (Hg.): Kurapaty; F. Aljacho vič: U kipcjurach GPU; A. Lukašuk: Za kipučaj čėkisckaj rabotaj; V. Bykaŭ: Žoŭty pjasočak. – In der Reihe Belaruski knihazbor sind Werke des Schriftstel lers Sjarhej Hrahoŭski (1913–2002) erschienen. In Gedichten und autobiographi schen Essays beschreibt er seine Jahre als GULAG-Häftling (1936–1946). Sjarhej Hrahoŭski: Zona maŭčannja, in: Ders.: Vybranyja tvory. in: Belaruski knhazbor, T. 37. Minsk 2007. Kontroverse Kurapaty – Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus 19 die Opfer des Stalinismus“ und der „Belarussischen Assoziation der Opfer von politischen Repressionen“ aus. Die staatlichen Autoritäten übten sich dagegen in Ignoranz, wobei die Aktionen auf lokaler Ebene häufig gestört bzw. nicht genehmigt wurden.33 Nach achtzehnjährigem Warten auf ein Denkmal in Kurapaty beschloss das Organisationskomitee auf dem Monolith von Kurapaty den Schriftzug „Opfern des Stalinismus“ (Achvjaram stalinismu) einzumeißeln. Damit wurde der bisherige Text auf der Gedenktafel „Den Opfern der Repressalien von 1937–1941“ konkretisiert. Auf der Rückseite des Monoliths wurde das Schild mit dem Schriftzug „In diesem Waldgebiet wird gemäß dem Beschluss des Ministerrates der Belarussischen SSR vom 18. Januar 1989 ein Denkmal für die Opfer der Massenrepressionen der Jahre 1937-1941 gebaut“ in belarussischer Sprache angebracht. Der Platz des Schildes änderte sich in mehr als zwanzig Jahren schon öfters. Auch der Monolith wurde mehrfach umgestaltet. Zuletzt nahm sich ein Unbekannter der visuellen Veränderung des Steins, aber auch vieler kleinere herumliegender Steine an und bemalte sie mit Gesichtern, die an Heilige auf den christlichen Ikonen erinnern. Bereits 1990 entstand der erste Dokumentarfilm über Kurapaty Daroha na Kurapaty (Der Weg nach Kurapaty). Der Film des Regisseurs Michail Ždanoŭski und Drehbuchautors Aljaksandr Lukašuk wurde 1994 mit dem höchsten staatlichen Preis (Dzjaržaŭnaja prėmija Rėspubliki Belarus’ ŭ haline litėratury, mastactva i architėktury) ausgezeichnet. Einer breiten Öffentlichkeit ist er jedoch unbekannt, denn seine Ausstrahlung im Staatsfernsehen wurde bislang untersagt. Für seine weitere Dokumentation über Kurapaty Va ŭse dni (An allen Tagen) erhielt Ždanoŭski den Ersten Preis beim diesjährigen „IV. internationalen katholischen Festival christlicher Filme und Fernsehpro33 Bislang sind 80 Gedenktafeln (meistens angebracht auf einem Kreuz) Belarusweit aufgestellt worden. 27 davon befinden sich im Verwaltungsbezirk (Voblasc’) Minsk, und zusätzlich neun an Erschießungsstellen in der Stadt Minsk. Die übriegen denkmäler an Plätzen von Massentoötungen verteilen sich wie folgt: Siebzehn in Hrodnaer Voblasc’, elf in Brėster, acht in Vicebsker , sechs in Mahilëŭer, zwei in Voblasc’ Homel’. Vgl.: Jak zachavac’ pamjac’ pra rėprėsii?, in: Bjuletėn’ arhkamitėta Hoda Pamjaci „Recha HULAHu“, Nr. 3, 07.2007. <http:/represii-by.info/index.php?dn=articly>. 20 Elena Temper gramme ‚Magnifikat-2008’“ (IV mižnarodny katalicki festyval’ chryscijanskich fil’maŭ i tėleprahram „Mahnifikat-2008“).34 Der Film handelt vom Ikonenmaler Anatol’ Kuznjazoŭ, der in Kurapaty Steine mit Bildnissen versieht und auf diese Weise die Getöteten visuell in Erinnerung ruft. Die Organisatoren und Teilnehmer der Veranstaltungen zum Gedenkjahr fassten ihre Vorschläge in einem Schreiben an die belarussische Regierung zusammen. Darin forderten sie, Informationen über die Orte der Massenerschießungen zwischen 1920 und 1950 zugänglich zu machen, die Namen aller Opfer zu veröffentlichen sowie eine zentrale Datenbank zu erstellen, die die Namen aller Personen enthält, die in diesen Jahrzehnten in Belarus Opfer von Repressionen geworden waren. Wissenschaftler sollten freien Zugang zu den Archiven des KGB und des Innenministeriums (MVD) erhalten. Schließlich verlangen sie, dass der Beschluss des Ministerrats der BSSR von 1989, in Kurapaty ein Denkmal zu errichten, endlich realisiert wird.35 Die belarussische Regierung hüllt sich bislang in Schweigen, ob sie auf diese Forderungen einzugehen gedenkt. Lediglich ein Schild mit der Information, dass Kurapaty zum historischen und kulturellen Erbe der Republik Belarus als „Ort der Vernichtung der Opfer der politischen Repressalien der 1930–40er Jahre“ gehört und dass Vandalismus strafrechtlich verfolgt wird, aufgestellt. Indes gehen die Vandalen unter der Augen der Justiz weiter und es ist eine Frage der Zeit, wie viel Durchhaltevermögen die Aktivisten noch aufbringen können, um die Gedenkstätte in Würde zu halten. 7. Vom Nutzen und Nachteil der historischen Erinnerung in Belarus Das gemeinsame historische Erbe als die einigende Komponente einer Nation erfährt in der kollektiven Erinnerung seine „höchste Wert34 35 Fil’m pra Kurapaty atrymaŭ Hran-pry „Mahnifikatu“, in. nn.by < http://www.n n.by/index.php?c=ar&i=17919>. Zaveršilis’ obsčestvennye slušanija „Prestuplenija stalinisma v Belarusi“. <http://pda.news.by/333/2006-10-27/21023/>. Kontroverse Kurapaty – Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus 21 schätzung“, so der französische Philosoph und Historiker Ernst Renan.36 Die Erinnerung an ein gemeinsames Leiden besitze jedoch weitaus größeres einigendes Potential als die Erinnerung an Freude und Triumphe, denn „sie erlegt Pflichten auf“ und „gebietet gemeinsame Anstrengungen“.37 Solche gemeinsamen Leidenserfahrungen sowie die mit ihnen verbundenen „Pflichten“ und „Anstrengungen“ haben allerdings in Belarus nicht zur Bildung einer modernen Nation und zu ihrer Konsolidierung beigetragen. Lukašėnkas Meistererzählung basiert weiterhin auf dem Mythos von „Belarus als eine Partisanenrepublik“ und der herausragenden Rolle der belarussischen Soldaten im Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion. Darauf gründen die staatlichen Gedenkfeiern und Denkmäler. Das sowjetische Erbe wird hochgehalten, wobei die Legendenbildung die Fakten überwiegt.38 Die offizielle Lesart der sowjetischen Geschichte überspringt die unangenehmen Seiten, ohne sie zu leugnen. Im Bezug auf die Periode des Stalinismus beruft sich Lukašėnka auf andere historische Ereignisse wie die Französische Revolution, und versucht unter Verweis auf deren gewaltsamen Charakter das Ausmaß der stalinistischen Verbrechen zu relativieren. Während in anderen postkommunistischen Ländern die kritische Aufarbeitung der Vergangenheit eingesetzt hat, die sich in der wissenschaftlichen Forschung sowie der Musealisierung der kommunistischen Vergangenheit äußert, wird im postsowjetischen Belarus fünfzig Jahre nach Stalins Tod sein Mythos als „Vater der Sowjetnation“ wiederbelebt.39 36 37 38 39 Ernst Renan: Was ist eine Nation? In: Ders: Was ist eine Nation? Hamburg 1996. S. 34–35. Ebd., S. 35. Bernhard Chiari: Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrußland 1941–1944. Düsseldorf 1998. – Ders.: Die Kriegsgesellschaft. Weißrußland im zweiten Weltkrieg (1939–1944), in: Beyrau, Lindner Handbuch [Fn. 1], S. 408–426. Für den anderen Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit vgl. exemplarisch die Okkupationsmuseen in Riga und Tallinn, das Genozidmuseum in Vilnius, das Kommunismus-Museum SocLand und das Zentrum KARTA in Warschau, das Haus des Terrors in Budapest, die rumänische Gedenkstätte in Sighet, das Museum des Kommunismus in Prag. – Stefan Troebst: „Was für ein Teppich?“ Postkommunistische Erinnerungskulturen in Ost(mittel)europa, in: Volk- 22 Elena Temper Seit die Minsker Forschergruppe des Instituts für Geschichte an der Nationalen Akademie der Wissenschaften 1996 ihre Arbeit zum Thema stalinistische Repressionen in Belarus beenden musste, existiert auf staatlicher Ebene keine Institution mehr, die sich mit dem Problem beschäftigt. Im Gegenteil. Das Thema Stalinismus als ein historisches Phänomen ist aus den Geschichtsbüchern und aus dem Forschungsfeld verschwunden. Die Errichtung der Gedenkstätte „Linija Stalina“ (Die Stalinlinie) 2005 in Saslav’e, Lukašėnkas Bezeichnung von Lenin und Stalin als „Symbole des belarussischen Volkes“ anlässlich der Eröffnung der neuen Nationalbibliothek 2006 und die Ausstrahlung des StalinFilmes „Generalissimus“ im staatlichen Fernsehen macht deutlich, welche erinnerungskulturellen Werte der offiziellen belarussischen Politik zugrunde liegen. Was die Kontroverse um Kurapaty und die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit betrifft, ist vom Lukašėnka-Regime in naher Zukunft kaum ein Umdenken zu erwarten. Folglich wird es nicht zu einem Konsens in der belarussischen Gesellschaft kommen. Es ist offensichtlich, dass die oppositionellen Eliten des Landes auf der einen Seite und die sowjetisch geprägte regierungstreue Mehrheit auf der anderen nicht die gleichen Opfer gebracht haben, über die sie sich als eine große Solidargemeinschaft (Renan) definieren könnten. In diesem Sinne dürfte der amerikanische Historiker Grigory Ioffe auch weiterhin Recht behalten „Belarus: ein Staat, aber noch keine Nation“.40 40 hard Knigge, Ulrich Mählert (Hg.): Der Kommunismus im Museum. Formen der Auseinandersetzung in Deutschland und Ostmitteleuropa. Köln 2005, S. 31–54. Hryhory Ėfė: Belarus’: dzjaržava, ale jaščė nja nacyja, in: Arche, 4/2007, S. 116 –121. Werner Imhof Geschichte verbindet Die Zeitzeugenprojekte der Brücke/Most-Stiftung 1. Einleitung Totalitäre Regime faschistischer, rassistischer und kommunistischer Prägung, Holocaust, Okkupation, Konzentrationslager, Zwangsarbeit, Widerstand, Kollaboration, Flucht, Vertreibung, Gefängnis, Stalinismus, Planwirtschaft, Volksaufstände, Exil, Dissidenten, Bürgerrechtler, friedliche und samtene Revolutionäre – Zeitzeugen aus Deutschland, Tschechien und der Slowakei haben alle Facetten der Diktaturen des 20. Jahrhunderts erlebt und durchlitten. Gemeinsam mit dem tschechischen Partner Collegium Bohemicum betreibt die Brücke/Most-Stiftung zur Förderung der deutschtschechischen Verständigung und Zusammenarbeit seit Beginn des Jahres 2010 das Oral-History-Projekt „Geschichte verbindet“.1 Es ist das dritte groβe Zeitzeugenprojekt der Stiftung seit 2003, und es ist das ambitionierteste. Erfahrungen aus rund 400 Zeitzeugenbegegnungen, die etwa 13.000 Schülerinnen und Schüler erreicht haben, fließen nun ein in ein dreijähriges Programm für Begegnungen und historische Spurensuche. Fortbildungsseminare mit erfahrenen Praktikern der Erinnerungspädagogik und umfangreiches pädagogisches Begleitmaterial (siehe www.zeitzeugen-dialog.de bzw. www.dialog-pametniku.cz) ermöglichen eine didaktisch durchdachte Einbindung der Zeitzeugengespräche in den Unterricht. Geschichte verbindet Deutsche und Tschechen, und die Spuren sind besonders in den Grenzregionen allgegenwärtig. Dort, in den deutschtschechischen Euroregionen, werden bis Ende 2012 beidseits der Grenze Jugendliche ihre Geschichte eigenständig erforschen und Zeitzeugen dazu befragen. Niemand wird behaupten, das bilaterale Verhältnis habe namentlich im 20. Jahrhundert immer unter einem glücklichen Stern gestanden. Das befreiende Jahr 1989 indes war durchaus 2 Werner Imhof auch von gegenseitiger Inspiration geprägt. Das Projekt will keineswegs nur die bekannten dunklen Stellen der Vergangenheit beleuchten oder nur die „großen Ereignisse“ in den Blick nehmen. Etwa das Thema Migration – von Flucht und „ethnischen Säuberungen“ über vietnamesische und kubanische „Vertragsarbeiter“ bis hin zu Bürgerkriegsflüchtlingen, Armutswanderungen und Arbeitsmigration – enthält viele und keineswegs nur negative Aspekte zum Verständnis der Geschichte beider Länder. Und was die „schönste Nebensache der Welt“ betrifft, erinnern sich Tschechen gern an das Jahr 1976 und einen Ballkünstler namens Panenka. Deutsche werden lieber an den Schützen des einzigen „Golden Goal“ in der Geschichte des Fußballs zwanzig Jahre später denken. Auch das ist gemeinsame Geschichte. Sie enthält zudem so merkwürdige Kapitel wie die Rolle des Fußballs im Ghetto Theresienstadt, dem das tschechische Fernsehen eine eigene Dokumentation gewidmet hat.2 Staatlich organisiertes Doping ist ein weiteres Thema, das in sozialwissenschaftlicher Analyse, bereichert durch die Erinnerungen Betroffener, viel mehr als nur sportliche Aspekte erschließt. Gegen den Einsatz von Zeitzeugen in Schulen gibt es auch Einwände. Sie beziehen sich vor allem auf die der Oral History eigene, eingeschränkte Perspektive des Individuums im Strom der Ereignisse. Zudem ist die Methode aufwändig, kostspielig und bedarf gründlicher Vor- und Nachbereitung. Lohnt sich dennoch der Aufwand? 2. Vier Beispiele 2.1 Zwangsarbeit unter dem Nationalsozialismus: Jaroslav Jindřích Ende 1943. Das NS-Regime führt Krieg an allen Fronten, alle Reserven werden mobilisiert. In ganz Deutschland und in den besetzten Gebieten werden Millionen Menschen fern der Heimat zur Arbeit gezwungen. Die Versorgung und vor allem die Rüstungsproduktion wären anders nicht mehr sicherzustellen, und so geben schlieβlich auch die nationalsozialistischen Rassefanatiker ihren Widerstand gegen die Beschäftigung von Fremdarbeitern auf. Im Gegenzug setzen sie eine Kategorisierung nach Rassekriterien durch. Weit unten stehen Slawen Geschichte verbindet - Die Zeitzeugenprojekte der Brücke/Most-Stiftung 3 und am Ende der Skala Juden, Sinti und Roma – sie sind dem mörderischen Programm „Vernichtung durch Arbeit“ ausgesetzt. Die Unterbringung, Versorgung und Bewachung sind entsprechend. Einer von 640.000 Tschechinnen und Tschechen, die das Schicksal Zwangsarbeit erleiden, ist der Prager Jaroslav Jindřích. Der junge Bauingenieur ist erfolgreich ins Berufsleben eingestiegen, arbeitet bereits in verantwortlicher Position, als ihn die deutschen Besatzer nach Magdeburg verschleppen. Er soll dort in einer Fabrik Munition zusammenschrauben. Über 60 Jahre später sitzt Jindřích im sächsischen Bautzen einer Schulklasse gegenüber und erzählt seine persönliche Geschichte. „Ich bitte Sie“ empört er sich noch immer, „das war eine primitive Arbeit für Hilfsarbeiter. Ich bin Bauingenieur! Wie sieht denn das später im Lebenslauf aus, sagte ich mir. Sofort stand für mich fest: Das kommt nicht in Frage!“ Mit einem Kollegen in der gleichen Situation sinnt er auf Abhilfe. Die beiden schalten eine Anzeige in einer deutschen Zeitung: „Zwei qualifizierte Bauingenieure suchen entsprechende Beschäftigung, bevorzugt Raum Bautzen“. Zwei Gründe machen diese Region für die jungen Tschechen attraktiv: Man spricht dort Sorbisch, was sich nicht sehr vom Tschechischen unterscheidet, und es ist nicht weit nach Hause. Auf dem vollkommen leergefegten deutschen Arbeitsmarkt erhalten sie Hunderte von Angeboten. Nur haben sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Denn selbstverständlich konnten Zwangsarbeiter ihren Arbeitsplatz nicht frei wählen. Mit Chuzpe und Glück gelang es ihnen schlieβlich doch, nach Bautzen versetzt zu werden und ihren Beruf ausüben zu können. Doch Jindřích gerät bald ins Visier der Geheimpolizei. Er fotografiert in seiner Freizeit gern, besonders alle ihn interessierenden Bauten und Baustellen. Es dauert nicht lange, und er findet sich unter Spionageverdacht in einem Gestapo-Verhör wieder. Als er kurz darauf per Post von zu Hause Baupläne zugeschickt bekommt, wird der Brief von der Zensur abgefangen. Für die Gestapo ist der Fall nun klar. Nur mit gröβter Mühe gelingt es Jindřích, glaubhaft zu machen, dass es sich um von ihm selbst gezeichnete Pläne für ein Bauprojekt in seiner Heimat handelte, mit der Bitte um Erläuterungen und Ergänzungen. 4 Werner Imhof Nicht wenige Zwangsarbeiter bezahlten damals für solche Missverstände mit dem Leben – die NS-Schergen fragten nicht lange, wenn sie „slawische Untermenschen“ in die Mangel nahmen. In seinem Beruf als Bauingenieur hat Jindřích später hohe Anerkennung erworben. Als 1968 sowjetische Panzer die von ihm geteilten Hoffnungen des tschechischen Volkes zerstörten, war seine Position eindeutig – und er bezahlte dies durch berufliche Zurückstufung. Freilich erledigte er weiter im Hintergrund seine Aufgaben als Stadtplaner, denen sein politisch das Fähnchen in den Wind haltender Nachfolger nicht gewachsen war. Die Früchte erntete jedoch dieser. Jaroslav Jindřichs Geschichte zeigt, dass viele Tschechen damals aus einem prosperierenden Land mit einer funktionierenden Demokratie völlig unvorbereitet in die Nazi-Diktatur gerieten. Befremdet nahmen sie die Abwesenheit ihnen selbstverständlich erscheinender Menschenrechte wahr. Dieser sich vom deutschen deutlich unterscheidende Erlebnishorizont ist sehr aussagekräftig und dürfte heute den wenigsten Schülerinnen und Schülern bekannt sein. Allzu vielen Tschechen fehlte das Glück, das Jindřich nicht verließ, und sie kehrten nicht zurück. Den Beschränkungen und Erniedrigungen, denen er als Zwangsarbeiter durch die NS-Diktatur unterworfen war, setzte Jindřich wie selbstverständlich seinen Selbstbehauptungswillen und sein tief verwurzeltes Demokratieverständnis entgegen. Erfindungsreich versuchte er, sich dem Terror seiner Peiniger zu entziehen. Er ist ein Beispiel dafür, dass mehr Widerstand gegen die Maßnahmen der Diktatur möglich war, als viele ängstliche Menschen für möglich hielten. Das bewies er auch 1968 in seiner Heimat. Die deutschen Schülerinnen und Schüler waren von seiner Persönlichkeit tief beeindruckt. Jaroslav Jindřích starb 2005 im Alter von 86 Jahren. 2.2 Holocaust: Michal Salomonovič Am 13. Februar 1945 war Michal Salomonovič elf Jahre alt. Sein sechsjähriger Bruder Josef sollte an diesem Tag hingerichtet werden. SS-Wachen hatten ihn am Tag zuvor in einer Mülltonne entdeckt, wo ihn seine Mutter vor den Kontrollen versteckte. Wenige Wochen zuvor hatten die Brüder ihren Vater verloren. Ein SS-Mann ermordete Geschichte verbindet - Die Zeitzeugenprojekte der Brücke/Most-Stiftung 5 ihn im KZ Stutthof mit einer Phenolinjektion ins Herz. Er hatte einem Aufruf an die halb verhungerten, entkräfteten Häftlinge Glauben geschenkt, wer sich schlecht fühle, erhalte Medikamente. Der Leidensweg der Familie aus dem mährischen Ostrava hatte in Lodż begonnen. Immer wieder durchkämmten SS-Wachen das Ghetto und deportierten nicht arbeitsfähige Alte und Kinder in die Vernichtungslager. 1000 dort an Werkbänken zur Munitionsherstellung ausgebildete jüdische Häftlinge wurden 1944 nach Auschwitz deportiert, als die Sowjetarmee sich dem Ghetto näherte – unter ihnen die Familie Salomonovič. Auschwitz war nur Zwischenstation: Unterdessen suchte die SS nach einem Ort, an den die Werkbänke gebracht werden könnten, um die Produktion fortzusetzen. Die Häftlinge besaßen aufgrund ihrer Ausbildung an den Maschinen einen gewissen Wert für die SS und wurden vorläufig am Leben gelassen. Stutthof war eine weitere Station, bis die Produktionsmittel in Dresden in einer ehemaligen Tabakfabrik ihren neuen Standort gefunden hatten und die Sklavenarbeiter nachgeholt werden konnten. Durch die verheerenden Bombenangriffe auf Dresden am 13. Februar 1945 entging dann der kleine Josef dem Tod durch Erschießen. Viele andere Häftlinge fanden den Tod. Die Überlebenden wurden zunächst zu Räumungsarbeiten eingesetzt und schließlich auf einen Todemarsch gehetzt, der für Frau Salomonovič und ihre kleinen Söhne erst nach fast 300 km in Westböhmen mit der Flucht endete. Das Kriegsende erlebten nur 46 von ursprünglich 1000 Häftlingen. Im November 2010 erzählt Michal Salomonovič Schülerinnen und Schülern im sächsischen Dippoldiswalde seine Geschichte. Durch die Lektüre und Besprechung von Jurek Beckers Roman „Jakob der Lügner“ hat sich die Schulklasse vorbereitet. Becker war selbst als Kind im Ghetto Lodż, und in einem – fiktiven – polnischen Ghetto spielt auch der Roman. Sehr einfühlsam und mit groβer Betroffenheit reagierten die Schüler auf die Bemerkung des Zeitzeugen, die Realität sei unangenehmer gewesen als die Schilderung des Romans. In der anschließenden Diskussion kommt die Frage auf, welche Chancen zum Widerstand die Verfolgten hatten. Der Moderator Werner Imhof und Michal zeigen auf, welche Aufstände es in Ghettos, Kon- 6 Werner Imhof zentrations- und selbst in Vernichtungslagern gegeben hat, aber dass sie aufgrund der Ungleichheit der Waffen schließlich alle blutig niedergeschlagen wurden. Kaum hörbar fügt Michal hinzu: „Vielleicht habe ich zu wenig gewagt. Sonst stünde ich heute nicht hier.“ Dennoch entgeht es niemandem. In ihrer Nachbereitung kommen die Jugendlichen immer wieder darauf zurück. Eine andere Dresdner Schulklasse macht die Geschichte Michal Salomonovičs zum Gegenstand einer Spurensuche nach „Verschwundenen Nachbarn“. Sie laufen einen kleinen Teil der Strecke des Todesmarschs ab und erstellen einen Beitrag zu einer gleichnamigen Wanderausstellung des des Jüdischen Museums Prag. Im Rahmen der Tschechisch-Deutschen Kulturtage wird diese dann Ende 2010 in Dresden gezeigt. 2.3 Vertreibung: Herbert Pietschmann Herbert Pietschmann kam 1940 in Tetschen-Politz – heute DěčínBoletice – zur Welt. 1945 ließen tschechische „revolutionäre Garden“ seiner Familie eine Stunde Zeit, das Nötigste zusammenzupacken und dann ihr Zuhause für immer zu verlassen. Die Eltern wurden zunächst zur Zwangsarbeit bei Joachimsthal eingesetzt und gelangten schließlich nach Bayern. Bei weiteren Kontrollen verloren sie nach und nach alles, was irgendeinen Wert hatte. Der kleine Herbert war froh, wenigstens seinen Teddybär behalten zu dürfen. 65 Jahre später berichtet er im Gymnasium Děčín davon. Die Schülerinnen und Schüler lauschen ihm erstaunt, sichtlich bewegt. Sie erhalten aus erster Hand Bericht von Ereignissen in der Geschichte ihre Heimatortes, die ihnen bislang wenn überhaupt nur als Grausamkeiten zu Ohren gekommen sind, die sich anderswo zugetragen haben mögen. Noch ihre Eltern sind in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der das Thema tabuisiert war und allenfalls ideologisch entstellt dargestellt wurde. Aber besonders im letzten Jahrzehnt ist ein lebhafter gesellschaftlicher Dialog in Gang gekommen. Das Thema Vertreibung wird in den Medien ideologiefrei diskutiert und im Schulunterricht thematisiert. Geschichte verbindet - Die Zeitzeugenprojekte der Brücke/Most-Stiftung 7 Eine Schülerin lebt in Děčín-Boletice. Von Gefühlen überwältigt, kramt Pietschmann seine in München in drei Tschechisch-Kursen erworbenen Sprachkenntnisse hervor und versucht, sich mit der jungen Tschechin zu unterhalten. Die Erfahrung ist nicht ganz neu für ihn: Bereits Jahre zuvor hat sich ein Schüler aus Boletice bei ihm gemeldet. Als Obmann der aus Tetschen vertriebenen Deutschen betreibt er eine Homepage. Der junge Tscheche arbeitete an einer Hausarbeit, wollte dort Informationen herunterladen und bat den Betreiber um technische Unterstützung. Wie sich im weiteren Dialog herausstellte, lebt er in Pietschmanns Elternhaus. 2.4 Bürgerrechtler: Hartmut Rüffert Als Sohn eines Pfarrers aufgewachsen in Rüffena, einem landwirtschaftlich geprägten kleinen Dorf, zog der zehnjährige Hartmut Rüffert mit seiner Familie 1975 um nach Mölbis südlich von Leipzig. In einen Ort, der furchtbar unter einer industriellen Produktion litt, bei der ökologische Rücksichten noch keinerlei Rolle spielten. Bei ungünstiger Windrichtung war es unmöglich, im Freien Wäsche aufzuhängen – der Smog, unter anderem aus einer Brikettfabrik, färbte sie schwärzlich. Den jungen Hartmut stört bald mehr als nur die bedrückende Umweltsituation. Er verweigert die Mitgliedschaft in den Jugendorganisationen der SED und später auch den Wehrdienst. Er trägt den „Schwerter zu Pflugscharen“-Aufnäher. An eine Zulassung zu irgendeinem Studium ist unter diesen Voraussetzungen nicht zu denken. Hartmut lernt Klempner. Bald wird er auch zum Seelenklempner: „Schickt mir den Langhaarigen“ sagen Kunden seinem Chef, wenn sie sich den Frust über das DDR-Regime von der Seele reden wollen. Rüffert bekommt – ein ungewöhnlicher Glücksfall – sehr früh eine eigene Wohnung, die sich bald zu einem Treffpunkt junger Menschen entwickelt, die dem bedrückenden Alltag im „Arbeiter- und Bauernstaat“ etwas entgegensetzen. Schon in ihrer Kleidung widersprechen sie den Vorstellungen der Einheitspartei vom sozialistischen Nachwuchs. Argwöhnisch verfolgt und protokolliert die Staatssicherheit das Treiben der jungen Leute um Rüffert. Auf ihre Eingaben und Versuche, die Umweltsituation untersuchen zu lassen und zu ihrer Ver- 8 Werner Imhof besserung beizutragen – zum Beispiel durch Baumpflanzaktionen – ernten sie Schweigen, Misstrauen, Desinformation und Repressionen. Doch sie lassen sich nicht entmutigen, versuchen, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen, informieren in einer selbst produzierten Zeitung „Namenlos“. Sie pochen auf die Einhaltung der DDR-Verfassung, der internationalen Verpflichtungen zur Einhaltung der Menschenrechte, die das Regime eingegangen ist. Es folgen anhaltende Bespitzelung, Drohungen, Verhöre, Verhaftungen. Hartmut Rüfferts politisches Engagement findet im Fortgang der Ereignisse um das Jahr 1989 Ausdruck im Organisieren von Demonstrationen und schließlich in der Mitbegründung des „Neuen Forums“. Mehr als zwanzig Jahre später drohen Repression, „Zersetzung“, Bespitzelung, Eingesperrtsein und Mangelwirtschaft dem Vergessen anheimzufallen. Unangenehme Erinnerungen verblassen und werden verdrängt. Im milden Licht der Erinnerung erscheint der Alltag im Realsozialismus nun Vielen geprägt von Arbeitsplatzsicherheit, Kindergartenplätzen, Gemeinschaftserlebnissen, Zusammenhalt. Zeitzeugen wie Rüffert rücken diese Ostalgie zurecht. 3. Warum Zeitzeugen? Wie unter einem Brennglas werden in diesen Biografien Kernprozesse der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts sichtbar. Wie Lutz Niethammer, einer der Mentoren der deutschen Oral History, treffend feststellt, setzen die Zeitzeugenbegegnungen Erinnerungszeichen – das historische Lernen beginnt damit erst.3 Ausgehend von der menschlichindividuellen Perspektive und der Empathie der Jugendlichen können die historischen Hintergründe von Schlüsselereignissen im Unterricht entwickelt werden. Sie stoßen auf größeres Interesse, erschließen sich leichter dem Verständnis, gewinnen an Plastizität. Zeitzeugen sind für die Geschichtswissenschaft eine wertvolle Quelle. Ihre Bedeutung ist jener von Augenzeugen in der Rechtsfindung vergleichbar, wenn sie auch nicht ganz an diese heranreicht. Denn bedeutende historische Ereignisse finden ihren Niederschlag auch in Akten, Medienberichten sowie anderen Zeugnissen und Dokumenten bis hin zu archäologisch zu untersuchenden Spuren. Zur Rekonstruktion der Geschichte verbindet - Die Zeitzeugenprojekte der Brücke/Most-Stiftung 9 Geschichte stehen dem Historiker mithin in der Regel zahlreiche andere Quellen zur Verfügung, während Rechtsfällen oft ein singuläres Ereignis zu Grunde liegt, das trotz Spurensicherung bis hin zur DNAAnalyse ohne Zeugen vor Gericht häufig nicht befriedigend aufgeklärt werden kann. In der politisch-historischen Bildungsarbeit fällt der mögliche Gewinn durch den Einsatz von Zeitzeugen stärker ins Gewicht. Dies gilt heute umso mehr, wo per Mausklick, aus audiovisuellen Medien und digitalisierten schriftlichen Quellen ein Übermaß an Informationen zu jedem Thema in kürzester Zeit verfügbar ist. Zum Problem wird, die Fülle des Materials zu bewältigen. Auswahl und namentlich Bewertung sind die eigentliche Herausforderung. Der Bericht eines Zeitzeugen indes verleiht dem historischen Geschehen vor allem für Jugendliche eine Authentizität und Lebendigkeit, die auf keinem anderen Wege erreichbar ist. Die Auswirkungen der Geschichte auf das Schicksal eines konkreten, ihnen gegenüber sitzenden Menschen, die Möglichkeit, diesen zu befragen, verknüpfen die anonymen Ereignisse mit persönlichen Erlebnissen auf beiden Seiten des Dialogs: den historischen Erlebnissen des Zeitzeugen und jenen der Jugendlichen im Gespräch mit diesem. Akten – sofern sie nicht beizeiten vernichtet werden konnten – spiegeln im Rückblick auf die Diktaturen in erster Linie die Perspektive der Täter. Der Einsatz der Oral History in der pädagogischen Arbeit bietet demgegenüber Gelegenheit, die Alltagsgeschichte zu beleuchten und in ihr der Perspektive von Opfern Geltung zu verschaffen. In der persönlichen Begegnung entgeht der Lernprozess dabei einer großen Gefahr: Jugendliche identifizieren sich nicht gern mit Schwachen, mit Unterlegenen – und als solche erscheinen die Opfer in der Täterperspektive. Die unmittelbare Bekanntschaft mit Überlebenden, die einem brutalen und scheinbar übermächtigen Gegner getrotzt haben, schafft positive Identifikationsangebote. Die Zeitzeugen werden zu Helden der Selbstbehauptung, die einer scheinbar unentrinnbaren, tödlichen Bedrohung widerstanden haben. Um diese Chancen effektiv zu nutzen, bedarf es freilich der Einbindung der Zeitzeugenbegegnung in ein umfassendes didaktisches Kon- 10 Werner Imhof zept. Unabdingbarer Bestandteil muss auch die historisch-kritische Analyse des Zeitzeugenberichts sein. Sie darf aber niemals in seiner Gegenwart stattfinden. Vor allem drei weitere Aspekte verleihen der Oral History im Bildungsbereich ein herausragendes Potential: • Handlungsorientierung und Aktivierung: Jugendliche können in hohem Maße eigenverantwortlich in Vorbereitung und Verlauf des Unterrichtsgeschehens eingebunden werden. Sie werden zum Mitveranstalter und Gastgeber. • Nachhaltigkeit: Durch den menschlichen Kontakt wird der Transfer, die Verbindung zwischen dem historischen Geschehen und dem eigenen Alltag, für Jugendliche erleichtert. Im Unterschied zu Schulbuchlektüre oder Lehrervortrag ragt die Begegnung etwa mit einem Auschwitz-Überlebenden deutlich aus dem Unterrichtsalltag heraus und bleibt unvergesslich. In diesem Zusammenhang erworbenes Wissen und Verständnis ist besonders nachhaltig. • Aufklärung und Prävention: Die Erfahrung zeigt, dass kein anderes pädagogisches Verfahren in gleichem Maße geeignet ist, politisch fehlgeleitete Jugendliche zu erreichen und Prozesse des Umdenkens zu befördern. Zudem haben verschiedene Studien ein erschreckendes Unwissen der jungen Generation über die totalitären Systeme nach 1945 aufgedeckt.4 Die betreffenden historischen Zeiträume fallen im Geschichtsunterricht nicht selten ganz unter den Tisch. Unterrichtsprojekte mit Zeitzeugengesprächen können durch ihre große Strahlkraft hier effizient Defizite beseitigen. 4. Zukunft der Bildungsarbeit mit Zeitzeugen Die von der Brücke/Most-Stiftung in den letzten acht Jahren gesammelten Erfahrungen mit Zeitzeugengesprächen beziehen sich vor allem auf Begegnungen von Jugendlichen mit HolocaustÜberlebenden. Die Erwartungshaltung, was diese zu erzählen haben, ist eindeutig und muss einleitend kaum thematisiert werden. Das ist ab Geschichte verbindet - Die Zeitzeugenprojekte der Brücke/Most-Stiftung 11 1945 nicht ganz so einfach. Annäherungsweise wäre für viele Zeitzeugen, die in die Bildungsarbeit integriert werden, wohl das Etikett „Dissident“ passend – aber das ist wiederum mit so vielen Konnotationen verknüpft, dass es wenig nützlich erscheint. Zu denken ist beispielsweise an Václav Havels Reflektionen zu diesem Begriff. Er betonte, das Etikett sei ihm nicht sympathisch, weil er selbst und Gleichgesinnte ja nicht gegen, sondern für etwas eingetreten seien: etwa die Achtung der Menschenrechte, der Grundrechte, die auch in den Verfassungen der realsozialistischen Staaten verbürgt waren. „Dissident bedeutet nämlich wie bekannt Abtrünniger – die Dissidenten fühlen sich aber nicht als Abtrünnige, als Treulose, weil sie nämlich niemandem untreu geworden sind, eher umgekehrt: Sie sind sich selbst mehr treu geworden. Falls sich manche doch von irgend etwas abgewandt haben, dann nur davon, was in ihrem Leben falsch und entfremdend war, also: von dem Leben in der Lüge.“5 In Zukunft geht es unter anderem darum, zu vermitteln, dass die Lebensbedingungen in der DDR und der CSSR vor 1989 so beschaffen waren, dass ganz normale Menschen, auch ohne öffentlichkeitswirksam für einen Systemumsturz einzutreten, zahllosen Einschränkungen und Schikanen ausgesetzt waren. Nicht nur heldenhafte Freiheitskämpfer und Streiter gegen das Unrecht, die für ihre Überzeugungen langjährige Haftstrafen in Kauf nahmen, hatten mit Problemen zu kämpfen, sondern auch Menschen, die gar nichts Auβergewöhnliches anstrebten: Selbstverwirklichung in ihrem Beruf, freie Meinungsäuβerung, freie Information, unbeschränkten Austausch und Verkehr mit Angehörigen, Freunden oder Berufskollegen auch im Ausland, Reisefreiheit, Freiheit der künstlerischen Betätigung, der Presse, der Bildung, der Versammlung, der Berufswahl. Da keine Auschwitz-Nummer auf dem Arm ihre Zeitzeugenschaft „beglaubigt“ und ein Etikett „Dissident“ aus den genannten Gründen irreführend ist, bewährt es sich in der Regel die Methode der biografischen Erzählung: Zeitzeugen berichten chronologisch, wo und wie sie aufgewachsen sind, was sie in Schule, Ausbildung und Freundeskreis erlebten und mit welchen Widerständen sie sich dabei 12 Werner Imhof auseinanderzusetzen hatten. Anschlieβend ausführlich Gelegenheit zu Fragen. haben die Zuhörer Auch wenn die Zeitzeugen Holocaust-Überlebende sind ist dieses Vorgehen zielführend. Werden dagegen bestimmte Themen vorgegeben oder allein das erlittene Leid zur Sprache gebracht, besteht die Gefahr, dass die Betroffenen als etwas absonderliche Fabelwesen erscheinen, die eben doch ein bisschen „anders“ waren als ihre Mitmenschen und deshalb ein besonderes Schicksal erlebt haben. Oder der Bericht wirkt anekdotisch, und auch dann kann leicht der Eindruck entstehen, die Betreffenden hätten sich vermutlich irgendwie unangemessen verhalten und seien deshalb in Schwierigkeiten geraten. Den Zuhörern kommt der Bericht besonders dann nahe, wenn sie merken, dass sie ganz gewöhnlichen Menschen gegenübersitzen, die sich ihre Probleme keineswegs durch irgendwelche Absonderlichkeiten eingehandelt haben. Mit umfangreichen pädagogischen Begleitangeboten, namentlich der Anregung, sich auf lokale historische Spurensuche zu begeben, strebt „Geschichte verbindet“ das Ziel an, den Lernenden zu vermitteln, dass sich Geschichte nicht irgendwo fernab an besonderen Orten (Führerbunker, Auschwitz, Stalingrad, Hiroshima, Berlin, Prag, Berliner Mauer…) abgespielt hat, sondern vor ihrer Haustür – und dass sie deshalb auch Einfluss darauf und Verantwortung dafür haben. 5. Stimmen Die folgenden Äußerungen legen Zeugnis ab von der hohen Akzeptanz, die das bisherige Wirken der Brücke/Most-Stiftung in der historisch-politischen Bildungsarbeit bei allen Beteiligten erfährt. • Prof. Manfred Alexander, Vorsitzender der deutsch-tschechischen Schulbuchkommission: „In einer einzigen der von Ihnen organisierten Begegnungen lernen Schüler mehr über ihr Nachbarland als in ihrer gesamten übrigen Schulzeit.“ • Hans-Hinrich Kahrs, Geschichtslehrer am Gymnasium Warstade / Hemmoor: „Die persönliche Begegnung mit Frau Miková und ihr Bericht waren eindrucksvoller, bedrückender und nachhaltiger als Geschichte verbindet - Die Zeitzeugenprojekte der Brücke/Most-Stiftung 13 alles, was ich bisher über den Nationalsozialismus und den Holocaust gelesen oder gesehen habe. Die bestehenden Vorurteile – man hätte ja schon so viel über den Nationalsozialismus im Unterricht gehabt – wurden weggewischt. Die Aufmerksamkeit und Bereitschaft zur inneren Anteilnahme waren durch die persönliche Begegnung sehr hoch.“ • Dr. Michaela Vidláková, Holocaust-Überlebende: „Ich kann nur bewundern, mit welchem persönlichen Einsatz Sie sich dieser Tätigkeit gewidmet haben. Ich glaube, dass dadurch, dass Sie mit so vielen Überlebenden Kontakt aufgenommen haben, für Sie jene Zeit nicht nur eine aus Büchern abgelesene Geschichte, sondern ganz hautnahe Realität geworden ist. Und – was vielleicht noch wichtiger ist, Sie können tatsächlich Brücken bauen: 1945 war für mich jeder Deutsche ein Feind.“ • Erika Bezdičková, Holocaust-Überlebende: „Der Besuch war immer bestens vorbereitet und organisiert. Nicht nur, dass Sie diese Problematik beherrschen – Ihr Einfühlungsvermögen brachte mich oft zum Staunen.“ • Eine Schülerin aus Berlin: „Sie haben es geschafft, dass sogar die, denen der Geschichtsunterricht nicht gefällt, aufmerksam zugehört haben.“ • Ein Schüler aus Dresden: „Die Begegnung hat eine unheimliche Faszination ausgelöst. Je länger erzählt wurde, desto stiller wurde es in der Aula. Im Anschluss an die Veranstaltung habe ich in Gesprächen mit Mitschülern, die dem rechten Spektrum zuneigten, erfahren, dass bei ihnen durch die Begegnung mit den Zeitzeugen ein Prozess des Umdenkens eingesetzt habe.“ 1 Das Projekt wird gefördert von der Europäischen Union, Programm Ziel 3 / Cíl 3, dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds und der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. 2 „Zaplať panbuh za fotbal“ (Dem Himmel sei gedankt für den Fußball). Anzuschauen unter http://www.ceskatelevize.cz/ ivysilani-jako-driv/10252576450-zaplatpanbuh-za-fotbal/. 14 Werner Imhof 3 Auf der Tagung „Zwangsarbeit im Nationalsozialismus – Bildungsarbeit am Übergang der Zeitgeschichte zur Geschichte“ am 30. 8. 2007 im Umweltforum Berlin. 4 Besonders eindrücklich: Monika Deutz-Schroeder, Klaus Schroeder, Soziales Paradies oder Stasi-Staat? Das DDR-Bild von Schülern - ein Ost-West-Vergleich. Stamsried 2008 (= Studien zu Politik und Geschichte, Band 6). Siehe auch: http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,567907,00.html. 5 Václav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben. Reinbek bei Hamburg 1989, S. 38. [Der Autor ist Historiker und war von 1999 bis 2002 Pressereferent der Brücke/Most-Stiftung. Seit 2003 koordiniert er die Bildungsarbeit mit Zeitzeugen.] Urban Kaiser, M.A. Exklusive Staatsbürgerschaftspolitik als Hemmnis für demokratische Konsolidierung in den baltischen Staaten? Der vorliegende Beitrag ist eine Kurzfassung der Magisterarbeit des Autors zum Thema „Ethnische Minderheiten und Konsolidierung der Demokratie in den baltischen Staaten. Die exklusive Staatsbürgerschaftspolitik Estlands und Lettlands – Ein Hemmschuh für deren demokratische Konsolidierung? Ein Vergleich mit der inklusiven Staatsbürgerschaftspolitik Litauens“. Die Magisterarbeit wurde im November 2007 dem Fachbereich Sozialwissenschaften, Medien und Sport der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz vorgelegt. Der Autor arbeitet zurzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am FraunhoferZentrum für Mittel- und Osteuropa (MOEZ) in Leipzig. Mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme Ende der 1980er Jahre setzten in den mittel- und osteuropäischen Staaten Transformationsprozesse ein. Zentrale Herausforderung hierbei war das „Dilemma der Gleichzeitigkeit“ (Offe 1994) – die zeitgleiche Transformation des politischen Systems von der autoritären Herrschaft zur Demokratie sowie der Wirtschaftsverfassung von Plan- zu Marktwirtschaft. In einigen Fällen, wie beispielsweise den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen kam mit der neu gewonnenen staatlichen Unabhängigkeit eine weitere Herausforderung hinzu. Die erfolgreiche Implementierung eines demokratischen Systems sagt aber noch nichts über dessen Konsolidierung aus, inwieweit die neue innerstaatliche Verfasstheit also von den relevanten Akteuren als "the only game in town" (Linz und Stepan 1996) tatsächlich akzeptiert wird. Eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für die Konsolidierung der mittel- und osteuropäischen Demokratien resultiert aus der Tatsache, dass viele Staaten der Region durch eine ethnisch heterogene Bevölkerung gekennzeichnet sind. In besonderer Weise trifft dies auf die baltischen Staaten zu. Die Tatsache, dass Lettland und Estland 2 Urban Kaiser nach ihrer erneuten Unabhängigkeit 1991 die Staatsbürgerschaft nicht automatisch allen zu dieser Zeit dauerhaft auf ihrem Staatsgebiet lebenden Personen offerierten, führte dazu, dass ein großer Teil ihrer Bevölkerung zunächst von der Staatsbürgerschaft und den damit verbundenen, vor allem partizipatorischen Rechten ausgeschlossen wurde. Auch wenn in den entsprechenden Gesetzen nicht explizit die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe der entscheidende Ausschlussgrund war, waren von dieser Exklusion de facto vor allem die – hauptsächlich russischsprachigen1 - ethnischen Minderheiten in diesen beiden Staaten betroffen. Im Gegensatz zur exklusiven Staatsbürgerschaftspolitik seiner baltischen Nachbarn praktizierte Litauen eine Politik der inklusiven Staatsbürgerschaft und gewährte allen im Jahr 1991 Gebietsansässigen automatisch die litauische Staatsbürgerschaft. Der vorliegende Beitrag untersucht, inwieweit die exklusive Staatsbürgerschaftspolitik Estlands und Lettlands im Vergleich zur inklusiven Staatsbürgerschaftspolitik Litauens (negativ) in der Unterstützung der demokratischen Systeme durch die Bevölkerung reflektiert wird und inwieweit dies eine Gefahr für deren erfolgreiche Konsolidierung darstellt. Dabei bieten die baltischen Staaten für ein „most similar systems design“ zur Analyse des Effekts der Staatsbürgerschaftspolitik auf demokratische Konsolidierung geradezu ideale Bedingungen, da sie eine Vielzahl relevanter makroanalytischer Gemeinsamkeiten aufweisen. Unter dem Begriff „ethnische Minderheiten“ werden alle Angehörigen von Minderheitenvolksgruppen subsumiert, unabhängig davon, ob sie Staatsbürger des Landes sind, in dem sie leben, oder nicht. Auf individueller Ebene werden in allen drei baltischen Staaten diejenigen Personen als Angehörige der "ethnischen Minderheiten" identifiziert, die nicht der Titularnation angehören. Es wird somit ausdrücklich nicht zusätzlich zwischen verschiedenen ethnischen Minderheiten differenziert, da das entscheidende Kriterium der exklusiven Staatsbür1 Mit diesem Begriff sind neben den ethnischen Russen vor allem ethnische Ukrainer und Weißrussen gemeint, aber auch andere slawische Minderheiten, wie Polen. Wenn im Folgenden vereinfacht von Russen gesprochen wird, sind damit stets auch diese anderen slawischen Minderheiten impliziert. Exklusive Staatsbürgerschaftspolitik als Hemmnis 3 gerschaftspolitik Estlands und Lettlands nicht eine bestimmte ethnische Zugehörigkeit war und aufgrund dessen keine systematischen Unterschiede zwischen verschiedenen ethnischen Minderheiten erwartet werden. Das dem Beitrag zugrunde liegende Konzept der liberalen Demokratie nach Diamond (1999) fordert von einem demokratischen System mehr als nur die Abhaltung freier Wahlen2. Von zentraler Bedeutung sind der Ausschluss einer direkten oder indirekten Herrschaft des Militärs oder anderer nicht gewählter Akteure, die horizontale Verantwortlichkeit zwischen den Regierungsmitgliedern untereinander sowie die Stärkung des Pluralismus. Dies alles kann nur funktionieren, wenn es in einer Verfassung niedergeschrieben ist und ein Rechtsstaat existiert. Allerdings sagt die Existenz dieser Kriterien noch nichts über die Konsolidierung eines demokratischen Systems aus. Diese ist erst gegeben, wenn es in mehrfacher Weise legitimiert ist, sowohl in den Einstellungen als auch im Verhalten der Eliten einerseits und der Bevölkerung andererseits (Vgl. Diamond 1999: 10ff; 65ff). Während die Eliten eines Staates die Demokratie und die dazu gehörenden Gesetze, Verfahren und Institutionen als einzig denkbare Ordnungsform ansehen müssen, ist in der Bevölkerung ein breiter Konsens über die Legitimation der Demokratie Voraussetzung für die Konsolidierung – über jede gesellschaftliche Grenze hinweg (Vgl. Diamond 1999: 66ff). Die Einstellungen der Bevölkerung und der Eliten zur Demokratie als Idee im Allgemeinen und dem eigenen politischen System im Besonderen bilden dabei die Grundlage für die politische Kultur eines Landes. Wie kann die Konsolidierung der Demokratie in einem Staat nun empirisch gemessen werden? Hierzu entwickelt Diamond (1999:68) ein Indikatorensystem, dass sowohl die Einstellungen als auch das Verhalten der Eliten und der Bevölkerung sowie von kollektiven Akteuren3 in Bezug auf das demokratische System misst. Da die Konsolidie2 3 Für die zehn spezifischen Kriterien Diamonds für eine liberale Demokratie siehe Diamond (1999: 11f). Als Beispiele hierfür nennt Diamond politische Parteien, Gewerkschaften oder Wirtschaftsverbände. 4 Urban Kaiser rung der Demokratie letztendlich von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängt wird auf die Analyse der Eliten und der kollektiven Akteure verzichtet. Stattdessen konzentriert sich die Analyse auf die Einstellungen der Bevölkerung. Welche Bedingungen stellt Diamond nun für die demokratische Konsolidierung auf der Ebene der Einstellungen der Bevölkerung auf? Seinen Indikator hierfür bildet er aus folgenden Kriterien: Mehr als 70 Prozent der Bevölkerung eines Staates sind davon überzeugt, dass Demokratie als Ideal jeder anderen denkbaren Ordnungsform vorzuziehen ist. Eine gleiche Mehrheit muss außerdem die im eigenen Land implementierte Demokratiestruktur als die angemessenste Ordnungsform für dieses Land ansehen. Zudem sollte das angesprochene Zustimmungsniveau nicht nur kurzfristig gehalten werden, sondern über eine längere Zeitspanne zu beobachten sein. Des Weiteren darf der Anteil derjenigen, die aktiv für eine autoritäre Ordnungsform eintreten und der Demokratie damit die Legitimation absprechen, nicht mehr als 15 Prozent betragen (Vgl. Diamond 1999: 69). Anknüpfend an Diamond und sein Konzept der demokratischen Konsolidierung bietet Fuchs (1999, 2002) mit seinem hierarchischen Modell der Demokratieunterstützung eine geeignete systematische Strukturierung. In seinen Ausführungen unterscheidet er drei Ebenen der demokratischen Unterstützung (Vgl. Abbildung 1): Erstens, die Unterstützung der generellen Prinzipien und Werte der Demokratie (Kultur), zweitens die Unterstützung für das im eigenen Land implementierte demokratische Regime mit seiner Verfassung und seinen demokratischen Institutionen (Struktur) sowie drittens, die auf den Erfahrungen der Bevölkerung beruhende Bewertung des tatsächlichen Funktionierens dieses Regimes (Performanz). Die kognitive Differenzierungsfähigkeit der Bürger hinsichtlich dieser drei Objektebenen von Demokratie wird von Fuchs und Roller (2006:81) mittels einer Faktorenanalyse verifiziert. Exklusive Staatsbürgerschaftspolitik als Hemmnis 5 Abbildung 1: Ebenenmodell der politischen Unterstützung von Fuchs. Unterstützung der Demokratienorm Unterstützung des demokratischen Regimes des eigenen Landes Konsolidierung der Demokratie- ideal Performanz der Demokratie = kausaler Zusammenhang = vermittelter Effekt Quelle: Fuchs (1999: 124), vereinfachte und modifizierte Darstellung Fuchs betont weiter, dass der ausschlaggebende Faktor für die Persistenz einer Demokratie die Unterstützung des demokratischen Regimes des eigenen Landes ist. Die demokratische Konsolidierung ist demnach eine systemische Konsequenz der Unterstützung der Demokratie auf der Strukturebene (Vgl. Fuchs 2002: 37). Mit Blick auf die Besonderheiten der demokratischen Konsolidierung in ethnisch heterogenen Staaten ist die Akzeptanz des Staates an sich eine weitere notwendige Vorbedingung (Vgl. Gaber 2006: 38; 60). Linz und Stepan (1996: 33) betonen die allgemeine Relevanz der Form der Staatsbürgerschaftspolitik für eine erfolgreiche Konsolidierung in ethnisch heterogenen Demokratien, indem durch die Gewährung gleicher Staatsbürgerschaftsrechte wie in Litauen die Loyalität der ethnischen Minderheiten zum jeweiligen Staat gestärkt wird und sich hinsichtlich des Niveaus der Unterstützung nicht signifikant vom entsprechenden Niveau der Titularnation abweicht. Hingegen kann in 6 Urban Kaiser Staaten mit exklusiver Staatsbürgerschaftspolitik wie Lettland und Estland eine weit größere ethnische Kluft in dieser Frage vermutet werden. Neben dieser über die Integrität des Staates gegebenen eher indirekten Bedeutung der Staatsbürgerschaftspolitik für die demokratische Konsolidierung ist auch eine direktere Relevanz gegeben: Eine exklusive Staatsbürgerschaftspolitik bedeutet einen Mangel in der demokratischen politischen Struktur eines Landes. Daher ist für Angehörige der ethnischen Minderheiten in Lettland und Estland zu erwarten, dass die ethnische Kluft in Bezug auf die Unterstützung der Demokratie im eigenen Land im Vergleich zur Titularnation signifikant größer ist als in Litauen. Hierbei bleibt es eine empirisch zunächst offene Frage, ob diese Kluft "nur" auf der Performanzebene der Demokratie des eigenen Landes auftritt oder sich auch in der Bewertung der institutionellen Strukturen der Demokratie des eigenen Landes zeigt und mithin auch, inwiefern dies eine Gefahr für die demokratische Konsolidierung bedeutet. Unter der berechtigten Annahme weitgehend vergleichbarer sonstiger politischer und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen kann schließlich erwartet werden, dass in Litauen die Unterstützung des im eigenen Land implementierten demokratischen Systems insgesamt höher ist als in Estland und Lettland. Exklusive Staatsbürgerschaftspolitik als Hemmnis 7 Abbildung 2: Theoretisches Modell der Bedeutung der Form der Staatsbürgerschaftspolitik für die demokratische Konsolidierung in ethnisch heterogenen Staaten. Unterstützung der Demokratienorm Unterstützung des demokratischen Regimes des eigenen Landes Konsolidierung der Demokratie- Performanz der Demokratie Staatsbürgerschaftspolitik k Nationale Identität D k ti Integrität des Staates = kausaler Zusammenhang = vermittelter Effekt = notwendige Voraussetzung für = Reflexion in Quelle: Eigene Darstellung Der empirische Befund zeigt, dass die Identifikation der ethnischen Minderheiten mit dem jeweiligen Staat in Litauen (54 Prozent) tatsächlich höher ist als in Estland (47 Prozent) und Lettland (46 Prozent). Allerdings fällt der Rückstand Estlands und Lettlands auf Litauen mit 7 respektive 8 Prozentpunkten, angesichts der beschriebenen schwerwiegenden Folgen der exklusiven Staatsbürgerschaftspolitik in diesen beiden Staaten, verhältnismäßig gering aus. Jedoch verschleiern diese Werte einen interessanten und durchaus relevanten Aspekt: 8 Urban Kaiser Teilt man die Angehörigen der ethnischen Minderheiten in die Kategorien "Staatsbürger" und "Nichtbürger" auf, zeigt sich im Falle Estlands, dass es innerhalb der Gruppe der ethnischen Minderheiten bezüglich der Identifikation mit dem Titularstaat große Differenzen zwischen den Personen mit Staatsbürgerschaft und jenen ohne Staatsbürgerschaft gibt. Immerhin rund 56 Prozent der ethnischen Nicht-Esten mit estnischer Staatsbürgerschaft können sich zumindest ein wenig mit Estland identifizieren, während der entsprechende Anteil bei den "Nichtbürgern" bei nur rund 39 Prozent liegt. Für Lettland zeigt sich ein vergleichbares Bild. Die ethnische Kluft in Bezug auf die nationale Identität ist in allen Ländern statistisch signifikant (p<0,05). Damit weist also auch Litauen trotz inklusiver Staatsbürgerschaftspolitik noch Defizite bezüglich der (mentalen und emotionalen) Integration seiner ethnischen Minderheiten auf. Jedoch ist die dortige Differenz zwischen Titularnation und ethnischen Minderheiten geringer als in Estland und Lettland, bei Unterscheidung zwischen "Staatsbürgern" und "Nichtbürgern" wird die Differenz noch deutlicher. Insgesamt bestätigen die empirischen Befunde bezüglich des Ausmaßes der nationalen Identität in den baltischen Staaten die Erwartungen weitgehend. Zugleich lässt sich aus den empirischen Befunden aber auch keine (akute) Gefahr für die Integrität aller drei baltischen Staaten ablesen, so dass ein stabiler Staat als eine wesentliche Grundvoraussetzung für eine konsolidierte Demokratie in allen drei Fällen als gegeben angesehen werden kann. In Bezug auf die Zustimmung zur Demokratie als grundsätzlich beste Staatsform übertrifft Litauen als einziger der drei Staaten mit 75 Prozent den von Diamond geforderten Schwellenwert von 70 Prozent. In Lettland und Estland beträgt dieser Wert hingegen nur 67 bzw. 63 Prozent. Gleichzeitig ist die geäußerte Präferenz für eine andere Staatsform, die als aktive Ablehnung der Demokratie als Staatsform interpretiert werden kann, in Litauen mit 13 Prozent am geringsten und in Lettland mit knapp 20 Prozent am höchsten. Estland liegt mit rund 15 Prozent genau auf dem von Diamond als Höchstgrenze definierten Wert. Betrachtet man diese Ergebnisse in einem zweiten Schritt getrennt nach ethnischer Zugehörigkeit (vgl. Abbildung 3), zeigt sich zweier- Exklusive Staatsbürgerschaftspolitik als Hemmnis 9 lei: Zum einen ist das Ausmaß der Unterstützung in allen drei Staaten unter den Angehörigen der jeweiligen Titularnation höher als unter den ethnischen Minderheiten. Zum anderen ist diese Differenz in Litauen mit knapp 21 Prozentpunkten deutlich höher als in Lettland mit zehn und in Estland mit rund sechs Prozentpunkten. Abbildung 3: Unterstützung der Demokratieidee in den baltischen Staaten nach ethnischer Zugehörigkeit (in Prozent). Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage des PCP II; Alle n zwischen 84 und 671 Letzteres liegt aber vor allem in den deutlich positiveren Einstellungen der ethnischen Litauer (78 Prozent) zum Demokratieideal im Vergleich zu den Angehörigen der Titularnationen in Estland (65 Prozent) und Lettland (71 Prozent) und weniger in den Einstellungen der ethnischen Minderheiten zum Demokratieideal begründet. Schließlich ist das entsprechende Ausmaß der Unterstützung unter den ethnischen Minderheiten mit Zustimmungsraten zwischen 57 Prozent in Litauen und 61 Prozent in Lettland in allen drei Staaten auf einem vergleichbaren – wenn auch relativ niedrigem – Niveau. Diese empirischen Ergebnisse zeigen, dass es in allen drei baltischen Staaten, speziell unter den Angehörigen ethnischer Minderheiten, ein klares Defizit bezüglich der Existenz einer demokratischen Kultur gibt. 10 Urban Kaiser Der empirische Befund hinsichtlich der Performanz der Demokratie in den baltischen Staaten zeigt durchweg eine sehr geringe Zufriedenheit sowohl unter den ethnischen Minderheiten als auch unter den Angehörigen der jeweiligen Titularnation. Abbildung 4: Performanz der Demokratie in den baltischen Staaten nach ethnischer Zugehörigkeit (in Prozent). Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis des PCP II. Verwendung 10er-Skala (1=voll und ganz unzufrieden - … 10 = voll und ganz zufrieden; Prozentsatz der Zufriedenen (Werte 7-10). Werte für Unzufriedene (Werte 1-4) sowie "Indifferente" (Werte 5 und 6) nicht ausgewiesen; Alle n zwischen 112 und 677 Dennoch sticht bei der Betrachtung der Ergebnisse ein Teilbefund ins Auge: Während in Estland und Lettland die Zufriedenheit mit dem gegenwärtigen Funktionieren der Demokratie unter den Titularnationen höher ist als bei den ethnischen Minderheiten (17 zu 12 bzw. 16 zu 7 Prozent) ist die Situation in Litauen genau umgekehrt. Hier ist nämlich die Zufriedenheit mit dem Funktionieren des demokratischen Systems unter den ethnischen Minderheiten mit 22 Prozent wesentlich höher als unter den ethnischen Litauern mit 14 Prozent. Die nach Fuchs (1999, 2002) entscheidende Frage nach der Unterstützung der Demokratiestruktur des eigenen Landes zeigt folgendes Bild: In der gesamten Bevölkerung, unabhängig von ihrer ethnischen Zuge- Exklusive Staatsbürgerschaftspolitik als Hemmnis 11 hörigkeit liegt die Zustimmung bei gerade einmal 26 Prozent, in Lettland sogar bei nur 23 Prozent. In Litauen liegt der entsprechende Prozentanteil hingegen bei immerhin rund 48 Prozent. Damit liegt die Unterstützung des im eigenen Land implementierten demokratischen Systems in Litauen deutlich höher als in Estland und Lettland. Dieser empirische Befund bestätigt die anfangs vorausgegangenen Überlegungen, dass in Litauen die Unterstützung für die Demokratie des eigenen Landes insgesamt höher ist als in Estland und Lettland. Bei Betrachtung des Ausmaßes der Unterstützung der Demokratiestruktur des eigenen Landes, getrennt nach ethnischer Zugehörigkeit (Abbildung 5), lässt sich zudem feststellen, dass sowohl im Vergleich der Titularnationen als auch im Vergleich der jeweiligen ethnischen Minderheiten vergleichbar große Differenzen zu beobachten sind, so dass das Gesamtergebnis nicht aufgrund eines deutlich geringeren Minderheitenanteils in Litauen systematisch verzerrt sein dürfte. Abbildung 5: Unterstützung der demokratischen Regime in den baltischen Staaten nach ethnischer Zugehörigkeit (in Prozent). Anmerkung: Alle n zwischen 89 und 622. Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage des PCP II Die Erwartung hingegen, dass die ethnische Kluft in Bezug auf die Unterstützung der Demokratie im eigenen Land in Lettland und Estland größer ist als in Litauen, lässt sich mit Blick auf Abbildung 6 nur 12 Urban Kaiser teilweise bestätigen. Die Politik der exklusiven Staatsbürgerschaftspolitik scheint sich nach diesem Befund in Lettland im Gegensatz zu Estland offensichtlich nicht in der Unterstützung der Demokratie des eigenen Landes niederzuschlagen. Abbildung 6: Unterstützung der demokratischen Regime in den baltischen Staaten nach ethnischer Zugehörigkeit (Varianzanalyse). Titularnation Ethnische Minderheiten Means Standardabweichung N Means Standardabweichung N F Signifikanzwert Estland 2,1 0,8 583 2,6 0,8 285 55,2 0,000 Lettland 2,4 0,9 622 2,4 0,8 339 1,3 0,265 Litauen 1,9 0,9 603 2,0 0,9 90 1,2 0,273 Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage des PCP II. Arithmetisches Mittel der Unterstützung des demokratischen Regimes des eigenen Landes auf 3-PunkteSkala (1 = Demokratie im eigenen Land ist die beste Staatsform; 2 = Indifferent; 3= Andere Staatsform ist besser). ANOVA; (p<0,05) Gibt es dennoch Hinweise, die für eine auf den ersten Blick nicht zu entdeckende vorhandene Reflexion der Staatsbürgerschaftspolitik sprechen? Zunächst ist vorstellbar, dass sich unter den Angehörigen ethnischer Minderheiten, die die Demokratie als grundsätzliche Staatsform unterstützen im Vergleich zu den Unterstützern der Demokratieidee unter den ethnischen Letten, prozentual mehr Personen befinden, die zugleich die implementierte Form der Demokratie nicht ausdrücklich präferieren. Ein deutlich höherer Anteil solcher "unzufriedener Demokraten" (Klingemann 1999: 32) an den grundsätzlichen Demokratiebefürwortern in der Gruppe der ethnischen Minderheiten im Vergleich zum entsprechenden Anteil in der Gruppe der Titularnation wäre ein solcher Hinweis. Ob eine solche Diskrepanz in der Motivlage tatsächlich existiert, kann empirisch durch die Kombination der Einstellungen zur Demokratie grundsätzlich und zur Struktur der Demokratie im eigenen Land zu einem Index überprüft werden (vgl. Fuchs und Roller 2006: 88ff.). Der diesbezügliche empirische Befund zeigt jedoch, dass nur in Estland eine erwähnenswerte Exklusive Staatsbürgerschaftspolitik als Hemmnis 13 Diskrepanz zwischen Titularnation und ethnischen Minderheiten in Bezug auf den Anteil der "Kritischen Demokraten" an der Gruppe der "Demokraten" existiert. Für Lettland gibt es hingegen keinen vergleichbaren Befund. Eine weitere mögliche Erklärung für das empirische Ergebnis im Falle Lettlands liegt in der Tatsache begründet, dass der Anteil der ethnischen Minderheiten mit Staatsbürgerschaft zum Zeitpunkt der Messung in Lettland im Vergleich zu Estland deutlich höher war (Vgl. Aasland 2002: 60). Es ist zu vermuten, dass persönlich vom Ausschluss von der Staatsbürgerschaft betroffene Angehörige ethnischer Minderheiten dem demokratischen System des eigenen Landes skeptischer gegenüberstehen als solche, die nicht direkt von dieser Exklusion berührt sind. Dies könnte sich im Falle Lettlands dahingehend auswirken, dass sich eine vernehmlich positivere Bewertung der ethnischen Minderheiten mit Staatsbürgerschaft aufgrund ihres höheren Anteils im Vergleich zu den ethnischen Minderheiten ohne Staatsbürgerschaft in Lettland in deutlicherer Weise auf das Gesamturteil auswirken könnte als in Estland. Es stellt sich daher die Frage, ob innerhalb der Gruppe der ethnischen Minderheiten signifikante Differenzen in der Unterstützung der Demokratieform des eigenen Landes zwischen Staatsangehörigen und Nichtstaatsbürgern existieren. Abbildung 7 zeigt, dass in beiden Staaten die Unterstützung der Demokratie des eigenen Landes in der Gruppe der ethnischen Minderheiten ohne Staatsbürgerschaft signifikant geringer ist als in der Vergleichsgruppe mit Staatsbürgerschaft – sowohl auf der Performanz- als auch auf der Strukturebene. 14 Urban Kaiser Abbildung 7: Unterstützung der Struktur der demokratischen Systeme Estlands und Lettlands unter den ethnischen Minderheiten in Abhängigkeit von der Staatsbürgerschaft (Varianzanalyse). Ethn. Minderheiten mit Staatsbürgerschaft des Titularstaates Ethn. Minderheiten ohne Staatsbürgerschaft des Titularstaates Struktur Means Standardabweichung N Means Standardabweichung N F Signifikanzwert Estland 2,5 0,8 124 2,6 0,7 153 4,2 0,041 Lettland 2,4 0,9 184 2,6 0,7 128 4,9 0,028 Kultur Ethn. Minderheiten mit Staatsbürgerschaft des Titularstaates Ethn. Minderheiten ohne Staatsbürgerschaft des Titularstaates Means Standardabweichung N Means Standardabweichung N F Signifikanzwert Estland 1,5 0,8 130 1,7 0,9 155 3,4 0,066 Lettland 1,6 0,8 184 1,7 0,9 127 2,2 0,143 Performanz Ethn. Minderheiten mit Staatsbürgerschaft des Titularstaates Ethn. Minderheiten ohne Staatsbürgerschaft des Titularstaates Means Standardabweichung N Means Standardabweichung N F Signifikanzwert Estland 4,3 2,0 132 3,9 1,9 168 4,5 0,035 Lettland 3,9 1,8 201 3,1 1,7 139 15,8 0,000 Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage des PCP II; ANOVA; p<0,05. Diese signifikant bessere Bewertung der ethnischen Minderheiten mit Staatsbürgerschaft dürfte sich in Lettland aufgrund des im Vergleich zu Estland deutlich höheren Anteils der ethnischen Minderheiten mit Staatsbürgerschaft im weitaus stärkeren Maße auf die Gesamtergebnisse für die ethnischen Minderheiten niederschlagen. Mit Blick auf dieses Resultat scheint es folglich auch in Lettland doch eine gewisse Reflexion der exklusiven Staatsbürgerschaftspolitik in der Unterstützung des demokratischen Systems zu geben, auch wenn diese erst auf den zweiten Blick erkennbar wird und diese Erkenntnis aufgrund der Exklusive Staatsbürgerschaftspolitik als Hemmnis 15 ihr zugrunde liegenden Operationalisierung mit aller Vorsicht formuliert werden muss. Zusammenfassend kann die Konsolidierung der Demokratie in keinem der drei baltischen Staaten als abgeschlossen gelten. Zugleich zeigt die Analyse, dass die exklusive Staatsbürgerschaftspolitik Estlands und Lettlands tatsächlich in der Unterstützung der Demokratie durch die Bevölkerung reflektiert wird. Die festgestellten ethnischen Differenzen bzw. die Differenzen zwischen Staatsbürgern und Nichtstaatsbürgern in ihren Einstellungen zum implementierten demokratischen System stellen denn auch ein Hemmnis für die Konsolidierung der beiden Staaten dar. Zugleich wurde aber auch deutlich, dass eine exklusive Staatsbürgerschaftspolitik und deren Konsequenzen mehr als ein zusätzliches Hindernis im Konsolidierungsprozess der baltischen Staaten als grundlegendes Problem interpretiert werden müssen. Denn noch schwerwiegender auf die demokratische Konsolidierung wirkt sich die Tatsache aus, dass sich die Unterstützung der Demokratie als Ideal in allen drei Staaten auf vergleichsweise niedrigem Niveau bewegt. Zwar unterstützt in allen drei Ländern jeweils eine Mehrheit der ethnischen Minderheiten die Demokratie grundsätzlich, das Ausmaß bleibt aber in allen drei Fällen jeweils deutlich unter dem Diamondschen Kriterium von 70 Prozent. Zwar hängt auch die Unterstützung der Demokratie als Idee von den konkreten Erfahrungen der Bevölkerung mit dem im eigenen Land implementierten demokratischen System ab. Neben diesen Erfahrungen sind aber für die grundlegende Akzeptanz vor allem langfristig entstandene kulturelle Traditionen wirksam, welche wohl nur langfristig veränderbar sind. Die Konsolidierung der baltischen Demokratien erscheint also vor allem eines zu erfordern – Geduld. 16 Urban Kaiser Literatur Aasland, Aadne (2002): Citizenship Status and Social Exclusion in Estonia and Latvia. In: Journal of Baltic Studies. Vol. 33 (1). S. 57-77. Diamond, Larry (1999): Developing Democracy. Toward Consolidation. Baltimore/London: The John Hopkins University Press. Fuchs, Dieter (1999): The Democratic Culture of Unified Germany. In: Norris, Pippa (Hrsg.): Critical Citizens, Global Support for Democratic Government. Oxford/New York: Oxford University Press: S. 123-145. Fuchs, Dieter (2002): Das Konzept der politischen Kultur: Die Fortsetzung einer Kontroverse in konstruktiver Absicht. In: Fuchs, Dieter/Roller, Edeltraud/Weßels, Bernhard (Hrsg.): Bürger und Demokratie in Ost und West. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. S. 27-49. Fuchs, Dieter/Roller, Edeltraud (2006): Learned Democracy? Support of Democracy in Central and Eastern Europe. In: International Journal of Sociology. Vol. 36 (3). S. 70-96. Gaber, Rusanna (2006): National Identity and Democratic Consolidation in Central and Eastern Europe. In: International Journal of Sociology. Vol. 36 (3). S.35-69. Klingemann, Hans-Dieter (1999): Mapping Political Support in the 1990s: A Global Analysis. In Norris, Pippa (Hrsg.): Critical Citizens, Global Support for Democratic Government. Oxford/New York: Oxford University Press: S. 31-56. Linz, Juan/Stepan, Alfred (1996): Problems of Democratic Transition and Consolidation. Southern Europe, South America and PostCommunist Europe. Baltimore/London: The John Hopkins University Press. Offe, Claus (1994): Der Tunnel am Ende des Lichts. Erkundungen der politischen Transformation im Neuen Osten. Frankfurt am Main/ NewYork: Campus. Daniela Pelka Deutsch-polnische Sprachinteraktionen in den „Oberschlesischen Nachrichten“ 1. Die deutschsprachigen Printmedien in Oberschlesien nach dem politischen Umbruch 1989 Bereits zwischen 1984 und 1986 wurden in Oberschlesien mehrere Versuche unternommen, eine Zeitung für die in der Region lebenden Deutschen zu begründen, doch sind diese Initiativen kläglich gescheitert.1 Die Gemeinsame Erklärung, unterzeichnet am 14.11.1989 in Warschau vom Bundeskanzler Helmut Kohl und vom ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten Polens Tadeusz Mazowiecki, ermöglichte den Angehörigen der deutschen Minderheit dann zwar zumindest den legalen Bezug deutscher Presserzeugnisse2, doch in der Zeit des politischen Umbruchs wollte man sich mit solch einer Lösung allein nicht mehr zufrieden geben. Die Tätigkeit der Angehörigen der deutschen Minderheit und der von ihnen später ins Leben gerufenen verschiedenen Einrichtungen wurde zwar von Anfang an von polnischen und ausländischen Medien begleitet3, doch war man mit ihrer Berichterstattung nicht immer einver1 Vgl. Breit, Holger (1998: 114ff). Vor diesem Hintergrund stimmt es also nicht – wie Glensk behauptet –, dass die Aktivisten der Minderheit in der Oppelner Region es nicht einmal geschafft haben, an ihr eigenes Presseorgan zu denken, als die Redaktion der „Trybuna Opolska“ mit der Herausgabe der Beilage „Oberschlesische Nachrichten“ begann; vgl. Glensk, Joachim (2006: 150). 2 Vgl. Scholz-Knobloch, Till (2004: 86); Lasatowicz, Maria Katarzyna (2007: 890). 3 Bereits in der ersten Ausgabe der „Oberschlesischen Nachrichten“ erwähnt Johann Kroll in seiner darin veröffentlichten Rede, dass die Aufstellung eines Kandidaten aus der deutschen Minderheit, der in den Ersatzwahlen am 4.2.1990 den verstorbenen Senator Osmańczyk ersetzen sollte, nicht nur in Deutschland und Polen, sondern darüber hinaus in „ganz Westeuropa, Amerika, Australien und Japan“ für Schlagzeilen sorgte; vgl. Kroll, Johann (1990: 2). 2 Daniela Pelka standen und zufrieden. Von Anfang an war man also darauf bedacht, eigene Medien aufzubauen, unter denen sich auch Presseprodukte finden sollten. Vor allem den anfänglichen Aktivitäten der Deutschen in Polen standen die polnischen Journalisten nämlich häufig mit Misstrauen, ja sogar mit Argwohn, gegenüber. Nicht selten fanden sich in ihren Artikeln Bezeichnungen wie „fünfte Kolonne“, „Zerstörer der sozialen Ordnung“, „Hitleranhänger“ oder „Revisionisten“, mit denen die ersten Minderheitsaktivisten bedacht wurden.4 Aber auch später kritisierte man die Arbeitsergebnisse der polnischen und ausländischen Medien, die oft nur oberflächlich waren, die Arbeit der SKGD und anderer Organisationen in einem falschen Licht zeigten und nicht auf die Gesamtheit der Arbeit der Deutschen Minderheit aufmerksam machten.5 Abgesehen von deutschsprachigen bzw. deutsch-polnischsprachigen Radio- und Fernsehsendungen, die nach dem politischen Umbruch 1989 für polnische Rundfunk- und Fernsehsender produziert wurden, sowie den im Internet zugänglichen Web-Seiten6, kommt v.a. den Printmedien die Aufgabe zu, über die Deutschen in Oberschlesien, die deutsch-polnischen Beziehungen und alles, was mit der deutschen Kultur und Tradition, Geschichte und Gegenwart in der Region verbunden ist, zu berichten. Die wichtigste Rolle spielt hier heute das „Schlesische Wochenblatt“, auf dessen Vorläufer – die „Oberschlesischen Nachrichten“ – im weiteren Teil des vorliegenden Beitrags näher eingegangen wird, aber daneben gibt es einige weitere Pressepro4 Vgl. Miś, Engelbert (2000: 179). Von 200 Veröffentlichungen über die Deutsche Minderheit aus der polnischen Presse, die im Jahre 1990 von dem Redakti onsteam der „Oberschlesischen Nachrichten“ gelesen wurden, wurde lediglich in 4 versucht, die Geschichte der Deutschen in Schlesien auf objektive Weise darzustellen, vgl. Miś, Engelbert (2007: 165). 5 Vgl. Urban, Rudolf (2009: 279). 6 Im Internet werden ausgewählte Artikel des „Schlesischen Wochenblattes“ veröffentlicht und die gesamte Zeitung kann auch als Online-Ausgabe bezogen werden. Auch die „Ratiborer-Mitteilungen“ und die „VDH-Mitteilungen“ sind als pdf-Dateien zugänglich. Darüber hinaus veröffentlicht die Sozial-Kulturelle Gesellschaft der Deutschen wöchentlich einen Newsletter, in dem sich neben wichtigsten Informationen aus den Reihen der SKGD ein Pressespiegel und Veranstaltungstipps finden. Deutsch-polnische Sprachinteraktionen 3 dukte, die von verschiedenen Einrichtungen – darunter auch denjenigen der deutschen Minderheit in Polen – herausgegeben werden (bzw. wurden, da ihre Herausgabe bereits wieder eingestellt worden ist) und in erster Linie an die Deutschen vor Ort gerichtet sind. Zu erwähnen wäre hier die seit 1998 erscheinende Monatszeitschrift „Schlesien heute“ und das 2-Wochenmagazin „Oberschlesien“, das bis 2005 unter dem Titel „Unser Oberschlesien“ erschien. Beide werden im Senfkorn-Verlag herausgegeben, der seinen Hauptsitz in Görlitz hat und eine Filiale auf dem Annaberg hat. Der Bund der Jugend der deutschen Minderheit gibt seit 2004 die deutsch-polnische Zeitschrift „Antidotum“ heraus, die als Informationsblatt des Bundes anzusehen ist, und die Vereine Deutscher Hochschüler in Ratibor und Oppeln – die deutschsprachigen „VDH-Mitteilungen“7. Ein kleines Kirchenorgan ist das vom Minderheitenseelsorger und Vorsitzenden des Minderheitenrates der Oppelner Diözese herausgegebene Informationsblatt „Die Heimatkirche“, das mit einer Zusammenfassung bzw. gesamten Übersetzung in polnischer Sprache erscheint. Das Jugendjournal „vitamin.de“, das zwischen 2003 und 2008 auch eine quasipolnische Ausgabe hatte8, berichtete zwar seltener über Ereignisse aus der Minderheit, die darin veröffentlichten Texte stammten allerdings größtenteils aus der Feder von Jugendlichen der Deutschen Minderheit. In Ratibor wiederum wurde bis 2008 das selbstständige Bulletin „Oberschlesische Stimme“ herausgebracht9, das über die Aktivitäten des Deutschen Freundschaftskreises im Bezirk Schlesien informierte. Seit Dezember 2008 fungiert es sie als monatliche Beilage des „Schlesischen Wochenblattes“. Schließlich erscheint seit September 2009 im Rahmen der „Nowa Trybuna Opolska“ wöchentlich das Beiblatt „Heimat. Mała ojczyzna”, das seit Juli 2010 auch deutsche Übersetzungen der polnischsprachigen Texte bringt. Als populärwissenschaftliche bzw. wissenschaftliche Zeitschriften werden seit 1993 vom Jo7 Vor der Entstehung des Vereines Deutscher Hochschüler in Oppeln vom Verein Deutscher Hochschüler in Ratibor unter dem Titel „Ratiborer Mitteilungen“ herausgegeben. 8 Herausgegeben wurde es von „Silesiapress“, musste allerdings wegen fehlender finanzieller Unterstützung der deutschen Seite eingestellt werden. 9 Von 1989 bis 2005 unter dem Titel „Informations- und Kulturbulletin“. 4 Daniela Pelka seph-von-Eichendorff-Konversatorium quartalweise die deutschpolnischen „Hefte für Kultur und Bildung“10 und seit 2003 vom Oberschlesischen Eichendorff-Kultur- und Begegnungszentrum in Lubowitz die Quartalschrift für Geschichte, Kultur und Literatur – „Eichendorff-Hefte“ sowie das deutsch-polnisch-tschechische „Lubowitzer Jahrbuch“ herausgegeben. 2. Von den „Oberschlesischen Nachrichten“ zum „Schlesischen Wochenblatt“ Am 11. April 1990 beschloss das polnische Parlament einstimmig die Auflösung des Hauptamtes für Kontrolle der Presse und der Schauspiele11 und novellierte das Presserecht12, wodurch die Zensur offiziell aufgehoben wurde und darüber hinaus die Angelegenheiten der Registrierung der Tageszeitungen und Zeitschriften vom besagten Amt an die Woiwodschaftsgerichte übertragen wurden.13 Bereits neun Tage später erschien als bescheidenes vierseitiges Beiblatt der „Trybuna Opolska“ – des Presseorgans der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei und Vorläufers der heutigen „Nowa Trybuna Opolska“ – die nach dem Zweiten Weltkrieg erste deutsch-polnische Zweiwochenschrift in Oberschlesien: „Oberschlesische Nachrichten. Wiadomości górnośląskie“. Der aberwitzige Vorwurf, dass das Erscheinungsdatum der ersten Ausgabe Nr. 0 – der 20.04.199014 – der Geburtstag Hitlers – kein Zufall war, wurde von polnischen Nationalisten noch nach Jahren 10 Das erste Heft erschien unter dem Titel „Kwartalne zeszyty oświatowe” und war polnischsprachig, die weiteren waren schon zweisprachig, wobei die Nummern 2-19 den Titel „Hefte für Kulturbildung“ trugen. 11 Polnisch: Główny Urząd Kontroli Prasy i Widowisk – GUKPiW. 12 Dies geschah mit dem Gesetz „Ustawa z 11.04.1990 o uchyleniu ustawy o kontroli publikacji i widowisk, zniesieniu organów tej kontroli oraz zmianie ustawy ‘Prawo prasowe’” (Dz. U. 1990 Nr 29, poz. 173). Unterzeichnet wurde dieses sog. „Gesetz über die Aufhebung der Präventionszensur“ vom Präsidenten Wojciech Jaruzelski. 13 Vgl. Kolasa, Władysław Marek (2004: 28). 14 Urban gib hier fälschlicherweise das Datum 1.04.1990 an; vgl. Urban, Rudolf (2009: 279). Deutsch-polnische Sprachinteraktionen 5 verbreitet, wie z.B. in dem Buch von Ryszard Surmacz „Znów tracimy Śląsk“ [Wir verlieren Schlesien wieder].15 Nach der Doppelnummer 05-06 vom 15.07.-15.08.1990, der Letzten von Andrzej Kracher in der Funktion des leitenden Redakteurs vorbereiteten, übernahm mit der Dreifach-Nummer 7-9 vom 16.08.30.09.1990 Engelbert Miś die Aufgaben des Chefredakteurs der Zeitung, die er mit einer Unterbrechung zwischen 1994-199816 bis April 2010 ausübte.17 Unter dem Titel „Oberschlesische Nachrichten. Wiadomości górnośląskie“ erschien die Zeitung bis zur Nummer 21 vom 15.-31.03.1991 und änderte danach aus rechtlichen Gründen ihren Titel in „Oberschlesische Zeitung. Gazeta Górnośląska“ (Nummer 1(22), da die Nummerierung fortgesetzt werden durfte, vom 1.15.4.1991). Mit der Nummer 18(81) vom 01.-07.10.1993 wurde die Zeitung von einem Zweiwochenblatt in ein Wochenblatt umgewandelt, was auch die Änderung des Zeitungskopfes nach sich zog. Noch ein weiteres Mal wurde der Titel im Jahre 1995 (Nummer 1(150) vom 10.-16.02.1995) geändert und zwar in „Schlesisches Wochenblatt. Tygodnik Śląski“, unter dem es bis heute verkauft wird. Seit der Nummer 17(942) vom 23.-29.04.2010 ist Till Scholtz-Knobloch Chefredakteur der Zeitung, die ab Januar 2011 den Titel „Wochenblatt.pl“ erhält, wodurch deutlich gemacht werden soll, dass sie nicht nur über Deutsche in Schlesien, sondern in ganz Polen berichtet und sie alle ansprechen will.18 15 Vgl. Cholewa, Krzysztof (1999: 5 und 13). Kracher zeichnet verantwortlich als Chefredakteur von der Nummer 49(142) vom 16.-22.12.1994 bis zur Nummer 31(330) vom 31.07.-6.08.1998, Miś wieder ab der Nummer 32(331) vom 7.-13.08.1998. 17 Die eigentliche Übernahme der Stelle erfolgte am 1.09.1990, vgl. Miś, Engelbert (2000: 180). 18 Persönliche Mitteilung von Till Scholtz-Knobloch. 16 6 3. Daniela Pelka Deutsch-polnische Interaktionen in den „Oberschlesischen Nachrichten“ Deutsche und polnische Elemente findet man in der Zeitung bereits im Titel, der in beiden Sprachen geführt wird und somit sowohl für einen monolingual deutsch- als auch polnischsprachigen Empfänger verständlich ist. Auch einige Titel der einzelnen Artikel werden in beiden Sprachen angeführt, doch bei ihrem Inhalt ging man dann schon anscheinend davon aus, dass die Leserschaft zweisprachig ist und sowohl die deutsche als auch die polnische Sprache versteht: Die Artikel erscheinen dementsprechend entweder auf Deutsch oder auf Polnisch. Erst in den späteren Ausgaben der Zeitung wird neben ausgewählte polnische Texte eine Zusammenfassung in deutscher Sprache oder umgekehrt gestellt, oder es wird der gesamte Text von einer Sprache in die andere übersetzt, so dass auch monolingualen Lesern zumindest bei einem Teil der Artikel ein Einblick in die darin behendelte Problematik gewährt wird. Dass die deutsche und polnische Sprache in den Zeitungsartikeln miteinander interagieren, beobachtet man auch auf der orthographischen, lexikalischen und grammatischen Ebene der jeweiligen Texte. Im Folgenden sollen einige Einflüsse des Polnischen auf das Deutsche aufgezeigt werden, die in den deutschsprachigen Texten der ersten fünf Ausgaben der „Oberschlesischen Nachrichten“ festgestellt wurden, wobei ich mich hier auf die Vorstellung einiger ausgewählter Beispiele der lexikalischen Ebene beschränke. Nicht selten findet man in den untersuchten Texten Wörter, die direkt aus dem Polnischen übernommen wurden. Am häufigsten sind dies Bezeichnungen für polnische Institutionen, Einrichtungen, Organisationen, Begriffe aus der Verwaltungssprache sowie Örtlichkeitsnamen. Viele von ihnen haben keine direkte Entsprechung im Deutschen, so dass durch ihre Übernahme lexikalische Lücken im Wortbestand des Deutschen gefüllt werden, ohne dass umschreibende Formen „gedichtet“ werden müssten. Nicht selten sind auch polnische Bezeichnungen für verschiedenen regionale Speisen und Gerichte: • Bei einem Treffen in meiner Wohnung mit drei Abgeordneten in den Sejm kamen wir überein, dass wir mit einer Gruppe von Deutsch-polnische Sprachinteraktionen 7 4 Mitgliedern der Minderheit uns mit den Mitgliedern der Komission für die Minderheiten im Sejm treffen wollen. (1, S. 2)19 • Trotzdem nahmen wir mit der „Solidarność” Kontakt auf und haben in drei Gesprächen (zwei in Oppeln und eine in meiner Wohnung) über unsere Lage sowie über eine gute Zusammenarbeit gesprochen. (1, S. 2) • Beim Fleischer Urban gab es die besten „Krupnioki“ (20, S. 4) • auch Büchsen mit „Flaki“ sowie echte „Krakowska“ oder „Kabanosy“ finden hier reißenden Absatz. (23, S. 2) Wie man an den Beispielen20 sehen kann, werden die polnischen Lexeme zum Teil ohne Unterschied zu deutschen im Satz verwendet, zum Teil werden sie in Anführungsstriche gesetzt, wodurch ihre Andersartigkeit hervorgehoben wird. Zudem werden die Substantive großgeschrieben, was als Anpassung an die deutsche Schreibweise gedeutet werden kann. Bei einem Teil der übernommenen polnischen Lexeme erscheint in Klammern ihre deutsche Übersetzung (a) und im Falle von Toponymen – der frühere deutsche Name (b): a. Man bedenke, dass in Biała die Solidarność kein Mitglied hat, dass also im Komitet Obywatelski (Bürgerkomitee) eine ganz andere Einstellung den Wahlen gegenüber bestand, als in Oppeln oder in Neisse zum Beispiel (22, S. 1) b. In diesem, in Dobrzeń Wielki ehemals Döbern, wo jetzt das grosse Elektrizitätswerk gebaut wird. (28, S. 3) 19 Die in Klammern angegebene Zahl ist die Nummer der am Ende des Artikels aufgelisteten untersuchten Texte der „Oberschlesischen Nachrichten“, danach kommt die Seitenangabe des Belegs, da einige der Artikel auf zwei Seiten abgedruckt worden sind. Die Schreibweise der jeweiligen Beispiele entspricht dem Original. 20 „Sejm“ – polnisches Parlament, „Solidarność“ – Gewerkschaftsname (wörtlich übersetzt: „Solidarität“), „krupnioki“ – „Graupenwurst“, „flaki“ – „Kutteln“, „krakowska“ – „Krakauer“, „kabanosy“ – „Cabanossi“. 8 Daniela Pelka Weniger mit einer Übersetzung als mit dem Versuch einer Erklärung bzw. Umschreibung der polnischen Ausdrücke hat man es in folgenden Sätzen zu tun: c. Die Jugend aus dem Osten sucht Partnerinnen „z pochodzeniem“, mit deutscher Abstammung, um auf diese Weise legal in die Bundesrepublik auswandern zu können (22, S. 3) d. Was man hier hört, ist die gwara śląska, das warme polnische Schlesisch, in welchem einfache Menschen zu Hause sind. (28, S. 1) Würde man den Ausdruck „z pochodzeniem“ ins Deutsche übersetzen, erhielte man nur die Wendung „mit Abstammung“. An dieser Stelle ist es klar, dass jeder Mensch eine Abstammung hat, doch man muss die Geschichte und die soziale Struktur Schlesiens kennen, um zu wissen, dass unter diesem „pochodzenie“ konkret die deutsche Abstammung verstanden wird. „Gwara śląska“ heißt lediglich „der schlesische Dialekt“ – kurz: „Schlesisch“. Die Ergänzung, dass es sich hier um das polnische Schlesisch handelt, wäre für das Verständnis der im Artikel beschriebenen Situation insofern wichtig, als es noch das deutsche Schlesisch gibt, doch dass die Autorin ausgerechnet Wärme damit assoziiert, gibt schon ihre persönliche Einstellung wieder und hat mit der reinen Übersetzung nichts mehr zu tun. Häufig sind in den untersuchten Artikeln polnische Toponyme zu finden. Neben Straßennamen (a) und Flurnamen (b) treten hier vor allem Siedlungsnamen (c) auf: a. Bereits zu Anfang dieses Jahres wurde in der Stadt Zabrze ein „Haus Oberschlesien“ gegründet, welches sich in Zabrze-Mikulczyce auf der ul. Mickiewicza 34 befindet (36, S. 5) b. Der damalige Steinbruch lebt heute noch im Volksmund als „Kamionka“ weiter und hat Seltenheitswert (25, S. 4) c. Ich war zum Beispiel in Staniszcze Wielkie (2, S. 1) Deutsch-polnische Sprachinteraktionen 9 Der Einsatz polnischer Oikonyme scheint dabei keinen Regeln zu folgen: In manchen Artikeln werden deutsche (a), in anderen polnische Namen verwendet (b), einmal wird aus dem Deutschen ins Polnische (c) und ein anderes Mal aus dem Polnischen ins Deutsche (d) übersetzt. Manchmal wird in einem Artikel – und darin sogar in einem Satz – für eine Ortschaft der polnische und für eine andere der deutsche Name verwendet (e): a. Es handelt sich um die Orte Brieg, Neisse, Groß Strehlitz, Kreuzburg und Grottkau in der Woiwodschaft Oppeln sowie um die Orte Tarnowitz, Rybnik, Kattowitz, Beuthen, Hindenburg, Ober-Lazisk und Gleiwitz in der Woiwodschaft Kattowitz. (31, S. 2) b. Deutscher Freundschaftskreis jetzt auch in Toruń --- Damit ist Toruń die fünfte Gruppe des DFK im altpreußischpommerschen Bereich neben den bereits bestehenden Gruppen in Elbląg, Gdańsk, Gdynia und Słupsk. Auch Poznań, Bydgoszcz und Olsztyn zeichnen sich Bestrebungen zur Gründung von DFK-Gruppen ab (30, S. 2) c. Hohenkirch (Wysoka), Groß Stanisch (Staniczsze Wielkie), Stubendorf (Izbicko), Kranstädt (Krzanowice), Kolonowskie – Grafenweiler, Rosenberg (Olesno), RatiborSüd (Racibórz), St. Annaberg (Góra św. Anny) (37, S. 6) d. Das Haus steht in Dobrzeń Wielki (Döbern) und ist eines der schönsten im Dorf (28, S. 1) e. Familien aus Gross Kottorz und aus Szczedrzyk (25, S. 4); Es gibt nämlich keine direkte Verbindung von Biała nach Neisse. Man muss über Prudnik fahren (22, S. 1) Die oben zitierten Lexeme wurden entweder als nicht integrierte Wörter aus dem Polnischen ins Deutsche übernommen bzw. ihre Integration fand lediglich auf morphologischer Ebene statt21, indem sie mit 21 Wie oben bereits erwähnt, könnte man nur bei einigen aus dem Polnischen übernommenen Substantiven, die, wie im Deutschen üblich, großgeschrieben wurden, von graphematischer Integration sprechen. 10 Daniela Pelka einem deutschen Artikel versehen wurden. Man begegnet in den untersuchten Texten aber auch Wörtern, die sowohl morphologisch als auch phonetisch-graphematisch ins Deutsche integriert wurden, indem zusätzlich ihre Aussprache und damit auch Schreibweise (sowie gegebenenfalls die jeweiligen Endungen) an die Empfängersprache Deutsch angepasst wurden, wie z.B.: • Unter diesen Voraussetzungen reichten wir dann am 24.3.1989 die Unterlagen zur Registrierung bei der Wojewodschaft Wydział Spraw Wewnętrznych in Oppeln ein. (1, S. 2) • Dann war er Lehrer in der Schule in Pogórze und auf dem Lyceum in Biała (22, S. 1) Die Bezeichnung „Wojewodschaft“ geht dabei auf die polnische Administrationseinheit „województwo“ und „Lyceum“ auf die früher vier, heute drei Jahre dauernde und zum Abitur führende Schulart „liceum“ zurück. Durch die Veränderung der polnischen Aussprache und der damit zusammenhängenden Schreibweise sowie der Endungen bestimmter Wörter glaubt man anscheinend, ein deutsches Wort zu gebrauchen, in Wirklichkeit aber sind die auf solch eine Art und Weise gebildeten Wörter im Deutschen manchmal gar nicht vorhanden. Statt vom „Fortsetzen“ ist dann die Rede vom „Kontinuieren“ und „Russisten“ werden zu „Russizisten“22: • Es fanden sich aber immer wieder mutige Landsleute, die die Arbeit kontinuierten. (1, S. 1) • Nun geht es darum, diese gute Tradition nicht nur zu kontinuieren, sondern sie dort, wo sie nicht besteht, zu schaffen. Darf man beiseite stehen? (2, S. 7) • Jetzt ist das Problem: Was machen wir mit den Russizisten? (22, S. 3) 22 Im Polnischen heißt „fortsetzen“ – „kontynuować“ und „Russist“ – „rusycysta“. Deutsch-polnische Sprachinteraktionen 11 Auch bei „Normalisation“ und „Registration“ erkennt man die polnische Vorlage für „Normalisierung“ und „Registrierung“ – „normalizacja“ und „rejestracja“: • Der steiniger Weg zur Normalisation (26, S. 7) • Der aus 5 Personen bestehende Vorstand schritt an erster Stelle zur Registration aller Deutschen und Polen deutscher Abstammung in der Stadt Zabrze und Umgebung wobei diese Liste im Spätsommer des vorigen Jahres mit der Nummer 19 127 abgeschlossen werden konnte (36, S. 5) Eine wesentliche Rolle spielt hier die phonetische Ähnlichkeit der deutschen und polnischen Entsprechungen. Allerdings kann sie zum Gebrauch von Lexemen führen, die zwar im Deutschen vorhanden sind, doch bereits als veraltet bzw. veraltend empfunden werden: • Ist Abnegation geraten? (2, S. 1) • Zur Visite in Polen (13, S. 6) • Man musste die Toten auf dem Feld begraben, weil der Kirchhof zu klein war (14, S. 1) Statt von „Abnegation“23, „Visite“24 und dem „Kirchhof“25 zu sprechen, würden hier „Teilnahmslosigkeit“, „Besuch“ und „Friedhof“ mehr dem gegenwärtigen Entwicklungsstand des Deutschen entsprechen. 23 Im „Duden Deutsches Universalwörterbuch“ nicht verzeichnet, vgl. Duden Deutsches Universalwörterbuch (1996), im „Duden Die Sinn- und Sachverwandten Wörter“ als veraltetes Synonym zur Teilnahmslosigkeit. Daneben findet man u.a.: Gleichgültigkeit, Desinteresse, Interesselosigkeit, Passivität, vgl. Duden. Die Sinn- und Sachverwandten Wörter (1986: 655). 24 „Visite“ ist ein regelmäßiger Besuch des Arztes an den Krankenbetten einer Station bzw. (bildungsspr. veraltend) ein [Höflichkeits]besuch, vgl. Duden Deutsches Universalwörterbuch (1996: 1682). 25 „Kirchhof“: (veraltend) Friedhof bei einer Kirche, vgl. Duden Deutsches Universalwörterbuch (1996: 837), dafür aber im polnischen Schlesischen lebendig als „kerchów“, vgl. Cząstka-Szymon, Bożena/Ludwig, Jerzy/Synowiec, Helena (1999: 83). 12 Daniela Pelka Neben den aus dem Polnischen direkt übernommenen Lexemen begegnet man in den untersuchten Texten auch hybriden Lexemen, die sich aus einem polnischen und einem deutschen Bestandteil zusammensetzen: • Teller und Babenformen aus Steingut (14, S. 3) „Baba“ (Pl. „baby“) bezeichnet im Polnischen einen Sand- oder Napfkuchen und wird hier als Bestimmungswort mit dem deutschen Grundwort „Formen“ zu einem hybriden Kompositum zusammengesetzt. Die Endung „-en“ in „Baben“ deutet dabei darauf hin, dass man es hier mit einem morphologisch integrierten Wort zu tun hat. Neben Lexemen, die direkt aus dem Polnischen übernommen wurden, findet man in den untersuchten Artikeln Lexeme bzw. Syntagmen, die zwar aus deutschen Morphemen bzw. Lexemen bestehen, ihrer Form oder Bedeutung nach allerdings vom Standarddeutschen abweichen und ein polnisches Vorbild erkennen lassen. Ist das „Kulturhaus“26, wie in dem Satz: • Wir haben in Biała ein Kulturhaus (22, S. 3) zum Bestandteil des deutschen Lexikons geworden – auch wenn im Westen vielleicht nicht alle wissen, was darunter genau zu verstehen ist –, so sind die folgenden Lexeme und Formulierungen doch eher ungewöhnlich: • Um den Besichtigern ein Bild des Ureinwohners unserer Landschaft zu machen27 (14, S. 1) • Das kann nicht sein und liegt wohl auch nicht in den Intentionen der Spender (2, S. 7) • Alle Angestellten bekommen Kündigung (22, S. 3) 26 Lehnübersetzung des russischen „dom kultury“: Gebäude für kulturelle od. politische Veranstaltungen, vgl. Duden Deutsches Universalwörterbuch (1996: 908). 27 Auch hier müsste die Wendung „sich ein Bild von jmdm., etw. machen“ eingesetzt werden, vgl. Duden Redewendungen (2007: 120): Damit sich die Besucher ein Bild davon machen können. Deutsch-polnische Sprachinteraktionen 13 • Und sie fragt jeden Sonntag, ob er schon eine gefunden habe, die mit ihm bleiben wollte auf Gut und Böse (28, S. 3) Auch wenn im Polnischen Menschen, die eine Ausstellung besichtigen, als „zwiedzający“ – die „Besichtigenden“ – bezeichnet werden, wäre im Standarddeutschen eher von den „Besuchern“ die Rede. Auch in den weiteren Sätzen erkennt man als polnische Vorlage jeweils die Wendungen: „leżeć w intencjach“, „dostać wypowiedzenie“, und „na dobre i na złe“, die Wort für Wort ins Deutsche übersetzt wurden und denen die deutschen Wendungen: „den Intentionen/Absichten entsprechen“, „jmdm. kündigen“ und „in guten und in schlechten Zeiten“ entsprechen. In dem nächsten Satz wiederum erhält der Phraseologismus „die Augen zumachen” mit der Bedeutung „sterben“28 die Bedeutung der polnischen Wendung „zamknąć na co oczy“ und zwar „so tun, als ob man etwas nicht sehen würde, etwas nicht wüsste“29: • Wir sehen nur unser Schicksal und machen die Augen zu vor der tragischen Vergangenheit derer, die das Los unter unseren Himmel vertrieb (2, S. 1) Standardsprachlich würde damit die deutsche Wendung „die Augen vor etw. verschließen“ korrespondieren. 4. Abschließende Bemerkungen Beim Vergleich der sprachlichen Ausformung der deutschsprachigen Texte der ersten und der späteren Ausgaben der „Oberschlesischen Nachrichten“ und ihrer Nachfolgerinnen – der „Oberschlesischen Zeitung“ und des „Schlesischen Wochenblattes“ – ist eine weitgehende Progression sichtbar. Einerseits sprachen die Autoren der ersten Texte ein Deutsch, an das sie sich erst einmal wieder erinnern mussten, an28 „Die Augen zumachen bzw. schließen“: (verhüllend) sterben; „die Augen vor etw. verschließen“: etwas nicht zur Kenntnis nehmen, etwas nicht wahrhaben wollen, vgl. Duden Deutsches Universalwörterbuch (1996: 169). 29 Vgl. Skorupka, Stanisław/Auderska, Halina/Łempicka, Zofia (Hrsg.) (1990: 503). 14 Daniela Pelka dererseits waren es zum Teil Menschen, die keine sprachliche, geschweige denn journalistische Ausbildung hinter sich hatten. Da sie sowohl Deutsch als auch Polnisch sprachen, können die in ihren deutschsprachigen Artikeln auftretenden Einflüsse des Polnischen als natürliche Erscheinungsformen der Zweisprachigkeit angesehen werden. Liest man die folgende Annonce, die in der ersten Ausgabe der „ON“ geschaltet wurde: „Einladung von DR. KLAR SPRACHLABOR zum voller 9 Tagstrainingsprachgruppen im Deutsch und Englisch. Die Gruppen sind für: - Anfänger - Fortgeschrittene - Avancierte Im Unterricht nehmen 12 Personen teil. Die individuelle korrektur führen Lektor und Psychologe. Briefanmeldung (Briefumschlag mit Briefmarke für die Korrespondenz): 43-190 Mikłów, Waryńskiego 48, Tel.: Zabrze 71 32 08 (Mo-Fr 13-21 Uhr)“ (Nr. 0-1, 15.05.30.05.1990, S. 5) kann man mit Zufriedenheit konstatieren, dass die heutigen Mitarbeiter des „Schlesischen Wochenblattes“ auf das Angebot derartiger Sprachlabore getrost verzichten können. 15 Deutsch-polnische Sprachinteraktionen Artikel der „Oberschlesischen Nachrichten“, auf die im Artikel Bezug genommen wird: 1. Kroll, Johann: Wir wollen Frieden und Toleranz, Nr. 0, 20.04.1990, S. 1 und 2. 2. Kracherowa, Nina: Ist Abnegation geraten?, Nr. 0-1, 15.05.30.05.1990, S. 1 und 7. 3. Kremser, Fryderyk: Konversatorium Joseph Frh. v. Eichendorff, Nr. 0-1, 15.05.-30.05.1990, S. 2. 4. DPA: Gang durch die Flammen, Nr. 0-1, 15.05.-30.05.1990, S. 2. 5. NK: Zwei Wochen in Deutschland, Nr. 0-1, 15.05.-30.05.1990, S. 2. 6. Lipinsky-Gottersdorf: Heimat an der Prosna, Nr. 0-1, 15.05.30.05.1990, S. 4. 7. Mientus, Konrad: Raszowa. Raschau. Die geschichtliche gangenheit des Dorfes, Nr. 0-1, 15.05.-30.05.1990, S. 4. Ver 8. DPA: Schamanentum im Rheinland, Nr. 0-1, 15.05.-30.05.1990, S. 5. 9. Kremser, Fryderyk: Das Heimatkreuz, Nr. 0-1, 15.05.-30.05.1990, S. 5 und 7. 10. Sprichwörter und Sinnsprühe, Nr. 0-1, 15.05.-30.05.1990, S. 5. 11. Wetter-und Bauernregeln (aus der Sprichwortsammlung Andrzej Krybus), Nr. 0-1, 15.05.-30.05.1990, S. 5. 12. Kluczniok, Józef: Unser Hobby: das Aquarium, Nr. 0-1, 15.05.30.05.1990, S. 5. 13. von Weizäcker, Richard: Friedrich der Grosse. (Auszüge), Nr. 0-1, 15.05.-30.05.1990, S. 6. 14. Kracherowa, Nina: Die Insel des Seligen, Nr. 0-2, 1.0615.06.1990, S. 1 und 3. 15. „Dialog“ Nr. 1/2, 1990: Die EG meint es gut mit Polen – Die Frage ist nur: Wie gut?, Nr. 0-2, 1.06-15.06.1990, S. 1. 16 Daniela Pelka 16. Kracherowa, Nina: Dummheit oder Provokation?, Nr. 0-2, 1.0615.06.1990, S. 2. 17. Hepa, Mikołaj: Leserbrief, Nr. 0-2, 1.06-15.06.1990, S. 2. 18. Krybus, Andrzej: Rückkehr zur traditionen, Nr. 0-2, 1.0615.06.1990, S. 2. 19. NK: Zwei Wochen in Deutschland, Nr. 0-2, 1.06-15.06.1990, S. 2. 20. Mientus, Konrad: Raszowa. Raschau. Die geschichtliche Vergangenheit des Dorfes, Nr. 0-2, 1.06-15.06.1990, S. 4. 21. Humor śląski (aus der Sammlung Andrzej Krybus), Nr. 0-2, 1.0615.06.1990, S. 5. 22. Kracherowa, Nina: Der neue Bürgermeister, Nr. 0-3, 15.061.07.1990, S. 1 und 3. 23. Görlich, Joachim Georg: Nordrhein-Westfalen als Brücke zum Nachbarn, Nr. 0-3, 15.06-1.07.1990, S. 1 und 2. 24. N.N.: Vierzehn Tage Deutschland, Nr. 0-3, 15.06-1.07.1990, S. 2. 25. Mientus, Konrad: Dębska Kuźnia. Dembiohammer, Nr. 0-3, 15.06- 1.07.1990, S. 4. 26. Bachmann, Klaus: Der steiniger Weg zur Normalisation, Nr. 0-3, 15.06-1.07.1990, S. 7. 27. Leserbriefe, Nr. 0-3, 15.06-1.07.1990, S. 7. 28. Kracherowa, Nina: S. 1 und 3. Endstation, Nr. 0-4, 1.07-15.07.1990, 29. Oberschlesischer Wohlfahrtsverband will verstärkt Ostdeutsche unterstützen, Nr. 0-4, 1.07-15.07.1990, S. 2. 30. Deutscher Freundschaftskreis jetzt auch in Toruń, Nr. 0-4, 1.0715.07.1990, S. 2. 31. Deutsche Lehrer für Deutschunterricht in Schlesien, Nr. 0-4, 1.0715.07.1990, S. 2. 32. DFK-Gruppe Bytom jetzt mit eigener Bibliothek und eigenem Büro, Nr. 0-4, 1.07-15.07.1990, S. 2. Deutsch-polnische Sprachinteraktionen 17 33. Europa jenseits Oder und Neisse, Nr. 0-4, 1.07-15.07.1990, S. 2. 34. Mientus, Konrad: Dębska Kuźnia. Dembiohammer, Nr. 0-4, 1.0715.07.1990, S. 4. 35. 30 Kinder auf Ferien in Deutschland, Nr. 0-4, 1.07-15.07.1990, S. 5. 36. Piowczyk, Eugeniusz: Kräftige Tätigkeit in Zabrze, Nr. 0-4, 1.0715.07.1990, S. 5. 37. Regelmässige Gottesdienste in deutscher Sprache, Nr. 0-4, 1.0715.07.1990, S. 6. 38. Krybus, Andrzej: „Mein Herz für Oberschlesien“, Nr. 0-4, 1.0715.07.1990, S. 7. 39. Krybus, Andrzej: „Mein Herz für Oberschlesien“, Nr. 0-4, 1.0715.07.1990, S. 7. Literatur Breit, Holger (1998): Die Deutschen in Oberschlesien, München. Cholewa, Krzysztof (1999): Wer sucht sich da einen Feind? In: Schlesisches Wochenblatt 26.11.-2.12.1999, S. 5 und 13. Cząstka-Szymon, Bożena/Ludwig, Jerzy/Synowiec, Helena (1999): Mały słownik gwary Górnego Śląska. Część I, Katowice. Duden. Die Sinn- und Sachverwandten Wörter (1986), Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich. Duden Deutsches Universalwörterbuch (1996), Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich. Duden. Redewendungen (2007), Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich. Glensk, Joachim (2006): Zarys dziejów niemieckiego czasopiśmiennictwa na Śląsku. In: Hendzel, Władysław/Pospiech, Jerzy (Hrsg.): Z dziejów i dorobku polskiego i niemieckiego czasopiśmiennictwa na Śląsku, Opole/Gliwice, S. 141-152. 18 Daniela Pelka Kolasa, Władysław Marek (2004): Prasa Krakowa w dekadzie przemian 1989-1998. Rynek – polityka – kultura, Kraków. (S. 19-41 abrufbar unter: http://fidkar.wbp.krakow.pl/fidkar/temp/ap_mat/dziennikar/01/04_kol asa_prasa_krakowa_rozdz1.pdf, Stand: 10.09.2010). Kroll, Johann: Wir wollen Frieden und Toleranz. In: Oberschlesische Nachrichten. Wiadomości Górnośląskie Nr. 0 vom 20.04.1990, S. 1 und 2. Lasatowicz, Maria Katarzyna (2007): Niemczyzna górnośląska. Próba bilansu. In: Grzywka, Katarzyna/Godlewicz-Adamiec, Joanna/Grabowska, Małgorzata/Kosacka, Małgorzata/Małecki, Robert (Hrsg.): Kultura – Literatura – Język. Prace ofiarowane Profesorowi Lechowi Kolago w 65. rocznicę urodzin, Warszawa, S. 886-895. Miś, Engelbert (2000): Tygodnik „Schlesisches Wochenblatt”. In: Kalczyńska, Maria (Hrsg.): Instytucje literacko-wydawnicze w kontaktach polsko-niemieckich. Stan i perspektywy badawcze. Materiały z międzynarodowej konferencji naukowej odbytej w dniach 16-17 grudnia 1999 w Kamieniu Śląskim, Opole, S. 179-189. Scholz-Knobloch, Till (2004): Die Situation der deutschen Medien in Oberschlesien. In: Hirschfeld, Michael/Kucinski, Christine (Hrsg.): Via Silesia gdpv Jahrbuch 2002, S. 86-99. Skorupka, Stanisław/Auderska, Halina/Łempicka, Zofia (Hrsg.) (1990): Mały słownik języka polskiego, Warszawa Urban, Rudolf (2009): Die Medien der deutschen Minderheit in der Oppelner Region. In: Donath-Kasiura, Zuzanna/Urban, Rudolf (Hrsg.): 20 lat TSKN na Śląsku Opolskim, Opole, S. 279-283. Ustawa z 11.04.1990 o uchyleniu ustawy o kontroli publikacji i widowisk, zniesieniu organów tej kontroli oraz zmianie ustawy „Prawo prasowe”, Dz. U. 1990 Nr 29, poz. 173. Małgorzata Świder Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach 1945 - ein Bestandteil der Repolonisierungs- und Polonisierungspolitik. Die Einnahme des Oppelner Schlesiens Anfang 1945 und die Einführung der polnischen Verwaltung in diesem Gebiet waren nicht nur mit der Einführung einer neuen Staatlichkeit, sondern auch mit neuen Grundsätzen für die Organisation des sozialen und politischen Lebens verbunden. Ein grundlegendes Problem im von den Kriegserlebnissen wiedererwachenden Polen war die Sicherung und Integration der 1945 erworbenen Gebiete. Infolge der Veränderungen, die sich im Sommer 1944 abzeichneten, kamen neue politische Kräfte an die Macht, die sich um die Machtübernahme in den Gebieten bemühten, die neu an Polen angegliedert wurden. Dies war eine erfolgreiche Taktik, denn sie beruhte auf der Tatsache, daß zusammen mit Einheiten der Roten Armee Menschen in die ehemaligen Ostgebiete des Dritten Reichs strömten, die die wichtigsten Funktionen in diesen Gebieten übernehmen sollten und aus linken Gruppierungen stammten. In verhältnismäßig kurzer Zeit nahmen sie Schlüsselpositionen ein, sowohl in den Strukturen der staatlichen Verwaltung als auch in den wesentlichen gesellschaftlichen Organisationen. Auf diese Weise ist es gelungen, ein ganzes System von Verbindungen zu schaffen, das es ermöglichte, neue Grundsätze für die gesellschaftliche Politik, darunter die Nationalitätenfrage, in den neu angeschlossenen Gebieten, insbesondere aber im Oppelner Schlesien, einzuführen. Das Oppelner Schlesien ist ein Teil Oberschlesiens, der nach der Teilung im Jahre 1921 beim Deutschen Reich verblieben war und 1945 in polnische Verwaltung übergeben wurde. Im Jahre 1945 entstand das Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete, dem alle Fragen in Verbindung mit der Bewirtschaftung und Eingliederung der neu an Polen angegliederten Gebiete unterstanden. An dessen Spitze stand Władysław Gomułka, einer der einflussreichsten 2 Małgorzata Świder polnischen Kommunisten. Das Gebiet war ein NationalitätenVersuchslabor der besonderen Art. Dort wurden Maßnahmen eingeleitet, die die einheimische Bevölkerung mit der polnischen Bevölkerung integrieren sollte. Das wurde von der Tatsache begünstigt, daß der schlesische Wojewode, der gleichzeitig die Funktion des Regierungsbevollmächtigten für das Oppelner Schlesien erfüllt, General Aleksander Zawadzki, besonders aktiv war, Maßnahmen festzulegen und einzuleiten, die gegen die Exklusivität der Bewohner von Schlesien gerichtet waren. Wichtiges Element dieser Maßnahmen war die Bevölkerung. Auf dem Gebiet des Oppelner Schlesien wohnte die größte geschlossene Gruppe ehemaliger Bürger des Dritten Reichs, die zur polnischen Minderheit gehörten. Sie waren es, die als Autochthonen bezeichnet wurden, ihnen wurde die meiste Aufmerksamkeit geschenkt, bei der Entfernung jeglichen deutschen Einflusses, die sowohl in ihrer Mentalität als auch in ihrem Umfeld bemerkt wurden. Die Maßnahmen, die im Oppelner Schlesien ergriffen wurden, wurden im Folgenden auf die übrigen neu angegliederten Gebiete ausgeweitet. Dieser Aufsatz ist den Entgermanisierungund Repolonisierungsmaßnahmen gewidmet, denen die Kinder unterworfen wurden, die das Gebiet des Oppelner Schlesiens bewohnt haben. Es ist nicht möglich, diese Maßnahmen von der Aktion zur Entgermanisierung und Repolonisierung/Polonisierung zu trennen, der die gesamte damalige Bevölkerung der polnischen Westgebiete unterworfen wurden. Darum werden auch die allgemeinen Grundlagen in Verbindung mit dem Schulwesen der Nachkriegszeit dargestellt, die Begriffe Entgermanisierung/Polonisierung und Repolonisierung werden besprochen, dann wird auf die Problematik in Verbindung mit der Verwendung der deutschen Sprache durch die schlesische Bevölkerung aufmerksam gemacht, auf die gesellschaftliche Situation, die Akzeptanz der Schulen durch die junge Generation, sowie Beispiele für konkrete Aktionen gegeben, denen die Kinder unterzogen wurden, z.B. im Rahmen von Änderungen deutsch klingender Vornamen und Familiennamen. Abschließend wird auf die Probleme im Betrieb der Schule aufmerksam gemacht, die aus den Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach 1945 Kriegszerstörungen, der Nationalitätensituation und Integrationsschwierigkeiten im Oppelner Schlesien resultierten. 3 den Alle Arten von Maßnahmen, die die polnische Verwaltung auf dem Gebiet von Oberschlesien, insbesondere jedoch auf dem Gebiet des Oppelner Schlesien ergriffen hat, deren Ziel es war, die deutschen Überreste zu beseitigen und diese Gebiet in das übrige Gebiet Polens zu integrieren, haben die Bildungseinrichtungen nicht übergangen. Die Schulen spielten damals eine wichtige Rolle, nicht nur bei der Ausbildung der jungen Generation, sondern auch als Ort, der Einfluss auf die Erwachsenen hatte. Es wundert also nicht, daß schon im Februar 1945 die Treffen des polnischen Aktivs Fragen zur Problematik des Schulwesens in den Westgebieten, die 1945 Polen eingegliedert worden sind, gewidmet wurden. Die Bildungsbehörden begannen, die Erziehung vorrangig zu behandeln, da im Angesicht der sich abzeichnenden Veränderungen "der Mensch im demokratischen Geiste zu erziehen" war. Im April 1945 sagte der damalige Bildungskurator Jan Smoleń auf der Versammlung der Schulinspektoren, daß die Demokratisierung des Lebens alle Schichten der schlesischen Bevölkerung umfassen sollte, unabhängig von der sozialen Herkunft, dem Umfang der Polnisch-Kenntnisse, der Konfession und der politischen Überzeugungen.1 Die Erziehungsaufgaben bezeichnete der Inspektor als Erziehung im demokratischen, nationalen und gesellschaftlichen Geiste, dessen Grundsätze die Schüler im "schulischen wie außerschulischen" Leben anwenden sollten.2. Im Sinne der Richtlinien durften auf dem Gebiet von Oberschlesien nur Schulen mit polnischer Unterrichtssprache bestehen. Gleichzeitig wurde angeordnet, bis auf Weiteres den 1 GBl. KOS KOS (Kuratorium Okręgu Szkolnego) Śląskiego 1945 [Kuratorium des Schulbezirks Schlesien], Nr. 2, Ziffer 75, Konferencja inspektorów szkolnych 27-28.04.1945 [Konferenz der Schulinspektoren]. 2 Ebenda, Ziffer 52, Okólnik [Rundschreiben] Nr. 19, unterschrieben von Kurator J. Smoleń. 4 Małgorzata Świder Deutsch-Unterricht in allen Schulen einzustellen, die dem Kuratorium des Schulbezirks Schlesien unterstanden3. In allen Dokumenten und Richtlinien aus dieser Zeit ist die Rede von Repolonisierung und Entgermanisierung. Was war Repolonisierung, was war Entgermanisierung?4 In der Publizistik, die sich mit den Repolonisierungsmaßnahmen beschäftigte, wurde versucht, den oft benutzten Begriff „Repolonisierung“ (Repolonizacja) zu definieren, als einen positiven Abschnitt der Politik und als Teil des Programms zur Realisierung der Rückkehrers Polens Polen in die Westgebiet. Unter dem Begriff Repolonisierung konnte man nicht nur „die Polonisierung der autochthonen, teilweise germanisierten Bevölkerung der Wiedergewonnenen Gebiete“ verstehen bzw. die Sättigung dieser Gebiete durch das polnische Volk, sondern auch die faktische und vollkommene Eingliederung dieser Gebiete in das polnische Staatswesen. Die Repolonisierung war ein politischer Begriff, der eine endgültige - formale und faktische - Anerkennung der Westgrenze in der Form, die in der Konferenz von Potsdam festgelegt worden war, bezweckte. Zur Erreichung der politisch verstandenen Repolonisierung müßten zwei Hauptaufgaben erfüllt werden: - Die Ansiedlung der polnischen Bevölkerung, die in die autochthone Bürgerschaft integriert werden sollte, und - die Entfernung der Deutschen. Das Programm der Repolonisierung sah auch eine wirtschaftliche Verbindung mit dem polnischen Restland vor. feste Ohne Zweifel spielten die einheimischen Bewohner Schlesiens eine Schlüsselrolle in der Repolonisierung. Sie waren eine biologische und politische Grundlage für die Rückkehr Polens in die Gebiete an, und 3 4 B. Snoch, Szkolnictwo w województwie śląsko-dąbrowskim 1945-1950 [Das Schulwesen in der Wojewodschaft Schlesien-Dombrowa], Czestochowa 1988, S. 34. Zum Thema der Entgermanisierung sehe: M. Świder, Die sogenannte Entgermanisierung im Oppelner Schlesien in den Jahren 1945-1950, Europaforum-Verlag, Lauf 2002. Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach 1945 5 daher sollte im Interesse des Staates eine Repolonisierungspolitik betrieben werden, die folgendes erlaubte: - volle, aber konfliktlose Eingliederung in die neu zu bildende Gesellschaft in den Gebieten - Polonisierung der teilweise germanisierten Bevölkerung Wiedergewinnung derer, die aufgrund verschiedener Fehlentscheidungen der Verwaltung emigriert waren. Die in den Gebieten verbleibende Bevölkerung sollte zum Fundament des neu entstehenden polnischen Gesellschaftslebens werden. Eugeniusz Paukszta, ein Aktivist des Polnischen Westverbandes (Polski Związek Zachodni),5 verstand unter dem Begriff der Repolonisierung eine feste Integration der Westgebiete, jedoch unter Beibehaltung bestimmter gruppenspezifischer Merkmale, damit sie sich dennoch vollkommen mit dem staatlichen und nationalen System verschmelzen ließen. Die Repolonisierung durfte sich nicht nur auf die politische oder wirtschaftliche Sphäre beschränken. Eine gleich wichtige Rolle hatte er dem emotionalen und kulturellen Bereich zugewiesen. Die volle Repolonisierung war daher eine endgültige kulturelle Assimilierung. Die so verstandene Repolonisierung bedeutete eine konstruktive Einwirkung der Obrigkeit und der gesellschaftspolitischen Organisationen auf die Bevölkerung, um eine gesellschaftliche und nationale Integration zu erreichen. Die Grundlage für die Repolonisierungsmaßnahmen in den sog. Wiedergewonnenen Gebieten war die Theorie der polnischen Abstammung der dort lebenden Bevölkerung, die sogenannte Theorie der autochthonen Bevölkerung.6 Es wurde z.B. behauptet, daß die 5 6 E. Paukszta, Myśl nad przyśpieszeniem kulturalnego zespolenia Ziem Odzyskanych, „Strażnica Zachodnia” 1946, Nr.. 6, S. 207ff. Der Begriff „Autochthon“ wurde in vielfältiger Weise benutzt. Gelegentlich verwendete man den Begriff als ein Synonym für die einheimische, polnische Bevölkerung der Westgebiete, manchmal aber auch als Bezeichnung für die deutsche Bevölkerung, die in den Gebieten geblieben war. Mitunter wurde die Bezeichnung auch für die ganze Bevölkerung Schlesiens, polnischer wie deutscher Abstammung, gebraucht. Mit der Zeit wurde der Begriff stark 6 Małgorzata Świder autochthone Bevölkerung trotz jahrhundertlanger Zugehörigkeit zum Deutschen Reich kein deutsches Nationalbewußtsein entwickelt habe. Als Grund dafür nannte man die Feindlichkeiten zwischen der autochthonen Gruppe und den Deutschen. Die Autochthonen besäßen kein ausgebildetes polnisches Nationalbewußtsein, weil alle entsprechenden Bestrebungen von den Deutschen rücksichtslos unterdrückt worden seien. Die Aufgabe Polens bestand darin, den Rückstand zu überwinden und die Autochthonen zur „nationalen Reife“ und einer „bewußt polnischen Haltung“ zu führen. Dies war für Polen besonders wichtig: „(...) Angesichts des heutzutage in friedlichen Umständen dauerhaften deutsch-polnischen Konfliktes, (...) sollten sich in den Westgebieten nur solche Bevölkerungsteile befinden, die einen lückenlosen, antideutschen Damm bilden könnten.“7 Aus diesem Grund war die wichtigste Aufgabe des Repolonisierungsprozesses die Trennung der polnischen von der deutschen Bevölkerung. Die polnischen Autochthonen sollten nach der Verifizierung den Kern der neuen Gesellschaft bilden. Bei den Anstrengungen, die Deutschen aus Schlesien und anderen ehemaligen deutschen Gebiete auszusiedeln und die Spuren des deutschen Erbes zu entfernen, wurde auch der Begriff „Entgermanisierung“, viel seltener der Begriff Polonisierung, gebraucht. Dabei muß man wissen, daß der Begriff im Zusammenhang mit Maßnahmen zur Entfernung aller deutschen Spuren, d.h. sowohl der Menschen als auch ihrer materiellen und geistigen Hinterlassenschaften, verwendet wurde. Praktisch wurden unter diesem Begriff alle destruktiven Maßnahmen von politischen und gesellschaftlichen Organisationen und der Verwaltung verstanden, deren Zielsetzung es war, neben der Aussiedlung der Bevölkerung auch sämtliche Spuren der deutschen Geschichte in den in die Administration Polens übergegangenen Gebieten zu verwischen. Es sollte eine systematische Entfernung der deutschen Überreste in Sprache, Schrift und sogar in der Mentalität sein. Im 7 abgewertet. Z. Dulczewski, Problematyka badań socjograficznych na Ziemiach Zachodnich, in: „Przegląd Zachodni” 1995/1. Z. Izdebski, Doświadczenia opolskie - podstawy repolonizacji, S. 252-253, Str. Zach.1947/9. Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach 1945 7 Laufe der Zeit modifizierte sich die offizielle Bedeutung des Terminus „Entgermanisierung“. Am Anfang der Übernahme und Besiedlung der neuen Gebiete verstand man darunter die Aussiedlung der Deutschen und die Sicherstellung der zurückgelassenen Güter.8 Nachdem die Aussiedlung abgeschlossen war, bezeichnete der Begriff eine mechanische Entfernung aller Kulturspuren der Deutschen. In dieser späteren Bedeutung verwendete man den Ausdruck am häufigsten, was besonders in den Rundschreiben des Ministeriums und des Wojewodschaftsamtes deutlich wird.9 Es kristallisierten sich vier Schwerpunkte heraus: - Aussiedlung der Deutschen - Ausschaltung der deutschen Sprache in Wort und Schrift, d.h. Entfernung des deutschen Schriftgutes im privaten und öffentlichen Bereich - Bekämpfung der prodeutschen Einstellung und Mentalität - Änderung der Vor- und Familiennamen; die Polonisierung der Namen, d.h. Angleichung an polnische Grammatik und Orthographie, und die Repolonisierung, d.h. Rückkehr zu den von der Hitlerregierung geänderten Namen. Die Entgermanisierung sollte die durch die deutsche Zivilisation überlagerte einheimische, der polnischen gleichgesetzte Kultur wieder zum Vorschein bringen.10 Nach einem genaueren Einblick in die Problematik der einheimischen Bevölkerung wollte man, gemäß der Propaganda, feststellen, daß im Volk polnische Tradition noch immer lebte und „die Herzen polnisch schlugen“. Auf den Herzen der einheimischen Bevölkerung läge nur ein Schimmer der deutschen 8 MSWiA CA War. (Ministerstwo Spraw Wewnętrznych i Administracji w Warszawie) MAP (Ministerstwo Administracji Publicznej) Sign. 303, K. 3. 9 AP Kat (Archiwum Państwowe w Katowicach) UWŚl/Sp-Pol. (Urząd Wojewódzki Śląski/Wydział Społeczno-Polityczny) Sygn. 551, K. 9f. Erlaß des Wojewoden vom 23.04.1948, Nr. SP.II-49/60/48, betr. die Koordinationskommissionen zur Liquidierung der deutschen Hinterlassenschaften; vgl. A. Rogalski, Akcja kulturalna na Ziemiach Odzyskanych. Podstawy, założenia i plan realizacji, In: Odzyskane ziemie odzyskani ludzie. Poznań 1946, S. 49. 10 S. Mazurek, Młodzieżowe wspominki, „Odra” 1947/3. 8 Małgorzata Świder Kultur, trotz jahrhundertlanger Germanisierung.11 In der Praxis wurden die Begriffe „Repolonisierung“ und „Entgermanisierung“ oft als Synonyme benutzt, als Bezeichnung für die gänzliche Entfernung jeglicher Spuren, die an die Präsenz des deutschen Staats - und Kulturwesens in irgend einer Form erinnerten. Als „Entgermanisierung“ wurde vorwiegend eine destruktive Tätigkeit bezeichnet, z.B. Entfernung oder Austreibung. Als Repolonisierung dagegen wurden Maßnahmen beschrieben, die etwas schaffen sollten, z.B. wirtschaftliche Verbindungen oder Besiedlung. In der Praxis wurden beide Termini jedoch abwechselnd benutzt, weil man von der Annahme ausging, daß sie sich gegenseitig vervollständigten. Die Trennung dieser Begriffe war daher sehr schwierig, wobei generell der Begriff Repolonisierung als weiter verbreitet angesehen wurde. Man sprach selten von einer Polonisierung, obwohl, dies in manchen Fällen doch der Fall war, besonders in Bezug auf die Jugendlichen und Kindern. Diese Entscheidung wurde auf Grund der Propagandamaßnahmen eingeführt, hauptsächlich der Theorie der slavischen/polnischen Abstammung der Bewohner Schlesien. Mann wollte die polnische Bevölkerung nicht polonisieren, wenn, dann nur re-polonisieren. Die deutsche Sprache Ein sehr wichtiger Bestandteil der Entgermanisierungsaktion /Polonisierung der Oppelner Schlesiens war die deutsche Sprache. Von Anfang an wurde der Sprache besondere Aufmerksamkeit gewidmet, da man der Meinung war, daß dies ein wichtiges Merkmal der Nationalen Zugehörigkeit war. Besonders achtete man auf die Benutzung der deutschen Sprache. Die Richtlinien dafür wurden schon während einer Besprechung der Landkreisräte, die in das Gebiet des Oppelner Schlesien im Frühjahr 1945 entsandt werden sollten, bekannt gegeben. Damals verkündete der Wojewode die Leitlinien für die künftige Politik der Behandlung der deutschen Sprache: „Die 11 E.C. Repatrianci, NO (Nowiny Opolskie) Nr. 10 vom 9.03.1947, S. 3; siehe auch die Einführung vom W. Barcikowski, in: Odzyskane ziemie - odzyskani ludzie, Poznań 1946, S. 7. Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach 1945 9 deutsche Sprache wird vollkommen entfernt. Die Kinder sollten auf dem schnellsten Wege die bei uns verhasste deutsche Sprache vergessen. Wir müssen diesen Haß vertiefen, weil wir vor dem Problem stehen: wir oder sie. Es ist jetzt keine Zeit für Sentimentalität und Mitleid mit dem Deutschtum.“12 Es gab zwar Stimmen, die vor der Einführung des sprachlichen Kriteriums zur Bestimmung der Nationalität warnten, sie wurden jedoch nicht gehört.13 Direkt nach der Übernahme Oberschlesiens durch den polnischen Verwaltungsapparat gab der Wojewode eine Anordnung (29. Januar 1945) bezüglich der Entfernung der Spuren der Okkupation heraus, die auch die Sprache Betraffen.14 Im Sinne der Weisung waren alle Hausbewohner und -verwalter verpflichtet, deutsche Inschriften, Schilder, Parolen, Bekanntmachungen, Embleme, Zeitungen und Plakate zu entfernen. Mit sofortiger Wirkung erhielten Städte, Siedlungen, Straßen und Plätze ihre polnischen Namen zurück (Repolonisierung). Die deutsche Sprache wurde in Wort und Schrift verboten (Pkt. 3). Um den polnischen Charakter Oberschlesiens zu unterstreichen, wurde angeordnet, die polnische Fahne zu hissen und den polnischen Piastenadler (ohne Krone) aufzustellen. Im Oppelner Schlesien wurden alle Schilder entfernt und durch polnische ersetzt. Obwohl die Massnahmen zur Entgermanisierung, als dringend und bevorzugt angesehen wurden, velauften sie nicht im gewünschten Tempo und in der angestrebten Breite. Die umfassende Entfernung der Kulturspuren deutscher Provenienz war auf Grund ihrer Masse und 12 AP Kat UWSl/Og, (Urząd Wojewódzki Śląski/Wydział Organizacyjny) Sign. 162, K. 249 Protokoll der Konferenz. 13 E.O.(Edmund Osmańczyk?) Zasiewy i kataster narodowościowy. Dwa palące zagadnienia Opolszczyzny. Dz. Zach. vom 30.03.1945. Auch in der nächsten Zeit wurde das Problem der Sprache als Kriterium zur Bestimmung der Volkszugehörigkeit differenziert betrachtet, z.B. berichtete Ossowski in: „Zagadnienia więzi regionalnej i więzi narodowej na Śląsku Opolskim“, „Przegląd socjologiczny“, 1947/ Nr. 1/4, daß die Mehrzahl der polnischsprachigen Einheimischen, die während der schlesischen Aufstände an den Kämpfen teilgenommen hatten, nicht auf polnischer, sondern auf deutscher Seite zu finden waren. 14 Amtszeitung Nr. 1, S. 9.; AP Kat UWŚl/AP (Urząd Wojewódzki Śląski/ Wydział Administracyjno-Prawny) Sign. 26, S. 44. 10 Małgorzata Świder Popularität nicht einfach.15 Die größten Schwierigkeiten bereiteten der Verwaltung die deutsche Sprache und die Nachkriegsjugend. Trotzt der Verbote der polnischen Administration wurde die deutsche Sprache noch häufig benutzt. Diese Tatsache ist nicht nur aus dem bewußten Gebrauch der Sprache, sondern aus der Notwendigkeit ihrer Benutzung abzuleiten. Die schlesische Bevölkerung konnte sich nämlich in der polnischen Sprache oft nicht frei artikulieren. Besonders die junge Generation, die häufig nach dem Krieg zum ersten Mal polnisch hörte, hatte damit Probleme. Trotz der Schwierigkeiten ist die Mehrheit der schlesischen Jugend 1945 nicht zur polnischen Schule gegangen. Anfänglich spielte die fehlende Sicherheit in den Gebieten eine entscheidende Rolle. Im Frühjahr 1945 waren Kinder auf dem Weg zur Schule durch militärische Einheiten belästigt und festgehalten worden, ältere von ihnen mußten sich sogar an den angeordneten Zwangsarbeiten beteiligen.16 Für das Fernbleiben der Jugendlichen war zum größten Teil auch die verbreitete Armut in der schlesischen Gesellschaft verantwortlich.17 Viele Familien blieben nach dem Krieg ohne Väter und Ehemänner, d.h. also ohne Einkommen. Diese Situation wurde dadurch verschärft, 15 AP Kat. PZZ (Polski Związek Zachodni) Wełnowiec Sign. 6, K. 12. Rundschreiben des Schlesischen Kreises des PZZ betr. die Propaganda-Aktion während der „Woche der Wiedergewonnenen Gebiete“ von März 1946. 16 AP Kat PZZ Okr. Śl, (Okręg Śląski) Sign. 3. Bericht des Delegierten des PZZ von Gleiwitz über die Lage in der Zeit vom 25.04.1945 bis 21.05.1945 17 Im Juli 1947 wurde die autochthone Jugend, die die deutschen Schulen besuchte, registriert, um sie weiterzubilden. Von 186 theoretisch geeigneten Kandidaten wollten 60 keine höhere Ausbildung haben. Als Grund dafür wurde die schlechte materielle Lage der Familie angegeben, besonders die Pflicht, den abwesenden Vater zu vertreten. AP Kat, KOS SL. Sign. 105, K. 2, dazu siehe auch: AP Kat. WUIiP Kat. (Wojewódzki Urząd Informacji i Propagandy w Katowicach) Sign. 71. K. 26; Dies war durch die kriegsbedingte Bevölkerungsstruktur verursacht: im Landkreis Glubczyce lebten im September 1945 (alles ca. – Werte) 44.082 Personen, davon 33% Kinder, 48% Frauen und 19% Männer. Die Stadt Gleiwitz bewohnten im Juni 1945 30.000 Personen, davon 31% Kinder, 52% Frauen und 17% Männer. J. Misztal, Polityka władz polskich wobec mieszkańców, S. 126; Z. Kowalski gab an, daß sich im Oppelner Schlesien im Sommer 1945 ca. 80-90% Männer außerhalb ihrer Wohngebiete befanden. Z., Kowalski, Powrót Śląska Opolskiego, S. 403. Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach 1945 11 daß die Familien in der ersten Zeit unter polnischer Verwaltung, weder Rente noch irgendeine andere soziale Unterstützung bezogen. Im Gegenteil wurden sie noch zusätzlich mit finanziellen Belastungen, wie z.B. einer Miete für ihr enteignetes Haus, konfrontiert.18 In der Gruppe der Kinder und Jugendlichen lag der Anteil an Waisen bzw. Halbwaisen bei 70-75%. Kinder im Alter von 8-15 Jahren mußten arbeiten, und aus den Städten wurde gemeldet, daß Kinder um Geld oder Brot bettelten.19 Die Schulverwaltungen aus Bytom, Gliwice und Racibórz informierten, daß dort 2000-3000 Kinder nicht die Schule besuchten. 15% der Kinder litten unter Tuberkulose, außerdem waren 60% bereits infiziert. Aufgrund der Avitaminose mußte im Landkreis Gliwice bei vielen Kindern mit Erblindung gerechnet werden.20 Zbyszko Bednorz21 berichtete im Juli 1946, daß im industriellen Teil des Oppelner Schlesien dreimal mehr Kinder starben als geboren wurden.22 Die größten Erziehungsschwierigkeiten gab es in der Gruppe der Jugendlichen von ca. 14 Jahren. Sie hatten ihr ganzes Leben in der Hitler-Zeit verbracht, deutsche Schulen besucht und waren somit von der NS-Ideologie geprägt.23 Selbst die Schlesier sagten, daß nach Hitler mit der Jugend nicht alles „richtig sei“, ohne dies jedoch weiter zu kommentieren. Der Einfluß der Ideologie des Dritten Reiches machte eine Integration fast unmöglich. Dabei nannte man als Gründe 18 AAN War. MZO Sign. 84, K. 56. Vertraulicher Pressedienst der ZAP vom 5.06.1946: „Nędza na Opolszczyźne“. 19 Z. Bednorz, Pod ziemią jest jaśniej, „Tygodnik Powszechny“, Nr. 49 vom 24.02.1947. 20 AAN War. (Archiwum Akt Nowych w Warszawie) MZO (Ministerstwo Ziem Odzyskanych) Sign. 84, K. 61. Vertraulicher Pressedienst der ZAP vom 5.06.1946: „Ratujmy dzieci śląskie“. 21 Zbyszko Bednorz (1913-2010) Schriftsteller und Dichter. 22 Z. Bednorz, Pod ziemią jest jaśniej. „Tygodnik Powszechny”, Nr. 49 vom 24.02. 1947. 23 Trzeba odniemczyć Ziemie Zachodnie. O nowy typ kresowego Polaka, „Dziennik Zachodni“ vom 20.05.1945; Die Erziehung der Jugend gehörte zu den wichtigsten Aufgaben des polnischen Staates im Repolonisierungsprozeß. Das Ziel war: „Vernichtung des hitlerischen Gifts, tief in ihrer (der Jugend) Seele eingepflanzt.“ 12 Małgorzata Świder dafür den kulturellen Dualismus, die emotionale Bindung an deutsche Eigenarten und die Überzeugung vom Potential Deutschlands.24 Die verbliebene Ideologie war für die damaligen Machthaber ein Indiz für das Weiterbestehen der deutschen Hinterlassenschaften. Die in vielen Köpfen noch vorhandene Überzeugung einer besonderen Rolle „des Herrenvolkes“ mußte nach Ansicht der Verwaltung auch die Eltern der Jugendlichen angesteckt haben, und somit war die Repolonisierung zunichte.25 Die Jugendlichen wurden zudem verdächtigt, geheime antipolnische Organisationen zu bilden und Gerüchte über baldige Grenzveränderungen zu verbreiten.26 Polonisierungsanstrengungen Die Hauptverwaltung des Westverbandes (Polski Związek Zachodni – PZZ) in Poznań arbeitete mehrere Instruktionen aus, die die Handlungsweise bei den Bestrebungen zur Beseitigung der deutschen Spuren und der deutschen Kultur beschrieben. Unter anderem wurde Ende 1946 oder Anfang 1947 (kein Datum) eine Instruktion erarbeitet, in der auf die Notwendigkeit der Aufstellung mehrerer Jugendgruppen für Umfragen hingewiesen wurde. Die Fragen sollten an erster Stelle Auskunft über Nationalbewußtsein, Sprache und Gruppengebräuche der Gemeinschaft mit beschränkten nationalen Empfindungen geben. Als weitere Aufgabe für die geplanten Gruppen war die Bekämpfung des deutschen Erbes vorgesehen. Dies sollte in Form einer Vertiefung des Nationalbewußtseins insbesondere bei Kindern und Jugendlichen geschehen und in Form von Beobachtungen der „Stimmungslage und 24 P. Madajczyk, S. 197; AAN War. MIP (Ministerstwo Informacji i Propagandy) Sign. 503, K. 37. Situationsbericht aus Kreuzburg für November 1946. Kreuzburg 8.12.1946: Die Äußerung des Vorsitzenden des GemeindeNationalrates (Gminna Rada Narodowa- GRN) in Strzeleczkach: „Aus der heutigen (Autochthonen)-Generation wird Polen keinen Nutzen ziehen können, sie sprechen zwar polnisch, sind jedoch durch die Germanismen verdorben.“ 25 AP Op. St.P. (Starostwo Powiatowe) Olesno, Sign. 42. Bericht von Szum , Gemeinde Bogucica, betr. die Verifikation der Bevölkerung vom 4.04.1946. 26 AP Kat. UWŚl./Og. Sign. 119, K. 44. Situationsbericht des Starosten der kreisfreien Stadt Beuthen vom 29.01.1946. Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach 1945 13 der Tendenzen in der polnischen Bevölkerung, die in der Vergangenheit bewußt oder unbewußt unter den Einflüssen der deutschen Kultur standen“, erfolgen.27 Von den unterschiedlichen deutschen Hinterlassenschaften wurde die in manchen Gruppen noch existierende Überzeugung von der Stärke und Überlegenheit Deutschlands für die gefährlichste gehalten. In die Aktion der Befreiung von fremden Elementen (d.h. deutschen) sollten auf unterschiedliche Weise Kinder und Erwachsene einbezogen werden. Die Kinder mußten im allgemeinen nationalen Geist erzogen werden. Die Erwachsenen forderte man auf, „ihren Aberglauben über den Vorrang der deutschen Kultur abzulegen“ und Vertrauen in die Kraft und die Stärke Polens zu setzen.28 Die Verwaltung hat während der Aktion der Entgermanisierung beunruhigende Erscheinung beobachtet, daß die deutschen Sprachkenntnisse besonders bei den jungen Menschen weiter entwickelt waren als die polnischen. Die Jugend weigerte sich, die polnische Sprache zu erlernen. In Zabrze beispielsweise lehnten es Kinder ab, ein polnisches Gedicht über ein nationales Ereignis, die Schlacht um Psie Pole, auswendig zu lernen. Angeblich sprachen sie in den Pausen ausschließlich deutsch.29 In Bytom quittierte ein Jugendlicher die Frage, warum er deutsch spreche mit der Bemerkung: Man könnte ebenso fragen, warum man jetzt polnisch spreche.30 Die angewendeten Maßnahmen, Propaganda und „Umerziehung“ zeigten bei den bilingualen Schlesiern kaum Erfolge. Nicht nur Erwachsene, 27 AP Poz. PZZ (Polski Związek Zachodni), Sign. 66, K.1. Instruktion der Hauptverwaltung des PZZ betr. die Aktion zur Entfernung der deutschen Spuren. 28 Ibidem K. 3. 29 AAN War, MZO, Sign. 55, K. 8, Situationsbericht des Wojewodschaftsamtes in Kattowitz für Februar 1947; Noch im Oktober 1949 wurde berichtet, daß die Kinder der sog. Autochthonen in Polskiej Cerkwi in der Schule deutsch sprachen. AP Kat. UWSL/Og. Sign. 206. Protokoll der periodischen Konferenz aller politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Organisationen im Landkreis vom 28.10.1949. 30 AP Kat., PZZ Okr.Śl., Sign.121, K. 85. Anonymschreiben an Dz. Zach. vom 28.05.1946. 14 Małgorzata Świder auch Kinder und Jugendliche sprachen 4-5 Jahre nach Kriegsende noch deutsch.31 Nach anfänglichem Rückzug des Gebrauches der deutschen Sprache, der mit Repressalien erreicht worden war, belebte sich sie jedoch neu und entwickelte sich weiter, so daß 1947 sogar zweijährige Kinder deutsch sprechen konnten. In den Kreisen des Oppelner Schlesien war die Lage besonders schwierig. Im Landkreis Opole wurden in der Zeit von Januar bis August 1948 insgesamt 155 Personen wegen Benutzung der deutschen Sprache angezeigt.32 Trotzt der Vorbote und angewandten Straffen bedienten sich die Schlesier in großer Zahl der deutschen Sprache, sogar die schulpflichtige Jugend wehrte sich gegen das Erlernen des Polnischen. Obwohl, die Bevölkerung, die als Deutsche angesehen wurde, schon ausgesiedelt wurde, hörte man z.B. in Bytom ununterbrochen Deutsch, was, wie die Vertreter des PZZ behaupteten, ein Beweis für die unkorrekte Durchführung der Entgermanisierung war.33 Auch die Appelle, die deutsche Sprache aktiv zu bekämpfen, blieben ohne sichtbaren Erfolg34. Bei der Besprechung der Landräte und Bürgermeister am 19. Juni 1947 im Wojewodschaftsamt in Katowice wurde gefordert, Familien, deren Kinder die Schule boykottierten, die polnische Sprache nicht erlernten 31 AP Kat UWŚl/Og., Sign. 207, K. 2, Protokoll der periodischen Konferenz im Landkreis Cosel, Cosel 28.10.1949; AP Kat UWSl/Og., Sign. 209, K. 37 Protokoll der periodischen Konferenz im Landkreis Falkenberg vom 21.10.1949; AP Kat UWSl/Og., Sign. 220, K. 2, Protokoll der periodischen Konferenz in Hindenburg vom 27.05.1949. 32 AP Op. StP Opole, Sign. 113, K. 64. Vertrauliches Schreiben der Starostei von Oppeln, gesellschaftspolitisches Referat vom 31.07.1948 33 Ujemny objaw, PZZ Biuletyn wewnętrzno-organizacyjny 1947/1, S. 18. 34 Zgrzyty na Opolszczyźnie, NO Nr. 28 vom 13. Juli 1947, S. 4: „Wszyscy podpisali deklarację wierności Narodowi i Państwu Polskiemu i mogą być za swoją niewierność do j. polskiego pociągnięci do odpowiedzialności przez każdego dobrego Polaka.“ E.P., Nie stawać na półmetku. Wzywamy do walki z pozostałościami niemczyzny, „Polska Zachodnia” Nr.10, 1947/3. Kto na Śląsku mówi po niemiecku ? „Słowo Powszechne” Nr. 25 vom 17.04.1947. Dwuletnie Polki mówią po niemiecku. Problem ponownej weryfikacji, „Gazeta Ludowa” Nr. 151 vom 4.06.1947. Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach 1945 15 oder keine Sprachfortschritte vorweisen konnten, hart zu bestrafen.35 Im Landkreis Strzelce Opolskie wurden anläßlich einer Kontrolle der Entfernung der deutschen Inschriften kurze Gespräche mit den Kindern in getrennten Zimmern geführt, um ihre „richtige Erziehung“ zu überprüfen.36 Allein die aus Westfalen stammenden Immigranten, besonders ihre Kinder, und Juden deutscher Herkunft durften die deutsche Sprache benutzen. Die polnischen Juden dagegen sollten für ihre Benutzung ähnlich wie die polnischen Bürger bestraft werden.37 Die Problematik des Gebrauchs des Polnischen war ebenso ein Thema in der „Parlamentskommission für die Wiedergewonnenen Gebiete“. Während der Junisitzung der Kommission im Jahre 1947 hatte der Innenminister über die eingeführten Maßnahmen, u.a. über die Anordnung der Bekämpfung der deutschen Sprache in den Westgebieten, berichtet.38 Einen besonderen Platz nahm die Bekämpfung der deutschen Sprache in einem Ministerialerlaß (MZO) vom 24. Juni 1947 ein, in dem die Bekämpfung dieser Erscheinung bei der verifizierten Bevölkerung zu einer landesweiten Aufgabe (alle Neuen Gebiete) gemacht wurde.39 Auf die Konsequenzen für die Benutzer der deutschen Sprache und auf die absolute Notwendigkeit zur Zusammenarbeit bei der endgültigen Verwischung der deutschen Spuren wies der Wojewode gegenüber der Wojewodschaftskommandantur der Miliz (Komenda Wojewódzka Milicji Obywatelskiej – KW MO) und der Sicherheit 35 AP Kat. UWSl/Sp-Pol. Sign.19, K. 19, Konferenz der Starosten und Stadtpräsidenten im Wojewodschaftsamt von Kattowitz vom 19.06.1947. 36 AP Op. StP Strzelce Opolskie, Sign.114, K. 61 Bericht über eine außerordentliche Kontrolle zur Entfernung der deutschen Hinterlassenschaften, Groß Strelitz 25.11.1947. 37 MSWiA CA war. MZO Sign. 145. Konferenz der Leiter der gesellschaftspolitischen Referate vom 23.-24. 09. 1947. 38 MSWiA CA War. MZO, Sign. 49, K 31. MAP an den Vorsitzenden der Sejmkommission für die Wiedergewonnenen Gebiete vom 23.07.1947 II/SP/5d/60/4. 39 Rundschreiben des MZO, Dep. der Öffentlichen Verwaltung an alle Wojewoden in den Wiedergewonnenen Gebieten vom 24.06.1947 (L. dz. 349/II/147/pf/47). 16 Małgorzata Świder (Wojewódzki Urząd Bezpieczeństwa Publicznego - WU BP) drei Wochen später, am 11. August 1947, hin. Er empfahl dem Kommandanten, die deutsche Sprachbenutzung in dem ihm unterstellten Bereich auf dem Dienstwege zu ahnden, weil „die Benutzung der deutschen Sprache als eindeutiger Beweis für die Zugehörigkeit zur deutschen Nationalität anzusehen ist.“40 Die Namen der Kinder Weil der Klang des Namens als Beweis der Zugehörigkeit der autochthonen Bevölkerung zur polnischen Nation galt, übernahmen die Starosten die Initiative die deutschen Namen der Schlesier zu entfernen. Dies war wichtig, weil der polnische Klang des Namens offiziell auch durch das Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete als nationales Merkmall anerkannt wurde. In dem Rundschreiben vom 20.03.1946 wurde darauf hingewiesen, daß man angesichts des nicht herauskristallisierten nationalen Selbstbewußtseins bei der Feststellung der polnischen Nationalität auf den Klang des Namens achten sollte. Diese Verordnung basierte auf den Erfahrungen der Wojewodschaft Schlesien. Sie stellte für alle Verwaltungsorgane in den Wiedergewonnenen Gebieten obligatorisch fest, daß die polnische Abstammung sich u.a. aus folgendem ergeben könnte: - standesamtlichen Urkunden oder Personalausweisen - der Führung eines polnisch klingenden Familiennamens - der Verwandtschaft mit polnischen Volkszugehörigen.41 Als Beispiel für die praktische Umsetzung dieser Vorschriften dient der Starost aus Koźle. Er ordnete im Mai 1945 an, daß die 40 AP Kat. UWŚl/Sp-Pol., Sign. 552, K. 19ff., Kopie des Schreibens des Wojewoden von Schlesien-Dąbrowa an KWMO und WUBP vom 11.08.1947, Nr. Dz. L.SP-II-53/24/47. 41 AAN War. MZO Sign.43, K. 12. Das Rundschreiben des MZO Nr. 2 vom 20.03.1946. In diesem Zusammenhang war viel wichtiger die Verordnung des MZO vom 6.04.1946 über die Verfahren zur Feststellung der polnischen Volkszugehörigkeit von Personen, die in den Wiedergewonnenen Gebieten wohnhaft waren (DzU MZO Nr. 4 Pos. 26). Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach 1945 17 Verifikationskommissionen nur aus Mitgliedern mit polnischen Namen bestehen dürften. Die Dorfschulzen und Bürgermeister sollten Verzeichnisse von Bürgern anlegen, die ihre ursprünglich polnischen Namen in rein deutsche Namen vor 1945 geändert hatten.42 In Zusammenhang mit dieser Aktion informierte der Starost das Wojewodschaftsamt über die von Deutschen vorgenommenen Namensänderungen, die während der Verifikation festgestellt wurden. Die Anträge dieser Personen wurden deshalb noch nicht befürwortet, weil ihre Nationalität Zweifel zuließe. In den vom PZZ herausgegebenen Richtlinien für den Dienstgebrauch der Verifizierungsorgane, die eine Zusammenfassung der bisherigen Verifizierungspraxis waren, wurde eine freiwillige Änderung des Familiennamens als Kennzeichen polenfeindlicher Haltung oder deutscher Volkszugehörigkeit betrachtet.43 Nach weiterer Betrachtung des Problems stellte man allerdings fest, daß die Namen auch von „zweifelsfreien“ Polen, sogar von den Aufstandsteilnehmern, geändert worden waren. Im Fazit stimmte der Starost einer positiven Verifikation solcher Bürger zu, die trotz der Namensänderung den „polnischen Geist“ nicht verloren hätten. Das man Menschen mit deutschen Namen verifizieren wollte, hieß nicht, dam man die Namen nicht ändern wollte und zwar auf dem schnellstem Wege, auch mit der Beteiligung der Schule an der Aktion. 42 AP Op. StP Koźle Sign. 225, K.10. Der Erlaß des Starosten von Cosel vom 25.05.1945; In den Sammlungen des Nationalarchivs in Oppeln wurden Verzeichnisse der geänderten Namen aufgehoben. Sie umfassen jedoch nur einige Gemeinden. Es ist nicht bekannt, wann sie zusammengestellt wurden. Sind sie 1945 ausgearbeitet und in der folgenden Zeit genutzt worden oder stammen sie erst aus dem Jahr 1947, d. h. aus der Zeit, aus der auch das Schreiben über die Wiedereinführung von polnischen Vor- und Nachnamen von den Bewohnern Kedzierzyns stammt? (Das Schreiben vom 20. November 1947 umfaßte 32 Anträge K. 29). Die Verzeichnisse der geänderten Namen, die sowohl einzelne Personen als auch ganze Familien umfaßten, sind K. 30 - 31 aus der Gemeinde Czyszki (72 Änderungen), K. 34 Gemeinde Blazejowice (20 Änderungen), K. 39 Gemeinde Landzimierz (54 Änderungen). AP Opole, StP. Koźle, Sign. 183. 43 Informator o podstawach prawno-politycznych rehabilitacji i weryfikacji na Śląsku, PZZ Okręg Śląski, Katowice 1945. 18 Małgorzata Świder Die Durchführung der Entgermanisierung der Namen der Kinder eignete sich sehr, als eine Aktion, die die Kinder und Erzieher einbeziehen konnte. Die Lehrer wurden verpflichtet, bei der Repolonisierung mitzuwirken, besonders bei der Elimination der deutschen Vor- und Nachnamen. Das Wojewodschaftsamt und die Starosteien erwarteten von den Schulen eine lebhafte Beteiligung an den vom Wojewoden eingeleiteten Maßnahmen. Die Schulbehörde im Bezirk Schlesien und ihr Leiter, der Kurator Jerzy Borek, verpflichtete im Oktober 1947 alle Lehrer, über die Entgermanisierung der Namen aller Kinder und ihrer Eltern während eines organisierten Treffens in der Schule zu informieren. Dabei sollten die versammelten Eltern über die bedingungslose Notwendigkeit der Änderung der deutschen Namen belehrt werden. Notfalls durften sie den Eltern mit einer „Entziehung der staatsbürgerlichen Rechte“ drohen.44 Die Aufforderungen zur Mitarbeit der Erzieher wurden von einer breit angelegten Propaganda, die in der Presse von den Pädagogen eine kämpferische Einstellung forderte, begleitet.45 Die Lehrer mußten mit den Eltern der Kinder mit deutschen Vornamen ein Gespräch „vom Herz führen“ (d.h. ein intensives persönliches Gespräch) und erklären, daß es in Schlesien niemals deutsche Namen gegeben habe. Deutsche Vornamen wurden als „hitlerischer Einfall“ bezeichnet, den man auf 44 Ibidem. Nach den Empfehlungen des Kurators sollten die von den Kindern mitgebrachten Gegenstände deutscher Provenienz wie: Bilder, Schriftstücke, Zeichnungen und Bücher in der Schule gesammelt werden, wo sie unter Umständen auch vernichtet würden. Die Kinder sollten auch für die deutschen Hinterlassenschaften in Form von deutschen Inschriften sensibilisiert werden. 45 „Gazeta Robotnicza” (GR) Nr. 244 vom 6.09.1947, Do walki z niemczyzną występują kierownicy szkół; „Trybuna Robotnicza” (TR) 290 vom 21.10.1947, Kobiety śląskie i młodzież przystępują do walki z niemczyzną. Wiec społeczno-polityczny w Katowicach poświęcony walce z resztkami niemczyzny na Ziemi Śląskiej; TR Nr. 251 vom 12.09.1947, Do walki z resztkami niemczyzny wzywa nauczycieli wojewoda gen. A. Zawadzki na zjeżdzie ZNP w Kat; Dz. Zach. Nr. 248 vom 10.09.1947, Walka z resztkami niemczyzny obowiązuje każdego uświadomionego obywatela; GR Nr. 248 vom 10.09.1947, Bojowa postawa nauczycielstwa winna dopomóc w walce z niemczyzną. Apel wojewody gen. A. Zawadzkiego do kierownikw szkół; GR Nr. 244 vom 6. 09.1947, Do walki z niemczyzną występują kierownicy szkół. Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach 1945 19 dem schnellsten Wege ausrotten müsse, damit sich die Kinder für solche Namen nicht zu schämen brauchten.46 Zur berühmtesten Repolonisierungsaktion im Schulbereich, die in der Presse ein breites Echo fand, gehörte die Initiative des Gymnasiums für Mädchen in Opole.47 In der Schulaula versammelte man alle Schülerinnen und ihre Eltern, die deutsche Vor- oder Nachnamen trugen. Während des Treffens wurde an die Versammelten und ihre nationalen Gefühle appelliert. Dabei rief man dazu auf, die „äußerliche deutsche Kruste“ in Form eines Namens zu entfernen. Neben den ideologischen Aufrufen gab auch ein Starosteibeamter aus Opole namens Cieślik praktische Informationen zur Namensänderung. Über dieses Treffen berichtete im November 1947 der „Dziennik Zachodni“. Eine Kopie dieses Berichtes schickte das Wojewodschaftsamt an alle Starosteien und Stadtverwaltungen als Vorbild für die allgemeine Administration.48 Die Schulen und die Lehrer engagierten sich nachdrücklich, wie dies aus den Rechenschaftsberichten der Starosteien hervorgeht, und zeigten sogar eine weitgehende Eigeninitiative.49 So beklagten manche Eltern die Willkür der Lehrer, die unaufgefordert und nach eigenem Ermessen die Vor- und Nachnamen der Schüler änderten.50 Diese häufig 46 NO Nr. 36 vom 5.09.1948, An alle Schuldirektoren, Gemeindevorsteher, Bürgermeister 47 Die Idee dazu könnte während eines Treffens der Inspektoren und Leiter der Schulen, das am 9.09.1947 in Kattowitz veranstaltet wurde, geboren sein. Diese Zusammenkunft fand unter dem Motto „Zum Kampf mit dem Deutschtum“ statt. GR Nr. 244 vom 6.09.1947, Do walki z niemczyzną występują kierownicy szkół; Dieses Zusammentreffen war ein Bestandteil einer breitangelegten Maßnahme, die durch die mittleren Schulen organisiert wurde. 48 Dz. Zach Nr. 302 vom 4.11.1947, Akcja polszczenia imion i nazwisk na terenie Opola; Pismo UW Wydz. społ-polityczny z 1.12.1947 w sprawie polszczenie imion i nazwisk. 49 Im März 1948 berichtete die Gemeinde Twarog, daß besonders die Lehrer sich an der Aktion der Namensänderung beteiligten. AP Gl. StP Gliwice Sign. 213, K. 90. Gemeinde Twarog an die Starostei in Gleiwitz am 24.03.1948. 50 Sogar der Kindergarten war von dem Aktionismus nicht ausgenommen. Aus dem Landkreis Cosel wurde berichtet, daß die Erzieherinnen im Kindergarten Druck auf ein Kind wegen seines Namens ausübten. AP Op. StP Kozle, Sign. 20 Małgorzata Świder ausgeübte Eigenmächtigkeit war jedoch mit den innerdienstlichen Richtlinien der Schulbehörde in der Wojewodschaft und der deutlich ausgesprochenen Erwartung der allgemeinen Administration konform.51 Die Idee, die Schule in die Repolonisierung und Polonisierung von Namen einzubeziehen, beschränkte sich nicht nur auf das Wojewodschaftsamt in Katowice. Auch der Allensteiner Wojewode stellte im Jahre 1948 einen Entwurf zur Durchführung der Änderung deutscher Namen von Kindern mit Hilfe der Schule vor.52 Vor allem sollte, nach Meinung des Wojewoden, die Aktion diskret durchgeführt werden, um den Widerstand der Kinder und der Eltern nicht zu wecken. Exemplarisch sollte man bei festlichen Gelegenheiten einem Kind in Anwesenheit seiner Freunde einen polnischen Vornamen geben und diesen dann solange benutzen, bis sich das Kind an ihn gewöhnt habe. Ein Idealfall wäre es, wenn bei dieser Initiative ein Schulfreund dem Kind den Namen zuteilen würde. Die Aktion sollte, ohne Rücksicht auf deren Dauer, bis zum Schluß durchgeführt werden. Nach Ansicht des Wojewoden dürfe man jedoch weder Repressionen noch behördlichen Druck ausüben. Unter Mitwirkung der Behörden und staatlichen Unternehmen wurden von den politischen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen massive Aufklärungskampagnen durchgeführt und die Autochthonen mit deutschklingenden Namen unmittelbar zu deren Änderung oder Abänderung aufgefordert. Waren die Betroffenen mit einer Veränderung ihrer Namen nicht einverstanden, hatten sie verschiedene Nachteile zu gewärtigen: ihre Kinder wurden nicht in höhere Schulen aufgenommen, ihre Angelegenheiten in den Behörden wurden nicht 406, K. 25 Bericht vom 1949. In manchen Schulen trugen Kinder ohne rechtliche Grundlage geänderte Namen. Z.B. hieß Zigneta Mantke in der Schule Mankowska, was nur auf dem Willen der Lehrerin basierte. AP Op StP Glupczyce, Sign. 166. Aussage Frau Edyta Mantke vom 19.05.1950. 51 AP Kat KOS Śl Sign. 39, K. 5. Schreiben des Kurators des schlesische Schulkreises in Kattowitz. Die Anordnung stimmte mit der Anordnung Nr. 2 vom 20.01.1948 überein. 52 AAN War. MZO Sign. 68, K.140. Rundschreiben des Wojewoden von Allenstein Nr. 9/4 vom 1948. Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach 1945 21 erledigt, sie bekamen weder einen Arbeitsplatz noch Lebensmittelkarten. Trotzdem weigerten sich viele Menschen, ihre Namen zu ändern. Dies betraf nicht nur die schlesische Bevölkerung, sondern auch die Zugezogenen. Sie waren in gleichen Maßen den Repressalien unterworfen. Schule als Umerziehungsort In der Nachkriegszeit erfüllten die Schulen auch die Funktion von Repolonisierungszentren, die sowohl für Jugendliche als auch für Erwachsene bestimmt waren. In ihnen wurden Repolonisierungskurse organisiert, deren Ziel es war, allen denen Polnisch beizubringen, die schlesischen Dialekt sprachen, sowie denen, die sich nicht der polnischen Sprache bedienten, aufgrund ihres bisherigen Lebens, z.B. Rückwanderer aus Westeuropa. Ziel der Kurse war Kultur- und Bildungsarbeit, aber vor allem politische Erziehungsarbeit, die in Form von "Repolonisierung der örtlichen Bevölkerung sowie der Aufzeigung der polnischen Tradition dieser Gebiete und der Werte dieser Menschen für Zuwanderer aus anderen Gebieten" umzusetzen war.53 Die Kurse richteten sich an die verhältnismäßig große Gruppe "der örtlichen Bevölkerung, deren nationales Bewußtsein im hohen Grade geschwächt wurde" und die Verbindung zur polnischen Kultur durfte sich nicht auf die "Kenntnis des schlesischen Dialekts", des "Schlesischen" und von Liedern beschränken. Davon, daß diesen Kursen von Beginn der polnischen Verwaltung an eine große Bedeutung zugeschrieben wurde, kann die Tatsache zeugen, daß bereits im Amtsblatt vom 1. April 1945 die Grundsätze für ihre Organisation besprochen wurden. Die Personen, die in den Jahren 1946-1949 in die Repolonisierungskurse aufgenommen wurden, legten einen Schwur mit folgendem Inhalt ab: „Wir schwören, daß wir den teuersten von unseren Vätern übermittelten Schatz, die polnische 53 Zit. nach P. Skarbek, Rozwój szkolnictwa szkół szczebli średnich na Ziemi Prudnickiej w latach 1945-1970 [Die Entwicklung des Schulwesens der weiterführenden Schulen im Gebiet Prudnik in den Jahren 1945-1970], Prudnik 1986, S. 91. 22 Małgorzata Świder Sprache (…) von preußischen Einflüssen reinigen”54. Die Aktion zur Organisation von Repolonisierungskursen im Oppelner Schlesien dauerte von 1945 bis 1951 und umfasste etwa 50.000 Einwohner. Die größten Einrichtungen mit Repolonisierungscharakter in diesem Gebiet waren das Staatliche Repolonisierungs-Gymnasium und Lyzeum in Oppeln. Jährlich machten hier 200-300 Schüler ihren Abschluss. In einigen Orten wurden Repolonisierungskurse nicht nur in den Schulen, sondern auch in Betrieben organisiert55. Im Jahre 1945 gab das Kuratorium für den Schulbezirk Schlesien in Kattowitz die Broschüre "Rahmenprogramm der Kurse für Erwachsene und nicht mehr schulpflichtige Jugendliche" heraus, das die Einführung eines dreistufigen Polnisch-Unterrichts vorsah. Die erste Stufe sah Übungen im Lesen, Sprechen und Schreiben, Rechtschreib- und Grammatikübungen vor. Auf der zweiten Stufe wurden die vorhandenen Kenntnisse vertieft und die Aussprache geübt. Die dritte Stufe war für fortgeschrittene Kursteilnehmer bestimmt und umfasste alle Elemente der beiden vorhergehenden Kurse auf erweitertem Niveau. Neben dem Unterricht der polnischen Sprache sah das Programm auch „Kenntnisse über das moderne Polen“ vor. Dieses Fach umfasste folgende Kapitel: Polen in den neuen Grenzen, worauf unsere Rechte auf Oder und Lausitzer Neiße beruhen, die geographischen Landschaften Polens, der wirtschaftliche und soziale Umbau Polens, Polen im alten und neuen politischen System56. Im Jahre 1947 wurden auf dem Gebiet des Oppelner Schlesiens mit Einverständnis des Schulkuratoriums Schlesien in Kattowitz Eingangsklassen geschaffen, die Sammelklassen zur Angleichung des Wissensstands von Schülern waren, die durch den Krieg Bildungslücken hat. Sie wurden in den Gebieten eingerichtet, in denen autochthone Bevölkerung überwog. In diesen Klassen wurde die Stundenzahl für den Polnisch-Unterricht auf 6 Wochenstunden erhöht, dann auf 7 Stunden, gleichzeitig mußte sich die Schule aktiv an den 54 Ebenda, S. 92. Ebenda, S. 93. 56 Ebenda, S. 95. 55 Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach 1945 23 Maßnahmen der öffentlichen Verwaltung bei der Durchführung einer breitgefaßten Aktion zur Entgermanisierung beteiligen. Beispielsweise wurden Kinder zur Durchführung von Maßnahmen ausgenutzt, vor denen Erwachsene Abstand gehalten hatten, z. B. die Beseitigung deutscher Aufschriften auf Friedhöfen. Diese Aktion gehörte zu den schwierigsten der Entgermanisierung und führte zu zahlreichen Konflikten. Besonders umstritten war die Entfernung deutscher Inschriften von den Friedhöfen - dabei ging es nicht nur um deutsche Formulierungen, sondern auch um deutsche Namen. Die Mehrzahl der Priester widersetzte sich der Aktion mit der Begründung: „Eine Namensänderung verstorbener Menschen ist schwer durchzuführen. (...) Die Kirche möchte an der Aktion nicht teilnehmen, damit die Ruhe der Toten nicht gestört wird.“57 In Stary Paczków rief der Dekan die ihm unterstellten Priester zu sich und verbot die Teilnahme an dieser Aktion. Die Schulkinder, die bei der Aktion helfen wollten, wurden des Friedhofs verwiesen, weil sie die Inschriften angeblich auf barbarische Weise entfernt hätten.58 Die Teilnahme der Kinder an solcher Aktionen war von den Lehrer gesteuert und gefordert und resultierte oft aus ihrer persönlichen Überzeugung. Beispielsweise, sprach sich der Leiter einer Schule aus dem Kreis Koźle in einem an den Wojewoden adressierten Brief von September 1947 für die Beschleunigung der Aktion der Entgermanisierung aus, „(...) weil jedes Anzeichen deutscher Arbeit mit einem doppelten Kampf gegen die deutschen Spuren beantwortet werden muß.“59. In dieser Zeit ist zu Neubelebung der deutschen Sprache gekommen, daß man mit der Veränderung der außenpolitischen Lage in Verbindung setzte. 57 AP Op. StP., Strzelce Opolskie, Sign. 115, K. 29. Protokoll vom 19.05.1948 über Entfernung der deutschen Spuren am 13.05.1948 in Leśnicy, Bericht des Priesters von Leśnicy. 58 AP Kat. UWŚl/Sp-Pol., Sign. 554, K. 5. Rechenschaftsbericht der Wojewodschaftskontrollkommission zur Entfernung der deutschen Spuren. Bericht über die Kontrolle im Landkreis Neiße vom 25.10-31.10.1947; siehe auch AP Kat. UWŚl/Sp-Pol., Sign. 554, K.28. Kopie des Protokolls der Gemeinde Stary Paczków vom 27.10.1947. 59 AP Kat. UWŚl/Sp-Pol. Sign. 550, K. 107. 24 Małgorzata Świder Die Schule wurde auch Erziehungsort für die Kinder von polnischen Repatrianten, die aus dem Osten gekommen waren. Im Laufe der Zeit konnte man bei dieser Bevölkerungsgruppe Unzufriedenheit erkennen, die vor allem aus fehlender Verpflegung und den durchgeführten politischen Veränderungen resultierten. Sie selbst gaben im Übrigen oft Anlass zu ihrer Kritik, unter anderem durch schlechtes Wirtschaften oder auch Konflikte mit der autochthonen Bevölkerung, deren ungelöste Eigentumsfragen zugrunde lagen. Ein wichtiges Element, das das Verhältnis der Behörden zu dieser Bevölkerungsgruppe bildete, die die Westgebiete bewohnten, war deren offene Kritik an den Maßnahmen der Regierung. Auf die Effekte musste man nicht lange warten. In „Dziennik Ludowy“ vom 11. Dezember 1946, wurde in einem Artikel über Raubbau in den Westgebieten behauptet, daß die Repatriierten „die Westgebiete verwüsten und aus sich selbst Vertriebene aus den Buggebieten machen, was Polen in den Augen des Auslands kompromittiert, worauf das Ausland nur wartet.“ Nach kurzer Analyse schlußfolgerte man: - Niemand wurde aus den Buggebieten vertrieben. Alle, die hierher gekommen sind, taten dies, weil sie der obligatorischen Kollektivwirtschaft in der Sowjetunion mißtrauten. - Die Ostbauern waren nie in der Volksbewegung aktiv und wurden dank ihrer Passivität sie bei den Wahlen zu Unterstützern der „Sanacja“. - Diese Menschen möchten eine Kontinuität der faschistischen Politik vor 1939 im heutigen demokratischen Polen sehen. - Es wurden natürlich auch Mittel gefunden, um diese Situation und die Nörgler unter Kontrolle zu bekommen: Armee, Schule und diverse Strafmaßnahmen. Wie weit man sich der Schule bediente, um eine neue Realität zu schaffen, davon zeugt die Tatsache, daß am 1. Juni 1948 gemäß der Verordnung des Bildungsministeriums gesellschaftlich-pädagogische Auswahlkommissionen zur Aufnahme von Jugendlichen auf Oberschulen einberufen wurden. Zur Kommission gehörten: der Schuldirektor, Vertreter des Pädagogischen Rats, ein Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach 1945 25 gesellschaftlicher Vertreter, der von den Verwaltungsorganen delegiert wurde. Die Zusammensetzung der Kommission wurde vom Kuratorium bestätigt, ihre Aufgabe war die Zulassung der Schüler zu den Oberschulen. Grundlage für die Aufnahme war, neben der Vorbildung der Kandidaten, die gesellschaftliche Herkunft. Ziel dieses Verfahrens war es, Kindern aus Arbeiter- und Bauernfamilien eine weiterführende Schulbildung zu ermöglichen und unerwünschte Gruppen zu eliminieren. Dies bezog sich in erster Linie auf Kinder aus Familien, die „feindlich gegenüber der neuen politischen Realität“ waren. Dank dieser Art von Maßnahmen wollte man die Grundlage für die Entstehung eines „Kaders der Volksintelligenz“ schaffen, „die sich mit der neuen gesellschaftlich-politischen Realität identifiziert.“60 Schluss Die Schule in der Nachkriegszeit hat Erziehungs- und Bildungspflichten übernommen. Nach den Kriegsjahren mussten normal funktionierende Institutionen geschaffen werden, die das Gefühl von Stabilität und Normalität gaben. In dieser Zeit hatte die Schule mit vielen Problemen zu kämpfen, angefangen bei Problemen mit Räumlichkeiten und Materialien über fehlende Lehrbücher bis zur nicht ausreichenden Zahl an Lehrkräften. Diese ohnehin ernsten Probleme begleiteten soziale Probleme, die sich in den schulischen Beziehungen widerspiegelten. Grundlegend war das Problem der Konflikte zwischen den Schülergruppen, die aus ihrer Herkunft resultierten. Dazu kamen Konflikte vor politischem Hintergrund, die die Haltung der Schüler beeinflussten, wie auch Erziehungsprobleme, die aufgrund der Kriegserlebnisse der Kinder und Jugendlichen entstanden waren. Auch wenn zu Propagandazwecken über die Erziehungs- und Integrationserfolge unter den Jugendlichen der Westgebiete geschrieben wurde, kam man nicht umhin, die Probleme zu bemerken, die für aufmerksame Beobachter des Lebens im Oppelner Schlesien sichtbar waren. "... noch während des Kriegs habe B. Snoch, Szkolnictwo w województwie śląsko-dąbrowskim 1945-1950 [Das Schulwesen in der Wojewodschaft Schlesien-Dombrowa]. Częstochowa 1988, S. 113. 26 Małgorzata Świder ich an Hitler geglaubt, lange kam ich nicht damit zurecht, daß Deutschland den Krieg verlieren wird, obwohl alles darauf hinwies, erst nach dem Krieg wurden mir die Augen geöffnet. Ich bin in ein Repolonisierungs-Lyzeum gekommen. Die Ideologie hatte sich in dieser Zeit noch nicht herauskristallisiert. Mein Weg zu Polen und zum Sozialismus war nicht einfach. Ich kann mich an die ersten Tage in der Schule erinnern, ein Schüler aus meiner Klasse hat mich in der Pause mit einem Messer angegriffen, weil ich kein Polnisch konnte. Dies resultierte bei ihm aus der Lust, sich an den Deutschen zu rächen, weil sie seinen Vater in einem deutschen Konzentrationslager umgebracht hatten. Ich dachte, daß ich aus der Schule abhauen sollte. Ein Lehrer, dem ich sehr dankbar bin, hat mich von diesem Schritt abgehalten. Im Laufe der Zeit haben sich die Beziehungen zwischen den Jugendlichen verbessert, und alle in der Klasse kamen gut miteinander aus, unabhängig davon, welcher Herkunft jemand war. In der Schule wurde uns beigebracht, fortschrittlich zu denken, polnisch zu denken. Die Schule verlassen habe ich bereits als Pole, aufrechter Patriot und Internationalist…”61 Alle Repolonisierungs- und Polonisierungsmaßnahmen, die sowohl an Jugendliche als auch an Erwachsene gerichtet waren, sollten helfen, eine einheitliche polnische Bevölkerung in den Westgebieten zu schaffen. Trotz vieler Maßnahmen, Aktionen, Appelle und Strafen, war die Bevölkerung, die dieser Art von Maßnahmen unterzogen wurde, ihnen gegenüber skeptisch, manchmal auch feindlich. Das betraf sowohl die örtliche Bevölkerung (die Autochthonen) als auch die Ansiedler. Nach Jahren des Überlebenskampfes während des Kriegs waren die Menschen ermüdet von den neuen Verwaltungsmaßnahmen und politischen Handlungen. Ihre Begründetheit und Effektivität war weit von den Absichten entfernt und die übertriebene Propagandasprache war damals gewiss genauso lächerlich und unproduktiv wie heute. 61 Zitiert nach T. Musioł, Einleitung, [in: ] Oświata na Opolszczyźnie w latach 1945-1959 [Bildung im Oppelner Land in den Jahren 1945-1959], Katowice 1961, S. 26 Stefan Troebst Vorläufer der friedlichen Revolution 1989 in den osteuropäischen Nachbarstaaten∗ Lassen Sie mich mit einer selbstkritischen Bemerkung beginnen: Dass es riskant ist, zuerst einen Titel festzulegen und danach den entsprechenden Vortrag zu verfassen, ist ein Allgemeinplatz. Denn bevor man den Text geschrieben hat, kann man ja eigentlich nicht wissen, ob der Titel wirklich passt. Und in der Tat ist mir erst beim Schreiben aufgegangen, dass in der Überschrift meines Vortrags – „Vorläufer der friedlichen Revolution 1989 in den osteuropäischen Nachbarstaaten“ – gleich drei aus der Sicht des Zeithistorikers problematische Vorab-Annahmen stecken. Nämlich erstens, dass 1989 eine Revolution stattgefunden hat; zweitens, dass diese friedlich war; und drittens, dass es Ähnliches bereits vor 1989 im östlichen Europa gegeben hat. Die Punkte 1 und 2 sind schnell geklärt: (Ad 1) In sämtlichen Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes sowie den Nachfolgestaaten der Sowjetunion hat es im Zeitraum 1989 bis 1991 einen mehr oder weniger abrupten Regimewechsel gegeben, der teils von unten, teils von oben ausgelöst wurde. Der britische DDR- und Osteuropaexperte Timothy Garton Ash hat dafür die Bezeichnung refolution (mit „f“) vorgeschlagen – also eine Kombination aus „Revolution“ und „Reform“. Symbol dafür ist der Runde Tisch, wie er im Februar 1989 in Polen „erfunden“ und anschließend nach Ungarn, in die DDR, nach Bulgarien und andernorts exportiert wurde. Andere Begriffe für diesen Vorgang sind „Wende“, „temporäre Macht∗ Vortrag im Rahmen der Europa von „Mehr Demokratie e. V. Sachsen“, Villa Rosental, Leipzig, 4. Mai 2010. 2 Stefan Troebst teilung“ oder „ausgehandelter Übergang“ – zugeschnitten auf die ja ganz unterschiedlichen nationalen Verlaufsfälle. (Ad 2) „Friedlich“ war dieser Übergang in den meisten dieser Fälle, in Lettland, Litauen und Rumänien allerdings nicht. Hier wurde seitens der kollabierenden Regime scharf geschossen, und entsprechend gab es Tote. Im rumänischen Fall wurde überdies der Diktator von einem militärischen Schnellgericht abgeurteilt und durch Erschiessen hingerichtet – also ein deutlicher Unterschied etwa zum benachbarten Bulgarien oder zur DDR. Bei genauer Betrachtung trifft die Bezeichnung „friedliche Revolution“ eigentlich nur auf die DDR zu – nicht auf Polen: da war es eine vorübergehende Teilung der Macht zwischen Kommunisten und Demokraten; nicht auf die Tschechoslowakei: da kam es zu einem Kollaps der Macht, so dass die dortige Bürgerbewegung sie nur noch aufzuheben brauchte; nicht auf Ungarn: denn da war vieles, was andernorts 1989 ins Rollen kam, schon in den Jahren davor auf dem Reformwege erfolgt; und auch nicht auf Bulgarien, wo eine bloße „Palastrevolte“ innerhalb der kommunistischen Partei stattfand. Wie sieht es nun aber mit den „Vorläufern der friedlichen Revolution 1989“ im östlichen Europa aus? Ich könnte mir es jetzt leicht machen, und die Etappen des Widerstandes gegen die Parteidiktatur sowjetischen Typs in chronologischer Reihenfolge aufzählen und sie dabei sämtlich ausschließen: Der 17. Juni 1953 war ein militärisch niedergeschlagener Aufstandsversuch, keine friedliche Revolution; die Revolution von 1956 in Ungarn war nicht friedlich; der Prager Frühling 1968 war zwar friedlich, aber nicht revolutionär, sondern eine Reformbewegung aus der Staatspartei heraus; die Streikbewegung in Polen 1970 und dann ab 1980/81 Solidarność zielten gleichfalls auf gewaltfreien und evolutionären Regimewechsel; Vorläufer der friedlichen Revolution 1989 3 und Gorbačëvs Programm von perestrojka, glasnost’ und – heute meist vergessen – uskorenie (Beschleunigung) war eine schüchterne und zögerliche Reform von oben, definitiv keine Revolution von unten. Heißt das nun, dass die friedliche Revolution in der DDR keine Vorläufer in den osteuropäischen Nachbarstaaten gehabt hat? Natürlich nicht! Vielmehr sind gleich zwei Entwicklungslinien auszumachen, welche die Hegemonialmacht Sowjetunion und die anderen Warschauer Pakt-Staaten lange vor 1989 prägten, ja transformierten, und die deutlich auf die DDR ausstrahlten. Das eine sind die bereits genannten Daten 1953, 1956, 1968, 1970 und 1980/81. Das andere ist der Wandel der sowjetischen Hegemonieausübung, der mit den Epochenjahren 1956 (Entstalinisierung), 1968 (Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen in die ČSSR) und 1989 (De facto-Aufgabe des sowjetischen Führungsanspruches, aber auch Absage jeglicher Hilfeleistung gegenüber den eigenen Bündnispartnern) zu kennzeichnen ist. Das ist der größere Rahmen, innerhalb dessen auf nationaler Ebene die genannten Machtproben zwischen Regime und Opposition zu sehen sind. Ich will diesen Wandel des sowjetischen Hegemoniemodells, der ja die Arbeiterprotestbewegung in Polen im Sommer 1956 und den von sowjetischen Truppen dann blutig niedergeschlagenen Aufstand im Herbst in Ungarn 1956 erst möglich gemacht hat, in seinen Wirkungen kurz beschreiben: Nikita Chruščëv, so könnte man im Nachhinein sagen, hat 1956 systemlogisch alles falsch gemacht, was er falsch machen konnte, indem ein funktionierendes hegemoniales System, nämlich den Stalinismus, durch einen Zick-Zack-Kurs aus dem Gleichgewicht brachte: Er hat mit seinem Entstalinisierungskurs zum einen das 1948 erfolgte Ausscheren des Jugoslawien Titos aus dem Ostblock im Nachhinein legitimiert, zum anderen aber damit den 1960 erfolgten Bruch mit Maos China herbeigeführt. Der polnischen Parteiführung um Władysław Gomułka gestand er eine weitreichende Liberalisierung zu, während er im Falle Ungarns den Einsatz brutaler Gewalt anordnete. Damit verunsicherte er die KP-Führer in den Satellitenstaaten hochgradig. Bestes Beispiel war die DDR, in der 1956 auf ein kurzfristiges, nach sowjetischem Vorbild angeordnetes ideologisches 4 Stefan Troebst Tauwetter eine Periode des Neo-Stalinismus folgte. Und mit seiner berühmten und zweifelsohne mutigen Entstalinisierungsrede vom Frühjahr 1956, in der er etliche Massenverbrechen Stalins wie die Parteisäuberungen und den GULag beim Namen nannte, bewirkte Chruščëv in der UdSSR selbst einen massiven Legitimitätsverlust der Partei. 1956 hatte also eine doppelte Wirkung auf die DDR: Zum einen brachte es im Innern so gut wie keine nachhaltige Veränderung – ganz ähnlich wie übrigens in der benachbarten ČSSR. Zum anderen aber strahlten die dramatischen Wirkungen dieses Epochenjahrs auf Polen und Ungarn, in abgeschwächter Form auch auf Rumänien und Bulgarien, sowie natürlich auf die Sowjetunion selbst auch und gerade auf die DDR aus. In der SED machte sich ein regelrechter Ungarn-Schock bemerkbar, wohingegen Intellektuelle und Oppositionelle den Klimawandel im Nachbarstaat Polen, aber auch in der UdSSR mit Neid und Bewunderung zur Kenntnis nahmen. In Polen, Rumänien und Bulgarien, aber auch in der UdSSR war nach 1956 nichts mehr wie zuvor. Und in Ungarn, das zeigen die bis heute anhaltenden heftigen Konflikte dort über die „richtige“ Erinnerung, gilt unbestritten „1956“, nicht „1989“, als wichtigste Wendemarke in der jüngsten Geschichte der eigenen Nation. (Strittig ist „lediglich“ ob es sich um einen demokratischen Volksaufstand oder um eine faschistische Konterrevolution handelte.) Meine These ist also, dass mit Blick auf Ostmitteleuropa, ja sogar auf die Sowjetunion bzw. die Russländische Föderation „1989“ ohne „1956“ nicht denkbar ist. Insofern war „1956“ auch für die DDR ein Wendepunkt, allerdings ein ambivalenter, der sowohl für den militärisch unterstrichenen Hegemonialanspruch der UdSSR – Stichwort: Ungarn – als auch für von Moskau gebilligte ideologische Liberalisierung – Stichwort: Polen - stand. Ganz ähnlich das Schicksalsjahr „1968“, also der „Prager Frühling“, aber auch die Studentenbewegung in Frankreich, Westdeutschland und andernorts – zwei Veränderungsprozesse, die ursächlich unverbunden waren, aber dennoch unmittelbare Berührungsflächen aufwiesen, so etwa die IX. Weltfestspiele der Jugend und Studenten im Sommer 1968 in der bulgarischen Hauptstadt Sofija, bei denen es zu einem intensiven gesamteuropäischen Ideentransfer (und zu zahlrei- Vorläufer der friedlichen Revolution 1989 5 chen Zusammenstössen mit den bulgarischen Sicherheitsorganen) kam. Und natürlich pilgerten bundesdeutsche und westeuropäische Jugendliche, Studierende und Intellektuelle vor der Intervention der Warschauer-Pakt-Truppen am 21. August in großer Zahl nach Prag, wo sie – wie in Sofija – zahlreiche Altersgenossen aus der DDR trafen. Während aber im Westen „1968“ als Symbol gesellschaftlicher Öffnung und Aufsprengung von Konventionen gilt, steht „1968“ im Osten für die sogenannte Brežnev-Doktrin von der begrenzten Souveränität der sowjetischen Satellitenstaaten (sprich: Militärinvasion), für die Restauration kommunistischer Parteiherrschaft in Form einer zynisch „normalizace“ – „Normalisierung“ - genannten Repressionswelle. Und, nicht zu vergessen, für die antisemitische Hetzkampagne der polnischen Kommunisten, die zur fluchtartigen Auswanderung der meisten der verbliebenen Juden Polens führte. Mit anderen Worten: Die europäische Erinnerung am „1968“ ist eine geteilte, ja eine gegensätzliche – und das galt zumal für die DDR. „1968“ transportierte aber noch eine andere Botschaft, nämlich die, dass die UdSSR ein Koloß auf tönernen Füssen war. Seine Autorität war nur noch gering, konnte er sie doch nur noch mit militärischen Mitteln geltend machen – was ihn aber umso gefährlicher und unberechenbarer werden ließ. Dies belegten vor allem die 1970er Jahre. Ende 1970 kam es zu einem regelrechten Aufstand der Werftarbeiter in Danzig, Gdingen und Stettin, den 45 Arbeiter mit dem Tode und Parteichef Gomułka mit dem Rücktritt bezahlen mussten. Das sowjetische Herrschaftsmodell stieß allmählich an seine Grenzen: Gesellschaftlicher Protest war nur noch mit Gewalt einzudämmen – entweder durch die eigene Sondermiliz oder durch sowjetische Truppen. Auch außerhalb des Bündnisgebietes verfiel das Ansehen Moskau: In Afghanistan hielten ab 1979 wenige tausend Mudschaheddin-Kämpfer bis zu 115.000 sowjetische Truppen in Schach, ja dezimierten sie. Dass der Teilerfolg von Solidarność, wie er im Danziger Abkommen mit der Regierung vom August 1980 festgelegt wurde, in Wirklichkeit der Durchbruch demokratischer Oppositionsbewegungen im gesamten Warschauer Pakt-Bereich war, zeigte nicht nur das jetzt geschmiedete Bündnis von Arbeiterschaft und Intelligenz sowie die hilflose Reaktion des nun kopflosen Regimes. Ich meine natürlich die Ausrufung des 6 Stefan Troebst Kriegsrechts in Polen vom Dezember 1981, welche der zum Parteichef gemachte General Wojciech Jaruzelski persönlich vollzog. Exakt ein Jahr zuvor war es zu einem wesentlich symbolträchtigeren und folgenreicheren Akt gekommen, nämlich zur Errichtung des monumentalen, 42 Meter hohen Denkmals für die 1970 von der Miliz ermordeten Werftarbeiter vor der Danziger Lenin-Werft. Dem hatten die kommunistischen Machthaber in den 21 Punkten vom August 1980 zähneknirschend zustimmen müssen. (Sie kennen vielleicht das Foto, auf dem Lech Wałęsa vor einer Lenin-Statue mit einem übergroßen Kugelschreiber, auf dem die Madonna von Tschenstochau zu erkennen ist, das Abkommen unterschreibt.) Zum einen wurde mit dem Danziger Denkmal, wie es hieß, „das Blutopfer an der Ostseeküste“ von 1970 öffentlich als heroische Tat gewürdigt, und zum anderen war damit das Deutungsmonopol der Partei in für alle sichtbarer Weise gebrochen. Die von Danzig ausgehende Botschaft an alle Oppositionsbewegungen im sowjetischen Machtbereich lautete also: Es ist möglich, einen politischen Gegenentwurf schrittweise durchzusetzen und symbolische Etappensiege zu erringen. Die Reaktion in der DDR war Entsetzen in SED, FDGB und MfS und ungläubiges Staunen in der rudimentären Bürgerbewegung. Nicht zufällig kam ja damals die Parole auf: „Danzig brennt, Leipzig pennt!“ Aus der Perspektive der DDR-Machthaber waren aber genau so bedenklich wie die offenen Oppositions- und Dissidentenbewegungen, also Solidarność in Polen und, weniger zahlreich, Charta 77 in der ČSSR, die weniger spektakulären Veränderungen der anderen staatssozialistischen Regime. Dies galt für das in bizarren Nationalismus abdriftende Rumänien Nicolae Ceauşescus ebenso wie für das aus Ostberliner Sicht erschreckend liberale Ungarn János Kádárs, ja selbst für das Bulgarien des moskautreuen Todor Živkov. Und die sowjetische Perestrojka löste dann endgültig eine Belagerungspsychose der SED-Gerontokratie aus. Überspitzt formuliert könnte man sagen, dass die Wirkung der Oppositionsbewegungen in Ostmitteleuropa auf die Akteure der friedlichen Revolution in der DDR lediglich eine mittelbare war. Die letztgenannten wurden von den erstgenannten nur indirekt, kaum direkt, beeinflusst. Dass seit Februar 1989 in Warschau ein Runder Tisch stand, es Vorläufer der friedlichen Revolution 1989 7 im Juni in Polen halbfreie Wahlen gab und im August der Sejm den oppositionellen Demokraten und Solidarność-Aktivisten Tadeusz Mazowiecki zum polnischen Ministerpräsidenten wählte, realisierten nur wenige DDR-Bürger - und für die meisten Bürgerrechtler blickten besorgt nach China, wo es am 4. Juni auf dem Pekinger Tian’anmenPlatz zu einem Massaker von Sicherheitskräften an demonstrierenden Studenten kam – ein Verbrechen, das ein SED-Politbüromitglied seinerzeit als - Zitat: - „das Wiederherstellen der Ordnung“ begrüßte. Entscheidend war vielmehr die von Solidarność, aber auch von Gorbačëv ausgelöste Panikreaktion der SED, wodurch die Schwäche der Partei nicht nur den Bürgerrechtlern, sondern großen Teilen der DDR-Bevölkerung offenkundig wurde. Das könnte man auf die Formel bringen: „Der Kaiser ist nackt - und er hat außerdem keinen ‚großen Bruder’ mehr!“ Entsprechend verringerte sich das politische Einschüchterungspotenzial der Kommunisten, aber auch das ganz konkrete von Volkspolizei, Staatssicherheit, Betriebskampfgruppen und Nationaler Volksarmee. Ich will damit in keiner Weise die vielfältigen Kontakte und Verbindungen herunterspielen, die Bürgerrechtler, Kirchenvertreter, Umweltaktivisten und andere in der DDR zu Gleichgesinnten in Polen, der ČSSR, Ungarn und andernorts hatten. Teilweise sind ja sogar Solidarność-Aufrufe in der DDR gedruckt worden. Aber eine unmittelbare Querverbindung, einen direkten Draht, wie er etwa zwischen Solidarność und Charta 77 bestand, hat es in die DDR nicht gegeben. Insofern fällt mein Resümee vorsichtig aus: „Vorläufer der friedlichen Revolution 1989 in den osteuropäischen Nachbarstaaten“ hat es gegeben, natürlich, aber sie haben die Akteure der friedlichen Revolution in der DDR im Jahr 1989 im Konkreten kaum beeinflusst. Auf den Verlauf der Ereignisse haben sie aber dennoch bedeutenden Einfluß genommen, indem sie die Machtposition der SED, wie gezeigt, massiv geschwächt haben. Durch das Prisma von „1989“ gesehen wird überdies deutlich, dass die DDR – wie bereits Stalin betont hat – keine vollwertige Volksdemokratie wie etwa Ungarn oder Rumänien, sondern eine sowjetische Kreation und somit viel stärker von der UdSSR abhängig war. Während in Polen die Kommunisten der durch lange Jahre des Kampfes gestählten und mitgliederstarken Solidarność 1989 8 Stefan Troebst noch eine Machtteilung aufzwingen konnten und in Bulgarien die „Wende“ gar eine rein innerparteiliche Angelegenheit war, wurden die von Moskau abgeschriebene SED von einer friedlichen Protestbewegung binnen kurzem in die Knie gezwungen und anschließend abgewählt. Bleibt die schwer zu beantwortenden und damit weiter hin spannende Frage, was mit Blick auf die DDR im Jahr 1989 wichtiger war – die Paralyse der sowjetischen Führungspartei oder der Aufstieg von Solidarność zur Regierungspartei im Nachbarstaat Polen. Jördis Winkler Ausgewählte Aspekte staatlicher Sprachenpolitik am Beispiel der Republik Burjatien in Russland 1. Einleitung Ein Hauptanliegen moderner Nationen sollte die Wahrung der verschiedenen, auf ihrem Territorium lebenden Volks- und Sprachgruppen sein. Wie die einzelnen Staaten ihre Minderheitenund Sprachenpolitik – und damit das Verhältnis zwischen den verschiedenen Sprachen – gestalten, hat dabei maßgeblichen Einfluss auch auf deren Integrationsverlauf. Staatliche Sprachenpolitik gestaltet sich im Spannungsverhältnis von Globalisierung auf der einen und der Besinnung auf ethnische und regionale Faktoren auf der anderen Seite. Harald Haarmann (1988) umfasst mit dem Begriff Sprachenpolitik die Sprachsituation in den heutigen Staaten der Welt, die in aller Regel als multilingual bezeichnet werden kann. Sprachenpolitik bezieht sich somit auf das Verhältnis zwischen verschiedenen Sprachen sowie auf die Problematik, mehrere in einem Staat gesprochene Sprachen, besonders in multilingualen Staaten, in ein Gleichgewicht zu bringen. Ulrich Ammon geht davon aus, dass streng genommen „alle Staaten (oder sogar alle dazu fähigen Gemeinwesen) Sprachenpolitik [machen], z.B. indem sie entscheiden, in welcher Sprache sie kommunizieren, welche sie in ihren Bildungsinstitutionen lernen lassen usw.“ (Ammon 2000: 654). Eine große Rolle spielt der Status einer Sprache1 und somit die rechtliche Stellung der jeweiligen Sprache im sozialen System, die durch die Verfassung oder andere gesetzgeberische Akte deklariert und gefestigt wurde. Zudem treffen in der Sprachenfrage 1 Dabei werden insbesondere Staats- und Amtssprachen als auch Titularsprachen voneinander unterschieden. Unter dem Begriff der Titularsprache ist die Sprache der namensgebenden Ethnie des jeweiligen Föderationssubjektes der Föderation Russland zu verstehen. So ist zum Beispiel das Burjatische die Titularsprache der Republik Burjatien. Einige Titularspra chen sind Staatssprachen (z.B. das Tatarische, Burjatische), andere Titularsprachen sind es nicht (z.B. die Sprache der Komi-Permjaken, Korjaken) (s. dazu auch Chubrikov 2003: 11f.). Jördis Winkler 2 unterschiedlichste Interessen aufeinander: Auf der einen Seite haben Regierungen „Interesse an der Einheit des staatlichen Territoriums, an politischer Stabilität und an der Administrierbarkeit des Staates. Der Gebrauch von nur einer Sprache beziehungsweise möglichst wenigen Sprachen im öffentlichen Bereich erleichtert die Kosten von Exekutive, Jurisdiktion und Legislative.“ (Köhler 2005: 1) Auf der anderen Seite stellt die gemeinsame Sprache in vielen Fällen einen wesentlichen Faktor der Eigendefinition eines Volkes dar: „In der Position als Minderheit möchten Völker ihre kulturelle und sprachliche Identität bewahren.“ (ebd.) Aus dem letztgenannten Gedankengang lässt sich ableiten, dass die Verwendung einer Sprache zu den Grundrechten eines jeden Menschen gehört, da sie ein wesentlicher Bestandteil der eigenen Identität ist. Umgekehrt ausgedrückt bedeutet dies, dass ein Verbot oder der Untergang einer Sprache ihren Sprechern die Möglichkeit nimmt, einen Teil ihrer Individualität im Alltag zu verwirklichen. Ebenso wie die Mehrheit der Republiken Russlands2 hat auch Burjatien ein Sprachengesetz zum Schutz und Erhalt der auf dem Territorium der Republik gesprochenen Sprachen erlassen und die Titularsprache – das Burjatische – zur Staatssprache erklärt. Daneben bietet die im Jahre 1994 angenommene Verfassung den Sprachen juristischen Schutz. Dessen ungeachtet nimmt die Autorin an, dass die gesetzlichen Voraussetzungen kaum ausreichend sind, um die burjatische Sprache zu bewahren und zu fördern. Im weiteren Verlauf dieses Beitrages werden am Beispiel der Republik Burjatien Aspekte der russischen bzw. burjatischen Sprachenpolitik herausgearbeitet und aufgezeigt, ob diese der burjatischen Minderheit die Möglichkeit gibt, ihre Sprache, Kultur und Tradition zu bewahren. 2 Der Begriff „Föderation Russland“ (exakter für „Russische Föderation“, RF) sowie die gleichwertige Parallel- und Kurzform „Russland“ werden im Rahmen dieser Arbeit synonym verwendet (vgl. Zikmund 2000). Zudem findet der Begriff „Russländische Föderation“ Anwendung. 3 Ausgewählte Aspekte staatlicher Sprachenpolitik 2. Russland als multiethnischer und polylingualer Staat Russland ist nicht nur der flächengrößte Staat der Erde, sondern zugleich einer der größten Vielvölkerstaaten. Nach dem gegenwärtigen Stand3 besteht Russland aus 83 Territorialeinheiten, auch Föderationssubjekte genannt: • 21 Republiken (республика): diese besitzen eine eigene Verfassung und Gesetzgebung und haben innerhalb Russlands den höchsten Grad an innerer Autonomie; • 1 autonomes Gebiet (автономная область): das Jüdische Autonome Gebiet; • 4 autonome Kreise (автономный округ); • 9 Regionen (край); • 46 Gebiete (область); • 2 Städte von föderaler Bedeutung (город федерального значения): Moskau und St. Petersburg. Diese Föderationssubjekte wurden nach unterschiedlichen Kriterien gebildet: „[…] die einen nach dem Kriterium der ethnischen Zusammensetzung, die anderen aufgrund rein administrativ-territorialer Aspekte. So sind die Republiken, die autonomen Bezirke und das autonome Gebiet nach einer Ethnie benannt, die in diesem Territorium lebt, also nach der sogenannten Titularnation, während die Regionen und die Gebiete keine solche Titularnation besitzen.“ (Köhler 2005: 15f.) Allerdings bildet nur in wenigen Republiken und autonomen Bezirken die jeweilige Titularnation die Bevölkerungsmehrheit, häufig stellt die russische Bevölkerung die Mehrheit. „Die eher polytechnische Zusammensetzung der Subjekte ist z.T. auch ein Ergebnis der Grenzziehungen der Sowjetzeit, durch welche manche Volksgruppen 3 Die Angabe bezieht sich auf die aktuellen Online-Daten des Fischer Weltalmanach. Durch Zusammenlegung oder Umwandlung einzelner Föderationssubjekte hat sich die Anzahl der Föderationssubjekte bereits geändert (vgl. die Arbeit von Ulrike Köhler (2005), die noch von 89 bzw. 88 Föderationssubjekten spricht) und wird dies sicherlich auch in Zukunft tun. In der Verfassung wird dies in Artikel 65 Absatz 2 berücksichtigt. Jördis Winkler 4 absichtlich oder willkürlich ‚auseinandergerissen’ wurden.“ (Pfeil 2006: 421) Eine der ersten allgemeinen, die gesamte Bevölkerung Russlands erfassenden Erhebungen stellt die Volkszählung von 1897 dar. Seitdem wurden weitere Volkszählungen durchgeführt, die erste auf dem Gebiet der Föderation Russland seit dem Zerfall der Sowjetunion stammt aus dem Jahr 2002.4 Im Rahmen dieser Volkszählung konnte jeder Erfasste seine Nationalität frei angeben, ohne aus einer vorgegebenen Liste auswählen zu müssen. Es gab auch keine Kriterien, wie zum Beispiel Muttersprache, verwandtschaftliche Verhältnisse oder Wohnort, nach denen die Nationalität zu bestimmen war: „Gefragt wurde schlicht nach der nationalen Zugehörigkeit gemäß der eigenen Definition des Befragten.“ (Köhler 2005: 17). Während Russen knapp 80 Prozent der Bevölkerung5 in der Föderation Russland ausmachen, umfassen die übrigen knapp 20 Prozent weit über 170 Ethnien6 (s. Graphik 1). 4 5 6 Die letzte Volkszählung fand im Oktober 2010 statt. Zu dieser Erhebung lagen bei Erarbei tung dieses Beitrages (Stand: April 2011) jedoch nur erste Ergebnisse vor, so z.B. unter RI ANOVOSTI 2011. Gemäß den Ergebnissen der Volkszählung von 2002 leben circa 116 Millionen Russen in der Föderation Russland (entspricht 79,8 Prozent der Bevölkerung). Darunter finden sich sowohl ethnische Minderheiten im engeren Sinne (das heißt solche, die außerhalb Russlands kein eigenes „Mutterland“ haben) als auch nationale Minderheiten, die ein einem anderen Staat die staatstragende Mehrheit bilden, zum Beispiel Deutsche. 5 Ausgewählte Aspekte staatlicher Sprachenpolitik Graphik 1: Bevölkerung Russlands (Volkszählung von 2002). Tataren (5,5 Mio.) Ukrainer (2,9 Mio.) Baschkiren (1,7 Mio.) Tschuwaschen (5,9 Mio.) Tschetschenen (1,4 Mio.) Armenier (1,1 Mio.) Mordwinen (840.000) Weißrussen (815.000) Awaren (760.000) Kasachen (655.000) Udmurten (637.000) Aserbaidschaner (622.000) Mari (605.000) Deutsche (597.000) Kabardiner (520.000) Osseten (515.000) Darginer (510.000) Burjaten (445.000) … und andere Quelle: eigene Darstellung Große Minderheiten stellen, bedingt durch die Jahrhunderte währende Verbindung in einem einzigen Staatswesen, die Angehörigen der ostslawischen Staaten Ukraine und Weißrussland sowie Angehörige anderer GUS-Staaten dar. Aufgrund natürlichen Schwunds und vor allem der Migration ins Ausland geht ihre Zahl jedoch stark zurück. Ebenfalls zu den Minderheiten zählen die nichtslawischen Völker und Jördis Winkler 6 kleinen Ethnien, die im Zuge der Expansion des Russischen Reiches in seinen Staatsverband gelangt sind und ihre nationale Identität in unterschiedlichem Maße bis heute bewahrt haben. Allein in Sibirien leben über 40 verschiedene indigene Völker. Gegenwärtige gesetzliche Grundlagen der Sprachenpolitik in Russland Mit der Verfassung7 wurde in Russland erstmals der Terminus der flächendeckenden „Staatssprache“ eingeführt, zu der in Artikel 68 Absatz 1 der Verfassung die russische Sprache bestimmt ist. Das bedeutet grundsätzlich, dass die russische Sprache im Verkehr mit Staatsorganen und Institutionen der öffentlichen Selbstverwaltung sowie im Zuge von Wahlen und vor Gericht verwendet wird. Allerdings wird den Republiken im folgenden Absatz des gleichen Artikels das Recht eingeräumt, weitere Staatssprachen einzuführen. Von dieser Möglichkeit haben fast alle Republiken Gebrauch gemacht und die Sprache(n) der jeweiligen Titularnation(en) als zweite Staatssprache eingeführt. In der Verfassung werden bestimmte Teilaspekte des Rechts auf Identität behandelt, so zum Beispiel in Artikel 26 das Recht auf ein freies nationales Bekenntnis sowie auf den Gebrauch der Muttersprache und die freie Sprachwahl in Erziehung, Unterricht und künstlerischer Tätigkeit. Gemäß Artikel 68 Absatz 3 der Verfassung garantiert Russland allen Völkern der Russländischen Föderation das Recht auf die Schaffung von Voraussetzungen für das Erlernen sowie die Förderung der Muttersprache. Unklar ist jedoch der konkrete Umfang dieses Rechtes: aus der Bestimmung kann man nur eine allgemeine Förderungspflicht des russischen Staates und bestenfalls die Einrichtungen eines minoritären Schulwesens ableiten. Konkrete finanzielle Pflichten zur Förderung und weiteren Entwicklung sind jedoch nirgends festgelegt. 7 Soweit nicht anders gekennzeichnet, bezeichnet „Verfassung“ in den weiteren Ausführungen die „Verfassung der Russländischen Föderation“ aus dem Jahr 1993 in der gelten den Fassung. 7 Ausgewählte Aspekte staatlicher Sprachenpolitik Die RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) hat nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als letzte der 15 Unionsrepubliken am 25.10.1991 ein Sprachengesetz mit dem Titel „Über die Sprachen der Völker der Russländischen Föderation“ verabschiedet. Seither wurde es am 24.07.1998 und am 11.12.2002 geändert. In der Einleitung des Gesetzes werden die Sprachen der Völker der Föderation Russland als nationales Gut Russlands bezeichnet und unter den Schutz des Staates gestellt. In Kapitel 1 des Sprachengesetzes wird den Föderationssubjekten das Recht zugestanden, eigene Sprachenregelungen zu treffen. Darüber hinaus ist in Artikel 1 Absatz 2 festgelegt, dass das Gesetz keine Vorschriften für den Gebrauch der Sprachen im Bereich der zwischenmenschlichen und nichtoffiziellen Beziehungen und bei der Tätigkeit gesellschaftlicher und religiöser Organisationen aufstellt. – Das Gesetz „Über die Staatssprache der Föderation Russland“ wurde 2005 verabschiedet und legt – entsprechend der Verfassung – in Artikel 1 Absatz 1 die russische Sprache als Staatssprache der Föderation Russland fest. Ziel des Gesetzes ist es, die Rolle des Russischen als Staatssprache der Föderation Russland zu festigen und die Rechte der Bürger bezüglich der Verwendung des Russischen als Staatssprache zu sichern. Sprachengesetzgebung mit Bezug zum russischen Bildungssystem Die wesentlichen Grundlagen des russischen Bildungssystems sind in dem föderalen Gesetz „Über die Bildung“ (Bildungsgesetz) geregelt. Darüber hinaus lassen sich weitere Bestimmungen in dem bereits erwähnten Sprachengesetz „Über die Sprachen der Völker der Russischen Föderation“ sowie in den Sprachengesetzen und Programmen zur Entwicklung der Sprache, Kultur und Bildung in einzelnen Republiken finden. In Artikel 9 Absatz 1 des Sprachengesetzes wird das in der Verfassung (Artikel 26) gewährleistete Recht auf freie Wahl der Erziehungs- und Unterrichtssprache wiederholt. Grundsätzlich wird das allgemeine Recht der Bürger Russlands auf Bildung in der Muttersprache konkret auf die „grundlegende allgemeine Bildung“ und auf die tatsächlich im Bildungssystem vorhandenen Möglichkeiten beschränkt (Art. 9 Abs. 2 Sprachengesetz, Jördis Winkler 8 Art. 6 Abs. 2 Bildungsgesetz). Den Angehörigen kleiner Völker und ethnischen Gruppen sowie den außerhalb ihres oder ohne eigenes Subjekt lebenden Bürgern wird gemäß Artikel 9 Absatz 5 des Sprachengesetzes die Förderung des muttersprachlichen Unterrichts zugestanden. Die Formulierung ist jedoch sehr allgemein gehalten und stellt kaum einen realen Anspruch auf Förderung dar (vgl. Pfeil 2006: 428f.; Köhler 2005: 39ff.). Laut dem zweiten Bericht der Regierung der Russischen Föderation an den Europarat von 2005 sind insgesamt 75 Sprachen, darunter auch Minderheitensprachen, Unterrichtsgegenstand von Lehrplänen (Russia Report 2005: 30). Wie bereits erwähnt wurde, ist die freie Wahl der Unterrichtssprache in der Verfassung Russlands garantiert. Gleichzeitig wird Russisch jedoch als Staatssprache und als Kommunikationsbasis für die verschiedenen Ethnien festgeschrieben. Damit ist dieses Recht durch verschiedene objektive und subjektive Faktoren beeinträchtigt. Zu den objektiven Faktoren gehören vor allem finanzielle Schwierigkeiten, welche die Möglichkeiten der Erweiterung der Verwendung der Sprachen im Bildungswesen stark einschränken. Als subjektiver Faktor wird die Tatsache gesehen, dass viele Eltern nicht daran interessiert sind, ihre Kinder in eine nationale Schule zu schicken. Die in russischer Sprache erworbene Ausbildung bietet größere soziale Perspektiven in Hinblick auf eine weitere Ausbildung oder Arbeitsplatzsuche (vgl. auch Köhler 2005: 41). Das Recht auf freie Wahl der Bildungssprache durch die Eltern für ihre Kinder ist damit de facto eingeschränkt. Auch der Beratende Ausschuss des Europarates empfiehlt in seiner Stellungnahme zur Russischen Föderation hinsichtlich der Bildungssprache in der Praxis: „The authorities are urged to establish detailed rules for implementing the right to receive instruction in and of minority languages provided in federal legislation. […] Further efforts are needed in order to continue expanding the scope and volume of such teaching, inter alia, by clarifying responsibility for responding to demand and raising awareness of existing possibilities among children and parents.” (Opinion on the RF 2006: 42) Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass angesichts der großen Zahl an Nationalitäten und Sprachen auf dem Territorium der Russländischen 9 Ausgewählte Aspekte staatlicher Sprachenpolitik Föderation staatliche Sprachenpolitik nur dann effektiv sein kann, wenn den Sprachen der Nationalitäten Russlands Schutz und Förderung in z.B. den oben umrissenen gesetzlichen Regelungen zugesichert wird. 4. Die burjatische Minderheit – Sprachenpolitik in Burjatien Sibirien zählt zu den Gebieten großer ethnolinguistischer Heterogenität. Die Burjaten, deren Sprache der mongolischen Sprachfamilie zugeordnet wird, sind das größte nichtrussische Volk Sibiriens. Ihre Vorfahren hatten sich aus Stämmen herausgebildet, die nördlich der Mongolei lebten. Sie siedelten zunächst verstreut und sprachen verschiedene Dialekte. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte festigten sich jedoch ihre Beziehungen untereinander, so dass die Burjaten beim Erscheinen der Russen in diesem Gebiet eine gewisse ethnische Geschlossenheit aufweisen konnten. Die Geschichte des burjatischen Volkes zeigt deren lange traditionelle Bindung an ihr heutiges Siedlungsgebiet. Ebenso wie andere Völker Russlands vermischten sich die Burjaten mit den russischen Siedlern. Dies führte zwar nicht zur Auslöschung eines ethnischen Bewusstseins in der burjatischen Bevölkerung, schränkte jedoch spätere Separatismusgedanken, wie sie unter anderem nach der Auflösung der Sowjetunion diskutiert wurden8, stark ein. Auch heute noch erklären die Regionalpolitiker der sibirischen Gebiete und Städte von Zeit zu Zeit, dass sie ihre Beziehungen zur Regierung in Moskau ändern wollen. In der überregionalen Presse werden diese Aussagen als geradezu skandalöse Forderungen nach Souveränität bis hin zur völligen Unabhängigkeit aufgefasst. In der lokalen Presse finden sie hingegen kaum Beachtung. Genau diese Gelassenheit kann ein Indiz dafür sein, dass der Abspaltungsgedanke an sich nicht mehr zur Debatte steht, sondern es vielmehr um vernünftige Grenzen geht. 8 Die politischen Veränderungen in der ehemaligen Sowjetunion hatten bei den Burjaten die Hoffnung auf Selbstständigkeit geweckt. Im Jahre 1990 äußerten sie daher ihren Anspruch auf Loslösung von der Sowjetunion. Knapp 3 Jahre später sprach sich die Mehrheit der Burjaten in einem Referendum jedoch für den Verbleib in der Föderation Russland aus. Jördis Winkler 10 Der Lebensraum der Burjaten umfasst heute die Burjatische Republik, die über ein relativ hohes Maß an Souveränität verfügt, sowie den Autonomen Bezirk Ust-Ordinski östlich von Irkutsk und den Autonomen Bezirk der Aginer Burjaten im westlichen Teil des Gebietes Tschita.9 Burjatien ist eine multiethnische Republik: Rechnet man alle kleinen Völkerschaften mit ein, leben auf ihrem Gebiet mehr als 100 verschiedene Nationalitäten (vgl. Daten zur Volkszählung von 2002). Wie in vielen Republiken Russlands bildet das Titularvolk auch im Falle Burjatiens nur eine – wenn auch starke – Minderheit. Die Anzahl derjenigen, die sich zur burjatischen Nationalität bekennen, hat sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte jedoch stets erhöht. Nach Angaben der Volkszählung von 2002 lebten in der burjatischen Republik 272.910 Burjaten. Die russische Bevölkerung dominiert in Burjatien (665.512), danach folgen Ukrainer (9.585), Tataren (8.189), Ewenken (2.334), Weißrussen (2.276), Armenier (2.165), Aserbaidschaner (1.674) und Deutsche (1.548). Entsprechend der Volkszählung wurden auf dem gesamten Territorium der Russländischen Föderation 445.175 Burjaten gezählt, weitere 40.600 leben in der Mongolei. Sprachengesetzgebung mit Bezug zum burjatischen Bildungssystem Die historische Sprachenpolitik in Burjatien war geprägt von zwei unterschiedlichen Strömungen, die noch heute starken Einfluss auf die sprachliche Situation des Burjatischen haben: Einerseits wird die Geschichte des burjatischen Volkes als Teil der Geschichte Russlands betrachtet, andererseits ist das Volk der Burjaten noch immer stark mit der Geschichte der mongolischen Welt aufgrund ähnlicher soziokultureller Charakteristika verbunden. Im Juni 1992 verabschiedete die Republik Burjatien das Gesetz „Über die Sprachen der Völker der Republik Burjatien“, welches den wirtschaftlichen, sozialen und juristischen Schutz der jeweiligen Sprachen gewährleisten soll (vgl. Chubrikov 2003: 86f.). Die Einleitung des Ge9 Diese Aufteilung auf verschiedene Verwaltungseinheiten geht auf das Jahr 1937 zurück, als Stalin aus Furcht vor einem burjatischen Nationalismus das Gebiet der Burjaten zerteilen und zwei burjatische Bezirke von der BurjatischMongolischen ASSR abtrennen ließ. 11 Ausgewählte Aspekte staatlicher Sprachenpolitik setzes betont, dass die Bewahrung und Entwicklung einer jeden Nation eng mit der Erhaltung und dem Funktionieren einer Sprache verbunden ist. Ebenso wie in anderen Republiken der Russländischen Föderation wurde auch in Burjatien die Titularsprache zur Staatssprache erhoben. In Artikel 6 wird den Bürgern der burjatischen Republik das Recht zugesprochen, sich mit Erklärungen, Vorschlägen oder Klagen in den Staatssprachen sowie auch „in anderen Sprachen“ an staatliche und öffentliche Organisationen und Einrichtungen wenden zu können. Auch der Erhalt einer Antwort in der entsprechenden Sprache soll gewährleistet sein. Dieses Recht wird bereits im dritten Satz des Artikel 6 eingeschränkt – sollte es unmöglich sein, eine Antwort in der jeweiligen Sprache zu geben, werden die Staatssprachen der Republik angewandt. Es wird bezweifelt, dass diese Regelungen in vollem Umfang eine Anwendung in der Praxis finden: „Der Grund für diese Formulierungen dürfte darin liegen, dass bei der Abfassung der Gesetzestexte in alter sowjetischer Tradition weniger an die tatsächliche Realisierbarkeit und Umsetzung der Regelungen in die Praxis gedacht wurde, als vielmehr an die Präsentation einer idealen Zielvorstellung.“ (Köhler 2005: 60) Am 22. Februar 1994 wurde die Verfassung der Republik Burjatien vom Parlament angenommen. Eine Besonderheit der aktuellen sprachlichen Situation in Burjatien ist, dass zum ersten Mal in der Geschichte des burjatischen Volkes die burjatische Sprache einen juristischen Status erworben hat. Ebenso wie in dem Gesetz „Über die Sprachen der Völker der Republik Burjatien“ ist in Artikel 67 der Verfassung festgeschrieben, dass die Staatssprachen der Republik Burjatien sowohl die burjatische als auch die russische Sprache sind. Ungeachtet des dreifachen Schriftwechsels (von der mongolischen über die lateinische bis zur kyrillischen Schrift) stellt die Herausbildung einer einheitlichen burjatischen Schriftsprache auch heute noch einen Kernpunkt der burjatischen Identität dar. Wissenschaftler in Burjatien vertreten verschiedene Standpunkte, wie sich die burjatische Sprache in Zukunft entwickeln wird. Aktuelle wissenschaftliche Untersuchungen beschäftigen sich weniger mit der Gefahr des Verschwindens der burjatischen Sprache durch eine zunehmende Assimilation der burjatischen Bevölkerung, sondern vielmehr mit der Jördis Winkler 12 weiteren Entwicklung und Festigung des Burjatischen insbesondere als Staatssprache. Ein Blick auf die Entwicklung des Bildungssystems in Burjatien zeigt, dass die einheimische Aristokratie bereits Anfang des 18. Jahrhunderts erste Schulen auf dem Gebiet der heutigen Republik Burjatien gegründet hat. Allerdings unterlag die Anwendung der burjatischen Sprache in der Schule im weiteren Verlauf der Geschichte heftigen Schwankungen: Im 18. Jahrhundert fand der Unterricht zum größten Teil in russischer Sprache statt, da die Schüler zu „gehorsamen Dienern der russischen Selbstherrschaft“ (Große Sowjet-Enzyklopädie 1955: 156) erzogen werden sollten und es lange Zeit an einheimischen Lehrkräften mangelte. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die burjatische Sprache fest im Unterricht verankert. Noch bis Anfang der 70er Jahre wurde das Burjatische als Unterrichtssprache angewandt, einige Jahre später wurde der fakultative Unterricht in der burjatischen Sprache eingeführt. Gegenwärtig gibt es in Burjatien mehr als 160 nationale Schulen. Generell ist die burjatische Sprache im System der allgemeinen Bildung der Republik nur in den Anfangsklassen der nationalen Schulen vertreten. In allen übrigen allgemeinbildenden Institutionen der Republik wird die burjatische Sprache als normaler Fremdsprachenunterricht unterrichtet (vgl. Chubrikov 2003: 43). Dennoch nimmt die Zahl der städtischen Schulen und regionalen Zentren, in denen Burjatisch unterrichtet wird, seit den letzten Jahren leicht zu. Zudem wird in 10 Schulen die ewenkische Sprache unterrichtet. Unterricht in Sprachen der anderen in der Republik Burjatien lebenden Nationalitäten (Ukrainer, Tataren, Deutsche, Armenier und andere) wird nicht angeboten, obwohl dies oft gewünscht wird (vgl. Dyrcheeva 2003: 18). Im Fernsehen wurden Programme zum Erlernen der burjatischen Sprache eingeführt und im Schuljahr 1991-92 eröffnete die erste Fakultät der burjatischen Philologie am Staatlichen Pädagogischen Institut der Republik Burjatien. Die gegenwärtigen gesetzlichen Grundlagen der russischen Sprachenpolitik sowie sprachen- und bildungsrelevante Regelungen der Republik Burjatien bilden eine solide Basis für den Erhalt und den 13 Ausgewählte Aspekte staatlicher Sprachenpolitik Schutz der burjatischen Sprache – allerdings sind kaum Quellen über die praktische Umsetzung dieser Ziele vorhanden. Obwohl insbesondere durch das Sprachengesetz der Burjatischen Republik die Sprache der Titularnation rechtlichen Schutz erhalten hat, nimmt die Bedeutung der burjatischen Sprache in der Bevölkerung der Republik mit Zunahme des administrativen Grades tendenziell ab. So hat O. M. Chubrikov (2003: 42) nachgewiesen, dass bei jungen Leuten die russische Sprache eine wesentlich größere Rolle spielt als das Burjatische (s. dazu die weiteren Ausführungen zu Sprachkenntnissen bei Kindern und Jugendlichen). Zudem würde das Russische immer mehr alle Sphären des öffentlichen Lebens durchdringen und die burjatische Sprache auf den familiären Bereich, hier vor allem in Bezug auf die Kommunikation mit älteren Generationen, zurückdrängen (vgl. dazu auch die Umfrage von Randalov et al. 2006). Sprachkenntnisse bei Kindern und Jugendlichen Im Jahre 2002 veröffentlichte T. P. Bažeeva die Ergebnisse einer Studie, in der Familien in der Republik Burjatien nach sozialen und sprachlichen Aspekten in Bezug auf die Herausbildung einer frühen russisch-burjatischen bzw. burjatisch-russischen Zweisprachigkeit befragt wurden (Bažeeva 2002). Die Befragung wurde sowohl in Städten als auch auf dem Land durchgeführt. Insgesamt wurden 700 Personen (Eltern und Kinder) befragt und damit 700 Fragebögen ausgewertet. Einige wesentliche Aspekte sollen hier wiedergegeben werden. • Immerhin 80,6 % der Schulkinder lernen die burjatische Sprache in der Schule. Dabei wird der russischen Sprache in den Städten der Republik eine größere Bedeutung zugesprochen als auf dem Land: nur 70,7 % der städtischen Schulkinder erlernt das Burjatische, auf dem Land sind es dagegen 85,5 %. • Gegensätze bei der Auswahl der Sprache der Kommunikation bestehen nicht nur zwischen Stadt- und Landbewohnern, sondern auch zwischen Eltern und Kindern (siehe Tabelle 1). Die Anwendung der burjatischen Sprache in Familien, die auf dem Land leben, ist vielfach höher als in den Familien in der Stadt. Jördis Winkler 14 Tabelle 1: Die Verkehrssprache in den Familien nach Geburtsort der Eltern und Kinder (in %). Quelle: Bažeeva 2002: 62 • Der Besuch eines Kindergartens bringt kaum einen Vorteil bezüglich des Erlernens der burjatischen Sprache (vgl. Tabelle 2). Vielmehr nimmt der Anteil der Kindergartenkinder, die sich untereinander nur Russisch unterhalten, stark zu (53,5 %). Die Fähigkeit, sich sowohl auf Russisch als auch auf Burjatisch zu unterhalten, nimmt im Kindergarten mit Blick auf die Kinder, die zu Hause bleiben, ab. Tabelle 2: Die Verkehrssprache in den Familien nach Besuch des Kindergartens (in %). Quelle: Bažeeva 2002: 62 • Mit dem Besuch des Kindergartens fängt die aktive Zweisprachigkeit der Kinder an. In diesem Zusammenhang wirkt sich die Schließung von mehr als 200 Kindergärten in den Jahren 1995 15 Ausgewählte Aspekte staatlicher Sprachenpolitik bis 1999, darunter 12 nationale Kindergärten in zumeist von Burjaten bewohnten Gebieten, negativ auf das Erlernen der burjatischen Sprache aus (vgl. Bažeeva 2002: 117). Eine weitere Studie zur Beherrschung der burjatischen Sprache in den Schulen der Republik wurde von Randalov, Žalsanova und Dašibalov (2006) durchgeführt. Die Autoren führten eine Umfrage unter 272 Schulkindern sowohl in Städten als auch auf dem Land durch. Grundsätzlich wurde festgestellt, dass die burjatische Sprache an 333 allgemein bildenden Schulen der Republik und in über 100 Vorschuleinrichtungen (25 % aller Vorschuleinrichtungen) unterrichtet wurde. Die Ergebnisse umfassen u.a. folgende Aspekte: • Die Anzahl der SchülerInnen, die Burjatisch als ihre Muttersprache lernen, stieg dabei in den letzten Jahren deutlich an: waren es im Jahr 1990 noch 21.415 SchülerInnen, so stieg diese Zahl im Jahr 1998 bereits auf 43.269 SchülerInnen und im Jahr 2005 auf 48.031 SchülerInnen an. • Neben Fragen zur persönlichen Einschätzung der burjatischen Sprachkenntnisse (Fähigkeit, die burjatische Sprache zu verstehen, zu sprechen, zu lesen, zu schreiben) wurden die Schüler und Schülerinnen dazu befragt, welche Probleme sie bei der Aneignung des Burjatischen im Rahmen eines Schulfaches sehen. Fast die Hälfte aller Befragten in den Städten (46,3 %) sah die größte Schwierigkeit darin, dass sie die russische Sprache bereits seit ihrer Kindheit kannten. Darüber hinaus gaben fast ein Drittel (32 %) der Schüler und Schülerinnen an, keine Zeit zum Lernen zu haben, da sie viele andere wichtige Fächer hätten. • Den Schülern stehen verschiedenste Möglichkeiten innerhalb der sie umgebenden sozialen Sphären zur Verfügung, um die burjatische Sprache zu lernen: in Kommunikation mit ihren Eltern und Verwandten, in der Schule, mit Freunden und Altersgenossen, mit Nachbarn, aber auch in Kultureinrichtungen (Kino, Theater, Museum, Bibliothek etc.). Dennoch bleibt das Burjatische die Sprache der Kommunikation in der Familie, 16 Jördis Winkler wie die nachfolgende Tabelle zeigt. Hauptsächlich ist es die ältere Generation, die die Sprache, Kultur und Traditionen der Burjaten an die nächste Generation weitergibt. Tabelle 3: Reguläre Nutzung der burjatischen Sprache (in %). Mit den Großeltern 31 Im Dazan 24 Mit den Eltern 20 Mit Verwandten 12 Mit Geschwistern 10 Mit Nachbarn 9 Mit Freunden 6 In der Schule 3 In Kultureinrichtungen 1 Im öffentlichen Raum 1 Quelle: nach Randalov et al. 2006 Fazit Ganz allgemein kann zusammengefasst werden, dass die wichtigste Funktion sprachenpolitischer Maßnahmen „in der möglichst reibungslosen Kommunikation innerhalb aller denkbaren gesellschaftlichen und politischen Gruppen und Ebenen und zwischen ihnen [besteht]. […] Kommunikation und Verständigung müssen in der zwischenmenschlichen, persönlichen Privatsphäre ebenso wie zwischen Institutionen innerhalb eines Staates gewährleistet sein.“ (Korch 2000: 26) Sprache ist damit immer auch ein Mittel der Macht, wie Theodor Berchem betont: „A language can be an instrument of power, and it is worth remembering that one force always sets a counterforce in motion and if these are not more or less in balance, this can have very negative consequences which might even result in violence and war.“ 17 Ausgewählte Aspekte staatlicher Sprachenpolitik (Berchem 2003: 25f.) In diesem Sinne hebt auch Barthold C. Witte hervor, dass Sprachenpolitik „immer im Kontext politischer, wirtschaftlicher, kultureller Macht gesehen werden [muss]. Sprache folgt der Macht.“ (Witte 1998: 17) Letztendlich finden nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch im kulturellen und sozialen Bereich globale Prozesse statt, die die Minderheiten auch in der Föderation Russland vor große Probleme stellen. So erweist sich z.B. die soziale Abwanderung der einheimischen Bevölkerung aus dem angestammten Siedlungsgebiet (u.a. durch den Wegzug der Jugend auf der Suche nach einer Ausbildung oder nach Arbeit) als eine Gefahr für den Erhalt der jeweiligen Sprachen – die Anzahl der aktiven Sprecher im jeweiligen Siedlungsgebiet geht damit stark zurück. Obwohl die Verfassung der Russländischen Föderation in Artikel 26 sowie das Gesetz „Über die Bildung“ in Artikel 9 Absatz 1 die freie Wahl der Erziehungs- und Unterrichtssprache garantieren, kritisiert O. M. Chubrikov, dass das Burjatische an den Schulen nicht ausreichend unterrichtet wird. Grundsätzlich können Kinder, sofern ihre Eltern dies wünschen, burjatischsprachigen Unterricht in Anspruch nehmen. Somit ist den Eltern ein Mitspracherecht bei der Wahl der Unterrichtssprache gegeben. Dies ist jedoch einerseits durch objektive Faktoren wie die mangelnde finanzielle Unterstützung nationaler Schulen eingegrenzt. Andererseits spielen subjektive Faktoren wie das Interesse der Eltern, ihren Kindern eine in russischer Sprache erworbene Ausbildung zukommen zu lassen, eine große Rolle. Dies bietet größere soziale Perspektiven in Hinblick auf eine weitere Ausbildung oder Arbeitsplatzsuche. Sprachengesetze können dabei nur einen Rahmen zur weiteren Entwicklung der Minderheitensprachen bieten. Wie und in welchem Umfang die gesetzlichen Bestimmungen in der Realität umgesetzt werden hängt insbesondere von der Interessenvertretung der jeweiligen Minderheit ab. Jördis Winkler 18 Literatur Ammon, Ulrich (2000): Sprachenpolitik / Sprachpolitik. In: Glück, Helmut (Hrsg.): Metzler Lexikon Sprache. Stuttgart, Weimar: Metzler. S. 654 / 668. 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Volkszählung von 2002: [„Всероссийская перепись населения 2002 года”] [russ.]. www.gks.ru/ [zuletzt eingesehen am 10.05.2011]. Ralph M. Wrobel Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit am Beispiel der Dorfschule in Kerpen 1. Problemstellung Die zweisprachige Situation in weiten Teilen Oberschlesiens bis 1945 sowie das Vorhandensein einer großen deutschen Minderheit im Oppelner Schlesien heute sind das Ergebnis eines langen historischen Prozesses. Als Preußen in der Mitte des 18. Jahrhunderts die Herrschaft über Schlesien erlangte, wurde im Osten des Landes ein polnischer Dialekt gesprochen, der bis heute existiert und unter Namen wie „Wasserpolnisch“ oder „pośląsku“ bekannt ist. Dabei handelt es sich um einen altpolnischen Dialekt mit vielen tschechischen und deutschen Elementen.1 Östlich der oberschlesischen Sprachgrenze war Deutsch zu dieser Zeit lediglich in den größeren Städten verbreitet.2 Dies hat sich jedoch während der Zugehörigkeit Oberschlesiens zu Preußen grundlegend geändert, wobei u.a. auch der preußischen Schulpolitik eine besondere Bedeutung zukommt Nach Jahrhunderten der Vernachlässigung wurde u.a. auch das oberschlesische Volksschulsystem durch die neue preußische Regierung grundlegend reformiert. Insbesondere die Schulreform von 1801 bewirkte eine kontinuierliche Verbesserung der Situation in den dörfli1 2 Vgl. dazu z.B. Reinhold Olesch - Die slavischen Dialekte Oberschlesiens, in: JBUnivBreslau 28, 1987, S. 325 - 336, Peter Chmiel - Deutsche Lehnstrukturen im sog. Wasserpolnschen, in: OSJB 3, 1987, S. 201 - 214, Herbert Matuschek -Das Polnisch der Oberschlesier. Zu den Kontroversen um ein Idom, in: OSJB 13, 1997, S. 93 - 120 und OSJB 14/15, 1998/1999, S. 193 - 214. Die Sprachgrenze verlief direkt südlich von Oberglogau. Vgl. dazu Klaus Heinisch Beiträge zur Geschichte der ehemaligen deutsch-polnischen Sprachgrenze im südwestlichen Oberschlesien, in: JBUnivBreslau, Bd. XXII, 1981, S. 191 239. 2 Ralph M. Wrobel chen Schulen. Aus vereinzelten kirchlichen Einrichtungen wurde ein Netz von staatlich überwachten Schulen, die zumindest ein Minimum an schulischer Bildung für alle Bürger des Königreiches schaffen sollte. Dabei bestand in Oberschlesien kontinuierlich das Problem, in welcher Sprache und mit welcher sprachlich-edukativen Zielsetzung der Unterricht erfolgen soll. Ob in diesem Zusammenhang während der preußischen Zeit von einer gezielten „Germanisierung“ Oberschlesiens gesprochen werden kann, ist fraglich. Andererseits wurde das Bildungsniveau gerade der ländlichen Bevölkerung durch die preußische Schulpolitik beständig gehoben. In diesem Aufsatz soll anhand eines Fallbeispiels untersucht werden, wie die preußischen Reformen auf die faktische Entwicklung des oberschlesischen Dorfschulwesens gewirkt haben. Als Beispiel wird die Dorfschule in Kerpen, Kreis Neustadt/OS, gewählt, da für sie zahlreiche Quellen vorliegen, von Kirchenvisitationsprotokollen des 17. Jahrhunderts bis zu einer vollständig erhaltenen Schulchronik von 1870. Deshalb werden zunächst der geschichtlich-kulturelle Hintergrund des Dorfes sowie die Ursprünge der Dorfschule in Kerpen untersucht. Darauf aufbauend werden die faktischen Veränderungen durch die preußischen Schulreformen von 1765 und 1801 dargestellt. Dabei sollen v.a. die administrativ-rechtlichen Aspekte wie z.B. Schulaufsicht, die materielle Ausstattung der Schulen und die pädagogisch-sprachlichen Verfügungen untersucht werden. Abschließend wird gezeigt, dass erst nach der Einführung des preußisch-deutschen Lehr- und Lectionsplan von 1872 von einer gezielten Germanisierung Oberschlesiens gesprochen werden kann. Dadurch soll die sprachliche Entwicklung in Oberschlesien und insbesondere die Entstehung der Zweisprachigkeit seiner ländlichen Bevölkerung exemplarisch nachgezeichnet werden. 2. Die Ausgangssituation im 17. und 18. Jahrhundert 2.1 Das Dorf Kerpen – geschichtlich-kultureller Hintergrund Das Kirchdorf Kerpen (poln. Kierpień) liegt links der Oder im Kreis Neustadt/OS (pow. Prudnik). Es ist heute Bestandteil der Gemeinde Głogówek (Oberglogau) und hat ca. 320 zumeist einheimische Be- Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 3 wohner, die den schlesisch-polnischen Dialekt als Muttersprache sprechen.3 Bereits vor dem Jahr 1274 wurde das Dorf Kerpen durch das Kloster Leubus auf den sumpfigen Wiesen der Nachbardörfer Lobkowitz und Komornik als Straßenangerdorf neu ausgesetzt. (vgl. Abb. 1) Der Begriff "est locata", der in dieser Urkunde für den Rechtsakt der Ansiedlung gebraucht wird, weist auf eine Siedlung aus wilder Wuzel hin. Eine Kirche wird in Kerpen erstmalig 1335 in der bischöflichen Rechnungslegung als „ecclesia de Kepowa“ erwähnt. 4 Das vermutlich zunächst deutschsprachige Dorf wurde aber spätestens im 16. Jahrhundert polnisch. Von 1561 bis 1626 war Kerpen an diverse Adelige der Umgebung verpfändet, teilweise zusammen mit der ganzen Propstei Kasimir, zu der es gehörte.5 Seit 1655/60 übernahm der Minoritenkonvent aus der benachbarten Stadt Oberglogau die Pfarradministration in Kerpen. Gründe dafür werden die polnische Sprache der Einwohner und wohl auch der allgemeine Priestermangel dieser Zeit gewesen sein. Dadurch wurde Kerpen für einige Zeit Filiale der Nachbarkirche Schreibersdorf.6 In seinen „Beyträgen zur Beschreibung von Schlesien“ schreibt Zimmermann 1784: „Kerpen, gehöret dem Stift Leubus, liegt im Glogauer Kreise, hier ist ein Vorwerk, 1 Kirche, Schule, 17 Bauern, 1 Mühle, 24 Gärtner, 16 Häusler, 375 Einwohner.“7 Bezüglich der Sprache in der Oberglogauer Gegend heißt es: „der gemeine Mann im Glogauschen (…) spricht pohlnisch“.8 3 Vgl. Kuria Diecezjalna w Opolu (Hrsg.): Rocznik Diecezji Opolskiej 2000, Opole 2000, S.124. 4 Vgl. Ralph Wrobel Wrobel - Die Zisterzienser an der Hotzenplotz - Eine Studie zur Siedlungs-, Rechts-, und Wirtschaftsgeschichte der zur Zisterzienserpropstei Kasimir gehörigen Dörfer an der Hotzenplotz im Mittelalter, Herausgegeben im Auftrag der Historischen Kommission für den Kreis Neustadt/Oberschlesien, Bremen 1991, S. 16 und S. 47. 5 Vgl. Augustin Weltzel - Die Cisterzienserpropstei Kasimir, in: Schlesisches Pastoralblatt 1889, Heft 16 - 22, S. 153 - 154. 6 Vgl. dazu z.B. Heinrich Schnurpfeil - Geschichte und Beschreibung der Stadt Oberglogau in Oberschlesien: mit der Genealogie der Grafen von Oppersdorff, Oberglogau 1860, S. 164. 7 Friedrich A. Zimmermann, Beiträge zur Beschreibung von Schlesien, Bd. 3 (1784) , S. 105. 8 Ebd., S. 96. 4 Ralph M. Wrobel Dass dies auch auf Kerpen zutraf bestätigt z.B. der oberschlesische Chronist A. Weltzel, welcher von der „polnisch redende(n) Gemeinde“ des Dorfes Kerpen im Jahre 1810 spricht.9 Seit diesem Jahr wurden das Dorf und Gut durch die Säkularisation der kirchlichen Güter königlich-preußisch. Zwischen 1817 und 1848 wurde hier die Bauernbefreiung durchgeführt.10 Durch eine Separation der landwirtschaftlichen Flächen und eine Regulierung der Hotzenplotz am Ende des 19. Jahrhunderts entstand eine bis heute landwirtschaftlich geprägte Gemeinde. Aufgrund der Sprache kam es zudem nach dem Zweiten Weltkrieg zu keinem umfassenden Bevölkerungsumtausch. 9 Vgl. Weltzel – Die Cisterzienserpropstei Kasimir (wie Anm. 5), S. 179. Vgl. Alfons Schwach - Beiträge zur Ortschronik von Kerpen, Oberglogau 1929, S. 12 - 14. 10 Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 5 Abb. 1: Die Lage der katholischen Schule in Kerpen (um 1765). Quelle: Ausschnitt aus „Schlesien links der Oder“, aufgenommen von Regler 1763–1770 (Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin). 2.2 Anfänge der Kerpener Dorfschule Im 17. und 18. Jahrhundert war das Schulwesen in Oberschlesien sehr dürftig, aber nicht so trostlos, wie es an manchen Stellen beschrieben wird.11 In den Städten und größeren Pfarrdörfern gab es fast überall Schulen, auch im Pfarrdorf Kerpen. Dies gehörte in preußischer Zeit 11 Vgl. z.B. Josef Schermuly – Das Lehrer-Seminar in Oberglogau – Festschrift zur Jubelfeier seines hundertjährigen Bestehens, Breslau 1902, S. 5, wo es heißt: „Die Kinder in den Ortschaften um Oberglogau z.B. wuchsen bis dahin [das Jahr 1800] ohne jegliche Schulbildung auf.“. 6 Ralph M. Wrobel zum Schulbezirk Oberglogau, welcher dem alten Kreis Oberglogau (dem Osten des späteren Kreises Neustadt/OS) entsprach. Innerhalb dieses Bezirkes gab es laut Zimmermann (1784) 21 Schulen, zwanzig in Pfarrdörfern und eine im Marktflecken Klein-Strehlitz, wobei die Stadtschule in Oberglogau – bereits 1379 urkundlich erwähnt – selber keine Erwähnung findet.12 Die meisten dieser Schulen lassen sich bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhundert zurückverfolgen. Ältere Quellen liegen hingegen durchgehend nicht vor.13 Wann das Dorfschulwesen in dieser Region Oberschlesiens entstand, ist daher nicht eindeutig nachvollziehbar. Eine tiefe Zäsur wird in jedem Fall der Dreißigjährige Krieg bedeutet haben, da in dieser Zeit auch viele Pfarreien verwaisten und zu Filialen wurden. Die Kirche in Person des Pfarrers hatte seit alters her die Aufsicht über die örtliche Schule. Vermutlich war der Pfarrer ursprünglich auch 12 Die Schulen waren in den Pfarrdörfern Broschütz, Damasko (Propstei Kasimir), Dobrau (nur Filiale), Ellguth, Friedersdorf, Gläsen, Kerpen, Komornik, Kujau, Lonschnig, Deutsch-Müllmen, Psychod, Deutsch-Rasselwitz, PolnischRasselwitz, Rosnochau, Schö-nau, Schreibersdorf, Twardawa, Walzen, AltZülz sowie in dem Marktflecken Klein-Strehlitz vorhanden. Zimmermann – Beyträge zur Beschreibung von Schlesien (wie Anm. 7), S. 99 – 117. Die Schule in Oberglogau bestand nachweislich bereits im 14. Jahrhundert. [Vgl. Joseph Strecke - Das Ober Glogauer Schulwesen von seinen Anfängen bis zum Endedes 18. Jahrhunderts, in: Aus dem Oberglogauer Lande – Heimatkundliche Beilage zur Oberglogauer Zeitung, 1926, S. 45 – 46; 1927, S. 1 – 4, 7 –8, 16, 19 –20.]. 13 Vgl. dazu die Visitationsberichte von 1679 und 1687/88 bei Josef Jungnitz – Visitationsbe-richte der Diözese Breslau, Archidiakonat Oppeln. 1. Teil, Breslau 1904, und die deutsche Übersetzung der Berichte bei Johannes Preisner - Das Oberglogauer Archipresbyteriat im Licht der Visitationsberichte von 1679, 1680 und 1688, Landeskundliche Schriftenreihe der Historischen Kommission für den Kreis Neustadt, Oberschlesien, e.V., Bd. 1, Menden 1999. Für wenige oberschlesische Dörfer gibt es aber auch deutlich frühere Hinweise auf Schulen, z.B. Makau bei Ratibor, wo bereits 1536 ein Lehrer erwähnt wird, welche seine Mahlzeiten beim Johanniter-Komtur erhält. Vgl. dazu Ralph Wrobel – Die Johanniter in Oberschlesien: Gründung, Entwicklung und Niedergang der Kommenden Maau, Alt-Zülz und Cosel, Würzburg 2011, S. 59. Es muss also Schermuly – Das Lehrer-Seminar in Ober-Glogau (wie Anm. 11), S. 5, widersprochen werden, der behauptet, „die Kinder aus den Ortschaften um Ober-Glogau z.B. wuchsen bis dahin ohne jegliche Schulbildung auf.“. Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 7 der Lehrer der Kinder, übergab diese Tätigkeit aber immer weiter an den Organisten / Küster, der damit erst im Zeitverlauf auch zum Schullehrer wurde. Dadurch war die Schule eine traditionell kirchliche Einrichtung, die erst im Verlauf der preußischen Zeit staatlich wurde. Allerdings sagt das Vorhandensein einer Schule oder eines Lehrers nichts über die tatsächliche Qualität des örtlichen Bildungswesens aus. Auch dort, wo eine Schule im 17. oder 18. Jahrhundert genannt wird, waren die Schulhäuser i.d.R. sehr klein, der Schulbesuch der Kinder sehr unregelmäßig und die Ausbildung der Lehrer schlecht. Teilweise handelte es sich bei den Lehrern um ehemalige Soldaten, die eventuell einen wenige Monate andauernden Kursus im Lehrerseminar im Kloster Rauden besucht hatten. Die Schulen hatten zudem eher Charakter von Küster- oder Pfarrschulen, in denen neben dem Katechismus nur Kirchenlieder gelehrt wurden.14 Auch in Kerpen hat es eine solche Küster- oder Pfarrschule gegeben. Ob hier bereits im Mittelalter eine Schule vorhanden war, kann jedoch nur vermutet werden, geht aber aus keiner Quelle hervor. Da der Ort um 1625 noch einen eigenen Pfarrer besaß, aber bereits um 1655/60 unter die Administration der Minoriten aus Oberglogau gestellt werden musste, kann davon ausgegangen werden, dass auch die Schule – sofern sie vor dem Krieg bestanden hatte – neu errichtet und wieder mit einem Lehrer besetzt werden musste. Im benachbarten Alt-Zülz wird z.B. aus dem Jahre 1668 der Bau einer Pfarrschule erwähnt. Davor soll für den Schullehrer keine Wohnung im Ort bestanden haben.15 In Kerpen gab es bis tief ins 19. Jahrhundert noch nicht einmal ein Pfarrhaus, sondern nur ein Absteigequartier für den Priester der Mino- 14 Vgl. Alois Maria Kosler – Die Preußische Volksschulpolitik in Oberschlesien 1742 – 1848, Breslau 1929 (Nachdruck Sigmaringen 1984: Beiträge zur Geschichte und Landeskunde Oberschlesiens), S. 6 – 9. Die Verbindung von Lehrer- und Küsteramt blieb in Schlesien bis ins 20. Jahrhundert erhalten. Vgl. dazu auch Gustav Braun – Geschichte des organisch vereinigten Schulamtes in Schlesien: ein Beitrag über die Entwicklung der deutschen Volksschule unter besonderer Berücksichtigung der Dotationsverhältnisse, Breslau 1933. 15 Vgl. Heinrich Bittner – Die Dörfer aus dem Zülzer Archipresbyteriatsbuche vom Jahre 1674 und 1719, Neustadt 1936, S. 50. 8 Ralph M. Wrobel riten im Vorwerk.16 Entsprechend mögen auch die schulischen Verhältnisse lange Zeit unsicher gewesen sein. In den Kirchenvisitationen der Jahre 1679 und 1687/88 wird erstmals ein Lehrer in Kerpen erwähnt. Er war aber – wie üblich – nicht nur Schullehrer, sondern auch Kirchenbediensteter, also Küster und Organist. Dies geht aus späteren Quellen zu seiner Dotation deutlich hervor.17 So erwähnt die Visitation von 1687/88: „Scholiarcha Andreas Ziemianek 14 annis servit.“ (Der Lehrer Andreas Ziemianek dient seit 14 Jahren.)18 Er muss also um 1673/74 seinen Schuldienst in Kerpen begonnen haben. Wie lange er in Kerpen als Lehrer war, ist nicht bekannt. Die Kirchenbücher von Kerpen erwähnen dann die Übernahme des Schulmeisteramtes durch Martin Hase (Haase/ Hasse), der dort in den folgenden Jahrzehnten mehrfach als Scholiarcha oder SchulMeyster erwähnt wird. Er starb am 5.8.1772 in Kerpen 49 Jahre alt, sein Amt wohl noch immer ausführend. Nur wenige Wochen später, nämlich am 20.9.1772 hat Johan George Sukala das Amt des Schulmeisters in Kerpen übernommen.19 Die Schullehrer wurden demnach zu dieser Zeit schnell ersetzt. Für Kerpen kann deshalb seit 1747 von einer nachgewiesenen Schullehrer-Kontinuität gesprochen werden. Das ist insofern von Bedeutung, als dass damals die Lehrerstellen häufig für Jahrzehnte unbesetzt blieben und somit gar kein Unterricht stattfand.20 Wie das Schulhaus in Kerpen zu dieser Zeit ausgesehen hat, ist nicht bekannt. Es wird vermutlich ähnlich wie im benachbarten, ebenfalls dem Patronat des Klosters Leubus unterstehenden Dorf Komornik 16 Vgl. Weltzel - Die Cisterzienserpropstei Kasimir (wie Anm. 5), S. 162. Vgl. (Rezeß) zur Parzelle XIII, Actum Kerpen den 25ten April 1817 [Staatsarchiv Oppeln: Grund Acten für Bd. II Blatt 85 des Grundbuches von Kerpen / Gemeinde Kerpen 1819 - 1943, Sign.: 45/1519/0/3079, fol. 40-40v.]. 18 Vgl. Jungnitz – Visitationsberichte (wie Anm. 13), S. 523 – 524. 19 Kirchenbücher Kerpen 1655 - 1945 (Pfarrarchiv Kerpen, Kopien im Besitz des Verfassers), ohne Folionummern. Das Jahr der Übernahme ins Kerpener Dienstverhältnis geht leider aus den Aufzeichnungen nicht hervor, da Hase aber 1747 als Vater einer Tochter erwähnt wird, muss er zumindest kurz zuvor nach Kerpen gekommen sein. 20 Vgl. Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 9. 17 Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 9 ausgesehen haben. Hier war allerdings im Jahre 1679 überhaupt kein Schulhaus vorhanden.21 Erst 1708 wurde eine „domuncula“ (Häuschen) von der Gemeinde errichtet.22 Von dem 1794 erneuerten Haus heißt es in der Schulchronik des Ortes: „Das Schulgebäude hatte massive Wände, war aber nur mit Stroh gedeckt. Es bestand aus einer kleinen Lehrstube, einer kleinen Wohnstube für den Lehrer und einer ganz kleinen Kammer… (die) Familie (des Lehrers) musste ihre Lagerstätte auf dem Bodenraume errichten, was deren Gesundheit nicht sehr zuträglich gewesen sein kann.“23 Ebenso wird man sich auch die Schule in Kerpen vorstellen müssen, welche dann erstmalig bei Zimmermann 1784 ausdrücklich Erwähnung findet, aber sicherlich deutlich älter sein wird. 21 Vgl. Jungnitz – Visitationsberichte (wie Anm. 13), S. 185 - 186. Vgl. Metrica Archipresbyterialis Glogoviae Superioris anno 1730 (Diözesanarchiv Breslau: Sign.: II b 95, fol. 115.). 23 Schulchronik Komornik (Pfarrarchiv Komornik, Kopie im Besitz des Verfassers), fol. 4. 22 10 Ralph M. Wrobel Abb. 2: Die Pfarräcker bei Kerpen 1811. Quelle: Ausschnitt aus der „Brouilon-Carte von dem Vorwerk Kerppen im Neustaedter Creise speciel vermessen im Jahre 1811“ (Staatsarchiv Oppeln, ohne Sign.). 2.3 Die materielle Ausstattung des Kerpener Lehrers Die Entschädigung der oberschlesischen Schullehrer bestand bis ins späte 18. Jahrhundert hinein hauptsächlich aus der Zuweisung eines Stückes Land zur eigenen Bearbeitung sowie aus der Lieferung von Getreide oder anderen Naturalien. Manchmal überließ man ihm auch einen Garten oder einige kleine Teiche. Außerdem übte er nebenbei auch das Amt des Organisten, Küsters und Gemeindeschreibers aus, wodurch er zusätzlich auch etwas Geld verdienen konnte. 24 Auch für den Kerpener Lehrer lassen sich alle diese Ämter nachweisen.25 Insge24 25 Vgl. Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 69. Vgl. Schul- und Gemeinde Chronik von Kerpen 1870 - 1935 (Schularchiv Ker pen, Kopien im Besitz des Verfassers), fol. 2. Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 11 samt war die Entlohnung nicht einheitlich geregelt, so dass es große Unterschiede von Dorf zu Dorf gab. Über welches Einkommen der Kerpener Schullehrer im 17. und 18. Jahrhundert verfügte, geht bereits aus dem Kirchen-Visitationsprotokoll von 1679 hervor. Es nennt als Ausstattung des Lehrers zunächst „agrum pro conseminatione unius modii siliginis“ (Acker mit einem Scheffel Winterweizen besäht).26 Dieser Acker lag innerhalb eines großen Wiesen- und Ackerstreifens, der zur Kerpener Kirche gehörte, und war 1811 drei preußische Morgen und 53 Quadratruten groß. Dies geht konkret auch aus der Brouillon Karte des Gutes Kerpen aus dem Jahre 1811 hervor (vgl. Abb. 2). In einem Rezeß aus dem Jahre 1817 wird dieses Stück auch als ursprünglicher „Organisten-Acker“ bezeichnet und beinhaltete neben dem eigentlichen Acker auch zwei Wiesen zwischen Hotzenplotz und Piosnitza-Graben. Dabei ist es interessant anzumerken, dass der damalige Lehrer, Bartholomäus Koschek, angab, diesen Acker hätte schon sein Großvater als Organist in Kerpen zur Verfügung gehabt. Er sei erst später zur Dotation der Schule hinzugezogen worden.27 Betrachtet man die Dörfer des alten Kreises Oberglogau in den Kirchenvisitationsprotokollen oder Archipresbyteriatsbüchern des 17. Jahrhunderts, fällt auf, dass lediglich in Klein-Strehlitz, Lonschnig und Kujau auch ein Schulacker vorhanden war. Schulgärten finden sich in Schreibersdorf, Broschütz, Legelsdorf, Simsdorf und PolnischRasselwitz.28 Die Dotation des Kerpener Lehrers mit eigenem Land war daher eher überdurchschnittlich. Auf jeden Fall wird daraus der enge Bezug der Schule in Kerpen zur Pfarrkirche deutlich. So kann 26 Vgl. Jungnitz – Visitationsberichte (wie Anm. 13), S. 191 – 192. Vgl. (Rezeß) zur Parzelle XIII (wie Anm. 17) Das Stück umfasste demnach im Jahre 1817 3 Morgen und 125 QR Acker, 2 Morgen und 99 QR Wiesen sowie 98 QR Strauchwerk, Summe: 6 Morgen 142 QR. Auch in der benachbarten Schule von Deutsch-Rasselwitz diente eine Schullehrerfamilie nachweislich über drei Generationen von 1806 bis 1904. Vgl. dazu J. Pfeiffer – Von den Dt. Rasselwitzer Schulen, in: Aus dem Oberglogauer Lande, Heimalkundliche Beilage zur Oberglogauer Zeitung, 5. Jg. (1929), Nr. 1, S. 3 und Nr 11, S. 41, hier S. 3. 28 Vgl. dazu Jungnitz – Visitationsberichte (wie Anm. 13) und Bittner – Die Dörfer aus dem Zülzer Archipresbyteriatsbuche (wie Anm. 15). 27 12 Ralph M. Wrobel man vermuten, dass das „Organisten-Stück“ irgendwann nach der Gründung des Dorfes und der Kirchengemeinde aus dem Kirchengrund herausgelöst und für den Organisten dotiert wurde. Als dieser auch das Schullehreramt übernahm, ging das Grundstück stillschweigend in die Dotation der Schule über. Demnach wäre die Gründung der Kerpener Schule nicht mit der Gründung der Pfarrgemeinde gleich zu datieren, sondern muss später stattgefunden haben. Hinzu erhielt der Lehrer in Kerpen gemäß der Visitation von 1679 „a quovis rustico unum libonem panis” (von jedem Bauern ein Laib Brot) und „unum florenum a communitate“ (einen Florin von der Gemeinde).29 Auch diese Einnahmen tauchen in späteren Quellen noch wiederholt auf, wobei die Brotabgabe eine Leistung für den Organisten / Küster und die Geldzahlung wohl das Einkommen als Gemeindeschreiber darstellen. Ebenso erhielten z.B. auch die Lehrer in Schreibersdorf und Walzen diese Zahlung. Gemäß dem Archipresbyteriatsbuch von 1674 bekamen die Lehrer in Alt-Zülz und Legelsdorf vom Pfarrer vier Taler jährlich und an allen Sonn- und Festtagen zusammen mit ihrer Familie ein Mittagsmahl. Hinzu kamen von jedem Bauern ein Brot und ein böhmischer Groschen sowie verschiedene unregelmäßige Einnahmen. Die Brotabgabe für den Lehrer wurde z.B. in Simsdorf 1674 von den Bauern verweigert.30 Andere Lehrer, wie die in Schönau, Deutsch-Rasselwitz oder Friedersdorf wurden hingegen in erster Linie mit unterschiedlichen Mengen von Getreide entlohnt. Der Lehrer in Komornik hatte sowohl 1674 als auch 1730 keinen festgesetzten Sold, sondern nur einen kleinen Garten.31 Die Natural- und Geldeinnahmen des Kerpener Lehrers waren daher nur durchschnittlich. Er wird jedoch davon kaum gelebt haben können. Deshalb wird der Kerpener Lehrer immer noch einen weiteren Beruf ausgeübt haben. Die Lehrer in Oberschlesien übten zu dieser Zeit re29 Vgl. Jungnitz – Visitationsberichte (wie Anm. 13), S. 191 - 192. Vgl. Bittner – Die Dörfer im Zülzer Archipresbyteriatsbuche (wie Anm. 15), S. 50. 31 Vgl. dazu Jungnitz – Visitationsberichte (wie Anm. 13). Zu Komornik auch Proventenbuch der Gemeinde Komornik (Pfarrarchiv Komornik, Kopie im Besitz des Verfassers), fol. 20, wo es heißt: „Ludirector nullos fundos habet…“. 30 Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 13 gelmäßig weitere Berufe neben ihrem Amt als Organist und Lehrer aus. Entweder waren sie Handwerker oder unterhielten eine eigene Landwirtschaft.32 Für Kerpen ist der Nebenberuf des Lehrers für die 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts nachgewiesen. Er war Landwirt und hatte eine große Wiese vom administrierenden Minoritenkonvent in Oberglogau gepachtet. So heißt es in den Kerpener Kirchenbüchern: „Der Schulmeister zinßet dem hoch Löbl. Minoriten Kloster Jahrlichen Wißen zins in S. Martini 3 Thl. Schleßisch, in dem Zinß muß er die Administration Wiße behegen und darauf achtung geben. Schulmeisters Zins Wißen über der Kleinen baach im bergel biß an die bache. Von der Kleinen bach Vorm Obrecie genandt und durch auß biß an den Piaschitzer graben. Das Zogrodzisko Von Puszyna graben biß an die Rudna 12 ruthen breit überall. Den Winckel bey der Mille 13 ruthen breit(,) in die lenge Vom Tamm biß an rederer graben.“33 Damit wird übrigens exakt der breite Streifen Pfarrgrund beschrieben, der gemäß der Brouillon-Charte des Gutes Kerpen aus dem Jahre 1811 auch den Schul- und Organistenacker enthielt. Der Lehrer Hase war somit in Kerpen ein durchschnittlicher Landwirt. Wann er überhaupt Zeit gehabt hat, den Unterricht durchzuführen, ist daher sehr fraglich. 3. Veränderungen durch die preußischen Schulreformen 3.1 Die Schulreform von 1765 Bis in die preußische Zeit hinein war das oberschlesische Volksschulwesen – wie auch in anderen Teilen des Königreiches – schlecht und verbesserungsbedürftig. Gerade in Oberschlesien sollten durch Verbesserungen zwei Ziele gleichzeitig erreicht werden: zum einen die Erziehung der ungebildeten Landbewohner und zum anderen die Verbreitung der deutschen Amtssprache. Dies erkannte auch der Provinzialminister Ernst Wilhelm von Schlabrendorf, der von Friedrich dem Großen 1755 bis 1769 an die Spitze der schlesischen Kammer berufen wurde. Auf einer Visitationsreise 1764 fand er fast keine funktionsfähige Schule in Oberschlesien vor. Es wurden lediglich ei32 33 Vgl. Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 8. Vgl. Kirchenbücher Kerpen (wie Anm. 19), ohne genaue Datierung. 14 Ralph M. Wrobel nige Gebete gelehrt. In den polnischsprachigen Gebieten verstanden weder Geistliche noch Lehrer deutsch. Unmittelbar nach dieser Reise ergingen daher seine ersten Verfügungen zur Verbesserung des Schulwesens. Doch erst das preußische Schulreglement von 1765 regelte die Verhältnisse umfassend. Demnach bestand eine Schulpflicht für alle Kinder vom vollendeten 6. bis 13. Lebensjahr. Diese war jedoch wegen der Dienstpflicht derselben beschränkt. Desweiteren sollte die Entfernung der Gemeinden vom Schulort maximal ½ Meile betragen. Die Lehrer sollten über deutsche und polnische Sprachkenntnisse verfügen, die Schulaufsicht durch die örtliche Pfarrer ausgeübt und die Baukosten für Schulgebäude durch Gemeinden unter Mitwirkung der Dominien erbracht werden. Die Eltern der Schüler hatten ein Schulgeld zu errichten. Durch dieses Reglement konnten aber nur wenige Verbesserungen erreicht werden. 34 Zum Kerpener Schulbezirk gehörten Ende des 18. Jahrhunderts der Pfarrort Kerpen, das Nachbardorf Repsch sowie seit ihrer Gründung um 1780 die Kolonie Reitersdorf.35 Repsch wird vermutlich aufgrund des Schulreglements von 1765 zu Kerpen geschlagen worden sein, da die Kirchengemeinde als Filiale zu Oberglogau gehörte, Kerpen aber näher lag und ebenfalls polnischsprachig war. Die Anzahl der zu betreuenden Schüler und Schülerrinnen wird deshalb in der Kerpener Schule zu dieser Zeit nicht unbedeutend gewesen sein. Ob diese alle überhaupt in die Schule gingen, und wenn ja, wie regelmäßig, ist aber völlig unsicher. Sowohl die Eltern als auch die Gutsherrschaften fühlten sich durch die Schulpflicht in ihren Verdienstmöglichkeiten eingeschränkt, da sie die Kinder zur Arbeit brauchten.36 So waren die Kinder der Kerpener Bauern beiderlei Geschlechts verpflichtet, nach Bedarf und Willkür der Herrschaft gegen Kost und Lohn auf sämtlichen Vorwerken Hofdienste zu verrichten. Sie konnten vom Probst der Zisterzienser in Kasimir auch auf die südlich von Oberglogau gelegenen Vorwerke des Ordens beordert werden.37 Desweiteren wurde sie von 34 Vgl. Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 9 - 22. Vgl. Schul- und Gemeinde Chronik von Kerpen (wie Anm. 25), fol. 1. 36 Vgl. Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 32. 37 Vgl. Schwach – Beiträge zur Ortschronik von Kerpen (wie Anm. 10), S. 8. 35 Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 15 ihren Eltern benötigt, um z.B. das Vieh auf der Allmende zu hüten.38 Auch fiel es den Eltern häufig schwer, das Schulgeld zu bezahlen. So wurden die Kinder häufig im achten oder neunten Lebensjahr wieder aus der Schule genommen. Wenn Schulunterricht erfolgte, war er zudem auf sehr geringem Niveau. Zumeist war die Lehrstube auch das Wohnzimmer des Lehrers. Dieser brachte seinen Schülern den Katechismus, einige Gebete und Lieder bei, manchmal das Buchstabieren oder sogar etwas Lesen und Schreiben. Grundsätzlich fand der Unterricht in polnischer Sprache statt, in der deutschen Sprache wurden die Kinder kaum unterrichtet.39 Es kann daher nicht verwundern, dass der Kerpener Lehrer Bartholomäus Koschek bei der Anfertigung des Diensturbariums im Jahre 1798 als Dolmetscher und Namensschreiber für 55 der 61 Unterzeichner dienen musste sowie 1810 bei der Säkularisation des Gutes den Einwohnern des Dorfes das Edikt des Königs in die polnische Sprache übersetzte.40 Immerhin entsprach die sprachliche Bildung Koscheks dem Schulreglement, da er offensichtlich zweisprachig war. Aber selbst im Jahr 1817 wurde der Dienstablösungsrezess in Kerpen nur von zehn den 61 Kerpener Unterzeichnern selber unterschrieben.41 Der Wirkungsgrad der Schulausbildung war daher in Kerpen auch nach den Reformen von 1765 offensichtlich recht begrenzt. 38 Vgl. Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 209. Gemäß dem Diensturbarium des Dorfes Kerpen von 1798 wurde das Vieh nach Einbringen des Grummets bis zum 1. Mai gemeinschaftlich auf allen Wiesen gehütet. Vgl. dazu Schwach – Beiträge zur Ortschronik von Kerpen (wie Anm. 10), S. 9. 39 Vgl. Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 64 - 65 und 71 - 73. 40 Vgl. Schwach – Beiträge zur Ortschronik von Kerpen (wie Anm. 10), S. 11; Weltzel – Die Cisterzienserpropstei Kasimir (wie Anm. 5), S. 179. 41 Vgl. Dienstablösungsrezess von Kerpen, 1817 (Staatsarchiv Oppeln: Sign. 3344, fol. 81 - 82.). 16 3.2 Ralph M. Wrobel Die Schulreform von 1801 3.2.1 Volksschulsystem und Schulaufsicht Erst mit dem Schulreglement aus dem Jahr 1801 für die katholischen Elementarschulen kam es zu wirklichen Neuerungen. Ursprünglich sollte das Edikt nur eine Abänderung und Ergänzung des Reglements von 1765 sein, behandelte aber alle Punkte in so klarer Weise, dass es bis ins beginnende 20. Jahrhundert Gültigkeit behielt. Insbesondere wurden der Status des Schullehrers, seine materielle Versorgung sowie die Anforderungen an sein Bildungsniveau erhöht.42 Organisatorisch unterstanden die Schulen jetzt einer verteilten Aufsicht. Statt den traditionellen geistlichen Instanzen wie Ortspfarrer, Erzpriester und General-Vikaramt wurde die Aufsicht nun dem Ortspfarrer als Revisor und einem geistlichen Kreisschulinspektor übertragen. Der Kerpener Pfarrer hatte als Schulrevisor auch einmal wöchentlich persönlich den katholischen Religionsunterricht zu besorgen. Er unterstand dabei direkt dem Kreisschulinspektor, welcher alle Schulen seines Bezirkes einmal jährlich visitieren musste. Das Patronat über die Schule lag zudem gemäß preußischem Landrecht beim Dominium, also der Grundherrschaft. Das war in Kerpen zunächst das Zisterzienserkloster Leubus, vertreten durch den Probst von Kasimir. Seit der Säkularisation 1810 übernahm der königliche Fiskus, der aufgrund dessen auch Patron der örtlichen Pfarrkirche war, diese Funktion. Nach § 49 des Schulreglements waren zudem in jedem katholischen Schuldorf zwei Schulvorsteher zu wählen, die sich primär mit den materiellen Fragen wie z.B. dem Schulausbau zu beschäftigen hatten.43 Damit wurden auch die Gemeinden staatlicherseits an den Schulfragen beteiligt.44 42 Vgl. Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 116 - 124. Vgl. Schul-Reglement für die niederen katholischen Schulen in den Städten und auf dem platten Lande von Schlesien und der Grafschaft Glatz, 1801, abgedruckt in: Heinrich Simon – Das Provinzial-Gesetzbuch der Schlesischen Verfassung und Verwaltung, 6. Heft: Das Schul-Recht und die UnterrichtsVerfassung von Schlesien, Breslau 1848 (Nachdruck in: Sammlungen der Gesetze, Verordnungen, Erlasse, Bekanntmachungen zum Elementar- bzw. Volksschulwesen im 19./20. Jahrhundert, Bd. 4, 1989), S. 15 - 52, hier S. 42. 44 Vgl. Ulrich Seng – Die Schulpolitik des Bistums Breslau im 19. Jahrhundert, Dortmund 1989, S. 72. 43 Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 17 Der Lehrer stand zwischen den Institutionen Schule, Kirche und Gemeinde, da er neben dem Lehramt auch das Amt des Organisten / Küsters und des Gemeindeschreibers hielt. Da es in Oberschlesien zu wenige Schulen gab, wurde zudem seit 1817 eine Initiative zum Schulbau befördert.45 Die Gründung der Schule im benachbarten Repsch im Jahre 1836 und die Herauslösung dieses Ortes aus dem Kerpener Schulverband ist auf diese preußische Schulbauinitiative von 1817 zurückzuführen. Im Jahre 1855 bestanden im Schulbezirk Oberglogau insgesamt 32 Schulen.46 Innerhalb eines halben Jahrhunderts waren demnach bereits zehn neue Schulen hinzu gekommen. Die folgende Tabelle zeigt die Lehrer an der Kerpener Schule. Tabelle 1: Kerpener Lehrer vor 1872. Zeit Lehrer 1674/79/88 Scholaris Andreas Ziemianek 1688: Scholiarcha Andreas Ziemianek 14 annis servit. ca. 1747 1772 Martin Hase (Haase/ Hasse) Scholiarcha / SchulMeyster + 5.8.1772 (49 Jahre alt) 1772/88 Johan George Sukala, Schulmeister Schuldienst ab 20.9.1772, am 29.4.1787 als Wittwer (54 Jahre alt) erneut verheiratet mit der Jungfer Catherina Jendretzky (24 Jahre alt) 1798 1828 – Bartholomäus Koschek (Kosiek) 1828 – Johann Trojan 45 46 Schullehrer und Organist ab 16.9.1798, + 1828 Vgl. Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 119 - 120. Vgl. Schul-Currenden-Buch des Schulbezirkes Oberglogau 1844 – 1873 (Archiv der Historischen Kommission für den Kreis Neustadt/OS e.V.), fol. 18v. 18 Ralph M. Wrobel 1839 1839 1874 +27.4.1839 - Joseph Barnert auch Gärtner in Kerpen, ab 1.8.1874 erkrankt und von Anton Hoppe vertreten, + 27.11.1874 (62 Jahre, an Lungensucht) Adjuvant Julius Skora (15.8.1873 - 1.4.1874, an Lungensucht) Quellen: Jungnitz – Visitationsberichte (wie Anm. 13), Kirchenbücher Kerpen (wie Anm. 19) und Schul- und Gemeinde Chronik von Kerpen (wie Anm. 25). Als Schulrevisoren fungierten die Administratoren der Kerpener Kirche, die erst Ende des 19.Jahrhunderts wieder eine selbständige Pfarrei wurde. Dies waren der Administrator Dorotheus Rudoph (+ 1819), sowie die Lokalisten Anselm Grabiec (1819 - 1835) und Michael Kuss (1835 – 1880). Umfassende Revisionen fanden in Kerpen z.B. 1839 durch Weihbischof Latussek, 1853 durch Schul- und Regierungsrat Bernhard Josef Bogedain, 1858 denselben als Weihbischof, und 1866 durch den Königl. Regierungs-und Schulrat Wittig statt.47 Dadurch wird auch die Einbindung der Kerpener Schule in das kirchliche Aufsichtssystem deutlich. 47 Schul- und Gemeinde Chronik von Kerpen (wie Anm. 25), fol. 3. Von diesen ist insbesondere der Schulrat und spätere Weihbischof Bernhard Josef Boge dain (1810 – 1860) von großer Bedeutung. Er führte in Oberschlesien die polnische Sprache an den Volksschulen und an den Lehrerseminaren ein. Vgl. da zu auch Abschnitt 3.2.4. Zur Person z.B. Bernhard Stasiewski – Bogedain, Bernhard, in: Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803 bis 1945: ein biographisches Lexikon, Berlin 1983, S. 62 - 63. Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 19 3.2.2 Lehrerbesoldung und materielle Schulausstattung In materieller Hinsicht sah das Schulreglement von 1801 eine Verbesserung der Ausstattung der Lehrer mit Schulhaus und Schulgrundstücken sowie ein Grundgehalt vor, womit es sich deutlich vom Reglement des Jahres 1765 unterschied.48 Konkret heißt es im Reglement, dass die Lehrer ein „gutes, beständiges Haus“ zur Wohnung haben sollen, sowie Acker- und Wiesenstücke, die ausreichend zur Haushaltung einer Familie und Fütterung von zwei Kühen sind. Das Mindesteinkommen, sollte aus einem Gehalt von 50 Talern, 15 Scheffeln Roggen und 3 Scheffeln Gerste, sowie 9 Klaftern Holz zum Heizen bestehen. Es sollte zu einem Drittel vom örtlichen Dominium als Patron und zu zwei Dritteln von der Gemeinde entrichtet werden. (§ 12 und § 19a)49 Das galt aber nur für die neu bestellten Lehrer. In Kerpen musste Lehrer Bartholomäus Koschek aber nicht lange auf einer Verbesserung seiner Besoldung warten. Um das Jahr 1810 sind die reglementsmäßigen Zahlungen und Sachleistungen schon nachgewiesen.50 Vermutlich war Kerpen zu dieser Zeit bereits säkularisiert und die Gutsherrschaft gehörte dem preußischen Fiskus. Gemäß der Kerpener Schulchronik wurde im Jahre 1834 vor Ort eine neues massives einstöckiges Schul- und Wohnhaus errichtet. Es bestand aus einer Lehrerstube, einer kleinen Wohnstube für die Lehrerfamilie, einer Kochstube, einem Keller sowie einem Dachboden mit Bretterverschlag. Hinzu kamen Wirtschaftsgebäude und eine Schwarz- und Federviehstallung. In den Jahren 1861 bis 1870 wurde dieses Schulhaus noch erweitert. So bemerkt Lehrer Barnert, dass 1861: „eine Stube nebst Gewölbe ausgefertigt worden“ sei. Im Jahre 1870 schreibt er zudem, der Bauzustand des Schulgebäudes sei „ziemlich gut“. In diesem Jahre sei zudem eine zweite Lehrstube im hinteren Teil des Schulgebäudes eingerichtet worden, ebenso eine Dachstube über der Lehrerwohnung für einen Adjuvanten. Auch seien zwei neue Holzställe entstanden, die das Schulgebäude mit der Scheune fest 48 Vgl. Seng – Die Schulpolitik des Bistums Breslau (wie Anm. 44), S. 73. Vgl. Schul-Reglement 1801 (wie Anm. 43), S. 20 - 23 und 27. 50 Vgl. Weltzel - Die Cisterzienserpropstei Kasimir (wie Anm. 5), S. 173. 49 20 Ralph M. Wrobel verbinden würden.51 Dieses Haus, das bis 1910 als Schulgebäude in Kerpen genutzt wurde, stand schräg neben der Kirche zwischen den Höfen der Gärtner Rack und des Bauern Sacher, vermutlich auf einem traditionell zur Pfarrkirche in Kerpen gehörigen Grundstück.52 Abb. 3: Haus und Garten der katholischen Schule in Kerpen (vor 1911). Quelle: Handzeichnung nach den Katasterakten 1910 [Staatsarchiv Oppeln, Grund Ac ten für Bd. II Blatt 85 des Grundbuches von Kerpen / Gemeinde Kerpen 1819 – 1943, Sign.: 45/1519/0/3079, fol. 28]. Der Kostenaufwand für den Neubau von 1834 ist leider nicht bekannt. Gemäß dem Kerpener Diensturbarium von 1798 hatte das Dominium 51 52 Vgl. Schul- und Gemeinde Chronik von Kerpen (wie Anm. 25), fol. 3 - 4. Vgl. Handzeichnung nach den Katasterakten 1910 [Staatsarchiv Oppeln, Grund Acten für Bd. II Blatt 85 des Grundbuches von Kerpen / Gemeinde Kerpen 1819 – 1943, Sign.: 45/1519/0/3079, fol. 28]. Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 21 das Baumaterial zu beschaffen, was auf das Allgemeine Landrecht in Preußen zurückging, die Gemeinde hatte die Baukosten für den Bauhandwerker zu bezahlen, ebenso freie Spann- und Handdienste zu leisten.53 Vor der Säkularisierung des Gutes Kerpen wird der Zisterzienserorden allerdings kaum zum Schulbau beigetragen haben. Aus dem ebenso zur Zisterzienserpropstei Kasimir gehörigen Nachbardorf Komornik ist z.B. aus der Schulchronik bekannt, dass der Orden 1794 als Patron „weder zur Pfarrei noch zu den Schulgebäuden etwas bei(trug)“54. Da ab 1810 der königlich preußische Fiskus Schulpatron in Kerpen war, ist jedoch von einer reglementsmäßigen Lastenverteilung bei dem Bau des Schulgebäudes in Kerpen 1834 auszugehen. Auch der Ausbau der Schule 1870, der 450 Thaler kostete, wurde vom Fiskus getragen. Hinzu kamen die unentgeltlichen Spann- und Handdienste der Gemeinde.55 Nach der Einführung des Schulreglements von 1801 und der Säkularisation von 1810 hat sich zudem die Ausstattung des Kerpener Lehrers Koschek mit Grundstücken verbessert. Während auf der Brouillon Karte des Gutes Kerpen aus dem Jahre 1810 noch lediglich das „Organistenstück“ als Ausstattung der Kerpener Schule erkennbar ist, taucht in einem Verzeichnis von 1865 sowie der Schulchronik von 1870 eine umfangreichere Landausstattung auf. So besaß der Lehrer gemäß Schulchronik nun hinter der Schule einen Schulgarten von ca. ½ Morgen Fläche und gleich dahinter in derselben Breite ein Ackerstück bis an die Hotzenplotz von ca. 3 Morgen. (Vgl. Abb. 3) Dabei handelt es sich offensichtlich um einen Teil des bis 1810 zur Pfarrei gehörigen Pfarrstückes von ca. 8 Morgen Größe, welches auf der Brouillon Karte von 1811 deutlich erkennbar ist. Hinzu kam ein Schulacker von 7 Morgen gleich hinter dem Dorf auf Schreibersdorf zu, Obritze genannt. Dies muss ein Teil des Pfarrstückes gewesen sein, innerhalb dessen auch der „Organistenacker“ lag. Diese 10 Morgen waren gemäß der Aufstellung von 1865 tatsächlich 7 Morgen Schulgrundstück und 3 Morgen Organisten-Acker. Hinzu kamen seit 53 Vgl. Schul- und Gemeinde Chronik von Kerpen (wie Anm. 25), fol. 1. Vgl. Schulchronik Komornik (wie Anm. 23), fol. 4. 55 Vgl. Schul- und Gemeinde Chronik von Kerpen (wie Anm. 25), fol. 5. 54 22 Ralph M. Wrobel der Hutungsablösung von 1857 noch 1 Morgen Wiesen auf Zarudnia.56 Diese Erweiterung des Landbesitzes der Kerpener Schule wird nach der Säkularisation des Gutes Kerpen im Rahmen des Rezesses von 1817 erfolgt sein, von der sich Auszüge in den Grundbuchakten der Schule in Kerpen erhalten haben.57 Tabelle 2a: Einkünfte des Lehrers (1865) zahlbar von der Gemeinde. Thl. /Sgr./Pf. Gehalt (1869 um 25 Thl. erhöht) 50 20 Scheffel Rogen á 1 ½ Thl. 35 / 29 / 9 4 Scheffel Gerste á 1 Thl. 5/8/8 7 Klafter Kiefern Leibholz (seit 1841) 25 Zu Benutzung 7 Morgen Acker á 3 Thl. Ertrag 21 Zur Benutzung 1 Morgen Hutungsland, Ertrag 1 Hütungsentschädigung für Schwarzvieh 2 Summe: 146 / 8 / 5 Tabelle 2b: Einkünfte als Organist (1865) zahlbar von der Kirche. Thl./Sgr./Pf. Fundationen 1 1/3 der vorkommenden Accidenzen 5 Neujahrsgeld 2 / - / 18 56 Vgl. Specielles Verzeichnis sämtlicher Einnahmen des Lehrers und Organisten Barnert zu Kerpen (Staatsarchiv Oppeln, Grund Acten für Bd. II Blatt 85 des Grundbuches von Kerpen / Gemeinde Kerpen 1819 – 1943, Sign.: 45/1519/0/3079, fol. 11 – 11v.). 57 (Rezeß) zur Parzelle XIII (wie Anm. 17). Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 23 54 hausbackene Brote von den Bauern á 5 Sgr. 9 17 Kirmeskuchen von den Bauern á 1 Sgr. - / 17 Zur Benutzung 3 Morgen Acker á 3 Thl. Ertrag 9 Summe: 27 / - / 5 Quelle: Specielles Verzeichnis sämtlicher Einnahmen des Lehrers und Organisten Bar nert zu Kerpen [Staatsarchiv Oppeln, Grund Acten für Bd. II Blatt 85 des Grund buches von Kerpen / Ge meinde Kerpen 1819 – 1943, Sign.: 45/1519/0/3079, fol. 11 – 11v]. Das Gehalt der Lehrer in der Oberglogauer Umgebung wurde seit 1816 fixiert, im gleichen Jahr auch das Schulgeld der Eltern abgeschafft.58 Wie man anhand der Aufstellung von 1865 deutlich erkennen kann, sind alle Einkommen, die der Lehrer in seiner Funktion als Organist bereits 1679 erhielt, noch erhalten. Damals hatte er neben dem Organistenacker von jedem Bauern ein Brot und von der Gemeinde einen Florin erhalten, nun – ca. 200 Jahre später – erscheinen neben den drei Morgen immer noch die „hausbackenen Brote“ sowie gewisse geringe Geldeinnahmen. Hinzu kamen Kirmeskuchen von den Bauern, welche sicherlich auch eine alte Abgabe für den Küster / Organisten darstellen. Seine Einkünfte als Schullehrer, wie sie aus Tabelle 2a hervorgehen, sind hingegen jüngeren Ursprungs und auf die Umsetzung der preußischen Schulreglements von 1765 und 1801 zurückzuführen. 3.2.3 Lehrerausbildung und Verbesserung der Pädagogik Gemäß dem Schulreglement von 1801 durften die Lehrer und Adjuvanten (Hilfslehrer) kein nebenberufliches Gewerbe mehr ausüben. Insbesondere wurden ihnen nun „alle und jede Gewerbe nachdrücklich verboten, besonders der Bier- und Brandweinausschank, das Handeln und Musikmachen in Wirtshäusern und bei Hochzeiten“ (§ 32). Auch mit der eigentlichen Landwirtschaft sollten sie sich nicht 58 Vgl. Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 163. 24 Ralph M. Wrobel beschäftigen, sondern ihren Acker verpachten. (§ 14) 59 Für Kerpen ist hingegen belegt, dass zumindest Lehrer Barnert (1839 – 1874) neben dem Schulacker noch eine eigene Gärtnerstelle mit entsprechendem Acker besaß. Er wird daher wie die anderen Landwirte des Ortes gelebt und gewirtschaftet haben. 60 Die Lehrer sollten zudem eine Fachausbildung an einem staatlichen Lehrerseminar abgeschlossen haben.61 Dafür wurde im Jahre 1800 in Oppeln ein neues Seminar für Oberschlesien errichtet, das ab 1803 dann in Oberglogau residierte.62 Keine Neuerungen gab es hingegen bei der Forderung nach deutschen und polnischen Sprachkenntnissen. So war der ab dem 16. September 1798 in Kerpen ansässige Schullehrer und Organist, Bartholomäus Koschek, nachweislich in beiden Sprachen, deutsch und polnisch, bewandert. Über seine Ausbildung liegen allerdings keine Informationen vor. Das gilt auch für die Nachfolger Koscheks, die Lehrer Johann Trojan (1828 – 1839) und Joseph Barnert (1839 – 1874). Dass Zweisprachigkeit bei Lehrer Barnert vorlag, ist dadurch deutlich, dass er die Schulchronik des Dorfes 1870 in deutscher Sprache verfasste, den Unterricht aber offensichtlich primär in polnischer Sprache abhielt.63 Ob einer der Lehrer das Seminar in Oberglogau besucht hat, ist zwar nicht nachgewiesen. kann aufgrund der Anforderungen aus dem Schul-Reglement von 1801 aber vermutet werden. In pädagogischer Sicht brachte das Reglement von 1801 folgende Änderungen: Statt eines stumpfen Auswendiglernens sollten die Lehrer sich jetzt um eine Bildung des Verstandes der Kinder bemühen. Durch die sogenannte sokratische Methode sollte den Kindern vom Sinnli59 Schul-Reglement 1801 (wie Anm. 43), S. 23 und 34. Gemäß dem Rezess über die Zuteilung der Hutung Zarudnia und der Hoyna Wiesen zu Kerpen, 1857 (Staatsarchiv Breslau: Kom. Gen. Rej. Opolskiej: III 8383), fol. 97, hielt er die Gärtnerstelle Hyp.-Buch Nr. 4. 61 Vgl. Schul-Reglement 1801 (wie Anm. 43), § 1, ebenso Kosler – Die preußische Volks-schulpolitik (wie Anm. 14), S. 117 - 118. 62 Vgl. Schermuly – Das Lehrer-Seminar in Ober-Glogau (wie Anm. 11), S. 6 - 8, und Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 232. 63 Vgl. Schul- und Gemeinde Chronik von Kerpen (wie Anm. 25), fol. 2 - 3. 60 Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 25 chen ausgehend das Abstrakte erschlossen werden. In einer Anweisung der köngl. Schuldirektion wurde lt. § XII zu den Inhalten des Elementarunterrichts bestimmt: „Buchstabenkenntniß, Buchstabiren und Lesen, Religion und Christenthum; Rechnen und Schreiben, Kenntniß des menschlichen Körpers, und der vorzüglichsten Mittel, um ihn gesund und zur Arbeit tauglich zu halten; (…) Bekanntschaft mit der Natur“. 64 Ein entsprechendes Elementarbuch in deutscher und polnischer Sprache wurde durch die preußische Verwaltung bereitgestellt und war bereits 1803 „beinahe in ganz Schlesien eingeführt“65, also wohl sicherlich auch in Kerpen, dort aber in der polnischen Version. Ergänzt sei noch, dass das Recht zur Züchtigung der Schulkinder in Preußen stets unumstritten war. Die Gesetze beschränkten sich lediglich darauf, Ausschreitungen zu verhindern.66 Im Reglement von 1801 wurde ausdrücklich akzeptiert, dass während der Ernte die Schulen auf dem Lande für vier Wochen vollständig geschlossen wurden (§ 39) und im Sommer („von Georgi bis Martini“, d.h. 23.4. – 11.11.) nur vormittags drei Stunden Unterricht stattfanden. Im Winter hatte der Lehrer dazu noch zwei Stunden zusätzlich zu unterrichten. Nur die Nachmittage am Mittwoch und Sonnabend wurden ihm zur Erholung frei belassen. (§ 43) Dabei waren die kleinen Kinder, welche Buchstabieren lernen, nur einige Stunden am Vormittag zum Schulbesuch verpflichtet. Faktisch besuchten viele Kinder die Schule jedoch nur drei Monate im Jahr, wobei die Verhältnisse in den deutschsprachigen Kreisen links der Oder deutlich besser gewesen sein sollen als im rein polnischsprachigen Teil rechts des Flusses.67 Bezüglich des Schulbesuches ist es in der ersten Hälfte des 19. Jahr64 Vgl. Seng – Die Schulpolitik des Bistums Breslau (wie Anm. 44), S. 76 - 77. Ebd., S. 79. 66 Vgl. Rudolf Korth – Die preußische Schulpolitik und die polnischen Schulstreiks: Ein Beitrag zur preußischen Polenpolitik der Ära Bühlow, Würzburg 1963, S. 14. An der Kerpener Schule wurden die Kinder noch in der Zwischenkriegszeit von deutschen Lehrern, wie auch nach dem Krieg von ihren polnischen Nachfolgern „geprügelt“. [Mündliche Mitteilung von Kerpener Schulkindern der Zeit.]. 67 Schul-Reglement 1801 (wie Anm. 43), S. 36 - 39, sowie Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 167 und S. 121 - 122. 65 26 Ralph M. Wrobel hunderts aber wohl zu einer deutlichen Besserung in Oberschlesien gekommen. So verlautet ein Circular-Schreiben der königlichen Regierung in Oppeln aus dem Jahre 1855 an den Schulinspektor für den Oberglogauer Bezirk: „Die im § 43 des katholischen Schulreglements vom 18. Mai 1801 nachgegebene halbtägige Sommerschule ist an vielen Orten zu unserer Genugthuung ganz außer Gebrauch gekommen, und es wird das ganze Jahr hindurch mit Ausnahme der Rekreationstage täglich ein fünfstündiger Unterricht erteilt.“68 Wie das Schreiben weiter fortfährt, konnten sich diese Besserungsmaßen allerdings noch nicht überall durchsetzen. Allerdings konnte der Schullehrer Barnert 1870 in der Chronik schreiben, der Schulbesuch in Kerpen sei „ziemlich regelmäßig“, es gäbe aber auch den „Türunterricht“, worunter wohl das Unterrichten der Kinder auf dem Hof vor der Schule zu verstehen ist, wenn zu viele derselben zur Schule kamen. Zudem wurde durch das Reglement von 1801 die Einstellung eines Adjuvanten (Hilfslehrers) bei mehr als 100 Schülern pro Schule gefordert (§ 27).69 In Kerpen gab es allerdings trotz einer steigenden Anzahl schulpflichtiger und schulbesuchende Kinder (107 [1864], 140 [1870]) durchgehend nur eine einklassige Schule mit einem Lehrer.70 Unterricht kann daher erst möglich gewesen sein, wenn viele Kinder fehlten. In den Nachbardörfern war die Situation nicht viel anders. In Repsch, wo 1836 eine eigene Schule erbaut worden war, wurden 71 Kinder (1864) von einem Lehrer unterrichtet, in Körnitz gab es eine katholische Schule mit zwei Lehrern für 238 Kinder (1864), die auch aus den Nachbardörfern Reitersdorf und Neuhof kamen.71 Dass die Erfolge des Unterrichts begrenzt sein müssen, ist damit sicherlich deutlich. Dennoch ist ein Fortschritt feststellbar. Wie sich die Schulreformen in Kerpen auswirkten kann grob anhand eines Vergleichs von Unterschriften der örtlichen Hofbesitzer in Dokumenten festgestellt werden. So unterzeichneten im Jahre 1817 noch fast alle Stellenbesit68 Vgl. Schul-Currenden-Buch Oberglogau (wie Anm. 46), fol. 17v. Vgl. Schul-Reglement 1801 (wie Anm. 43), S. 33. 70 Vgl. Felix Triest - Topographisches Handbuch für Oberschlesien, Breslau 1864 (Neudruck Sigmaringen 1984), S. 1078, und Schul- und Gemeinde Chronik von Kerpen (wie Anm. 25), fol. 3 - 4. 71 Vgl. Triest – Topographisches Handbuch (wie Anm. 70), S. 1070 und 1080. 69 Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 27 zer den Dienstablösungsrezess mit drei Kreuzen, während 1857 von 87 Unterzeichnern des Hutungsablösungsrezesses schon 55 ihren Namen selber schreiben konnten. Drei Kreuze machten hier nur noch 15 Unterzeichner, insbesondere Häusler. Die restlichen 17 Einwohner fehlten.72 Auch wenn die Unterschriften 1857 zumeist krakelig und unsicher erscheinen, kann man doch von einer Verbesserung der Alphabetisierung sprechen. Man muss ja auch berücksichtigen, dass es sich bei den Unterzeichnern um Landwirte handelte, die bei ihrer täglichen Arbeit nie eine Schreibfeder in der Hand hielten. 3.2.4 Sprachenpolitik Von besonderem Interesse ist die preußische Sprachenpolitik dieser Zeit in Oberschlesien. Sie ist als sehr wechselhaft zu bezeichnen. Um 1815 war den Kinder in den meisten polnischsprachigen Orten Oberschlesiens die deutsche Sprache kaum bekannt. Deshalb wurde die Lehrerausbildung im Seminar in Oberglogau in den Jahren von 1814 bis 1844 nur deutsch-sprachig abgehalten, um Lehrer für Oberschlesien auszubilden, welche die deutsche Sprache – die Staatssprache Preußens – beherrschten.73 Desweiteren wurde großer Wert auf die Vermittlung der deutschen Sprache in den polnischsprachigen Dorfschulen gelegt. Das stieß bei der polnischsprachigen Bevölkerung kaum auf Widerstand. Ganz im Gegenteil, häufig hatten polnischsprachige Eltern sogar den Wunsch, ihre Kinder Deutsch lernen zu lassen, weil damit ein sozialer Aufstieg ermöglicht wurde. Zudem handelte es sich dabei um keine nationalpolitisch motivierte Germanisierung, sondern den Versuch, Bildungsstand und innerstaatliche Kommunikationsfähigkeit der polnischsprachigen Bevölkerung zu verbessern.74 Al72 Vgl. Dienstablösung Kerpen 1817 (Staatsarchiv Oppeln: Sign. 45/1519/0/3344), fol. 64 - 96, und Rezess über die Zuteilung der Hutung (wie Anm. 60). 73 Vgl. Schermuly – Das Lehrerseminar in Ober-Glogau (wie Anm. 11), S. 63, ebenso bei Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 138 155. 74 Vgl. ebd, S. 273. Das wird auch in der Diskussion um die richtige Schulsprache in Oberschlesien, welche damals u.a. in den Schlesischen Provinzialblättern abgehalten wurde deutlich. Vgl. dazu z.B. Joseph Kauschke – Ueber die 28 Ralph M. Wrobel lerdings kamen auf diese Weise manchmal auch rein deutschsprachige Lehrer in polnischsprachige Ortschaften, worunter der Unterricht natürlich litt.75 Die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit wird dadurch deutlich, dass um 1815 noch kaum ein Fortschritt bei der Einführung der deutschen Sprache in Oberschlesien festgestellt werden konnte, andererseits im Jahre 1824 alle Schulen im Kreis Neustadt als „deutsch“ (21) oder „polnisch-deutsch“ (32), keine als „polnisch“ galten.76 Kerpen muss demnach zu den polnisch-deutschen Schulen gezählt worden sein, was aber als Übertreibung der tatsächlichen Verhältnisse angesehen werden muss, da hier auch Jahrzehnte später nur geringe Deutschkenntnisse der Kinder festgestellt werden können. Die Erfolglosigkeit dieser Politik wurde erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich und führte zu einem grundlegenden Wechsel in der preußischen Sprachpolitik. So wurde einerseits im Jahre 1844 Polnisch-Unterricht für die Lehramtskandidaten im Oberglogauer Seminar Vorschrift.77 Ebenso wurde die polnische Sprache in den Volksschulen nun gefördert. So heißt es beispielsweise in einem Schreiben der königlichen Regierung in Oppeln vom 19.2.1863: „Den Lehrern an polnischen Schulen (…) muß es überlassen bleiben die Muttersprache der betreffenden Kinder zur Vermittlerin des (…) gegebenen Stoffes zu machen.“78 Andererseits machte noch 1859 der Neustädter Landrat den Lehrern in den „utraquistischen Schulen“ des Kreises eine Circular-Verfügung der Kreisschulinspektoren bekannt, in der bemängelt wird, dass „der deutschen Sprache immer noch nicht die erErziehung des gemeinen Mannes in Oberschlesien, in: SchlProvBl 15, 1792, S. 487 - 498, und 15, S. 98 - 109 & 305 - 317; Schaffarczyk – Ueber die Möglichkeit einer schnellen allgmeinen Einführung der deutschen Sprache in dem polnisch redenden Theile Oberschlesiens, in: SchlProvBl 100, 1834, S. 155 - 157; K. Bischoff – Soll der Unterricht in der Volksschule in der Muttersprache ertheilt werden? – Mit Rücksicht auf die Schulen polnischer Gegenden Schlesiens, in: SchlProvBl 129, 1849, S. 515 - 522. 75 Vgl. Schermuly – Das Lehrer-Seminar in Ober-Glogau (wie Anm. 11), S. 64, wo von einem Lehrer Neumann aus Neustadt berichtet wird, der 1835 nach Klein-Strehlitz kam, des Polnischen aber gar nicht mächtig war. 76 Vgl. Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 137 und 283. 77 Vgl. Schermuly – Das Lehrer-Seminar in Ober-Glogau (wie Anm. 11), S. 64. 78 Vgl. Schul Currenden-Buch Oberglogau (wie Anm. 46), fol. 66. Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 29 wünschte und nöthige Sorgfalt und Beförderung gewidmet wird.“79 Der deutsche Sprachunterricht muss sich daher bis dahin kontinuierlich auf einem sehr niedrigen Niveau befunden haben, wenn er überhaupt stattfand. Entsprechend schreibt Lehrer Barnert noch 1870 in der Schulchronik: „die Muttersprache der Schüler ist polnisch, jedoch werden sie auch in der deutschen Sprache bis zum Verständnis gebracht“80. Bis zu dieser Zeit kann daher wohl kaum von einer Zweisprachigkeit Kerpens wie seiner oberschlesischen Nachbardörfer gesprochen werden. 4. Ausblick und Bewertung Zu massiven weiteren Veränderungen kam es im oberschlesischen Schulwesen erst nach der Reichsgründung im Jahre 1870. Im „Gesetz betreffend der Beaufsichtigung des Unterrichts- und Erziehungswesens“ vom 11. März 1872 wurde endgültig festgelegt, dass Schulen „Veranstaltungen“ des Staates sind. Insbesondere die katholische Kirche wurde - im jetzt beginnenden Kulturkampf - aus dem Schulwesen ausgeschlossen. Entsprechend wurden die Schulaufsichtsorgane nur noch vom Staat ernannt. Die Beteiligung der Gemeinden wurde auf die äußere Schulverwaltung, d.h. Errichtung, Ausstattung und Unterhaltung der Schulen, begrenzt. Einen Einfluss auf die Auswahl der Lehrer hatte sie damit nicht mehr.81 Gemäß des Lehr- und Lectionsplanes vom 15.10.1872 durfte ab dem Schuljahr 1872/73 der „Unterricht … nur in deutscher Sprache stattfinden“, wie auch die Kerpener Schul- und Gemeinde Chronik vermeldet.82 Nach einem Schreiben der königlichen Regierung in Oppeln vom 1.6.1872 sollte die Schule „ die Aufgabe (haben), die ihr anvertrauten Kinder, besonders diejenigen, deren Muttersprache nicht die deutsche ist, in den Gebrauch der deutschen Sprache soweit einzufüh79 Betr. den deutschen Unterricht in utraquistischen Schulen, in: Neustädter Kreisblätter 1859-04-30, S. 89 - 90. 80 Vgl. Schul- und Gemeinde Chronik von Kerpen (wie Anm. 25), fol. 4. 81 Vgl. Korth – Die preußische Schulpolitik (wie Anm. 66), S. 15. 82 Vgl. Schul- und Gemeinde Chronik von Kerpen (wie Anm. 25), fol. 4 - 5. 30 Ralph M. Wrobel ren und darin zu befestigen, als erforderlich ist, um sie in ihren künftigen Lebensverhältnissen zur mündlichen und schriftlichen Verständigung mit ihren deutsch redenden Mitbürgern zu befähigen.“83 Lediglich der Religionsunterricht durfte noch in der Muttersprache der Kinder durchgeführt werden. Darin kann einerseits das Ende einer sprachlichen Toleranz, wie sie im Königreich Preußen üblich gewesen war, gesehen werden, andererseits aber auch ein konkretes Bemühen der preußisch-deutschen Staatregierung durch eine einheitliche Schulausbildung alle Bürger des neuen deutschen Nationalstaates zur Kommunikation in der deutschen Staatssprache zu befähigen. Letztendlich handelt es sich mit der Gesetzgebung von 1872 aber um einen Übergang von der pädagogisch-orientierten zur nationalpolitisch bestimmten Schulpolitik.84 Zusammen mit der kirchenfeindlichen Politik Bismarcks in den kommenden Jahren, waren die Ergebnisse dieser Politik verheerend, da sie in der oberschlesischen Bevölkerung eine anti-deutsche und später sogar pro-polnische Haltung begünstigten. Andererseits wurde in dieser Zeit das Schulwesen erheblich weiterentwickelt. Am 15.8.1873 wurde endlich ein erster Adjuvant (Hilfslehrer) in Kerpen eingestellt. Er hieß Julius Skora und stamme aus Leschnitz. Außerdem wurde endlich auch der sogenannte Industrieunterricht in Kerpen eingeführt. Er bestand aus einer handwerklichen Ausbildung wie z.B. Handarbeiten für die Mädchen.85 Eigentlich war er schon durch das Schulreglement von 1801 gefordert worden. (§ 58)86 Aufgrund zahlreicher Widerstände dauerte die Einführung in vielen Ortschaften viele Jahrzehnte, in Kerpen immerhin 69 Jahre! Die Industrieschule für die Mädchen wurde ab 1870 jeweils zwei Stunden wöchentlich durch die Lehrertochter Mathilde Barnert erteilt.87 Als 83 Schreiben der Königl. Regierung Oppeln vom 1.6.1872 (Schul-Currenden-Buch Oberglogau (wie Anm. 46), fol. 119v.). 84 Vgl. Korth – Die preußische Schulpolitik (wie Anm. 66), S. 35 - 41. 85 Vgl. Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 123. 86 Vgl. Schul-Reglement 1801 (wie Anm. 43), S. 48 - 49. 87 Vgl. Schul- und Gemeinde Chronik von Kerpen (wie Anm. 25), fol. 5. An der Übungsschule des Lehrerseminars in Oberglogau fand die Einführung der Industrieschule auch erst1863 statt. Vgl. dazu Schermuly – Das Lehrer-Seminar in Oberglogau (wie Anm.11), S. 153. Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 31 das alte Schulgebäude zunehmend baufällig und für die steigende Schülerzahl zu klein wurde, errichtete die Gemeinde Kerpen 1911 ein neues Schulhaus auf dem Nachbargrundstück. Kurz vor Beginn des zweiten Weltkrieges kam es zudem zu einer Vermögensauseinandersetzung bezüglich der bisher vereinigten Schul- und Kirchenämter des Lehrers, konkret bezüglich „Küsterschulgehöft” und Acker. Erst damals wurden auch diese beiden Ämter strikt getrennt. Damit entstand aber erst kurz vor dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches in Oberschlesien und somit auch Kerpen überhaupt ein modernes Schulwesen. Betrachtet man die Entwicklung des Schulwesens in Kerpen exemplarisch für das Schulwesen im preußischen Oberschlesien, kann man zu den folgenden Ergebnissen kommen. Eine kontinuierliche aber langsame Verbesserung der materiellen und pädagogischen Situation bezüglich Lehrerdotation, Schulhausbau und Klassenverkleinerung ist durchaus erkennbar. Durch die Schaffung des Lehrerseminars in Oberglogau konnte auch die Ausbildung der Lehrer deutlich verbessert werden. Andererseits war es sehr kontraproduktiv, die Finanzlast bei den Gemeinden zu konzentrieren. Wirkliche Verbesserungen traten deshalb immer erst ein, wenn die örtliche Gemeinde materiell dazu in der Lage war. In Kerpen wird das Patronat des königlichen Fiskus die Entwicklung beschleunigt haben. Denn dadurch, dass die königliche Regierung selber die Patronatspflichten besaß, stellte deren Leistung auch sicher. Zudem ist von einer wechselhaften Minderheitenund Sprachenpolitik im preußischen Oberschlesien zu sprechen. Aber erst mit der Reichsgründung 1870 wurde das Schulwesen in Oberschlesien und damit auch Kerpen massiv modernisiert, allerdings verbunden mit einer Politik, die gegen die katholische Kirche (Kulturkampf) und die polnische Sprache der oberschlesischen Bevölkerung gerichtet war. Die preußischen Schulreformen haben demnach in Kerpen wie auch in ganz Oberschlesien eine enorme Weiterentwicklung bewirkt, eine gezieltere staatliche Bildungspolitik, die auch zentral finanziert ist, wäre aus heutiger Sicht aber viel erfolgreicher gewesen.