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gefördert
durch
Sächsissches Staatssministeriuum
des Inn
neren (SMI))
Koordination / Kontakt
Prof. Dr. Ralph M. Wrobel (Leitung)
Frau Antje Hübner (Koordinationsbüro)
Fakultät Wirtschaftswissenschaften
Westsächsische Hochschule Zwickau
Postfach 20 10 37, 08012 Zwickau
Telefon: ++49(0)375/536-3496
E-Mail: [email protected]
[email protected]
Paper zum 7. Sächsischen Mittel- und Osteuropatag
1. Aliona Dietel
Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze am Beispiel der
rumänischen Minderheit in der Ukraine
2. Elena Temper
Kontroverse um Kurapaty
Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus
3. Werner Imhof
Das deutsch-tschechische Zeitzeugenprojekt „Geschichte verbindet“
4. Urban Kaiser
Ethnische Minderheiten und Konsolidierung der Demokratie in den baltischen Staaten
5. Daniela Pelka
Der deutsch-polnische Sprachkontakt in Oberschlesien am Beispiel der „Oberschlesischen
Nachrichten“
6. Małgorzata Świder
„Entgermanisierung“ und „Polonisierung“ in den oberschlesischen Schulen 1945 bis 1950
7. Stefan Troebst
Vorläufer der friedlichen Revolution 1989 in den osteuropäischen Nachbarstaaten
8. Jördis Winkler
Sprachenpolitik am Beispiel ausgewählter Minderheiten in Russland und Deutschland ( Sorben
in Deutschland und Burjaten in Russland)
9. Ralph Wrobel
Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit am Beispiel der
Dorfschule in Kerpen, Kr. Neustadt/OS
Aliona Dietel
Der Minderheitenschutz im postsowjetischen
Raum an der EU-Grenze unter besonderer
Berücksichtigung der rumänischen Minderheit in
der Ukraine
1.
Zur gegenwärtigen Minderheitensituation in der Ukraine
In der letzten Zeit wird der Minderheiten-Thematik immer mehr
Aufmerksamkeit gewidmet und das betrifft insbesondere den
postsowjetischen Raum, die Länder der ehemaligen Sowjetunion, die
plötzlich ihre Unabhängigkeit erhielten und vor der Frage der
nationalen Selbstfindung und des nationalen Selbstbewusstseins
standen, aber auch mit den nationalen Minderheiten in dem Land
zurecht kommen müssen. Die Ukraine, das zweitgrößte Land des
postsowjetischen Raumes und mit mehreren Regionen, in denen
minderheitliche Bevölkerungsgruppen verschiedener ethnischer
Herkunft zusammenleben, blieb davon auch nicht verschont.
Nur wenige Länder in Europa haben so viele objektive
Schwierigkeiten bei der Ausarbeitung einer angemessenen Minderheitenpolitik zu überwinden wie die Ukraine. Die russische
Minderheit ist im östlichen Teil des Landes und auf der Krim kompakt
angesiedelt: Das sind die Gebiete, in denen 1991 die Unabhängigkeit
der Ukraine und somit das Austreten aus der Jahrhunderte langen
institutionellen Union mit Russland am wenigsten begrüßt wurde.
Außerdem ist die russische Sprache nicht nur die Muttersprache von
ca. acht Millionen 1 ukrainischen Staatsbürgern (Gesamtbevölkerung
des Landes betrug zum 01.03.2011 ca. 45,75 Mio. Einwohner 2 ),
sondern auch die zweite Sprache von weiteren Millionen Ukrainern,
die sie zumindest so gut sprechen wie ihre eigene. Schließlich
1
2
Ukrainische Volkszählung (2001), Internet-Version: http://2001.ukrcensus.gov
.ua/eng/results/general/nationality/ (letzter Zugriff: 11.05.2011).
Ukrajins´ka pravda žytja, 18.04.2011, Internet-Version: http://life.pravda.com
.ua/society/2011/04/18/77487/ (letzter Zugriff: 11.05.2011).
2
Aliona Dietel
erschwert die Tatsache, dass sich die meisten Russen in der Ukraine
politisch mit einer Partei identifizieren, die von der Ideologie der
Sowjetunion keinen deutlichen Abstand genommen hat, eine sachliche
und neutrale Minderheitenpolitik.
Ein weiteres Problem stellen die so genannten deportierten Völker,
vor allem die Krimtataren dar. Die Rückkehr der aus politischen
Gründen Deportierten bzw. ihrer Nachkommen ist ein verständliches
Postulat, das jedoch nicht ohne Kompromisse mit den Völkern zu
verwirklichen ist, die mit der Überzeugung eingewandert sind, auf der
Krim eine bessere Zukunft zu finden. Trotz der Tatsache, dass sich wie auch internationale Organisationen bestätigen - die ukrainische
Regierung den Forderungen der Tataren gegenüber aufgeschlossen
zeigte und nicht die ukrainische Regierung, aber die sowjetische für
deren Deportationen verantwortlich war, sind die Tataren Kiew
gegenüber eher kritisch und richten ihre Sympathien auf Moskau.
Die Schwierigkeiten mit polnischen und ungarischen Minderheitengruppen, die kompakt in den westlichen Regionen der Ukraine
wohnen, sind vielleicht nicht so groß, dennoch fehlt es nicht an
Spannungen, da sie in bestimmten Bezirken die Mehrheit darstellen
und gegen die östlichen russischsprachigen Landesteile starkes
Misstrauen und manchmal sogar Feindseligkeit hegen.
Die zweitgrößte Minderheit, nach der Russische, in der Ukraine ist die
rumänische Minderheit. Trotz dieser Tatsache erhalten die Rumänen
in der Ukraine noch wenig Aufmerksamkeit seitens der Forschung,
obwohl, wie schon erwähnt, im Allgemeinen die Bedeutung des
Themas „Minderheit“ bzw. „Minderheitenschutz“ und „Minderheitenpolitik“ im letzten Jahrzehnt sehr zugenommen hat.
Das Hauptinteresse sowohl der internationalen als auch der
ukrainischen und russischen Sozialwissenschaft liegt allerdings auf
der Analyse der Beziehungen zwischen der russischen und der
ukrainischen Bevölkerungsgruppen und ihren Sprachen. Die kleineren
ethnischen Minderheiten werden wesentlich weniger berücksichtigt,
da sie keine Gefahr für die Polarisierung der Gesellschaft und somit
für die staatliche Sicherheit des Landes sind. Einen Sonderfall stellt
die rumänische Sprachwissenschaft bzw. Soziolinguistik dar, die ein
Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze
3
ständiges Interesse für die Situation des Rumänischen als
Minderheitensprache (zweitgrößte kompakt siedelnde Minderheit in
den Grenzgebieten) in der Ukraine zeigt.
2.
Demographische Lage
Der letzten Volkszählung von 20013 zufolge stellen die Ukrainer mehr
als drei Viertel der Gesamtbevölkerung dar. Die Russen sind mit 17,3
% Bevölkerungsanteil und mehr als 8 Mio. Menschen die größte
Minderheit in der Ukraine. Die anderen Minderheiten machen weniger
als ein % der Gesamtbevölkerung aus. Zu den größeren Minderheiten
mit mehr als 100.000 Angehörigen zählen Weißrussen, Moldauer,
Krimtataren, Bulgaren, Ungarn, Rumänen, Polen und Juden, die
größtenteils durch Eingliederung ihrer Siedlungsgebiete in die heutige
Ukraine gekommen sind, im Vergleich zu der russischen
Bevölkerung, die überwiegend erst viel später im Rahmen der
sowjetischen Industrialisierung eingewandert ist. Die Gruppierung der
rumänischsprachigen Bevölkerung (aufgeteilt in „Rumänen“ und
„Moldauer“) liegt auf der Liste der ethnischen Gruppen einmal auf
dem vierten Platz (Moldauer) und einmal auf dem achten Platz
(Rumänen). Zusammen stellen sie eine Ethnie von 409 600 Menschen
- diese Zahl wird nur von den Ukrainern selbst und den Russen
überboten.4
Territorial gesehen besetzen die meisten Minderheiten den westlichen
und südlichen Teil des Landes. Rumänen und Moldauer leben
vorwiegend im Gebiet Czernowitz, in Transkarpatien und im Gebiet
3
4
Ukrainische Volkszählung (2001), Internet-Version: http://2001.ukrcensus
.gov.ua/eng/results/general/nationality/ (letzter Zugriff: 11.05.2011). Gemäß der
letzten Volkszählung von 2001 hat die Ukraine 48.457.000 Einwohner, aber
Ukrajins´ka pravda zytja vom 18.04.2011 bringt uns eine viel niedrigere Zahl
von 45,75 Mio. Einwohner, was eine erstaunliche Verminderung der
ukrainische Bevölkerung innerhalb von zehn Jahren um ca. 2,7 Mio.
zeigt: http://life.pravda.com.ua/society/2011/04/18/77487/ (letzter Zugriff:
11.05.2011).
Vgl. Ukrainische Volkszählung (2001), Internet-Version: http://2001.ukrcensus
.gov.ua/eng/results/general/nationality/ (letzter Zugriff: 11.05.2011).
4
Aliona Dietel
Odessa. In der Region Czernowitz sind die Rumänen (12,5 %) und die
Moldauer (7,3 %) die beiden größten Minderheiten und verfügen über
die meisten Schulen mit Rumänisch als Unterrichtsprache (80 von
insgesamt 101). Die ungarische Minderheit befindet sich geschlossen
im Gebiet Transkarpatien, mit 12,1 % die größte Minderheit dieser
Region. Die polnische Minderheit lebt vorwiegend in die Regionen
Shytomyr (3,5 %), Chmelnyzkyj (1,6 %) und Lemberg/Lwiw (0,7 %).
Geschlossen siedeln auch die Bulgaren und die turksprachigen
orthodoxen Gagausen in der Region Odessa, die Krimtataren auf der
Krim sowie die Griechen in der Region Donezk.5
3.
Zur Minderheitensituation im Blickwinkel der Gesetzgebung in der Ukraine
3.1
Die hauptsächlichen Grundlagen des Minderheitenschutzes
Die wichtigsten Bestimmungen des Minderheitenschutzes sind in der
ukrainischen Verfassung6 7 zu finden. Danach hat der Staat nicht nur
5
Ebd.
Vgl. Konstytucija Ukrajiny (1996, letzte Änderung am 01.02.2011), InternetVersion: http://www.president.gov.ua/content/constitution.html , (letzter
Zugriff: 19.05.2011).
7
Ab dem 30. September 2010 gilt in der Ukraine WIEDER das Grundgesetz bzw.
die Verfassung von 1996 (Internet-Version: http://zakon1.rada.gov.ua/cgibin/laws/main.cgi?nreg=254%EA%2F96%2D%E2%F0 , letzter Zugriff:
11.05.2011) und nicht mehr die von Wiktor Juschtschenko im 2004 geänderte
Verfassung. Ab dem Tag ist die Ukraine wieder eine Präsidialrepublik bzw.
Semipräsidialrepublik. Diese Entscheidung hat das Verfassungsgericht
getroffen, weil die politische Reform vom Dezember 2004, die das Land in eine
Parlamentsrepublik verwandelt hatte, nicht mit dem Verfassungsgericht
vereinbart worden war und verstößt deswegen gegen das Grundgesetz - stellte
das Gremium fest. Die Entscheidung hat allerdings eine neue Welle von
Widersprüchen ausgelöst. Präsident Viktor Janukowitsch forderte dazu auf, die
Entscheidung des Verfassungsgerichts zu akzeptieren. Die ukrainischen Medien
nannten dieses Urteil „die zweite Machteinführung Janukowitschs“, weil er
ausgerechnet jetzt und nicht direkt nach seinem Wahlsieg (im Januar 2010)
umfangreiche Vollmachten bekommen hat. Das unter Wiktor Juschtschenko
eingeführte Gesetz zur Machtbegrenzung des Präsidenten wurde rückgängig
gemacht, und die Presse wird zunehmend zensiert.
6
Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze
5
für die Entwicklung der ukrainischen Mehrheitsbevölkerung, sondern
ebenso für den Schutz und die Entwicklung der ethnischen,
kulturellen, sprachlichen und religiösen Eigenarten der übrigen
alteingesessenen Völker und nationalen Minderheiten der Ukraine
Sorge zu tragen (Art. 11). Ein bevorzugter Platz ist dabei mit Art. 10
Abs. 3 den Minderheitensprachen zugewiesen: „Die Ukraine
garantiert freie Entwicklung, Gebrauch und Schutz der Sprache aller
nationaler Minderheiten.“8 und weiter im Art. 11: „Der Staat trägt [...]
zur Entwicklung der ethnischen Spezifik, der Kultur, der Sprache und
Religion [...] der einheimischen nationalen Minderheiten der Ukraine
bei.” 9 Art. 53 Abs. 5 der Verfassung garantiert den Gebrauch der
Minderheitensprachen im Schulwesen: „Den Bürgern, die nationalen
Minderheiten angehören, wird per Gesetz das Recht auf Unterricht in
der Muttersprache oder Unterrichtung der Muttersprache in den
staatlichen und kommunalen Bildungseinrichtungen oder mittels der
national-kulturellen Vereinigungen garantiert“10, aber ohne konkreten
Hinweise dazu. Das Recht, darüber zu entscheiden, wird den
regionalen Bildungsministerien zugeordnet.
Die anderen wichtigen Regelungen sind die Deklaration über die
Rechte der Nationalitäten in der Ukraine vom November 199111, das
Gesetz über die nationalen Minderheiten in der Ukraine vom 25. Juni
199212 und das Sprachengesetz vom 28. Oktober 1989 bzw. 199513.
8
Vgl. Konstytucija Ukrajiny (1996, letzte Änderung am 01.02.2011), InternetVersion: http://www.president.gov.ua/content/constitution.html , (letzter
Zugriff: 19.05.2011), Teil 1. Art. 10 Abs. 3.
9
Ebd., Teil. 1. Art. 11.
10
Ebd., Teil. 2. Art. 53. Abs. 5.
11
Deklaracija prav nacional´nostej Ukrajiny, vom 01.11.1991, Internet-Version:
http://jurconsult.net.ua/zakony/zakon_show.php?zakon_id=676&dbname=laws
uk_1991 , (letzter Zugriff: 25.05.2011).
12
Zakon Ukrajiny „Pro nacional´ni menšyny v Ukrajini“, vom 25.06.1992,
Internet-Version: http://zakon.rada.gov.ua/cgi-bin/laws/main.cgi?nreg=2494-12
, (letzter Zugriff: 25.05.2011).
13
Zakon Ukrajiny „Pro movy v Ukrajini“, vom 28.10.1989, Internet-Version:
http://zakon.rada.gov.ua/cgi-bin/laws/main.cgi?nreg=8312-11 , (letzter Zugriff:
25.05.2011).
6
Aliona Dietel
Im Bezug auf den Sprachgebrauch der Minderheiten finden wir die
einzelnen Bestimmungen in verschiedenen Fachgesetzen wie
Bildungsgesetze, Gerichts- und Mediengesetze.14
Weil das noch in sowjetischer Zeit verabschiedete Sprachengesetz
199515 nur teilweise an ukrainische Gesetze angepasst wurde, bleiben
immer noch Unklarheiten und endlose Konfliktsituationen in Bezug
auf die Sprachen im Land. Ein Versuch, diese zu lösen, ist der am
13.12.2006 registrierte Gesetzesentwurf „Über die Sprachen der
Ukraine“16, der von drei Abgeordneten des Parlaments aus der Partei
der Regionen vorgelegt wurde. Er wurde jedoch von der Regierung
am 26.02.08 abgelehnt; auch wurden das Gesetzesprojekt "Über
Regionalsprachen und Minderheitensprachen" (am 03.04.2008) und
der Vorschlag zur Ergänzung des Gesetzes "Über die Sprachen in der
Ukrainischen SSR" zurückgewiesen.17
Das Gesetz „Über die Sprachen der Ukraine“ sollte dem schwelenden
Sprachkonflikt, das Russische als zweite Amtsprache anzuerkennen,
ein Ende setzen. Gleichzeitig soll es das gesamte Sprachproblem der
Ukraine lösen, indem es Klarheit schafft über Freiheiten und
Einschränkungen sowohl für das Ukrainische (als einzige
Amtsprache) als auch für die zahlreichen Minderheitensprachen. 18
14
Vgl. Carmen Schmidt, Minderheitenschutz im östlichen Europa. Ukraine, 2005.
Internet Version: http://www.uni-koeln.de/jur-fak/ostrecht/minderheitenschutz/
, (letzter Zugriff: 11.05.2011), S. 14.
15
Vgl. Zakon Ukrajiny „Pro movy v Ukrajini“, vom 28.10.1989, InternetVersion: http://zakon.rada.gov.ua/cgi-bin/laws/main.cgi?nreg=8312-11 , (letzter
Zugriff: 25.05.2011).
16
Projekt des Gesetzes „Über die Sprachen der Ukraine“, registriert am
30.11.2006. Internet-Version: http://gska2.rada.gov.ua/pls/zweb_n/webproc
4_1?id=&pf3511=28857 (letzter Zugriff: 11.05.2011).
17
Vgl. Beschluss der Werchowna Rada, Internet-Version: http://gska2.rada.
gov.ua/pls/zweb_n/webproc6_main?id3D&pid0693D120&Ses3D0&Skl3D7
(letzter Zugriff: 07.06.2008).
18
Vgl. Evgenij Kušnarjov, „My postaralis´podgotovit´takoj zakonoproekt, kotoryj
by polnost´ju ureguliroval jazykovuju problemu v Ukrajine“. Materialy presskonferencii, 2006, Internet-Version: http://www.kushnaryov.com/interviews
/45719490431c9/, (letzterZugriff: 07.06.2008).
Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze
7
Russisch ebenso wie Weißrussisch, Bulgarisch, Gagausisch, Jiddisch,
Krim-Tatarisch, Moldauisch, Deutsch, Neugriechisch, Polnisch,
Rumänisch, Slowakisch und Ungarisch werden hier als
„Regionalsprachen“ bezeichnet. Dieser Punkt ist nach Meinung der
Verfasser in genauer Übereinstimmung mit der in der Ukraine
ratifizierten
Europäischen
Charta
der
Regionaloder
19
20
Minderheitensprachen , die neben der Ukrainischen Verfassung die
Hauptgrundlage dieses Gesetzentwurfes ist.
3.2
Schulpolitik in der Ukraine
Das Bildungssystem der Ukraine hat sich seit Beginn der
Unabhängigkeit allmählich verändert und sich dabei zunehmend an
Westeuropa orientiert. Die zehnklassige Schule sowjetischen Typs
wurde durch ein zwölfklassiges System mit einer vierjährigen
Eingangsstufe abgelöst. Das neue System wurde am 1. September
2002 eingeführt, galt aber nur für die erste Klasse. Da jedoch das
ganze Programm teilweise angepasst werden muss, erleben auch die
anderen Klassen viele Veränderungen. Doch bereits nach nur acht
Jahren verabschiedete Werchowna Rada ein neues Gesetz über die
allgemeine mittlere Bildung 21 , laut welchem ab dem 1. September
2010 eine elfjährige Schulausbildung festgelegt wurde. Dabei wurden
ein verpflichtendes Vorschuljahr für die Kinder ab fünf Jahre
hinzugefügt und die Frist der Profilausbildung in älteren Klassen auf
ein Jahr verkürzt. Im Ergebnis beinhaltet die heutige Ausbildung für
die Hochschulreife ein Jahr Vorschule, vier Jahre Grundschule, fünf
Jahre Elementarschule und zwei Jahre Oberschule. Als Hauptgrund
19
Zakon Ukrajiny „Pro ratyfikaciju Evropejs´koi hartiji regional´nyh mov abo
mov menšyn, vom 15.05.2003, Internet-Version: http://zakon.rada.gov.ua/cgibin/laws/main.cgi?nreg=802-15 (letzter Zugriff: 09.05.2011).
20
Vgl. Konstytucija Ukrajiny (1996, letzte Änderung am 01.02.2011), InternetVersion: http://www.president.gov.ua/content/constitution.html , (letzter
Zugriff: 19.05.2011).
21
Vgl. Zakon Ukrajiny „Pro zagal´nu serednju osvitu“, vom 13.05.1999, (letzte
Änderung am 06.07.2010), Internet-Version: http://osvita.ua/legislation/law
/2232 (letzter Zugriff: 11.05.2011).
8
Aliona Dietel
für die Auflösung der zwölfjährigen Schulausbildung durch die
elfjährige wurde von Experten und Werchowna Rada angegeben, dass
die erste Reform ungerechtfertigt große Ausgaben aus dem
Staatshaushalt nach sich zog, insbesondere für die Bezahlung der
größeren Anzahl von Lehrkräften. Nach dem neuen Modell bezahlen
die Eltern das Vorschuljahr im Kindergarten und so werden seitens
des Staates die Kosten für ein Jahr gespart.
Der Gebrauch der Sprachen im Schulwesen ist nur im
Sprachengesetz22 geregelt. Konkretisierungen in den Bildungsgesetzen
sind nicht erfolgt und insofern wird hier oftmals auf das
Sprachengesetz hingewiesen. 23 Eine ausführliche Analyse des
Sprachengesetzes unternimmt Carmen Schmidt in 2005.24 Sie betont
auch, dass nach dem Sprachengesetz das Recht auf die Wahl der
Unterrichtssprache ein unveräußerliches Recht der ukrainischen
Bürger darstellt. Gemäß diesem Gesetz wird der Unterricht in der
Muttersprache auf allen Ebenen der Bildung garantiert. So hat jedes
Kind das Recht auf Erziehung und Erlangung von Bildung in der
Nationalsprache bzw. der jeweiligen Muttersprache. Der Staat
verpflichtet sich zur Schaffung von Vorschuleinrichtungen und
Schulen (Art. 25) sowie Fach- und Hochschulen (Art. 28) mit
minderheitensprachlichem Unterricht. Die Errichtung von Vorschuleinrichtungen und allgemeinbildenden Schulen mit Unterricht in einer
Minderheitensprache oder die Einrichtung spezieller Klassen mit
minderheitensprachlichem Unterricht wird in das Belieben des Staates
gestellt und zudem auf die Orte begrenzt, an denen eine Minderheit
22
Vgl. Zakon Ukrajiny „Pro movy v Ukrajini“, vom 28.10.1989, InternetVersion: http://zakon.rada.gov.ua/cgi-bin/laws/main.cgi?nreg=8312-11 , (letzter
Zugriff: 25.05.2011).
23
Vgl. Zakon Ukrajiny „Pro zagal´nu serednju osvitu“, vom 13.05.1999, (letzte
Änderung am 06.07.2010), Internet-Version: http://osvita.ua/legislation/law
/2232 (letzter Zugriff: 11.05.2011); und Zakon Ukrajiny „Pro zagal´nu
serednju osvitu“, vom 17.01.2002, in: Vidomosti Verhovnoji Rady Ukrajiny,
2002, №20.
24
Vgl. Carmen Schmidt, Minderheitenschutz im östlichen Europa. Ukraine, 2005,
Internet- Version: http://www.uni-koeln.de/jur-fak/ostrecht/minderheitenschutz/
(letzter Zugriff: 11.05.2011), S. 14.
Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze
9
geschlossen siedelt. Wenn keine ausreichende Zahl an Schülern für
die Einrichtung gewöhnlicher Schulen/Klassen zustande kommt,
können auf der Grundlage der am 04.11.1992 vom Bildungsministerium und dem Republikrat der national-kulturellen Vereinigungen gebilligten Regelung Sonntagsschulen an deren Stelle treten.25
In Fach- und Hochschulen, die an Orten gelegen sind, in denen eine
Minderheit geschlossen angesiedelt ist, kann zugleich neben
Ukrainisch auch die Sprache dieser Minderheit die Unterrichtssprache
sein. Dieses Recht begünstigt aber in der Tat nur die russische
Minderheit an Fach- und Hochschulen in der Ostukraine.
Verschiedenen Publikationen zufolge sind in den ersten Jahren der
Unabhängigkeit der Ukraine zunächst die russischen Vorschuleinrichtungen drastisch zurückgegangen. Der Anteil der Kinder in
russischen Einrichtungen ist im Zeitraum 1991 - 2002 um fast 30 (von
48,8 auf 19) % gesunken, während in ukrainischen Kindergärten der
Anteil um fast 30 % gestiegen ist, von 50,8 % im Jahre 1999 auf 80,5
% im Jahre 2002.26 Zunehmend schicken selbst die russischen Eltern
ihre Kinder in ukrainischsprachige Vorschuleinrichtungen. Eigentlich
ist dies nach der Wende charakteristisch für alle Minderheiten,
einschließlich auch für die rumänische Minderheit.
Ähnliche Tendenzen sind bei den allgemeinbildenden Mittelschulen,
die nach dem neuen Gesetz über die allgemeine mittlere Bildung 27
drei Stufen - Stufe 1 (4 Jahre), Stufe 2 (5 Jahre) und Stufe 3 (2 Jahre) umfassen, sowie bei den höheren Lehreinrichtungen festzustellen. Der
Anteil des Unterrichts in Ukrainisch ist in den allgemeinbildenden
Tagesmittelschulen von 1991/92 bis 2002/03 von 49 auf 73 %
25
Vgl. Eugen Patraş, Minorităţile naţionale din Ucraina şi Republica Moldova.
Statutul juridic, Ediţia a 2-a, Editura Alexandru cel Bun, Cernăuţi, 1999, S. 85.
26
Vgl. Statističnij Ščoričnik Ukraïni za 2002 Rik/Statistical Yearbook of Ukraine
for 2002, Kiew 2003, S. 501.
27
Vgl. Zakon Ukrajiny „Pro zagal´nu serednju osvitu“, vom 13.05.1999, (letzte
Änderung am 06.07.2010), Internet-Version: http://osvita.ua/legislation/law
/2232 (letzter Zugriff: 11.05.2011).
10
Aliona Dietel
gestiegen.28 Zwischen 1990 und 1997 wurden rund 700 Schulen mit
Russisch als Unterrichtssprache in Schulen mit Ukrainisch als
Unterrichtssprache umgewandelt.29
Allerdings verfügen alle Minderheiten in ihren Siedlungsgebieten über
Schulen in ihrer Sprache, bilinguale Schulen oder spezielle Klassen
oder Gruppen mit Unterricht in der Minderheitensprache. Die
Minderheitenschulen umfassen jedoch nicht immer alle Schulstufen.
Über bis zur Hochschulreife führende Gymnasien oder Lyzeen
verfügen neben der russischen Minderheit nur die ungarische und die
rumänische Minderheit in Transkarpatien und in Czernowitz sowie
mit einem trilingualen Gymnasium, in dem offiziell drei Sprachen
(Ukrainisch, Russisch, Bulgarisch) Unterrichtssprache sind, auch die
bulgarische Minderheit.
Gleichzeitig ist der Anteil der Studenten im Hochschulbereich, die ihr
Studium in Ukrainisch absolvieren, gestiegen (landesweit von 55 % in
den Jahren 1995/96 auf 82 % in 2002/03 bei Stufe 1 und 2, von 51 auf
78 % bei Stufe 3 und 4).30
3.3
Sprachgebrauch
Der Gebrauch der Muttersprache im privaten Bereich wird
grundsätzlich nicht beschränkt. Das Recht, die Nationalsprache oder
jede andere Sprache zu gebrauchen, ist im Gegenteil in der
28
Vgl. Carmen Schmidt, Minderheitenschutz im östlichen Europa. Ukraine, 2005,
Internet- Version: http://www.uni-koeln.de/jur-fak/ostrecht/minderheitenschutz/
(letzter Zugriff: 11.05.2011), S. 26.
29
Als Gegenbeispiel könnte die Autonome Republik Krim dienen – in dieser
Region gibt es keine Schule mit Ukrainisch als Unterrichtssprache und die über
5 Mio. dort lebenden Ukrainer geben die russische Sprache als ihre
Muttersprache an. Dies zeigt, wie stark sich sowohl die Mehrheitsbevölkerung
als auch die Minderheiten der jungen, unabhängigen Ukraine zu ihren
kulturellen und ethnischen Wurzeln bekennen. Gleichzeitig kann man bei
einem bedeutenden Anteil der Bevölkerung die verbliebene sowjetische
Prägung erkennen, die durch die Sprache sehr offensichtlich geäußert wird.
30
Vgl. Statističnij Ščoričnik Ukraïni za 2002 Rik/Statistical Yearbook of Ukraine
for 2002, Kiew 2003, S. 514, 516.
Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze 11
Verfassung (Art. 10 & 11)31 ausdrücklich garantiert und stellt nach der
Präambel des Sprachengesetzes "ein unveräußerliches Recht des
Bürgers" dar 32 . Einzelne Beschränkungen bestehen allerdings im
Bereich der Wirtschaft.
Staatssprache der Ukraine und damit Amtssprache der Behörden und
sonstigen Staatsorgane ist nach der Verfassung (Art. 10 Abs. 1) und
dem Sprachengesetz (Art. 2 Abs. 1) allein Ukrainisch.
4.
Die Rumäner und das Rumänisch als Minderheitssprache in
der Ukraine
Im Folgenden werde ich mich hauptsächlich auf die Region
Czernowitz (Siehe dazu auch Punkt 2) als Untersuchungsfeld
beziehen, weil sie sowohl quantitativ als auch qualitativ gesehen die
repräsentativste rumänische soziokulturelle Zone der Ukraine ist. Die
Analyse bezieht sich hauptsächlich auf die persönlich durchgeführten
Interviews mit Lehrern und Schülern aus den Schulen mit Rumänisch
als Unterrichtsprache sowie gemischtsprachigen Schulen aus der
Region in dem Zeitraum von 2005 bis 2009.
4.1
Die aktuelle Situation des rumänischen
schulwesens
Minderheiten-
Wie schon oben erwähnt, nach der russischen ist die rumänische
Minderheit mit ca. 409 600 Personen die zweitgrößte in der Ukraine.
Ein Drittel dieser Minderheit lebt heute in der Region Czernowitz etwa 181.780 Personen 33 . Damit, aus der Sicht der geschlossenen
Zusammenleben der Minderheit, ist sie in dieser Region die
31
Vgl. Konstytucija Ukrajiny (1996, letzte Änderung am 01.02.2011), InternetVersion: http://www.president.gov.ua/content/constitution.html , (letzter
Zugriff: 19.05.2011).
32
Vgl. . Zakon Ukrajiny „Pro movy v Ukrajini“, vom 28.10.1989, InternetVersion:
http://zakon.rada.gov.ua/cgi-bin/laws/main.cgi?nreg=8312-11
,
(letzter Zugriff: 25.05.2011), Art. 85.
33
Ukrainische Volkszählung (2001), Internet-Version: http://www.ukrcens
us.gov.ua/results/general/nationality , (letzter Zugriff: 11.05.2011).
12
Aliona Dietel
zahlreichste und hier befinden sich auch die meisten Schulen mit
Rumänisch als Unterrichtssprache (80 von insgesamt 101
entsprechenden Schulen, die von 17 % der Schüler der Region besucht
werden) 34 und die meisten Schulen (11), in denen in zwei
Unterrichtssprachen unterrichtet wird: Ukrainisch und Rumänisch. 35
Bis zur Unabhängigkeitserklärung der Ukraine im Jahr 1990 war das
Russische die vorherrschende Sprache in Öffentlichkeit, Verwaltung
und Bildungswesen, doch seitdem rückt mehr und mehr das
Ukrainische an dessen Stelle. So muss seit dem Schuljahr 1991/92 in
den Mittelschulen mit Rumänisch als Unterrichtssprache (sowie in
allen anderen Minderheitenschulen) auch Ukrainisch unterrichtet
werden.36 Seither sind weitere Anordnungen in Kraft getreten, die auf
einen Abbau der für die Minderheitensprache zur Verfügung
stehenden
Unterrichtsstunden zugunsten
des
Ukrainischen
hinauslaufen.
Entsprechend der statistischen Daten sank die Zahl der Schulen mit
Rumänisch als Unterrichtssprache in der Region Czernowitz von 86
Schulen im Schuljahr 1991/1992 auf gegenwärtig 80 Schulen. In all
diesen Schulen wurden weder die Eltern noch die Pädagogen oder die
Schüler selbst nach ihrer Meinung zu dieser Veränderung gefragt.
Diese Entwicklungen ordnen sich in die nach dem Zusammenbruch
der Sowjetunion in nahezu allen ehemaligen Sowjetrepubliken
eingetretenen Veränderungen ein, in deren Verlauf die nunmehr
34
35
36
Statistische Daten aus der regionalen Bildungsverwaltung: Außer der
rumänischen Minderheit (mit 20 % der Gesamtbevölkerung der Region
Czernowitz) verfügt die russische Minderheit über zwei Schulen mit Russisch
als Unterrichtsprache und sieben Schulen, die Russisch und Ukrainisch als
Unterrichtsprache haben. Die polnische Minderheit (0,5 % der regionalen
Bevölkerung) verfügt über keine Schule mit Polnisch als Unterrichtssprache.
Polnisch wird jedoch als Fachunterricht an drei Schulen angeboten. Die
deutsche Minderheit hat eine Sonntagsschule mit drei Gruppen von jeweils 35
Schülern. Die jüdische Minderheit verfügt über eine Schule, wo Jiddisch als
Unterrichtsfach gelehrt wird.
Statistische Daten aus der regionalen Bildungsverwaltung.
Vgl. Jurij Pradid, Movni pytannja v Ukrajini. 1997 – 2000: Dokumenty i
materialy. Simferopol´ 2003, S. 156-195.
Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze 13
unabhängigen Staaten in ihren Verfassungen oft den politischen,
sozialen und rechtlichen Status ihrer ethnischen Minderheiten und
deren Sprachen neu bestimmten. Wie in dem Abschnitt 3.1 dieses
Aufsatzes zu lesen ist, das ukrainische Gesetzt garantiert verschiedene
Freiheiten der Entwicklung und des Schutzes für die eigenen
Minderheiten in dem Land.
Die Realität jenseits der rechtlichen Beschlüsse sieht jedoch anders
aus. 37 Bei allen Rechten und Freiheiten für die nationalen
Minderheiten in der Ukraine muss bemerkt werden, dass das
rumänischsprachige Unterrichtswesen in den letzten Jahren
gravierende Rückschläge hinnehmen musste: Die Stundenzahl für den
Unterricht der rumänischen Sprache und Literatur wurde seit 1991
schrittweise, bis zu 30 %38, zugunsten der ukrainischen Sprache und
Literatur reduziert, rumänische Literatur ist als eigenständiger
Unterrichtsgegenstand aus den Lehrplänen verschwunden und wird
lediglich im Rahmen der Weltliteratur behandelt, womit die spezifisch
rumänischen Bildungsinhalte stark verringert wurden. Mit der
Verordnung über den Abschluss des Schuljahres 1997/98 in den
Mittelschulen der Ukraine ist lt. Anordnung Nr. 33 vom 3. Februar
1998 des Bildungsministeriums in den Abschlussprüfungen der Status
der rumänischen Sprache und Literatur herabgestuft worden39, da die
Pflichtprüfungen nunmehr ukrainische Sprache und Literatur sind,
während die Prüfungen in der Muttersprache und der dazugehörigen
Literatur wahlweise erfolgen. Auf diese Weise sinkt das Interesse am
37
Diese Situation wird auch von anderen Forschern diskutiert. Vgl. dazu Klaus
Bochmann, „Rumänen in der Ukraine. Eine Minderheit zwischen den Fronten“,
in: P. Nelde/Rosita Rindler Schjerve (Hrsgg.): Minderheiten und Sprachpolitik,
St. Augustin 2001, S. 217- 226; Eugen Patraş, Minorităţile naţionale din
Ucraina şi Republica Moldova. Statutul juridic, Ediţia a 2-a, Editura Alexandru
cel Bun, Cernăuţi, 1999; Aleksandr Ševčenko, Ukrajinskie rumyny kak primer
dejstvija Zakona o jazyke, 1999, Internet-Version: http://www.eawarn.ras.ru
/centr/eawarn/news/1999/05_99/05_05.htm , (letzter Zugriff: 11.05.2011).
38
Vgl. Vasile Bizovi, „Unele aspecte ale funcţionării limbii române în şcolile
româneşti din regiunea Cernăuţi“, in: Glasul Bucovinei, Nr. 2, Cernăuţi –
Bucureşti, 1998, S. 88-91.
39
Vgl. Eugen Patraş, Minorităţile naţionale din Ucraina şi Republica Moldova.
Statutul juridic, Ediţia a 2-a, Editura Alexandru cel Bun, Cernăuţi, 1999, S. 88.
14
Aliona Dietel
Studium dieser Fächer, da sich die Schüler auf die Pflichtfächer und
jene Fächer konzentrieren, die ihnen eine Perspektive sichern. Ebenso
wird ausgeschlossen, die Zulassungsprüfungen für das Hoch- und
Fachschulstudium in der Muttersprache abzulegen40, womit gegen die
Empfehlung 1353 des Europarates vom 27. Januar 1998 gehandelt
wird, in der es heißt, dass “die Studenten der Minderheitengruppen die
Möglichkeit haben müssen, die Zugangsprüfungen zu den
Hochschulen in ihrer Muttersprache abzulegen”41. Hinzu kommt: Alle
Bewerber (einschließlich derjenigen, die eine Schule mit anderer
Unterrichtssprache als der Staatssprache absolviert haben) müssen seit
1997 eine obligatorische Prüfung zur ukrainischen Sprache ablegen –
unabhängig vom angestrebten Studienfach.
Obwohl in den letzten Jahren die Schüler der rumänischsprachigen
Schulen das Ukrainische sehr gut beherrschen, haben sie
Schwierigkeiten mit den Zugangsprüfungen der Hochschulen, weil sie
das entsprechende Fachwissen auf Rumänisch erworben haben.
Dementsprechend sind sie – im Vergleich zu ihren ukrainischmuttersprachlichen Mitbewerbern – oft benachteiligt. Um das zu
verhindern, verwenden viele Lehrer im Unterricht auch oder nur
ukrainische Lehrbücher. So können die Schüler den Fachwortschatz
auf Ukrainisch beherrschen, meistens leidet unter dieser Konzentration auf das Ukrainische jedoch ihr rumänischer Wortschatz.
Nachteilig für die Rumänischkenntnisse wirkt es sich zudem oft aus,
dass die Lehrer für die nicht rumänisch-philologischen Fächer an den
rumänischsprachigen Schulen ausschließlich in der Staatssprache
Ukrainisch ausgebildet werden. Die sprachlichen Probleme, die sich
daraus ergeben, sind als klare Konsequenz dieses Defizits zu
bewerten. Besonders junge Fachlehrer, die ihr Fachwissen auf
Ukrainisch erworben haben und dieses den Schülern in deren
Muttersprache vermitteln müssen, tun dies zwangsläufig in einem mit
40
In der USSR haben die Minderheitenangehörigen die Zugangsprüfungen zu den
Hochschulen in ihrer Muttersprache abgelegt und mit der zweiten Prüfung
wurden die Russischkenntnisse (damalige Staatsprache) geprüft.
41
Vgl. Eugen Patraş, Minorităţile naţionale din Ucraina şi Republica Moldova.
Statutul juridic, Ediţia a 2-a, Editura Alexandru cel Bun, Cernăuţi, 1999, S. 88.
Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze 15
Ukrainismen und Russismen durchsetzten Rumänisch. Sie sind
gezwungen, bei der Unterrichtsvorbereitung doppelte Arbeit zu
leisten, indem sie den Stoff übersetzen oder – im besten Fall – auf
Material aus Rumänien zurückgreifen. Auf diese Weise entfernt sich
das in der Ukraine geschriebene und gesprochene Rumänisch
schrittweise vom gültigen Standard und wird (wieder) zu einem
dialektalen und von slawischen Elementen geprägten Idiom. Dazu
trägt auch die Übermacht der Radio- und Fernsehstationen, der
Presseerzeugnisse und Bücher in den Staatssprachen Ukrainisch und
Russisch bei. Die aus Rumänien und der Republik Moldau zu
empfangenden elektronischen Medien können aufgrund ihrer geringen
Dichte kein Korrektiv entgegensetzen.
In den letzten Jahren wurde stark propagiert, an rumänischen Schulen
parallel zu Rumänisch die Unterrichtssprache Ukrainisch einzuführen.
So kommen wir heute in der Region auf die von 11 rumänischukrainischen Schulen. 42 Damit vollzieht sich eine Wandlung der
rumänischen Schulen hin zu gemischtsprachigen Schulen, was im
nächsten Schritt eine weitere Veränderung mit sich bringen kann: die
Entwicklung
einsprachiger
Schulen
mit
Ukrainisch
als
Unterrichtssprache.
Das alles hat nicht nur zur Verschlechterung der Kenntnisse der
Muttersprache bei den rumänischen Schülern, sondern auch zur
Änderung der sprachlichen Verhaltensweisen der Schüler geführt.
Man beobachtet in der Region Czernowitz wachsende ukrainische
Interferenzen (zuzüglich zu den bisherigen russischen) im
Rumänischen und unter den Jugendlichen wird die Frage nach dem
Sinn, sich des Rumänischen zu bedienen, immer lauter.
Dementsprechend ist die Zahl der an der Nationalen Universität
Czernowitz für rumänische Philologie eingeschriebenen Studenten seit
1994 von 150 auf knapp 80 Personen heute gesunken. Die Zahl der
jährlich neu Immatrikulierten liegt beim Direktstudium bei ca. 10
Studenten und beim Fernstudium bei ca. 6 Studenten. Zudem ist es für
die Absolventen des Rumänischstudiums auch immer schwerer
geworden, Arbeitsplätze zu finden.
42
Statistische Daten aus der regionalen Bildungsverwaltung.
16
Aliona Dietel
1997 wurde die Czernowitzer Buchhandlung „Luceafărul“ auf
Anweisung staatlicher Behörden geschlossen. Sie war in der Zeit der
Sowjetunion gegründet worden und war stets die einzige
Buchhandlung mit rumänischsprachigen Büchern in Czernowitz. Seit
der Unabhängigkeit der Ukraine konnte man bei „Luceafărul“ jedoch
keine rumänischen Bücher mehr finden. Schließlich wurde
„Luceafărul“ geschlossen. Heute steht an ihrer Stelle die ukrainische
Buchhandlung „Kniga“.43
Trotz der oben genannten Rückschläge, die die rumänische
Minderheit in der Region Czernowitz verzeichnen musste, bringt die
ukrainische Unabhängigkeit letztlich mehr Freiheit für die
Minderheiten-Bevölkerung. Seit 1991 ist ein wesentlicher Gewinn für
die rumänischen Schulen die Wiedereinführung der Lateinschreibung
sowie die Bezeichnung „Rumänisch“ als Name der Sprache und der
Schulen, statt der in sowjetischer Zeit verwendeten Bezeichnung
„Moldawisch“.
Es ist als Vorteil für die rumänischsprachigen Schulen zu werten, dass
die Lehrkräfte für die Unterstufe an der Pädagogischen Schule, die der
Nationalen Jurij-Fedkowitsch-Universität Czernowitz angeschlossen
ist, auf Rumänisch ausgebildet werden. An derselben Universität
befindet sich, wie erwähnt, auch der Lehrstuhl für rumänische und
klassische Philologie, an welchem die Fachkräfte für rumänische
Sprache und Literatur ihre Fachdisziplinen in rumänischer Sprache
studieren können, während die sekundären Disziplinen44 auf Russisch
und Ukrainisch angeboten werden.
43
44
Vgl. Ion Beldeanu, Bucovina care ne doare, Iaşi 2001, S. 72-73.
Alle allgemeinbildenden Fachseminare, die nicht direkt die Fachkenntnisse der
rumänische Sprache und Literatur vermitteln, wie z.B. Logik, Informatik,
Pädagogik, Weltliteratur, ukrainische Geschichte, Sprachwissenschaftstheorie
u.a. .
Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze 17
4.2
Spracheinstellung bzw. Sprachbewusstsein bei Lehrern und
Schülern an rumänischen Schulen
Die aktuelle linguistische Situation in der Ukraine, deren Teil auch die
Situation der rumänischen Sprache in der Ukraine ist, ist das Ergebnis
der verschiedenen sozialen und sprachlichen Veränderungen im
Verlaufe von mehreren Jahrzehnten. Eine markante Zeitspanne für die
aktuelle rumänische Sprachsituation in der Ukraine ist die zweite
Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der politischen und sprachpolitischen
Entwicklung der Nachkriegszeit, die in zwei Etappen mit
unterschiedlichen Einflüssen geteilt werden kann:
Die erste ist die sowjetische Nachkriegszeit (1944-1991) mit
diesbezüglichen Ideologiekonzepten und Glottopolitik bzw. mit der
nachhaltigen Russifizierungspolitik aller Nationen der Sowjetunion.
Sie hat Spuren in der heutigen Sprachsituation sowie im
Sprachbewusstsein und den Einstellungen der Bevölkerung zur
Muttersprache oder anderen Verkehrsprachen in der Ukraine
hinterlassen. Menschen, die die russische Sprache perfekt
beherrschten, galten als gebildet und kultiviert und hatten bessere
Chancen auf eine gute Karriere. So verlor die Muttersprache der
anderen Ethnien immer mehr an Wert und immer mehr russische
Wörter fanden Eingang in die Umgangssprache. Wir beobachten auch
heute den großteils andauernden Wert der russischen Sprache und
deren Einfluss auf das Sprachbewusstsein der Bevölkerung, indem bei
der Volkszählung von 2001 29,6 % der Bevölkerung die Russische
Sprache als Muttersprache gewählt hat, obwohl die Russen in der
Ukraine lediglich 17,3 % der Bevölkerung ausmachen. Hierbei
wählten auch 2.265 (1,5 %) Rumänen bzw. 45.514 (17,6) Moldauer
das Russische und 9.362 (6,2 %) Rumänen bzw. 27.670 (10,7)
Moldauer das Ukrainische als Muttersprache.45
Die zweite – noch anhaltende – Etappe ist die Zeit der unabhängigen
und demokratischen Ukraine (seit 1991), die eine besondere Rolle für
die Bildung eines Nationalkonzeptes und einer neuen Sprachpolitik im
Bezug auf die nationalen Minderheiten spielt – einschließlich der
45
Ukrainische Volkszählung (2001), Internet-Version: http://2001.ukrcensus.gov.
ua/eng/results/general/nationality/ (letzter Zugriff: 11.05.2011).
18
Aliona Dietel
rumänischsprachigen Minderheit. Eine Vergleichsanalyse der
Volkszählungsergebnisse von 1989 mit denen von 2001 46 zeigt
eindeutig auf, dass das Sprachbewusstsein bzw. das sprachbezogene
Identitätsbewusstsein aller Bevölkerungsschichten der Ukraine,
einschließlich der rumänischsprachigen Bevölkerung, in der Zeit der
Unabhängigkeit der Ukraine offensichtliche Veränderungen erlebt hat.
Im Vergleich zu 1989 zeigt die Statistik von 2001 ein Wachstum von
29,4 % bei Einwohnern, die das Rumänische als Muttersprache
angeben. 47 Offenbar hat der starke „Moldowenisierungsprozess“ der
Rumänen in der Nachkriegszeit (nachweislich zwischen 1959-1989)
einem sprachlichen "Rerumänisierungsprozess“ Platz gemacht.
Ausnahme macht die Situation in der Region Odessa, wo versucht
wird, ein moldauisches Sprachbewusstsein aufrecht zu erhalten und
Moldauisch in der Schule zu lehren. i Die Spracheinstellung der
Rumänen ist deutlich in der folgenden Tabelle zu sehen:
46
Vgl. Ion-Horia Bîrleanu / Gheorge Jernovei, Dialectologia limbii române,
Partea I, Ed. Ruta, Cernăuţi 2005, S. XXVII-XLI.
47
Im Jahr 1989 wählten von 134 825 (100 %) Rumänen 83 966 (bzw. 62,28 %)
das Rumänische als eigene Muttersprache. Aber bereits nach 10 Jahren, im
Jahr 2001, wählten von der gesamten Zahl der Rumänen in der Ukraine (151
000) schon 138 467 (bzw. 91,7 %) das Rumänische als Muttersprache
(Moldauer werden in der Tabelle der Volkszählung in der Ukraine getrennt von
den Rumänen angegeben).
Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze 19
Tabelle Nr. 1. Spracheinstellung der als Rumänen registrierten Bevölkerung der
Ukraine zur eigenen Muttersprache oder anderen Verkehrsprachen in der
Zeit kurz vor und nach Unabhängigkeit der Ukraine.
Jahr
1989
2001
Anzahl
Anzahl
48
± %Punkte
absolut
in %
absolut
in %
in 2001
im
Vergleich
zu 1989
Rumänisch
83 966
62,3
138 467
91,7
+ 29,4
Ukrainisch
13 203
9,8
9 362
6,2
- 3,6
4 670
3,5
2 265
1,5
- 2,0
32 986
24,5
906
0,6
- 23,9
134 825
100
151 000
100
Sprache
Russisch
Eine andere
Sprache
Insgesamt
Einige Veränderungen im Sprachbewusstsein der Moldauer aus der
Ukraine sind jedoch schon im Jahr 1989 (im Vergleich zum Jahr
1959) zu beobachten, als das Rumänische (statt des Moldawischen)
mit einem kleinen Wachstum von 0,08 Prozentpunkten als
Muttersprache angegeben wurde. 49 Andererseits sind starke Veränderungen im Sprachbewusstsein der registrierten Rumänen in der
Nachkriegszeit (zwischen 1959 und 1989) zu beobachten
(Siehe hier Tabelle Nr. 2). Die Statistik zeigt einen deutlichen
„Moldowenisierungsprozess“50 in dieser Zeit. So wählten 1989 bereits
48
Ion-Horia Bîrleanu / Gheorge Jernovei, Dialectologia limbii române, Partea I,
Ed. Ruta, Cernăuţi 2005, S. XXXIV.
49
Vgl. ebd., Tabelle Nr. 4, S. XXXI.
50
„Moldowenisierungsprozess“ – eine Art des Russifizierungsprozesses der
sowjetischen Zeit, bei dem durch kyrillische Schreibweise und die Bezeichnung
„moldawische Sprache“ für die rumänische Sprache die Verfremdung der
rumänischsprachigen Bevölkerung der Ukraine von eigenen ethnischen und
kulturellen Wurzeln verfolgt wurde.
20
Aliona Dietel
22,81 Prozentpunkten mehr Rumänen die Rubrik „andere Sprache“,
was Moldauisch bedeuten soll, als eigene Muttersprache.
Tabelle Nr. 2. Spracheinstellung der als Rumänen registrierten Bevölkerung der USSR
zur eigenen Muttersprache oder anderen Verkehrsprachen in der
sowjetischen Zeit.
Jahr
51
1959
1989
Anzahl
Anzahl
±
%Punkte
in 1989
im
Vergleich
zu 1959
absolut
in %
absolut
in %
Rumänisch
85 048
84,32
83 966
62,28
- 22,04
Ukrainisch
12 917
12,81
13 203
9,79
- 3,02
Russisch
1 222
1,21
4 670
3,46
+ 2,25
Eine andere
1 676
1,66
32 986
24,47
+ 22,81
Sprache
Sprache
Insgesamt
100 863
100
134 825 100
Die erläuterten politischen und sozialen Veränderungen auf dem
Territorium
der
heutigen
Ukraine
haben
entsprechende
Veränderungen in dem Bewusstsein und der Spracheinstellung sowie
den Sprachkenntnissen bei der Bevölkerung hinterlassen. Der
Unterschied zwischen dem gesprochenen Rumänisch der interviewten
Schüler und Lehrer 52 und dem in Rumänien geltenden Standardrumänisch ist relativ groß und bezieht sich auf alle grammatikalischen
51
Ion-Horia Bîrleanu / Gheorge Jernovei, Dialectologia limbii române, Partea I,
Ed. Ruta, Cernăuţi 2005, S. XXX.
52
Die Aussage bezieht sich auf eine persönliche Interviewaufnahme der Autorin
mit Lehrern und Schülern sowie auf aufgezeichnete Unterrichtsstunden.
Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze 21
Ebenen der Sprache. 53 Im Hinblick auf die Abweichungen vom
Standard
unterscheiden
sich
Schüler
und
Lehrer
der
rumänischsprachigen Schulen in den untersuchten Fällen nicht stark
voneinander. Eine Ausnahme bilden allenfalls die Fachlehrer für
rumänische Sprache und Literatur, die eine philologische Ausbildung
erhalten haben. Die Sprache der anderen Lehrer ist in höherem Maße
vom Russischen und Ukrainischen beeinflusst. Die Ursache dafür liegt
darin, dass sie ihr Studium, wie bereits dargelegt, in ukrainische
Sprache absolvieren müssen bzw. dies früher auf Russisch taten und
es an den notwendigen Lehrmaterialien in rumänischer Sprache
mangelt.54
Gerade die Sprachkompetenz und die Spracheinstellung der Lehrer
sind besonders wichtig, weil diese in größtem Maße das
Sprachverhalten der Schüler direkt beeinflussen. In diesem Fall kann
das Sprachbewusstsein nicht nur reflexiv sein, sondern kann mitunter
sogar zum Katalysator für bestimmte weitgreifende sprachliche
Veränderungsprozesse werden. Insofern ist die Schule der wichtigste
und letztlich entscheidende Ort für die Pflege, den Erhalt und die
Konsolidierung der Minderheitensprache. Neben der Schule spielt
auch die Familie (in dem Fall) eine wichtige Rolle bei der
Sprachvermittlung. Gemäß der von der Autorin aufgezeichneten
Interviews
sind
zudem
schichtspezifisch
unterschiedliche
Spracheinstellungen zu beobachten. Kinder aus intellektuellen
Familien oder solchen mit höherer Berufsqualifikation und
anspruchsvoller Tätigkeit sprechen sowohl ein gepflegteres
Rumänisch als auch ein besseres Ukrainisch.
Gemäß ausgeführter Interviewanalyse erkennen Schüler aus den
Schulen mit Rumänisch als Unterrichtssprache der Region Czernowitz
überwiegend das Rumänische als ihre Muttersprache an, weil es die
53
Vgl. Aliona Iakobeţ, „Gesprochenes Rumänisch in der Schule der rumänischen
Minderheit in der Ukraine“, in: Klaus Bochmann (Hrsg.), Gesprochenes
Rumänisch in der Ukraine. Soziolinguistische Verhältnisse und linguistische
Strukturen, Leipzig 2004, S. 53-69.
54
Die Aussage bezieht sich auf eine persönliche Interviewaufnahme der Autorin
mit Lehrern und Schülern sowie auf aufgezeichnete Unterrichtsstunden.
22
Aliona Dietel
Sprache der Kommunikation in der Familie oder die Muttersprache
eines Elternteiles und die Unterrichtssprache der besuchten Schule sei.
Dabei geben jedoch fast 50 % der Stadtschüler an, dass sie sich im
Ukrainischen besser ausdrücken können.
Überwiegend identifizieren sich die rumänischsprachigen Schüler als
ethnische Rumänen. Demgegenüber sehen sich 1/3 der interviewten
Kinder aus gemischtsprachigen Familien sowohl als Rumänen als
auch als Ukrainer an. Die beiden Sprachen werden aktiv in der
Familie gebraucht und die Lebensweise der Familie ist zumeist von
zwei kulturellen Traditionen beeinflusst. In solchen Fällen können
sich die Kinder häufig nicht für eine einzige ethnische Zugehörigkeit
entscheiden.
Wie auch bei anderen ethnischen Gruppen spielt für die Identität der
Rumänen die Sprachloyalität eine sehr wichtige Rolle. Das
Bekenntnis zu einer Muttersprache (Rumänisch/ Moldawisch,
manchmal Russisch oder Ukrainisch) führt zu einer Sprachidentität. In
diesem Fall fungiert die Sprache als Gruppensymbol, weil sie den
sozialen Status und persönliche Beziehungen, gesellschaftliche Ziele,
Werte und Interessen anzeigt.55 Durch die gesprochene Varietät des
Rumänischen und durch die Ukrainisch- und Russischkenntnisse
werden sozialer Status und Bildungsstand angedeutet, aber auch die
Region, aus welcher der Sprecher kommt, wird erkannt. Die stark
geäußerte Selbst- und Fremdbewertung durch Sprache hat somit zur
Folge, dass die Sprache zum Identitätssymbol bei der Minderheit in
der Ukraine geworden ist. Ein Sprachwechsel im Sinne einer
Sprachwahl, womit gemeint ist, dass ein Mensch eine Sprache zu
Gunsten einer anderen aufgibt – was bei Angehörigen der
rumänischen Minderheit in Czernowitz zunehmend zu beobachten ist
– gilt oft als äußeres Zeichen eines Identitätswechsels.
Obwohl Rumänisch als Muttersprache meist von den interviewten
Schülern (und Lehrern) anerkannt wird, wird dem Ukrainischen im
sozialen Feld der Vorrang gegeben. Dennoch sind fast alle Probanden
55
Vgl. Joshua A. Fishman, Soziologie der Sprache. Eine interdisziplinäre
sozialwissenschaftliche Betrachtung der Sprache in der Gesellschaft, München
1975, S. 15.
Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze 23
der Meinung, dass die rumänische Sprache in der Ukraine erlernt
werden sollte und dass es rumänische Schulen geben solle.
Gleichzeitig messen sie dem Ukrainischen56 einen höheren Stellenwert
bei, weil sie es als Sprache ihrer Zukunft empfinden, da sie mit dem
Ukrainischen studieren und ihren beruflichen Weg gehen werden. Das
Sprachbewusstsein der Kinder unterscheidet sich nach Wissen,
Erfahrung, Verhalten, Schul- und Elternerziehung und Zukunftsplänen. Bei denjenigen, die studieren möchten, ist die Neigung,
Ukrainisch zu lernen, stärker ausgeprägt. Diese Kinder verwenden
diese Sprache nicht nach Belieben, sondern nach dem jeweiligen
Bedarf.
Trotzdem, neben dem starken Wunsch der meisten jungen Rumänen
der Minderheit, in das neue ukrainischsprachige Elitemilieu 57 durch
die ukrainische Sprache integriert zu sein, ist bei der Minderheit der
Wunsch, die eigene Sprache, Kultur und Tradition zu pflegen und
weiter zu erhalten immer deutlicher zu beobachten. Jeder zweite
Schüler ist der Meinung, dass es nützlich sein kann, mehrsprachig zu
sein. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine ist die Zahl der Zeitungen
in rumänischer Sprache gestiegen. Es wird mehr auf Nationalfeiertage
und Tradition geachtet.
Auf der anderen Seite gibt es eine stark zunehmende Entwicklung,
dass eine bemerkenswerte Anzahl der Lehrer und Eltern auf dem Land
sich bemüht, die Schulkinder das Ukrainische zu lehren, weil es die
Sprache ihrer Zukunft sein wird bzw. die Sprache des Studiums und
des Berufslebens. Aus diesem Grund tritt das Rumänische bei der
Sprachvermittlung in den Hintergrund. Hier werden viele Maßnahmen
zwecks erfolgreichen Lernens des Ukrainischen unternommen. Ein
Beispiel dafür ist, dass viele Eltern ihre Kinder in ukrainische
Vorschuleinrichtungen schicken.
Diese Kinder kommen nach dem Besuch einer ukrainischen
Vorschuleinrichtung ohne ausreichende Rumänischkenntnisse zur
56
Manchmal auch dem Russischen, obwohl Russisch nicht mehr in der Schule
unterrichtet wird, aber immer noch als Verkehrsprache in der Gesellschaft gilt.
57
Vgl. Marina Höfinghoff, „Zur Frage russisch-ukrainischer Zweisprachigkeit in
der Ukraine“, in: Europa Ethnica, 63. Jahrgang, Wien ½ 2006, S. 26.
24
Aliona Dietel
Schule. Sie verstehen das Rumänische, antworten jedoch oft auf
Ukrainisch und unterhalten sich in den Schulpausen auf Ukrainisch.
Auch der Wert des Rumänischen hat sich in solchen Fällen sehr
gemindert.
Diese ständige Sprachvermischung, sogar in der schulischen
Umgebung, verwirrt die Schüler in jungem Alter gewissermaßen
sprachlich und führt zur Bildung eines konfusen Sprachbewusstseins.
Die Kinder können demzufolge keine der Sprachen korrekt sprechen.
Andere Elterngruppen beweisen im Allgemeinen eine positive
Einstellung zur Muttersprache und bemühen sich, das Rumänische in
der Ukraine weiterhin am Leben zu erhalten.
4.3
Minderheitensprache
Verkehrsprache
versus
Staatssprache
oder
Wie bereits erwähnt wurde, sind die Angehörigen der rumänischen
Minderheit (mit wenigen Ausnahmen bei der älteren Generation)
meistens dreisprachig. Jede Sprache wird bewusst nur in bestimmten
Lebensbereichen
mit
einem
bestimmten
Ziel
benutzt.
Dementsprechend stehen alle drei in Korrelation zueinander, die sich
häufig als Konkurrenz zueinander auswirkt. Dies beeinflusst das
Kenntnisniveau aller gesprochenen Sprachen. Rumänisch wird im
Vergleich zum Ukrainischen und zum Russischen nur auf den
Gebrauch im privaten Bereich 58 beschränkt, was zum Erwerb und
Gebrauch eines begrenzten Wortschatzes führt. Stattdessen wird
versucht, die Beherrschung der Staatssprache zu verbessern. Dies wird
auch durch die Einrichtung ukrainischer Klassen in rumänischen
Schulen unterstützt. Auf diesem Wege werden die rumänischen
Schulen in gemischtsprachige Schulen umgewandelt. Dies erfolgt
entweder per Antrag durch mehrere Eltern oder auf Initiative der
Schulverwaltung. Es gibt Fälle, in denen die Eltern sich gegen die
Initiative des Schuldirektors, ukrainische Klassen zu eröffnen, gestellt
haben.
58
Und in der Schule selbstverständlich.
Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze 25
Diese Art Bilingualismus bzw. Trilingualismus kann instabil werden,
wenn die in der Öffentlichkeit dominante Sprache auch im Bereich der
Familie Dominanz entwickelt. Diese Gruppe definiert sich nicht mehr
über die Minderheitensprache, was zum Verlust des symbolischen
Identitätswertes der Gruppe führt. Dieser Fall ist in gemischtsprachigen Familien oder in Familien ethnischer Rumänen, die in die
Stadt umgezogen sind und deren Kommunikationssprache in der
Familie das Ukrainische oder das Russische geworden ist, vorhanden.
Um das Ukrainische besser zu beherrschen wird auch in den letzten
vier Jahren der Unterricht der Fächer Geschichte der Ukraine,
Geographie und Militärvorbereitung in den Klassen 8 – 11 in
ukrainischer Sprache erlaubt bzw. empfohlen. Diese Empfehlung des
Bildungsministeriums ist nur von wenigen rumänischen Schulen,
meistens in Dörfern, akzeptiert worden. Eine Erklärung dafür ist, dass
die ländliche Bevölkerung (in diesem Sinn die älteste Bevölkerung) in
ihren Ukrainischkenntnissen unsicher ist. Das bestätigt auch die
durchgeführte Interviewanalyse. Im Vergleich zu den Schülern haben
die Lehrer eine etwas zurückhaltendere Einstellung zur ukrainischen
Sprache. Sie haben Komplexe, weil es für sie zum Teil schwieriger ist,
diese Sprache neu zu lernen. Diese Ängste und Komplexe sind bei den
Dorflehrern offensichtlicher. Wie auch im Falle der Schüler
beherrschen die Stadtlehrer ein Rumänisch, das näher zur literarischen
Sprache ist als das Rumänisch der Dorflehrer.
Gleichzeitig muss die Tatsache erwähnt werden, dass die meisten
Lehrer oft nicht akzeptieren wollen, dass die oben genannten Fächer
in Ukrainisch unterrichtet werden sollen.
Nach Auswertung der Interviews tendiert die Wahl der Sprache für die
Freizeitliteratur meistens zu Gunsten des Ukrainischen. Die Schüler
lesen mehr in Ukrainisch oder Russisch – sie möchten dadurch das
Ukrainische besser beherrschen. Zudem gibt es sowohl in den
Buchhandlungen als auch in den Bibliotheken der Ukraine wenig –
manchmal gar keine – Literatur auf Rumänisch.59
59
Siehe dazu auch Punkt 4.1.: die einzige Buchhandlung mit
rumänischsprachigen Büchern in Czernowitz „Luceafărul“ wurde 1997
geschlossen.
26
Aliona Dietel
Der Mangel an notwendigen Lehrbüchern auf Rumänisch führt zur
Bevorzugung der ukrainischen Sprache. Die Lehrer sind gezwungen,
entweder selbst oder mit den Schülern die Inhalte der Lehrbücher
während des Unterrichts zu übersetzen. Diese Situation beeinflusst
selbstverständlich den Sprachgebrauch bei der Minderheit.
Es hat sich durch die Interviews gezeigt, dass es wesentliche
Unterschiede im Sprachgebrauch in Czernowitz und in der ländlichen
Umgebung gibt. In der Stadt messen die Lehrer und Eltern dem
Rumänischen und dem Ukrainischen fast den gleichen Wert bei. Sie
sind der Meinung, dass die Schüler die beiden Sprachen gut
beherrschen sollen, weil beide Sprachen für die Zukunft nützlich sein
werden. Andererseits sprechen die Stadtkinder, schon allein wegen
des mehrsprachigen Raumes, die ukrainische Sprache gut. Diese
Situation wird in gewissem Maße von der Einstellung der Eltern und
Lehrer zu beiden Sprachen beeinflusst.
Allgemein gesehen haben die meisten rumänischen Kinder keine
Probleme mit der Amtssprache (mit einer Ausnahme von ca. 20 % der
Schüler in ländlichen Gebieten) und sind sicher, dass sie auch in der
Lage sein werden, auf Ukrainisch eine Berufsausbildung oder ein
Hochschulstudium zu absolvieren.
7 von 32 interviewten Schülern – sowohl aus der Stadt als auch vom
Land – geben zu, dass sie auf Ukrainisch besser lesen, verstehen und
Aufsätze schreiben können.
Es ist zu bemerken, dass das Russische sehr gut beherrscht wird und
auch beliebt ist, obwohl es in der Schule nicht mehr unterrichtet wird.
Die Schüler haben es selbstständig gelernt: aus der Kommunikation
mit anderen Kindern, aus Büchern und Medien, die zu 99 % auf
Ukrainisch und Russisch sind. Die Medien beeinflussen stark die
Einstellung zu der einen oder anderen Sprache.
Im Vergleich zu den Schülern lässt sich bei den Lehrern mehr
Sympathie für die russische Sprache als für das Ukrainische
beobachten. Hier spielt das Alter eine wichtige Rolle. Die ältere
Generation kann gut Russisch, aber hat große Schwierigkeiten
Ukrainisch zu lernen, was zu den oben erwähnten generationsspezifischen Merkmalen führt.
Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze 27
Bei der jüngeren Generation dagegen ist die Sympathie für die
Staatsprache oder „perspektivgebende“ Sprache so groß, dass einige
Probanden sich russische oder ukrainische Ehepartner und Freunde
wünschen. Ungefähr ¼ der Schüler kann sich auch vorstellen, seine
zukünftigen Kinder ausschließlich in der ukrainischen oder einzig in
der russischen Sprache zu erziehen, was einen Vollintegrationswunsch
in die Mehrheitsgesellschaft zeigt. Als Folge dieser Integrationsbemühung wird in solchen Familien kein Rumänisch mehr
gesprochen.
Im Allgemeinen ist die junge Generation der Minderheit sehr offen für
das Lernen, den Fremdsprachenerwerbung, für das Neue, aber auch
für die Erhaltung der eigenen Sprache und Kultur. Wenn jemand der
Meinung ist, dass er Rumänisch nicht weiter lernen und pflegen
braucht, passiert dies meist wegen des präsenten Marginalisierungsgefühls, Minderwertigkeitskomplexen oder der Unfähigkeit, sich als Rumänisch-Muttersprachler in die ukrainischsprachige
Gesellschaft zu integrieren.
4.4
Codewechsel
In Kommunikation mit anderen zweisprachigen Personen beschränken
sich die Ukraino-Rumänen (die rumänischsprachige Bevölkerung)
nicht auf eine Sprache. Sie nutzen vielmehr ihr sprachliches
Repertoire optimal aus, indem sie nach Bedarf zwischen den ihnen zur
Verfügung stehenden drei Sprachen hin- und herwechseln.
Einsprachig können sie nur in rumänischsprachigen Dörfern sein. In
der Stadt müssen sie in der Regel zum Russischen oder Ukrainischen
wechseln, was oftmals auf Grund der wenigen Erfahrung und
mangelnden oder fehlenden Sprachkompetenz zur Sprachmischung
und zur spontanen Übersetzung führt. Gemäß den aufgezeichneten
Interviews wechseln mehr als die Hälfte der Schüler und fast alle
Lehrer (mit Ausnahme der älteren Generation im Umgang mit dem
Ukrainischem) in der Kommunikation mit Vertretern anderer
Sprachgemeinschaften problemlos von einer Sprache in die andere.
Trotz dieser Aussagen ist der Wechsel zur anderen Sprache nicht
fehler- und anstrengungslos. In einem Interview berichtet eine 13
28
Aliona Dietel
jährige Schülerin, dass sie sich nach einem achtzehntägigen
Aufenthalt in einem Ferienlager an Ukrainisch und Russisch gewöhnt
habe und Schwierigkeiten mit dem Rumänischen hatte, als sie nach
Hause zurückkam,.
Am häufigsten sind bei der Kommunikation mit dem Vertreter anderer
Sprachgemeinschaften die spontanen direkten Übersetzungen von der
eigenen Sprache ins Russische oder Ukrainische. Aber auch die
Sprachmischung 60 – in jeder der gebräuchlichen drei Sprachen –
werden bei Schülern oftmals beobachtet. Sie sind nicht sicher, was
den genauen Sinn mancher neuen bzw. selten verwendeten Vokabeln
betrifft und benutzen sie oft in einer falschen Bedeutung.
5.
Schlussfolgerungen
Laut der Gesetzgebung der Ukraine genießen alle anerkannten
Minderheiten des Landes und damit auch die rumänische Minderheit
und das Rumänische als Minderheitensprache den Schutz und die
Förderung durch den Staat. In Bezug auf die Sprachsituation im
Bereich des Schulwesens bietet die Verfassung der Ukraine einen
geeigneten Rahmen für den muttersprachlichen Unterricht auf allen
Bildungsebenen. Die Wirklichkeit sieht jedoch oft anders aus. In
zahlreichen Fällen gibt es eine beträchtliche Diskrepanz zwischen den
deklarierten Rechten der Minderheit und deren Umsetzungen in der
gesellschaftlichen Praxis. Jedoch hat die Unabhängigkeit der Ukraine
auch viele Freiheiten und Entwicklungsmöglichkeiten für die
rumänische Sprache und Minderheit gebracht, wie Name der Sprache
– Rumänisch statt Moldawisch, Rückkehr zur lateinischen Schrift,
mehrere wissenschaftliche und politische Kontakte mit Rumänien,
Förderunterstützung seitens Rumänien für verschiedene kulturelle
bzw. wissenschaftliche Veranstaltungen sowie Studienplätze für
Absolventen und Weiterbildungskurse für Lehrer.
Trotz allem ist die Bedeutung der Prestigesprache – also des
Ukrainischen – sehr groß. Diese Sprache wird zur wichtigsten und
60
Wenn innerhalb derselben Äußerungen Einheiten und Regelmäßigkeiten beider
Sprachen vermengt sind.
Der Minderheitenschutz im postsowjetischen Raum an der EU-Grenze 29
notwendigsten Sprache bei allen Sprachinteraktionen. Die
Minderheitensprache ist zu einer sekundären Sprache geworden, die in
der Kommunikation mit der Familie, der Verwandtschaft oder den
Freunden benutzt werden kann, aber nicht muss – dementsprechend
sinken die Kenntnisse des hochsprachlichen Rumänisch immer mehr.
Eines der Hauptprobleme bei einem großen Teil der rumänischen
Minderheit der Ukraine besteht darin, dass sie versucht, den heutigen,
unabhängigen ukrainischen Kulturraum zu betreten, ohne ihren
eigenen rumänischen Kulturraum zu besitzen. Eine Gesellschaft, die
sich selbst achtet und es versteht, auf ihre Errungenschaften stolz zu
sein, wird auch bei der anderen Achtung hervorrufen. Der einfachste
Weg, einer Gesellschaft Selbstachtung zurückzugeben, ist, die
Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf ihre Kultur zu lenken.
Ein anderes Problem ist die Qualität des gesprochenen Rumänisch.
Um die Sprachqualität zu verbessern, sollt man dem Sprachunterricht
in der Schule mehr Zeit und größere Aufmerksamkeit widmen bzw.
einen größeren Wert sowie Achtung für die eigene Muttersprache
beim Schüler entwickeln.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Rumänen in der
Ukraine bzw. in der Region Czernowitz sich ihrer Muttersprache
bewusst sind, sie in der Zukunft lernen möchten und wollen, dass es in
der Ukraine auch weiterhin rumänische Schulen gibt. Gleichzeitig
lässt sich eine starke Tendenz dahingehend beobachten, dass dem
Ukrainischen einen größerer Wert als der eigenen Muttersprache
beigemessen wird, weil es als eine Prestigesprache empfunden wird.
Dieses Verhalten der Abwertung der Muttersprache seitens der
Probanden spiegelt die Lage des Rumänischen in der ukrainischen
Gesellschaft wider. Die unterentwickelten soziokulturellen Funktionen
führen ebenfalls zur Abwertung der rumänischen Sprache im
Vergleich zum Ukrainischen. Diese Einstellung der rumänischen
Sprecher hindert sie daran, sich für die Entwicklung der
soziokulturellen Funktionen der Muttersprache einzusetzen.
Daraus ergibt sich auch die Rolle der Schule bei der Entwicklung der
rumänischen Sprache in der Ukraine. Es liegt nahe, dass das
Abschaffung der rumänischen Schulen oder deren Umwandlung in
30
Aliona Dietel
gemischte Schulen mit Unterrichtssprache Ukrainisch zu einer
steigenden Abwertung der rumänischen Sprache führen wird.
i Vgl. Polina Kiseolar, „Die sprachliche Individuation der Rumänischsprachigen
im Südwesten der Region Odessa“, in: Klaus Bochmann / Vasile Dumbrava
(Hrsg.): Sprachliche Individuation in mehrsprachigen Regionen Osteuropas,
Band II. Ukraine, Leipzig 2009, S. 156-178.
Elena Temper
Kontroverse um Kurapaty
Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus
1.
Einführung
Der Osten Europas beschäftigt sich seit nun mehr als zwanzig Jahren
mit der postkommunistischen Konstruktion nationaler Räume. Mit der
Loslösung aus dem sowjetischen Machtbereich haben sich die Nationen nicht nur ihre Geschichte „zurückgeholt“. Vielmehr wurde die
Geschichte zur Grundlage einer neuen postsowjetischen Identität.
Belarus stellt jedoch eine Ausnahme dar. Das Land gehört zu einigen
wenigen postkommunistischen Staaten, in denen die amtliche Geschichtsdeutung nicht mit der nationalen Konzeption belarussischer
Geschichte zusammenfällt. Die Spaltung des Geschichtsbildes in ein
nationales und ein antinationales hat zu einer geteilten Erinnerungskultur der belarussischen Gesellschaft geführt.
Die nach 1991 neu entworfene nationale Geschichte der Belarussen,
die in erster Linie ihren nicht russischen Charakter akzentuierte, unterliegt seit dem Machtantritt von Präsident Aljaksandr Lukašėnka im
Jahr 1994 anderen Prämissen. Die starke Verankerung der belarussischen Führung in der sowjetischen Vergangenheit beeinflusst nicht
nur die Transformation des Landes, sondern auch seine Geschichtsund Erinnerungspolitik. Belarus gehört zu den wenigen erinnerungskulturell zerrissenen Staaten in Europa, in denen antagonistische Geschichtsnarrative zur Spaltung der Gesellschaft beitragen.
Insbesondere die historischen Jubiläen des Jahrs 2008 ließen eine klare gesellschaftspolitische Trennlinie erkennen, da sie sich nicht mit
dem offiziellen Geschichtsverständnis deckten. Am 25. März feierten
Intellektuelle und Künstler, die zur belarussischen Opposition zählen,
den 90. Jahrestag der Gründung des ersten belarussischen Staates,
Belaruskaja Narodnaja Rėspublika (Belarussische Volksrepublik,
BNR). Dieser unter dem Protektorat des untergehenden Wilhelminischen Deutschen Reiches gegründete Staat bestand nur von März bis
2
Elena Temper
Dezember 1918. Trotz ihrer Kurzlebigkeit besitzt die Belarussische
Volksrepublik für die belarussische Unabhängigkeitsbewegung seit
dem Ende der 1980er Jahre eine große Symbolkraft. Nach dem Vorbild der baltischen Volksfronten entstand am 19. Oktober 1988 das
Organisationskomitee der Belarussischen Volksfront (Belaruski
Narodny Front Adradžėn’ne, BNF). Dies geschah zeitgleich mit der
Gründung von Martyrolah Belarusi (Martyrium von Belarus), der ersten „Belarussischen gesellschaftlichen historisch-pädagogischen Gesellschaft zur Erinnerung an die Opfer des Stalinismus“, die sich als
das belarussische Gegenstück zur Moskauer Menschenrechts- und Geschichtsgesellschaft Memorial verstand.1
Vorsitzender von Martyrolah Belarusi und der Volksfront Adradžėn’ne wurde der Minsker Archäologe Zjanon Paz’njak. Adradžėn’ne (Wiedergeburt) ist die drittälteste unter den nationalen Organisationen der Ex-Sowjetrepubliken und als einzige heute noch aktiv.2 Die Entstehung von Martyrolah und der Volksfront war eine direkte Reaktion auf die am 3. Juni 1988 erschienene Publikation von
Zjanon Paznjak und Jaŭhen Šmyhalëŭ. In dieser beschrieben die beiden die von ihnen im Waldgebiet Kurapaty bei Minsk entdeckten
Massengräber, die aus der Zeit des stalinistischen Massenterrors
stammten.3 Die Entdeckung der Massengräber erschütterte die belarussische Öffentlichkeit weit über die intellektuellen Kreise hinaus
und rüttelte sie aus ihrer jahrzehntelangen Lethargie. Die Massengrä1
2
3
Zu den Gründern von Martyrolah Belarusi gehörten Intellektuelle wie Vasil’ Bykaŭ, Aleh Belaussaŭ, Michail Dubjanecki, Sjarhej Hrachoŭski. Zur Entstehung von
Martyrolah und BNF zuletzt : Sjarhej Navumčyk: Sem hadoŭ Adradžennja. Frahmenty najnoŭšaj belaruskaj historyi (1988-1985). Prag 2006, S. 11. Zur belarussischen Wiedergeburtsbewegung Ende der 1980er Jan Zaprudnik: Byelorussian Reawakening, in: Problems of Communism 4/1989, S. 36–52. – Astrid Sahm: Von der
BSSR zur Republik Weißrußland – Belarus (1988–2001), in: Dietrich Beyrau, Rainer Lindner (Hg.): Handbuch der Geschichte Weißrußlands. Göttingen 2001, S.
178-199. – Dies.: Die weißrussische Nationalbewegung nach der Katastrophe von
Tschernobyl (1986–1991). Münster 1994.
1999 spaltete sich die Belarussische Volksfront (BNF) in einen christlichkonservativen und einen liberalen Flügel. Paz’njak wurde zum Vorsitzenden der
Christlich-Konservativen Partei-BNF.
Kurapaty – daroha smerci, in: Literatura i mastactva, 3.6.1988.
Kontroverse Kurapaty – Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus
3
ber in Kurapaty wurden zum Fanal des demokratischen Aufbruchs in
Belarus. Zusammen mit der Katastrophe von Tschernobyl (belarussisch Čarnobyl’) wurde Kurapaty zu einem der Hauptbestandteile des
antisowjetischen bzw. postsowjetischen Geschichtsbildes. Es beschleunigte die Delegitimierung des Sowjetsystems und diente der
Belarussischen SSR (BSSR) als Argument für die staatliche Loslösung aus dem Verband der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die
staatliche Unabhängigkeit.
2.
Ein Land – zwei Gesellschaften
Fast zwei Jahrzehnte nach der Unabhängigkeitserklärung ist es in
Belarus nicht gelungen, verschiedene Gesellschaftskreise zu einer
belarussischen Nation zu verschmelzen. Auf dem Territorium der Republik Belarus leben zwei Parallelgesellschaften mit eigenen Symbolen, Sprachen, Erinnerungskulturen und politischen Orientierungen.
Obwohl sich beide Belarussen nennen, liegen ihrem Nationenverständnis unterschiedliche Konzeptionen zugrunde.
Es gibt zwar keine eindeutige Demarkationslinie, die beiden Gruppen
räumlich voneinander trennen würde, jedoch lebt in Belarus – ähnlich
wie dies lange Zeit für die Ukraine galt – die Mehrheit der europäisch
orientierten regierungskritischen Bevölkerung im Westen des Landes.
Die nationalgesinnte Opposition sieht sich in der Tradition des Großfürstentums Litauen, jenes mittelalterlichen Staates, dessen Kernterritorium aus belarussischen Gebieten bestand, und fühlt sich der europäischen Tradition verbunden. Dagegen identifiziert sich die Lukašėnkatreue Mehrheit der belarussischen Gesellschaft über die Erinnerung an
die Sowjetgesellschaft und insbesondere an den Großen Vaterländischen Krieg, der als die Geburtsstunde der modernen belarussischen
Nation gesehen wird. Russland behält in dieser Sichtweise die sowjetische Rolle als der „große slawische Bruder“, obgleich die Union
zwischen Belarus und Russland und der damit verbundene Verlust der
4
Elena Temper
staatlichen Unabhängigkeit für die meisten Belarussen schon lange
nicht mehr in Frage kommen.4
Die beiden geteilten Erinnerungsdiskurse beziehen sich zudem auf
unterschiedliche nationale Symbole. Die nationaloppositionellen Eliten des Landes identifizieren sich mit dem mittelalterlichen Reiterwappen Pahonja und der weiß-rot-weißen Fahne. Die Sowjetnostalgiker proklamieren hingegen ein typisch sowjetisches in einen Ährenkranz eingebettetes Wappen und die rot-grüne Fahne mit einem weißroten Ornament an der Seite als die belarussischen Staatssymbole.5
Gravierende Unterschiede gibt es auch in der Feiertagssymbolik.
Während die von restaurativ-sowjetischen Tendenzen geprägte belarussische Mehrheit den Tag der Großen Oktoberrevolution zelebriert
und den Unabhängigkeitstag seit 1995 nicht wie 1991 gesetzlich beschlossen am 27. Juni, dem Tag der Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung der BSSR von der Sowjetunion im Jahr 1990, sondern
am 3. Juli, dem Tag der Befreiung von Minsk von der nationalsozialistischen Okkupation begeht, entwickelte die belarussische Opposition ihren eigenen Feiertagskanon.6 So wird der Unabhängigkeitstag am
25. März zur Erinnerung an die Gründung der Belarussischen Volksrepublik gefeiert und jedes Jahr am 29. Oktober, am Ahnentag Dzjady
der Opfer des Stalinismus gedacht.
4
5
6
Aleh Manaeŭ: Langer Marsch – bloß wohin? Integrationsvorstellungen im Wandel,
in: Konturen und Kontraste. Belarus sucht sein Gesicht. Berlin 2004 [= OSTEUROPA,
2/2004], S. 228–238.
Zu den belarussischen Staatssymbolen siehe Elena Temper: Belarus verbildlichen:
Staatssymbolik und Konstruktion(en) der Nation seit 1990. Diss. Uni Leipzig
2009. Dmitri Semuschin: Wappen und Staatssymbolik der Weißrussen vom Mittelalter bis in die Gegenwart, in: Beyrau, Lindner, Handbuch [Fn. 1], S. 49–69. –
Dazu auch Staatssymbolik und Geschichtskultur [= OSTEUROPA 7/2003], hier Einschub, Abb. 48–57.
Das Datum wurde durch das umstrittene Referendum vom 14 Mai 1995 geändert.
Das Referendum fand parallel zum ersten Wahlgang der Parlamentswahlen statt.
Durch das von Präsident Lukašėnka initiiertes Plebiszit wurde Russisch als die
zweite Staatssprache, die etwas modifizierten sowjetischen Staatssymbole eingeführt sowie die wirtschaftliche Annäherung an Russland und die Erweiterung der
präsidialen Vollmachten beschlossen.
Kontroverse Kurapaty – Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus
5
Nicht zuletzt sind die zeremoniellen Inszenierungen der Feiern ein
Zeugnis für konkurrierende kollektive Erinnerungskulturen. Aufwändige Militärparaden, wie sie schon zu Sowjetzeiten üblich waren, bestimmen seit dem Regierungsantritt von Präsident Lukašėnka den Tag
des Sieges. Die Veranstaltungen der nationalorientierten Opposition
finden dagegen als friedliche Märsche oder Versammlungen zumeist
unter weiß-rot-weißen Fahnen statt. Zum Abschluss jedes Zusammenkommens wird die religiöse Hymne der belarussischen Opposition
Mahutny Boža (Allmächtiger Gott) gesungen.
Die staatlichen Denkmäler und Gedenkstätten bilden die kollektive
Erinnerungskultur von Belarus. Geprägt wird diese Kultur von den
schmerzlichen Erfahrungen, die das belarussische Volk während der
Kriegsjahre 1941 bis 1945 machen musste. Die Festung von Brest, das
Museum des Großen Vaterländischen Krieges, der Hügel des Ruhmes,
„Minsk – die Heldenstadt, Chatyn, „die Stalinlinie“ – an all diese Orte
werden Touristen geführt, die das Land besuchen. Dabei bleibt das
historische Gedächtnis selektiv. In der offiziellen Erinnerungskultur
genießen Erzählungen vom heldenhaften „Partisanenkrieg“ eine zentrale Rolle. Die Tragik des Krieges findet in den Reden nur marginale
Erwähnung, statt dessen wird im Heroismus geschwelgt. Weltweit
sind die Orte der Massenvernichtung Auschwitz, Treblinka, Majdanek
bekannt, aber nur wenige haben bis heute von Trostenez (Trascjanec)
bei Minsk gehört – dem viertgrößten Vernichtungslager in Europa
gemessen an der Zahl der dort getöteten Menschen, die überwiegend
jüdischer Herkunft waren.7
Die sowjetische Geschichte gehört in Belarus ähnlich wie in Russland
und der Ukraine nicht der Vergangenheit an, sondern ist gegenwärtig
und bestimmt die kulturelle Erinnerungslandschaft. „Vorsicht, die Türen schließen! Nächste Station – Leninplatz, Oktoberplatz, Platz des
Sieges, Proletarskaja, Moskovskaja, Pervomajskaja!“ hören Passagie7
Evhenij Cumarov: Trostenec: Polveka bespamjatstva, in: Ihar Kuznecov, Jakaŭ
Basin: Belarus’ u XX stahoddze. Vypusk 3, o. O. 2004. – Das Buch ist online
zugänglich: <homoliber.org> – Ihor’ Kuznecov: Pravda o Trostence, in: Repressivnaja politika Sovetskoj vlasti v Belarusi. Sbornik naučnych rabot, 3/2007.
<http://homoliber.org/rp0703.html>.
6
Elena Temper
re der Minsker U-Bahn. Die Namen und die Gestaltung der Haltestellen im Stil des sozialistischen Realismus spiegeln viel von der jüngsten belarussischen Geschichte wider. Straßennamen künden von Revolutionären, Kommandeuren der Partisanen sowie von Untergrundkämpfern. Sowjetische Feiertage sind bis heute auch in Belarus gesetzliche Feiertage. Vor dem Haus der Regierung, auf dem Platz der
Unabhängigkeit grüßt der Führer des Proletariats Vladimir Il’ič
(Ul’janov) Lenin. In dem gegenüberliegenden, im stalinistischen „Zuckerbäckerstil“ erbauten Gebäude, Sitz des Komitees für die Staatssicherheit, steht die Büste des „Eisernen Felix“ Dzeržinskij, des Gründers und Leiters der Geheimpolizei Čeka, die nach dem Vorbild des
während der Französischen Revolution praktizierten Großen Terrors
mit allen Mitteln sogenannte Konterrevolutionäre beseitigte, wobei sie
oft den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf Abschreckung statt auf Wahrheitsfindung legte.8 Während in allen anderen Nachfolgestaaten der
UdSSR beinahe sämtliche Dzeržynskij-Denkmäler fielen, – allen voran wurde das Denkmal in Moskau vor der Lubjanka, dem KGBGebäude, gestürzt – weihten Präsident Lukašėnka und die Leiter der
Staatssicherheitsorgane und Sondereinheiten der GUS-Staaten im Oktober 2004 eine neue Dzeržinski-Gedenkstätte in seiner Geburtsstadt
Dsjaržynsk (früher Koŭdanaŭ) feierlich ein.9 Auch die über vier Kilometer lange Minsker Hauptstraße trägt den Namen des Čeka-Chefs.
Ende Mai 2006 wurde auf dem Territorium der Militärakademie in
Minsk ein weiteres Dzeržinskij-Denkmal errichtet, das eine kleinere
Kopie des Moskauer Denkmals ist. Der staatliche Dzeržinskij-Kult in
Belarus bedeutet zugleich die Verdrängung der Erinnerung an Tausende Opfer von Erschießungskommandos „des bewaffneten Arms
der Diktatur des Proletariats“ wie die Bol’ševiki die Organe der
Staatssicherheit nannten.
8
9
Die Čeka wurde 1922 in die Politische Hauptverwaltung GPU (Glavnoe Političeskoe Upravlenie), die eine Staatspolizei in der Sowjetunion war und zum Innenministerium gehörte, umstrukturiert. Die Behörde existierte bis 1954 und war
die Vorgängerin des KGB.
2004 wurde auch in Russland, in Dzeržinsk nahe Nižnij Novgorod, ein neues
Dzeržinskij-Denkmal, errichtet. Es ist eine Kopie der Lubjanka-Variante und ersetzt ein 2003 eingestürztes.
Kontroverse Kurapaty – Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus
3.
7
Kurapaty 1937 – die „Straße in den Tod“
In unvergesslichen Weiten
Auf unzähligen Knochen
Der Menschheit zeigten wir
Den richtigen Schritt und den richtigen Weg
(Todar Kljaštorny)10
1937, als überall in der Sowjetunion Feiern zum hundertsten Todestag
Puškins stattfanden, ist zum Synonym für den „Großen Terror“ geworden, die sowjetische Form des Zivilisationsbruches.11 Nachdem
Nikolaj Ežov die Leitung des NKVD übernommen hatte, begannen ab
September 1936 landesweite „Säuberungsaktionen“. In den folgenden
zwei Jahren verhafteten die „Sicherheitsorgane“ mitten im Frieden
10
11
Todar Kljaštorny war ein bekannter belarussischer Schriftsteller und Übersetzer.
Er wurde am 29. Oktober 1937 im NKVD-Gefängnis in Minsk erschossen.
Der Begriff „Zivilisationsbruch“ geht auf Dan Diner zurück. Dazu: Dan Diner
(Hg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt/Main 1988, S. 7–
13. – Ders.: Den Zivilisationsbruch erinnern. Über die Entstehung und Geltung
eines Begriffs, in: Heidemarie Uhl (Hg.): Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur. Das 20. Jahrhundert in der Erinnerung des beginnenden 21. Jahrhunderts.
Innsbruck u.a. 2003, S. 17–35. – Wolfgang Kissel: Der Zivilisationsbruch als
Kategorie der russischen Kultur- und Literaturgeschichte, in: Eckart Goebel,
Wolfgang Klein (Hg.): Literaturforschung heute. Berlin 1999, S. 153–165. – Zum
Thema Stalinismus vgl. auch (nur eine exemplarische Auswahl): Manfred Hildermeier: „Stalinismus und Terror“, in: OSTEUROPA 6/2000, S. 593–605. – Terry
Martin: Terror gegen Nationen in der Sowjetunion, in: ebd., S. 606–616. – Mikola Iwanou: Terror, Deportation, Genozid: Demographische Veränderungen in
Weißrußland im 20. Jahrhundert, in: Beyrau, Handbuch [Fn. 1], S. 392-408. –
Rainer Lindner: Der „Genozid“ im kulturellen Gedächtnis der Ukraine und Weißrußlands. Vernichtungstraumata in sowjetischer und nachsowjetischer Zeit, in:
Forum für Osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 2/2003, S. 109–151. – Jörg
Baberowski: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus. München 2003. –
Memorial: Das Jahr 1937 und die Gegenwart. Thesen von Memorial, in: Das Lager schreiben. Varlam Šalamov und die Aufarbeitung des Gulag. Berlin 2007 [=
OSTEUROPA, 6/2007], S. 387–394.
8
Elena Temper
etwa drei Millionen Menschen, von denen schätzungsweise eine Million größtenteils durch Erschießungskommandos hingerichtet wurde.
Die Massenexekutionen fanden teils in regulären Gefängnissen, teils
in sogenannten eigens eingerichteten „Exekutionslagern“ statt. Solche
Lager, meist größere Waldflächen, gab es überall in der Sowjetunion.
Eins davon wurde 1988 im Waldgebiet Kurapaty, nordwestlich von
Minsk entdeckt. Hinrichtungsstätten dieser Art gab es auch in der Nähe anderer größerer Städte. Nach Befragungen von Augenzeugen nur
in Minsk und Umgebung konnten bisher fünf Erschießungsplätze ausfindig gemacht werden, wo während des Großen Terrors Zehntausende Menschen umgebracht wurden. Die ersten Funde gab es schon in
den 1960er Jahren, als der Minsker Autobahnring, der direkt durch das
Waldstück Kurapaty führt, gebaut wurde. Damals wurde das Verbrechen der deutschen Wehrmacht angelastet, die das Land von 1941 bis
1944 besetzt hatte und der Bevölkerung grausames Leiden zugefügt
hatte. Bei den Opfern habe es sich um Juden aus Hamburg gehandelt,
die für Zwangsarbeiten nach Belarus gebracht und anschließend in
Kurapaty getötet worden seien. Die Sachlage schien klar und so wurde
keine offizielle Ermittlung zur Aufklärung des Sachverhalts durchgeführt. Die Gebeine wurden in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit
LKWs weggebracht und der Straßenbau fortgesetzt.12
Erst am 3. Juni 1988 wurde in der populären Zeitung Literatura i
mastactva (Literatur und Kunst) der Artikel Kurapaty – daroha smerci
(Kurapaty – die Straße des Todes) veröffentlicht.13 Die Autoren
Paz’njak und Šmyhalëŭ, ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiter des
Instituts für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der BSSR
und Leiter der Ausgrabungen, behaupteten in dem Artikel, dass in
12
Z Kurapataŭ bačny cen’ Lucypara nad Belarussju, in: Belarus’ – naša zjamlja.
<http://nashaziamlia.org/2006/04/12/33/>.
13
Kurapaty – daroha smerci, in: Literatura i mastactva, 3.6.1988. – Z. Paz’njak, J.
Šmyhalëŭ, A. Ioŭ: Kurapaty. Mensk 1994. – Uladzimer Adamuška: Palityčnyja
rėprėsii 20-50-ych hadoŭ na Belarusi. Minsk 1994, S. 12ff. – Tarnavskij, H.,
Sobolev, V., Horelik, E.: Kuropaty – sledstvie prodolžaetsja. Minsk 1990. David
R. Marples: Kuropaty: The Investigation of a Stalinist Historical Controversy, in:
Slavic Review, Vol. 53, No. 2, 1994, S. 513-523. Neuste Ereignisse, Artikel, Fo
tos zu Kurapaty unter: < http://www.kurapaty.org/>.
Kontroverse Kurapaty – Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus
9
Kurapaty Opfer der zwischen dem Ende der 1930er/Anfang 1940er
Jahre stattgefundenen Stalinschen Repressionen begraben seien. Der
Artikel fand ein enormes öffentliches Echo. Schon der Name Kurapaty ließ schaudern. Denn Kurapaty/Kurapatki bedeutet auch Rebhühner, Vögel, die zum Abschuss freigegeben sind. Deshalb gibt es im
Belarussischen die Redewendung „Erschossen wie ein Rebhuhn“.
Diese metaphorische Assoziation des Namens war für Paz’njak ausschlaggebend, seinen Artikel so zu betiteln, denn die ursprüngliche
Bezeichnung des Gebietes war Brod. Der Name Kurapaty kam erst
später auf, vermutlich nach dem Krieg.
Auf einem Gelände von etwa 30 Hektar wurden 510 Massengräber
entdeckt, in denen vor allem Belarussen, aber auch Polen, Juden und
Litauer verscharrt wurden. Die gefundenen Patronen und Hülsen
konnten eindeutig den Revolvern von Typ „Nahan“ und „TT“ zugeordnet werden. Beide Revolvertypen gehörten zur Standardausstattung
der NKVD-Mitarbeiter. Den Angaben des Generalstaatsanwaltes der
BSSR, Heorhij Tarnavskij, zufolge, der das erste Strafermittlungsverfahren leitete, handelte es sich dabei um schätzungsweise 30 000 Opfer. Unterdessen wird die Zahl der Opfer auf 250 000 geschätzt.
Am 29. Oktober 1937, dem Tag des Lenin-Komsomol und dem zwanzigsten Jahrestag der Oktoberrevolution wurden im Minsker NKVDGefängnis „Amerikanka“ mehr als 100 Menschen, darunter 22 belarussische und jüdische Literaten sowie 52 Vertreter der Intelligencija
erschossen.14 Dieses Ereignis war der Anfang der Massenrepressio14
Zu den Opfern der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober 1937.: Leanid Marakoŭ:
Achvjary i karniki. Mensk 2007, S. 3–91. – Das Buch besteht aus drei Teilen. Der
erste widmet sich den Opfern dieser Nacht. Im zweiten Teil sind die Namen der
zwischen August 1937 und November 1938, des sogenannten „blutigen Tunnels
des Todes“ (Kravavy tunėl’ smerci) im Minsker NKVD-Gefängnis erschossenen
Menschen verzeichnet. Der letzte Teil besteht aus Informationen über die Vollstrecker der Todesbefehle. – Marakoŭs einzigartige Enzyklopädie in zehn Bänden
(insgesamt 15 Bücher) gibt detaillierte Auskunft über die Biographien von über
6000 Opfer unter der belarussischer Intelligenz. – Ders.: Rėprėsavanyja
litaratynavukoŭcy, rabotniki asvety, hramadzkija i kul’turnyja dzejačy Belarusi.
Ėnzyklapedyčny davednik u 10 tamach. (T. 1, T. 2), Smalensk 2001; T. 3 (1),
Mensk 2003 und T. 3(2), Mensk 2004. – Ders.: Rėprėsavanyja litaratynavukoŭcy,
rabotniki asvety, hramadzkija i kul’turnyja dzejačy Belarusi. Ėnzyklapedyčny
10
Elena Temper
nen in Belarus, von denen alle Bevölkerungsschichten betroffen waren. Am stärksten gerieten jedoch die belarussischen Bauern ins Visier
der stalinistischen Exekutionskommandos. Insgesamt wurden 65 Prozent der Landbevölkerung, 15 Prozent der Arbeiter, 5 Prozent der Intelligenz und ein Prozent der Geistlichen Opfer von Repressionen.15 In
offiziellen Statistiken wird die Zahl aller Opfer auf dem Territorium
der BSSR mit 600 000 angegeben. Die unabhängigen Wissenschaftler
gehen jedoch davon aus, dass mehr als eine Million Menschen Opfer
des Großen Terrors wurden, wobei ihre Familienangehörigen noch
erfasst werden müssten.16
Bei dem am 14. Juni 1988 eingeleiteten Ermittlungsverfahren zur
Aufklärung des Verbrechens wurde eindeutig festgestellt, dass es sich
bei den in Kurapaty gefundenen menschlichen Überreste nicht um Juden handelt, die von der deutschen Wehrmacht ermordet worden waren, sondern um Opfer des stalinistischen Terrors. In diesem Verfahren wurde zum ersten Mal in der sowjetischen Justizgeschichte der
Staat mit Verbrechen seiner Sicherungsorgane konfrontiert.
15
16
davednik u 10 tamach. T. 4 (Kniha 1 i 2): Rėprėsavanyja nastaŭniki Belarusi.
1917 – 1954. Mensk 2007. – Hier werden die zwischen 1917 und 1954 Lehrer
vorgestellt, die Opfer der Repression wurde – Ders.: Rėprėsavanyja
litaratynavukoŭcy, rabotniki asvety, hramadzkija i kul’turnyja dzejačy Belarusi.
Ėnzyklapedyčny davednik u 10 tamach. T. 5. Rėprėsavanyja medycynskija i
vetėrynarnyja rabotniki Belarusi. 1917–1960. – In dieser sich im Druck befindliche Enzyklopädie sind die Namen Mediziner und Veterinärmediziner zusammengestellt, die zwischen 1917 und 1960 Opfer der Repression wurde. In seinem
enzyklopädischen Wörterbuch in zwei Bändern nennte Marakoŭ die Namen von
knapp drei Tausend zwischen 1917–1967 Geistlichen, die den Repressionen zum
Opfer fielen. Ders.: Rėprėsavanyja pravaslaŭnyja svjaščėnna- i carkoŭnaslužyceli
Belarusi. 1917–1967. Mensk 2007. – Auch: Igor’ Kuznecov: Zasekrečennye
tragedii sovetskoj istorii. Rostov-na-Donu 2007. – Aljaksandar Lukašuk: „Zakipučaj čėkistkaj rabotaj“: Z žic’cja kataŭ. Mensk 1997.
Bei den Opfern handelt es sich sowohl um Erschossene als auch Unterdrückte
belarussische Bürger. Vgl.: Uroki prošlogo: Zaveršilis’ obščestvennye slušanija
„Prestuplenija stalinisma v Belarusi“ <http://news.open.by/333/2006-1027/21023/>. Auch: Belarus gedenkt den Opfern stalinistischer Repressionen, in:
BelarusNews. de <http://www.belarusnews.de/de/sozial/belarus/
Igor’ Kuznecov: Repressii na Belarusi v 1920-1940-e hh, in: Ders. (Hg.):
Repressivnaja politika sovetskoj vlasti v Belarusi, Bd. 2. Minsk 2007. S. 5–15.
Kontroverse Kurapaty – Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus
11
Am 30. Oktober 1988 folgten etwa 10 000 Minsker Einwohner dem
Aufruf der Belarussischen Volksfront (BNF) unter Zjanon Paznjak
und kamen mit weiß-rot-weißen Fahnen zur ersten Kundgebung nach
Kurapaty, um der Opfer der kommunistischen Repressalien zu gedenken. Obwohl die Demonstration weitgehend friedlich verlief, wurde
sie von einer Armee aus Miliz und Sondereinheiten mit Gummiknüppeln und Tränengas aufgelöst. Diese Aktion löste eine Welle der Empörung in der gesamten UdSSR aus.17
4.
Kurapaty – ein Politikum
Kurapaty gab den Anstoß für eine Neubewertung der belarussischen
Geschichte. Der Ort wurde zum Symbol des Kampfes gegen das
kommunistische Regime und für ein unabgängiges Belarus. Kurapaty
wurde dadurch selbst zu ein einem Politikum. Obwohl der Ministerrat
der BSSR in seinem Beschluss vom 18. Januar 1989 „Über die Verewigung des Gedächtnisses der Opfer der Massenrepressalien 1937–
1941 Jahre im Waldmassiv Kurapaty“ die Errichtung eines Denkmals
beschloss, ist dies bis heute nicht geschehen. Symbolisch wurde damals ein Monolith aufgestellt, an dessen Stelle, so heißt es auf dem
Schriftzug, den Opfern der Massenrepressalien ein Denkmal erbaut
werden sollte. Zwar steht der Name Kurapaty seit 1993 auf der offiziellen Liste des historischen und kulturellen Erbes der Republik Belarus als „Ort der Vernichtung der Opfer der politischen Repressalien
der 1930–40er Jahre“. Doch alle Denkmäler die sich in Kurapaty befinden, gehen auf private Initiativen verschiedener zivilgesellschaftlicher Organisationen zurück. Das Jahr 1993 ging in die belarussische
Geschichte auch dadurch ein, dass der Oberste Sowjet der Republik
Belarus der im August 1991 verbotenen Kommunistischen Partei ihren öffentlichen Status wiederherstellte. Seitdem schreitet die öffentli-
17
Zu den Ereignissen in Kurapaty: David R. Marples: Kuropaty: The Investigation
of a Stalinistic Historical Controversy, in: Slavic Review, 2/1994, S. 513–523. –
Zu den Folgen: Astrid Sahm: Transformation im Schatten von Tschernobyl. Um
welt- und Energiepolitik im gesellschaftlichen Wandel von Belarus und der Ukraine.
Münster 1999, S. 71.
12
Elena Temper
che Reanimation der sowjetischen Vergangenheit voran. Eine kritische Auseinandersetzung findet damit nicht statt.
In Lukašėnkas Belarus gehört Kurapaty nicht zum amtlichen Erinnerungskanon. Geschichtslehrbücher enthalten keine Informationen dazu, offizielle Exkursionen gibt es nicht. Der Staatspräsident hat sich
ebenfalls noch nicht nach Kurapaty verirrt. Bill Clinton ist bis heute
der einzige Staatsmann, der im Januar 1994 Kurapaty besuchte und
mit einer gestifteten Granitbank, die die Aufschrift trägt: „Vom Volk
der Vereinigten Staaten von Amerika dem belarussischen Volk zum
Gedenken“, der Opfer von Kurapaty gedachte. Bereits ein Dutzend
Mal wurde die „Clinton-Bank“ von Vandalen heimgesucht. Bereits
ein Dutzend Mal wurde die „Clinton-Bank“ zum Objekt des Vandalismus. Auch Gräber wurden auf der Suche nach Gold mehrmals ausgehoben und die von den Bürgern errichteten Kreuze geschändet.
Kein einziges Mal gab es eine offizielle Strafverfolgung. Stattdessen
wurden immer neue staatliche Untersuchungen der Erschießungen
veranlasst, deren Ergebnisse nicht veröffentlicht werden.18
Als vor der Präsidentschaftswahl 2001 beschlossen wurde, die Autobahn zu erweitern, die unmittelbar an den Massengräbern von Kurapaty vorbeiführt, drohte die Situation zu eskalieren.19 Zu diesem
Zweck mussten mehrere Bäume im Wald von Kurapaty gefällt werden. Die Straße sollte somit über Gräber gehen. Acht Monate zelteten
junge Belarussen, meist Mitglieder der oppositionellen Jugendorganisationen Malady Front“ und Zubr, in den Kieferwäldern am Rande
des Denkmals.20 Die Demonstranten errichteten auf dem Gelände über
18
19
20
Die Untersuchungen sollten beweißen, dass es sich bei den Getöteten um Opfer
der deutschen Okkupation handelt. Vgl.: Adam Zaleski: ...I vse-taki fašisty, in:
Tovarišč, 19.01.1996. <http:/katyn.ru/. Ders.: Stalin i kovarstvo ego političeskich
protivnikov. Minsk 2002. – Vsë li my znaem o Kurapatach?, in: Respublika,
01.02.1996. – Pljaksi vokrug Kuropatskich mogil, in. Chartyja’97
<http:/charter97.org/bel/news/2002
Vgl.: Weißrusslands Regierung lässt nahe der Hauptstadt eine Autobahn ausbauen – auf den Leichen von Stalin-Opfern, in: taz, 23.11.2001, S. 11.
Sjargej Dubavec (Hg.): Daroga praz Kurapaty. Kniha adnaho rėpartažu Praha
2002. In einer Art Tagebuch mit Abbildungen ist hier der Kampf um Kurapaty
beschrieben.
Kontroverse Kurapaty – Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus
13
hundert Kreuze und blockierten unter anderem die Baufahrzeuge, um
die am Tag des zweiten Amtsantritts von Präsident Lukašėnka begonnenen Bauarbeiten zu stoppen. Die Initiative wurde von der Christlich-Konservativen Partei-BNF, der Volksfront Adradžėn’ne und Martyrolah Belarusi unterstützt.21 Eine Woche nach einem Solidaritätsbesuch polnischer Diplomaten kam es am 8. November, am Gedenktag
der Großen Oktoberrevolution, zu schweren Ausschreitungen. Nahezu
alle aufgestellten Holzkreuze wurden zerstört, Hundertschaften von
Miliz und OMON-Spezialtruppen des Innenministeriums prügelten
wahllos auf die Demonstranten ein. Danach kam es zu zahlreichen
Anklagen, Gefängnis- und Geldstrafen gegen die Kurapaty-Aktivisten.
Die Niederschlagung der Kurapaty-Aktion am gesetzlichen Feiertag
der Großen Oktoberrevolution zeigte eine drastische Wende der staatlichen Geschichtspolitik zurück zum sowjetischen Wertekanon. Ungeachtet der Proteste und der öffentlichen Unterstützung der Verteidigung von Kurapaty durch alle oppositionellen Parteien sowie Schriftsteller, Historiker und andere prominente belarussische Intellektuelle,
wurden die Bauarbeiten fortgeführt.
5.
Kurapaty – Denkmal und Symbol
„Erinnert euch!“ riefen die einen,
„Jetzt ist es aber genug!“ fanden die anderen.
Günter Grass22
Als Antwort auf den Autobahnausbau entstand im Herbst 2001 eine
Bürgerinitiative „Für die Rettung der Totenstätte in Kurapaty“ (Za
ŭratavanne memaryjala Kurapaty). Der Initiative, die von mehr als
21
22
Kurapaty – nasha bol’, nash pamjac’, nasha tryvoha, in: Narodnaja volja,
10.10.2001. – Zjanon Paz’njak: Novae stahodze. Waršawa 2002, S. 93–96.ė
Günter Grass: Ich erinnere mich... Rede im Rahmen der Litauisch-deutsch-polnischen Gespräche über die Zukunft der Erinnerung, in: Günter Grass, Czeslaw
Milosz, Wislawa Szymborska, Tomas Venclova: Die Zukunft der Erinnerung. Göt
tingen 2001, S. 27–34, hier S. 33.
14
Elena Temper
dreißig gesellschaftlichen Organisationen und zahlreichen Vertretern
der belarussischen Intelligenz unterstützt wurde, gelang es, eine öffentliche Debatte über die Errichtung einer Gedenkstätte anzustoßen.
Zwei Konzeptionen standen zur Diskussion. Das erste Konzept der
„Jugend für den Schutz von Kurapaty“ und der „Die Initiative für die
Rettung der Totenstätte in Kurapaty“ wurde am 19. Februar 2002 der
Öffentlichkeit vorgestellt. Es sah zunächst vor, das Gelände von
Kurapaty nach belarussischer Tradition der Totenbestattung zu umzäunen und ein Eingangstor zu errichten.23 Den Mittelpunkt der zukünftigen Gedenkstätte sollte das bei der ersten Kundgebung am Ahnentag Dzjady 1989 zum Gedenken an die Stalinistischen Opfer errichtete sieben Meter hohe Kryž Pakuty (Kreuz des Leidens) bilden.
Das Kreuz wurde bei seiner Errichtung von Priestern der vier größten
Konfessionen in Belarus, der orthodoxen, katholischen, evangelischen
und der unierten, zeremoniell geweiht. Ferner waren Kapellen verschiedener Konfessionen, ein Museum für die Opfer des Stalinismus
sowie Informationsstätten außerhalb des Geländes geplant. Ein beabsichtigter Nebeneffekt war, auf diese Weise weitere Baumaßnahmen
zu unterbinden.
Eine andere Konzeption, die vom belarussischen Friedenskomitee
ausgearbeitet wurde, sah die Errichtung eines Mahnmals zum Gedenken an die Opfer der Repression vor. Das „Mahnmal des vergossenen
Blutes“ in Form eines Hufeisens, das Verständigung, Glück und Versöhnung symbolisieren sollte, stieß jedoch auf heftige Kritik. Hufeisen
heißt auf Belarussisch padkova ščasc’cja (Hufeisen des Glückes). Ein
derart positiv konnotiertes Symbol konnte nach Meinung der Kritiker
nicht für das Leiden der Opfer stehe.24
Zjanon Paz’njaks Vision von einem Kurapaty-Denkmal war eine Gedenkstätte, die die belarussischen Bürgern selbst initiieren und finanzieren sollten. Angesichts der negativen Haltung der Regierung Kurapaty gegenüber, so Paz’njak, sei ein amtlich verordnetes Denkmal den
23
24
Predložena konzepzia Kuropat, in: Belorusy i rynok, 25.2.2002.
Z Kurapataŭ bačny cen’ Lucypara nad Belarussju, in: Belarus’ – naša zjamlja.
<http://nashaziamlia.org/2006/04/12/33/>.
Kontroverse Kurapaty – Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus
15
Opfern sowie der Bedeutung der Katastrophe in der kollektiven Erinnerung nicht angemessen.25 Der Anfang für ein solches Narodny Memorial Belaruskaj Martyralëhii (Nationale Gedenkstätte des Belarussischen Martyriums) war bereits mit der kollektiven Errichtung des
Kryž Pakuty vor über zwanzig Jahren gemacht. Am 29. Oktober 2000
organisierten die BNF und Adradžėn’ne einen kilometerlangen
„Kreuz“-Marsch durch Minsk nach Kurapaty. Jeder Teilnehmer trug
ein selbstgemachtes mit einem weiß-rot-weißen Band umbundenes
Kreuz in der Hand. Anschließend wurden die Kreuze als symbolische
Sichtbarmachung der Erschossenen auf dem Gelände von Kurapaty
errichtet. Die Zahl der Kreuze nahm jedes Jahr zu und sollte zu einem
„Wald von Kreuzen“ (Paz’njak) wachsen. So würde eine lebendige
Erinnerungsstätte für die Toten entstehen. Eine ähnliche Gedenkstätte,
also eine Kreuz-Landschaft im Entstehen, findet sich im polnischen
orthodoxen Kloster Grabarka. Die dortige Holzkirche aus dem 18.
Jahrhundert ist von zahllosen Kreuzen umgeben.26 Paz’njaks Projekt
fand breite Zustimmung unter Kurapaty-Aktivisten. Zum einen lag es
an seiner vergleichbar einfachen Realisierung, zum anderen an der
Idee eines Denkmals im permanenten Entstehen und seiner symbolischen Funktion als Spiegel der Gesellschaft.27
Obwohl die Vertreter der wichtigsten Konfessionen von Belarus
Kurapaty als einen Gedenkort der stalinistischen Massenrepressionen
anerkannt hatten und dem „Kreuz des Leidens“ durch die Weihung
eine sakrale Bedeutung verliehen, wurde es mehrmals geschändet. Im
Land des „orthodoxen Atheisten“, wie sich Präsident Lukašėnka selbst
bezeichnet, gab es bis März 2008 trotz zahlreicher Bürgerproteste
noch keiner strafgerichtlichen Verfolgung gegen die Denkmalsschänder. Die Passivität der Behörden ist sogar gesetzlich begründet, denn
25
26
27
Kurapaty – nasha bol’, nasha pamjac’, nasha tryvoha, in: Narodnaja volja,
10.10.2001 und in: Zjanon Paz’njak: Novae stahodze. Waršawa 2002, S. 93-96.
Jedes Jahr am 19. August, dem orthodoxen Fest der Verklärung Christi, kommen
Tausende Pilger aus Polen, der Ukraine und Belarus’ hierher, um ihr Glaubens
bekenntnis zu erneuern, und bringen kleine und große Kreuze mit, in die ihre
Wünsche geritzt sind.
Zjanon Paz’njak: Narodny memaryjal Kurapaty <http://kurapaty.org//index.php?
option=com_content&task=view&id=41&Itemid=1>.
16
Elena Temper
laut Artikel 20 Punkt 2 des Gesetzes „Zum Schutz des historischen
und kulturellen Erbes“ können die von Bürgern errichteten Gedenkzeichen nicht in die offizielle Liste des historischen und kulturellen
Erbes aufgenommen werden, so der Stellvertretende Kulturminister
von Belarus, Uladzimir Hrydzjuška, in einem Schreiben an KurapatyAktivisten nach einem weiteren Vandalismusakt im Oktober 2007.28
Am 29. Oktober 2004 errichtete die Jüdische Gemeinde von Belarus
ein Mahnmal zum Gedenken an die Opfer der Repression. Auf dem
braunen Granitstein, einem Teil des einstigen Stalin-Denkmals, das in
der Nacht vom 29. zum 30. Oktober 1962 in Minsk demontiert worden war, steht in Hebräisch und Belarussisch die Aufschrift: „Unseren
Glaubensbrüdern – Juden, Christen und Muslimen – den Opfern des
Stalinismus von den belarussischen Juden“. Der David-Stern wurde
seitdem mehrmals entfernt und der Gedenkstein mit neo-nazistischen
Parolen sowie Hakenkreuzen beschmiert. Auch hier übten sich die
Behörden in Gleichgültigkeit. Erst als am 12. März 2008 Unbekannte
mehr als dreißig Kreuze demoliert hatten, leitete der Staatsanwalt des
Bezirks Minsk ein erstes Strafverfahren wegen Vandalismus ein.
Möglicherweise reagierten die Behörden diesmal unter dem Eindruck
des vorangegangenen Gedenkjahres an die Opfer der stalinistischen
Repressionen.
6.
1937 – Gedenkjahr des Großen Terrors
2007 jährten sich zum siebzigsten Mal die tragischen Ereignisse von
1937, als der Stalin-Terror seinen Höhepunkt erreichte. Am 23. November 2006 wurde von der „Belarussischen Gesellschaft zum Schutz
von historischen und kulturellen Denkmälern“ unter Vorsitz des Historikers und Totalitarismusforschers Ihar Kuznjacoŭ das „Organisationskomitee des Gedenkjahres an die Opfer der stalinistischen Repressionen“ (Arhkamitėt ŭšanavan’nja pamjaci achvjaraŭ stalinskich
rėprėsijaŭ) gegründet. Der Vorschlag der Organisatoren, das Jahr
2007 zum offiziellen Gedenkjahr auszurufen sowie den 29. Oktober
28
Ministėrstva kul’tury: U Kurapatach njama historyka-kul’turnych pomnjkaŭ, in:
NN.by, 21.11.2007, < http://pahonia.org/str/2007-11/405.htm>.
Kontroverse Kurapaty – Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus
17
zum Gedenktag an die Opfer der stalinistischen Repressalien zu erklären, fand jedoch keinen Rückhalt in der belarussischen Regierung.
Mehr als fünfzig Intellektuelle und zahlreiche gesellschaftliche Organisationen unterstützten dagegen diese Initiative.
Zum zentralen Ereignis des Gedenkjahres wurden die landesweiten
Versammlungen an jedem 29. des Monats zum Gedenken an die Opfer der Repression, die an den jeweiligen Exekutionsstellen durchgeführt wurden. Außer in Kurapaty und im Minsker Park „Čaljuskincy“
fanden die Gedenkaktionen in Barysaŭ, Vilejka, Valožyn, Sluck,
Bjaraza, Homel’, Mazyr und in vielen anderen Städten statt. Das
Hauptanliegen dieser und anderer Aktivitäten war, die offizielle und
gesellschaftliche Anerkennung der stalinistischen Verbrechen gegen
die belarussische Bevölkerung als historischen Tatbestand zu erreichen.29
Über die Aktivitäten während des Gedenkjahres wurde im Newsletter
Recha HULAHu (Das Echo des GULAG) berichtet, das einmal das
Presseorgan der in den 1990er Jahren tätigen Organisation Belaruskaja asacijacyi achvjaraŭ palityčnych rėprėsij (Belarussische Assoziation der Opfer von politischen Repressionen) gewesen war. Insgesamt
erschienen sieben Ausgaben, die an Museen, Schulen, Zeitungsredaktionen, Bibliotheken und gesellschaftliche Organisationen aller Couleur verteilt wurden.
Im Gedenkjahr 2007 erschien ein gut recherchierter Sammelband
belarussischer und ausländischer Autoren zur „Repressiven Politik der
Sowjetmacht in Belarus“.30 In dem dreibändigen Werk mit 60 Beiträgen von 35 Autoren aus Belarus, Israel und Russland, das von Memo29
30
Auf der Basis der Materialien zum „Jahr des Gedenkens“ erschien eine
Sammelpublikation: „Pakajan’ne – zlačynstva kamunistyčnaha rėžymu i
antytatalitarny supraciŭ: das’ledvan’ni, dakumenty, s’vedčan’ni“. <http://represiiby.info/index.php?dn=info&pa=supraciu>. Diese Internetseite repräsentiert das
Projekt der Partei „Belarussische Christliche Demokratie“ Pakajanne (Reue).
Hier sind Informationen, Materialien, Fotos und Multimediadokumente über die
kommunistischen Repressionen in Belarus zusammengestellt.
Igor’ Kuznecov, Jakov Basin (Hg.): Represivnaja politika sovetskoj vlasti v
Belarusi. Minsk 2007.
18
Elena Temper
rial herausgegeben wurde, werden die Geschichte totalitärer Herrschaft in Belarus und die Entwicklung des Landes nach Stalins Tod
am 5. März 1953 untersucht. Die Bücher enthalten Memoiren, biographische Dokumente und andere Quellen über das tragische Schicksal
von Aktivisten der belarussischen Nationalbewegung Anfang des 20.
Jahrhunderts.
Zu einem herausragenden Ereignis gehörten die am 16. Juni 2007 in
acht ex-kommunistischen Ländern – Belarus, Lettland, Litauen, Estland, Albanien, Makedonien, der Slowakei und der Ukraine – parallel
durchgeführten Konferenzen zum Thema „Kommunismus vor das internationale Tribunal“. Die Tagungsbeiträge, darunter auch sieben von
belarussischen Historikern, sollen in einem englischsprachigen Sammelband veröffentlicht werden.31 Die Initiative zu dieser Veranstaltung kam aus Litauen, wo bereits 2000 eine ähnliche Konferenz stattgefunden hatte. Ungeachtet einiger Schwierigkeiten fand die belarussische Konferenz am Sitz der Belarussischen Volksfront statt. Der
Schwerpunkt der Minsker Tagung lag auf dem Großen Terror. Belarussische Intellektuelle, darunter die Historiker Leanid Lyč, Uladzimer Konan oder Ėmanuil Iofe präsentierten der Öffentlichkeit neue
Erkenntnisse und wissenschaftliche Publikationen.32
Im Gedenkjahr wurden an Orten der Massenerschießungen zahlreiche
Gedenktafeln angebracht und Denkmäler aufgestellt. Die Initiative
ging vom „Organisationskomitee zur Verewigung des Gedenkens an
31
32
Kamunism pad trybunal, <www.charter97.org/bel/news/2007/06/15/tribunal >.
Vgl. Igor’ Kuznecov: Zasekrečennye tragedii sovetskoj istorii. Rostov-na-Donu
2007.– Ders.(Hg.): Belarus’ v XX stolet’e und Repressivnaja politika sovetskoj
vlasti v Belarusi. Unter <homoliber.org, kamunikat.org und pakutniki.narod.org>.
– Vorgelegt wurde eine DVD-Dokumentation: „Rėprėsii na Belarusi. 1937–2007.
Pakajan’ne“. Darauf sind die Filme „Daroha na Kurapaty“ (1988) und Pavel
Šeremet „Dzikae paljavanne-II“ (2000) sowie die Bücher von I. Kuznecov:
Zasekrečennye tragedii sovetskoj istori; Z. Paz’njak (Hg.): Kurapaty; F. Aljacho
vič: U kipcjurach GPU; A. Lukašuk: Za kipučaj čėkisckaj rabotaj; V. Bykaŭ:
Žoŭty pjasočak. – In der Reihe Belaruski knihazbor sind Werke des Schriftstel
lers Sjarhej Hrahoŭski (1913–2002) erschienen. In Gedichten und autobiographi
schen Essays beschreibt er seine Jahre als GULAG-Häftling (1936–1946).
Sjarhej Hrahoŭski: Zona maŭčannja, in: Ders.: Vybranyja tvory. in: Belaruski
knhazbor, T. 37. Minsk 2007.
Kontroverse Kurapaty – Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus
19
die Opfer des Stalinismus“ und der „Belarussischen Assoziation der
Opfer von politischen Repressionen“ aus. Die staatlichen Autoritäten
übten sich dagegen in Ignoranz, wobei die Aktionen auf lokaler Ebene
häufig gestört bzw. nicht genehmigt wurden.33 Nach achtzehnjährigem Warten auf ein Denkmal in Kurapaty beschloss das Organisationskomitee auf dem Monolith von Kurapaty den Schriftzug „Opfern
des Stalinismus“ (Achvjaram stalinismu) einzumeißeln. Damit wurde
der bisherige Text auf der Gedenktafel „Den Opfern der Repressalien
von 1937–1941“ konkretisiert. Auf der Rückseite des Monoliths wurde das Schild mit dem Schriftzug „In diesem Waldgebiet wird gemäß
dem Beschluss des Ministerrates der Belarussischen SSR vom 18. Januar 1989 ein Denkmal für die Opfer der Massenrepressionen der Jahre 1937-1941 gebaut“ in belarussischer Sprache angebracht. Der Platz
des Schildes änderte sich in mehr als zwanzig Jahren schon öfters.
Auch der Monolith wurde mehrfach umgestaltet. Zuletzt nahm sich
ein Unbekannter der visuellen Veränderung des Steins, aber auch vieler kleinere herumliegender Steine an und bemalte sie mit Gesichtern,
die an Heilige auf den christlichen Ikonen erinnern.
Bereits 1990 entstand der erste Dokumentarfilm über Kurapaty Daroha na Kurapaty (Der Weg nach Kurapaty). Der Film des Regisseurs
Michail Ždanoŭski und Drehbuchautors Aljaksandr Lukašuk wurde
1994 mit dem höchsten staatlichen Preis (Dzjaržaŭnaja prėmija
Rėspubliki Belarus’ ŭ haline litėratury, mastactva i architėktury) ausgezeichnet. Einer breiten Öffentlichkeit ist er jedoch unbekannt, denn
seine Ausstrahlung im Staatsfernsehen wurde bislang untersagt. Für
seine weitere Dokumentation über Kurapaty Va ŭse dni (An allen Tagen) erhielt Ždanoŭski den Ersten Preis beim diesjährigen „IV. internationalen katholischen Festival christlicher Filme und Fernsehpro33
Bislang sind 80 Gedenktafeln (meistens angebracht auf einem Kreuz) Belarusweit aufgestellt worden. 27 davon befinden sich im Verwaltungsbezirk
(Voblasc’) Minsk, und zusätzlich neun an Erschießungsstellen in der Stadt
Minsk. Die übriegen denkmäler an Plätzen von Massentoötungen verteilen sich
wie folgt: Siebzehn in Hrodnaer Voblasc’, elf in Brėster, acht in Vicebsker ,
sechs in Mahilëŭer, zwei in Voblasc’ Homel’. Vgl.: Jak zachavac’ pamjac’ pra
rėprėsii?, in: Bjuletėn’ arhkamitėta Hoda Pamjaci „Recha HULAHu“, Nr. 3,
07.2007. <http:/represii-by.info/index.php?dn=articly>.
20
Elena Temper
gramme ‚Magnifikat-2008’“ (IV mižnarodny katalicki festyval’
chryscijanskich fil’maŭ i tėleprahram „Mahnifikat-2008“).34 Der Film
handelt vom Ikonenmaler Anatol’ Kuznjazoŭ, der in Kurapaty Steine
mit Bildnissen versieht und auf diese Weise die Getöteten visuell in
Erinnerung ruft.
Die Organisatoren und Teilnehmer der Veranstaltungen zum Gedenkjahr fassten ihre Vorschläge in einem Schreiben an die belarussische
Regierung zusammen. Darin forderten sie, Informationen über die Orte der Massenerschießungen zwischen 1920 und 1950 zugänglich zu
machen, die Namen aller Opfer zu veröffentlichen sowie eine zentrale
Datenbank zu erstellen, die die Namen aller Personen enthält, die in
diesen Jahrzehnten in Belarus Opfer von Repressionen geworden waren. Wissenschaftler sollten freien Zugang zu den Archiven des KGB
und des Innenministeriums (MVD) erhalten. Schließlich verlangen
sie, dass der Beschluss des Ministerrats der BSSR von 1989, in Kurapaty ein Denkmal zu errichten, endlich realisiert wird.35 Die belarussische Regierung hüllt sich bislang in Schweigen, ob sie auf diese Forderungen einzugehen gedenkt. Lediglich ein Schild mit der Information, dass Kurapaty zum historischen und kulturellen Erbe der Republik
Belarus als „Ort der Vernichtung der Opfer der politischen Repressalien der 1930–40er Jahre“ gehört und dass Vandalismus strafrechtlich
verfolgt wird, aufgestellt. Indes gehen die Vandalen unter der Augen
der Justiz weiter und es ist eine Frage der Zeit, wie viel Durchhaltevermögen die Aktivisten noch aufbringen können, um die Gedenkstätte in Würde zu halten.
7.
Vom Nutzen und Nachteil der historischen Erinnerung in
Belarus
Das gemeinsame historische Erbe als die einigende Komponente einer
Nation erfährt in der kollektiven Erinnerung seine „höchste Wert34
35
Fil’m pra Kurapaty atrymaŭ Hran-pry „Mahnifikatu“, in. nn.by < http://www.n
n.by/index.php?c=ar&i=17919>.
Zaveršilis’ obsčestvennye slušanija „Prestuplenija stalinisma v Belarusi“.
<http://pda.news.by/333/2006-10-27/21023/>.
Kontroverse Kurapaty – Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus
21
schätzung“, so der französische Philosoph und Historiker Ernst Renan.36 Die Erinnerung an ein gemeinsames Leiden besitze jedoch weitaus größeres einigendes Potential als die Erinnerung an Freude und
Triumphe, denn „sie erlegt Pflichten auf“ und „gebietet gemeinsame
Anstrengungen“.37 Solche gemeinsamen Leidenserfahrungen sowie
die mit ihnen verbundenen „Pflichten“ und „Anstrengungen“ haben
allerdings in Belarus nicht zur Bildung einer modernen Nation und zu
ihrer Konsolidierung beigetragen.
Lukašėnkas Meistererzählung basiert weiterhin auf dem Mythos von
„Belarus als eine Partisanenrepublik“ und der herausragenden Rolle
der belarussischen Soldaten im Großen Vaterländischen Krieg der
Sowjetunion. Darauf gründen die staatlichen Gedenkfeiern und
Denkmäler. Das sowjetische Erbe wird hochgehalten, wobei die Legendenbildung die Fakten überwiegt.38 Die offizielle Lesart der sowjetischen Geschichte überspringt die unangenehmen Seiten, ohne sie zu
leugnen. Im Bezug auf die Periode des Stalinismus beruft sich Lukašėnka auf andere historische Ereignisse wie die Französische Revolution, und versucht unter Verweis auf deren gewaltsamen Charakter
das Ausmaß der stalinistischen Verbrechen zu relativieren. Während
in anderen postkommunistischen Ländern die kritische Aufarbeitung
der Vergangenheit eingesetzt hat, die sich in der wissenschaftlichen
Forschung sowie der Musealisierung der kommunistischen Vergangenheit äußert, wird im postsowjetischen Belarus fünfzig Jahre nach
Stalins Tod sein Mythos als „Vater der Sowjetnation“ wiederbelebt.39
36
37
38
39
Ernst Renan: Was ist eine Nation? In: Ders: Was ist eine Nation? Hamburg 1996.
S. 34–35.
Ebd., S. 35.
Bernhard Chiari: Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrußland 1941–1944. Düsseldorf 1998. – Ders.: Die Kriegsgesellschaft. Weißrußland im zweiten Weltkrieg (1939–1944), in: Beyrau, Lindner
Handbuch [Fn. 1], S. 408–426.
Für den anderen Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit vgl. exemplarisch die Okkupationsmuseen in Riga und Tallinn, das Genozidmuseum in Vilnius, das Kommunismus-Museum SocLand und das Zentrum KARTA in Warschau, das Haus des Terrors in Budapest, die rumänische Gedenkstätte in Sighet,
das Museum des Kommunismus in Prag. – Stefan Troebst: „Was für ein Teppich?“ Postkommunistische Erinnerungskulturen in Ost(mittel)europa, in: Volk-
22
Elena Temper
Seit die Minsker Forschergruppe des Instituts für Geschichte an der
Nationalen Akademie der Wissenschaften 1996 ihre Arbeit zum Thema stalinistische Repressionen in Belarus beenden musste, existiert
auf staatlicher Ebene keine Institution mehr, die sich mit dem Problem
beschäftigt. Im Gegenteil. Das Thema Stalinismus als ein historisches
Phänomen ist aus den Geschichtsbüchern und aus dem Forschungsfeld
verschwunden.
Die Errichtung der Gedenkstätte „Linija Stalina“ (Die Stalinlinie)
2005 in Saslav’e, Lukašėnkas Bezeichnung von Lenin und Stalin als
„Symbole des belarussischen Volkes“ anlässlich der Eröffnung der
neuen Nationalbibliothek 2006 und die Ausstrahlung des StalinFilmes „Generalissimus“ im staatlichen Fernsehen macht deutlich,
welche erinnerungskulturellen Werte der offiziellen belarussischen
Politik zugrunde liegen. Was die Kontroverse um Kurapaty und die
Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit betrifft, ist vom
Lukašėnka-Regime in naher Zukunft kaum ein Umdenken zu erwarten. Folglich wird es nicht zu einem Konsens in der belarussischen
Gesellschaft kommen. Es ist offensichtlich, dass die oppositionellen
Eliten des Landes auf der einen Seite und die sowjetisch geprägte regierungstreue Mehrheit auf der anderen nicht die gleichen Opfer gebracht haben, über die sie sich als eine große Solidargemeinschaft
(Renan) definieren könnten. In diesem Sinne dürfte der amerikanische
Historiker Grigory Ioffe auch weiterhin Recht behalten „Belarus: ein
Staat, aber noch keine Nation“.40
40
hard Knigge, Ulrich Mählert (Hg.): Der Kommunismus im Museum. Formen der
Auseinandersetzung in Deutschland und Ostmitteleuropa. Köln 2005, S. 31–54.
Hryhory Ėfė: Belarus’: dzjaržava, ale jaščė nja nacyja, in: Arche, 4/2007, S. 116
–121.
Werner Imhof
Geschichte verbindet
Die Zeitzeugenprojekte der Brücke/Most-Stiftung
1.
Einleitung
Totalitäre Regime faschistischer, rassistischer und kommunistischer
Prägung, Holocaust, Okkupation, Konzentrationslager, Zwangsarbeit,
Widerstand, Kollaboration, Flucht, Vertreibung, Gefängnis, Stalinismus, Planwirtschaft, Volksaufstände, Exil, Dissidenten, Bürgerrechtler, friedliche und samtene Revolutionäre – Zeitzeugen aus Deutschland, Tschechien und der Slowakei haben alle Facetten der Diktaturen
des 20. Jahrhunderts erlebt und durchlitten.
Gemeinsam mit dem tschechischen Partner Collegium Bohemicum
betreibt die Brücke/Most-Stiftung zur Förderung der deutschtschechischen Verständigung und Zusammenarbeit seit Beginn des
Jahres 2010 das Oral-History-Projekt „Geschichte verbindet“.1 Es ist
das dritte groβe Zeitzeugenprojekt der Stiftung seit 2003, und es ist
das ambitionierteste.
Erfahrungen aus rund 400 Zeitzeugenbegegnungen, die etwa 13.000
Schülerinnen und Schüler erreicht haben, fließen nun ein in ein dreijähriges Programm für Begegnungen und historische Spurensuche.
Fortbildungsseminare mit erfahrenen Praktikern der Erinnerungspädagogik und umfangreiches pädagogisches Begleitmaterial (siehe
www.zeitzeugen-dialog.de bzw. www.dialog-pametniku.cz) ermöglichen eine didaktisch durchdachte Einbindung der Zeitzeugengespräche in den Unterricht.
Geschichte verbindet Deutsche und Tschechen, und die Spuren sind
besonders in den Grenzregionen allgegenwärtig. Dort, in den deutschtschechischen Euroregionen, werden bis Ende 2012 beidseits der
Grenze Jugendliche ihre Geschichte eigenständig erforschen und Zeitzeugen dazu befragen. Niemand wird behaupten, das bilaterale Verhältnis habe namentlich im 20. Jahrhundert immer unter einem glücklichen Stern gestanden. Das befreiende Jahr 1989 indes war durchaus
2
Werner Imhof
auch von gegenseitiger Inspiration geprägt. Das Projekt will keineswegs nur die bekannten dunklen Stellen der Vergangenheit beleuchten
oder nur die „großen Ereignisse“ in den Blick nehmen. Etwa das
Thema Migration – von Flucht und „ethnischen Säuberungen“ über
vietnamesische und kubanische „Vertragsarbeiter“ bis hin zu Bürgerkriegsflüchtlingen, Armutswanderungen und Arbeitsmigration – enthält viele und keineswegs nur negative Aspekte zum Verständnis der
Geschichte beider Länder. Und was die „schönste Nebensache der
Welt“ betrifft, erinnern sich Tschechen gern an das Jahr 1976 und einen Ballkünstler namens Panenka. Deutsche werden lieber an den
Schützen des einzigen „Golden Goal“ in der Geschichte des Fußballs
zwanzig Jahre später denken. Auch das ist gemeinsame Geschichte.
Sie enthält zudem so merkwürdige Kapitel wie die Rolle des Fußballs
im Ghetto Theresienstadt, dem das tschechische Fernsehen eine eigene Dokumentation gewidmet hat.2 Staatlich organisiertes Doping ist
ein weiteres Thema, das in sozialwissenschaftlicher Analyse, bereichert durch die Erinnerungen Betroffener, viel mehr als nur sportliche
Aspekte erschließt.
Gegen den Einsatz von Zeitzeugen in Schulen gibt es auch Einwände.
Sie beziehen sich vor allem auf die der Oral History eigene, eingeschränkte Perspektive des Individuums im Strom der Ereignisse. Zudem ist die Methode aufwändig, kostspielig und bedarf gründlicher
Vor- und Nachbereitung. Lohnt sich dennoch der Aufwand?
2.
Vier Beispiele
2.1
Zwangsarbeit unter dem Nationalsozialismus:
Jaroslav Jindřích
Ende 1943. Das NS-Regime führt Krieg an allen Fronten, alle Reserven werden mobilisiert. In ganz Deutschland und in den besetzten Gebieten werden Millionen Menschen fern der Heimat zur Arbeit gezwungen. Die Versorgung und vor allem die Rüstungsproduktion wären anders nicht mehr sicherzustellen, und so geben schlieβlich auch
die nationalsozialistischen Rassefanatiker ihren Widerstand gegen die
Beschäftigung von Fremdarbeitern auf. Im Gegenzug setzen sie eine
Kategorisierung nach Rassekriterien durch. Weit unten stehen Slawen
Geschichte verbindet - Die Zeitzeugenprojekte der Brücke/Most-Stiftung 3
und am Ende der Skala Juden, Sinti und Roma – sie sind dem mörderischen Programm „Vernichtung durch Arbeit“ ausgesetzt. Die Unterbringung, Versorgung und Bewachung sind entsprechend.
Einer von 640.000 Tschechinnen und Tschechen, die das Schicksal
Zwangsarbeit erleiden, ist der Prager Jaroslav Jindřích. Der junge
Bauingenieur ist erfolgreich ins Berufsleben eingestiegen, arbeitet bereits in verantwortlicher Position, als ihn die deutschen Besatzer nach
Magdeburg verschleppen. Er soll dort in einer Fabrik Munition zusammenschrauben.
Über 60 Jahre später sitzt Jindřích im sächsischen Bautzen einer
Schulklasse gegenüber und erzählt seine persönliche Geschichte. „Ich
bitte Sie“ empört er sich noch immer, „das war eine primitive Arbeit
für Hilfsarbeiter. Ich bin Bauingenieur! Wie sieht denn das später im
Lebenslauf aus, sagte ich mir. Sofort stand für mich fest: Das kommt
nicht in Frage!“ Mit einem Kollegen in der gleichen Situation sinnt er
auf Abhilfe. Die beiden schalten eine Anzeige in einer deutschen Zeitung: „Zwei qualifizierte Bauingenieure suchen entsprechende Beschäftigung, bevorzugt Raum Bautzen“. Zwei Gründe machen diese
Region für die jungen Tschechen attraktiv: Man spricht dort Sorbisch,
was sich nicht sehr vom Tschechischen unterscheidet, und es ist nicht
weit nach Hause. Auf dem vollkommen leergefegten deutschen Arbeitsmarkt erhalten sie Hunderte von Angeboten. Nur haben sie die
Rechnung ohne den Wirt gemacht. Denn selbstverständlich konnten
Zwangsarbeiter ihren Arbeitsplatz nicht frei wählen.
Mit Chuzpe und Glück gelang es ihnen schlieβlich doch, nach Bautzen versetzt zu werden und ihren Beruf ausüben zu können. Doch
Jindřích gerät bald ins Visier der Geheimpolizei. Er fotografiert in
seiner Freizeit gern, besonders alle ihn interessierenden Bauten und
Baustellen. Es dauert nicht lange, und er findet sich unter Spionageverdacht in einem Gestapo-Verhör wieder. Als er kurz darauf per Post
von zu Hause Baupläne zugeschickt bekommt, wird der Brief von der
Zensur abgefangen. Für die Gestapo ist der Fall nun klar. Nur mit
gröβter Mühe gelingt es Jindřích, glaubhaft zu machen, dass es sich
um von ihm selbst gezeichnete Pläne für ein Bauprojekt in seiner
Heimat handelte, mit der Bitte um Erläuterungen und Ergänzungen.
4
Werner Imhof
Nicht wenige Zwangsarbeiter bezahlten damals für solche Missverstände mit dem Leben – die NS-Schergen fragten nicht lange, wenn
sie „slawische Untermenschen“ in die Mangel nahmen.
In seinem Beruf als Bauingenieur hat Jindřích später hohe Anerkennung erworben. Als 1968 sowjetische Panzer die von ihm geteilten
Hoffnungen des tschechischen Volkes zerstörten, war seine Position
eindeutig – und er bezahlte dies durch berufliche Zurückstufung. Freilich erledigte er weiter im Hintergrund seine Aufgaben als Stadtplaner, denen sein politisch das Fähnchen in den Wind haltender Nachfolger nicht gewachsen war. Die Früchte erntete jedoch dieser.
Jaroslav Jindřichs Geschichte zeigt, dass viele Tschechen damals aus
einem prosperierenden Land mit einer funktionierenden Demokratie
völlig unvorbereitet in die Nazi-Diktatur gerieten. Befremdet nahmen
sie die Abwesenheit ihnen selbstverständlich erscheinender Menschenrechte wahr. Dieser sich vom deutschen deutlich unterscheidende Erlebnishorizont ist sehr aussagekräftig und dürfte heute den wenigsten Schülerinnen und Schülern bekannt sein. Allzu vielen Tschechen fehlte das Glück, das Jindřich nicht verließ, und sie kehrten nicht
zurück. Den Beschränkungen und Erniedrigungen, denen er als
Zwangsarbeiter durch die NS-Diktatur unterworfen war, setzte
Jindřich wie selbstverständlich seinen Selbstbehauptungswillen und
sein tief verwurzeltes Demokratieverständnis entgegen. Erfindungsreich versuchte er, sich dem Terror seiner Peiniger zu entziehen. Er ist
ein Beispiel dafür, dass mehr Widerstand gegen die Maßnahmen der
Diktatur möglich war, als viele ängstliche Menschen für möglich hielten. Das bewies er auch 1968 in seiner Heimat. Die deutschen Schülerinnen und Schüler waren von seiner Persönlichkeit tief beeindruckt.
Jaroslav Jindřích starb 2005 im Alter von 86 Jahren.
2.2
Holocaust: Michal Salomonovič
Am 13. Februar 1945 war Michal Salomonovič elf Jahre alt. Sein
sechsjähriger Bruder Josef sollte an diesem Tag hingerichtet werden.
SS-Wachen hatten ihn am Tag zuvor in einer Mülltonne entdeckt, wo
ihn seine Mutter vor den Kontrollen versteckte. Wenige Wochen zuvor hatten die Brüder ihren Vater verloren. Ein SS-Mann ermordete
Geschichte verbindet - Die Zeitzeugenprojekte der Brücke/Most-Stiftung 5
ihn im KZ Stutthof mit einer Phenolinjektion ins Herz. Er hatte einem
Aufruf an die halb verhungerten, entkräfteten Häftlinge Glauben geschenkt, wer sich schlecht fühle, erhalte Medikamente. Der Leidensweg der Familie aus dem mährischen Ostrava hatte in Lodż begonnen.
Immer wieder durchkämmten SS-Wachen das Ghetto und deportierten
nicht arbeitsfähige Alte und Kinder in die Vernichtungslager.
1000 dort an Werkbänken zur Munitionsherstellung ausgebildete jüdische Häftlinge wurden 1944 nach Auschwitz deportiert, als die Sowjetarmee sich dem Ghetto näherte – unter ihnen die Familie Salomonovič. Auschwitz war nur Zwischenstation: Unterdessen suchte die SS
nach einem Ort, an den die Werkbänke gebracht werden könnten, um
die Produktion fortzusetzen. Die Häftlinge besaßen aufgrund ihrer
Ausbildung an den Maschinen einen gewissen Wert für die SS und
wurden vorläufig am Leben gelassen. Stutthof war eine weitere Station, bis die Produktionsmittel in Dresden in einer ehemaligen Tabakfabrik ihren neuen Standort gefunden hatten und die Sklavenarbeiter
nachgeholt werden konnten. Durch die verheerenden Bombenangriffe
auf Dresden am 13. Februar 1945 entging dann der kleine Josef dem
Tod durch Erschießen. Viele andere Häftlinge fanden den Tod. Die
Überlebenden wurden zunächst zu Räumungsarbeiten eingesetzt und
schließlich auf einen Todemarsch gehetzt, der für Frau Salomonovič
und ihre kleinen Söhne erst nach fast 300 km in Westböhmen mit der
Flucht endete. Das Kriegsende erlebten nur 46 von ursprünglich 1000
Häftlingen.
Im November 2010 erzählt Michal Salomonovič Schülerinnen und
Schülern im sächsischen Dippoldiswalde seine Geschichte. Durch die
Lektüre und Besprechung von Jurek Beckers Roman „Jakob der Lügner“ hat sich die Schulklasse vorbereitet. Becker war selbst als Kind
im Ghetto Lodż, und in einem – fiktiven – polnischen Ghetto spielt
auch der Roman. Sehr einfühlsam und mit groβer Betroffenheit reagierten die Schüler auf die Bemerkung des Zeitzeugen, die Realität sei
unangenehmer gewesen als die Schilderung des Romans.
In der anschließenden Diskussion kommt die Frage auf, welche Chancen zum Widerstand die Verfolgten hatten. Der Moderator Werner
Imhof und Michal zeigen auf, welche Aufstände es in Ghettos, Kon-
6
Werner Imhof
zentrations- und selbst in Vernichtungslagern gegeben hat, aber dass
sie aufgrund der Ungleichheit der Waffen schließlich alle blutig niedergeschlagen wurden. Kaum hörbar fügt Michal hinzu: „Vielleicht
habe ich zu wenig gewagt. Sonst stünde ich heute nicht hier.“ Dennoch entgeht es niemandem. In ihrer Nachbereitung kommen die Jugendlichen immer wieder darauf zurück.
Eine andere Dresdner Schulklasse macht die Geschichte Michal Salomonovičs zum Gegenstand einer Spurensuche nach „Verschwundenen Nachbarn“. Sie laufen einen kleinen Teil der Strecke des Todesmarschs ab und erstellen einen Beitrag zu einer gleichnamigen Wanderausstellung des des Jüdischen Museums Prag. Im Rahmen der
Tschechisch-Deutschen Kulturtage wird diese dann Ende 2010 in
Dresden gezeigt.
2.3
Vertreibung: Herbert Pietschmann
Herbert Pietschmann kam 1940 in Tetschen-Politz – heute DěčínBoletice – zur Welt. 1945 ließen tschechische „revolutionäre Garden“
seiner Familie eine Stunde Zeit, das Nötigste zusammenzupacken und
dann ihr Zuhause für immer zu verlassen. Die Eltern wurden zunächst
zur Zwangsarbeit bei Joachimsthal eingesetzt und gelangten schließlich nach Bayern. Bei weiteren Kontrollen verloren sie nach und nach
alles, was irgendeinen Wert hatte. Der kleine Herbert war froh, wenigstens seinen Teddybär behalten zu dürfen.
65 Jahre später berichtet er im Gymnasium Děčín davon. Die
Schülerinnen und Schüler lauschen ihm erstaunt, sichtlich bewegt. Sie
erhalten aus erster Hand Bericht von Ereignissen in der Geschichte
ihre Heimatortes, die ihnen bislang wenn überhaupt nur als
Grausamkeiten zu Ohren gekommen sind, die sich anderswo
zugetragen haben mögen. Noch ihre Eltern sind in einer Gesellschaft
aufgewachsen, in der das Thema tabuisiert war und allenfalls
ideologisch entstellt dargestellt wurde. Aber besonders im letzten
Jahrzehnt ist ein lebhafter gesellschaftlicher Dialog in Gang
gekommen. Das Thema Vertreibung wird in den Medien ideologiefrei
diskutiert und im Schulunterricht thematisiert.
Geschichte verbindet - Die Zeitzeugenprojekte der Brücke/Most-Stiftung 7
Eine Schülerin lebt in Děčín-Boletice. Von Gefühlen überwältigt,
kramt Pietschmann seine in München in drei Tschechisch-Kursen
erworbenen Sprachkenntnisse hervor und versucht, sich mit der
jungen Tschechin zu unterhalten. Die Erfahrung ist nicht ganz neu für
ihn: Bereits Jahre zuvor hat sich ein Schüler aus Boletice bei ihm
gemeldet. Als Obmann der aus Tetschen vertriebenen Deutschen
betreibt er eine Homepage. Der junge Tscheche arbeitete an einer
Hausarbeit, wollte dort Informationen herunterladen und bat den
Betreiber um technische Unterstützung. Wie sich im weiteren Dialog
herausstellte, lebt er in Pietschmanns Elternhaus.
2.4
Bürgerrechtler: Hartmut Rüffert
Als Sohn eines Pfarrers aufgewachsen in Rüffena, einem landwirtschaftlich geprägten kleinen Dorf, zog der zehnjährige Hartmut Rüffert mit seiner Familie 1975 um nach Mölbis südlich von Leipzig. In
einen Ort, der furchtbar unter einer industriellen Produktion litt, bei
der ökologische Rücksichten noch keinerlei Rolle spielten. Bei ungünstiger Windrichtung war es unmöglich, im Freien Wäsche aufzuhängen – der Smog, unter anderem aus einer Brikettfabrik, färbte sie
schwärzlich. Den jungen Hartmut stört bald mehr als nur die bedrückende Umweltsituation. Er verweigert die Mitgliedschaft in den Jugendorganisationen der SED und später auch den Wehrdienst. Er trägt
den „Schwerter zu Pflugscharen“-Aufnäher. An eine Zulassung zu
irgendeinem Studium ist unter diesen Voraussetzungen nicht zu denken. Hartmut lernt Klempner. Bald wird er auch zum Seelenklempner:
„Schickt mir den Langhaarigen“ sagen Kunden seinem Chef, wenn sie
sich den Frust über das DDR-Regime von der Seele reden wollen.
Rüffert bekommt – ein ungewöhnlicher Glücksfall – sehr früh eine
eigene Wohnung, die sich bald zu einem Treffpunkt junger Menschen
entwickelt, die dem bedrückenden Alltag im „Arbeiter- und Bauernstaat“ etwas entgegensetzen. Schon in ihrer Kleidung widersprechen
sie den Vorstellungen der Einheitspartei vom sozialistischen Nachwuchs. Argwöhnisch verfolgt und protokolliert die Staatssicherheit
das Treiben der jungen Leute um Rüffert. Auf ihre Eingaben und Versuche, die Umweltsituation untersuchen zu lassen und zu ihrer Ver-
8
Werner Imhof
besserung beizutragen – zum Beispiel durch Baumpflanzaktionen –
ernten sie Schweigen, Misstrauen, Desinformation und Repressionen.
Doch sie lassen sich nicht entmutigen, versuchen, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen, informieren in einer selbst produzierten Zeitung
„Namenlos“. Sie pochen auf die Einhaltung der DDR-Verfassung, der
internationalen Verpflichtungen zur Einhaltung der Menschenrechte,
die das Regime eingegangen ist. Es folgen anhaltende Bespitzelung,
Drohungen, Verhöre, Verhaftungen. Hartmut Rüfferts politisches Engagement findet im Fortgang der Ereignisse um das Jahr 1989 Ausdruck im Organisieren von Demonstrationen und schließlich in der
Mitbegründung des „Neuen Forums“.
Mehr als zwanzig Jahre später drohen Repression, „Zersetzung“, Bespitzelung, Eingesperrtsein und Mangelwirtschaft dem Vergessen anheimzufallen. Unangenehme Erinnerungen verblassen und werden
verdrängt. Im milden Licht der Erinnerung erscheint der Alltag im
Realsozialismus nun Vielen geprägt von Arbeitsplatzsicherheit, Kindergartenplätzen, Gemeinschaftserlebnissen, Zusammenhalt. Zeitzeugen wie Rüffert rücken diese Ostalgie zurecht.
3.
Warum Zeitzeugen?
Wie unter einem Brennglas werden in diesen Biografien Kernprozesse
der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts sichtbar. Wie Lutz Niethammer, einer der Mentoren der deutschen Oral History, treffend feststellt,
setzen die Zeitzeugenbegegnungen Erinnerungszeichen – das historische Lernen beginnt damit erst.3 Ausgehend von der menschlichindividuellen Perspektive und der Empathie der Jugendlichen können
die historischen Hintergründe von Schlüsselereignissen im Unterricht
entwickelt werden. Sie stoßen auf größeres Interesse, erschließen sich
leichter dem Verständnis, gewinnen an Plastizität.
Zeitzeugen sind für die Geschichtswissenschaft eine wertvolle Quelle.
Ihre Bedeutung ist jener von Augenzeugen in der Rechtsfindung vergleichbar, wenn sie auch nicht ganz an diese heranreicht. Denn bedeutende historische Ereignisse finden ihren Niederschlag auch in Akten,
Medienberichten sowie anderen Zeugnissen und Dokumenten bis hin
zu archäologisch zu untersuchenden Spuren. Zur Rekonstruktion der
Geschichte verbindet - Die Zeitzeugenprojekte der Brücke/Most-Stiftung 9
Geschichte stehen dem Historiker mithin in der Regel zahlreiche andere Quellen zur Verfügung, während Rechtsfällen oft ein singuläres
Ereignis zu Grunde liegt, das trotz Spurensicherung bis hin zur DNAAnalyse ohne Zeugen vor Gericht häufig nicht befriedigend aufgeklärt
werden kann.
In der politisch-historischen Bildungsarbeit fällt der mögliche Gewinn
durch den Einsatz von Zeitzeugen stärker ins Gewicht. Dies gilt heute
umso mehr, wo per Mausklick, aus audiovisuellen Medien und digitalisierten schriftlichen Quellen ein Übermaß an Informationen zu jedem Thema in kürzester Zeit verfügbar ist. Zum Problem wird, die
Fülle des Materials zu bewältigen. Auswahl und namentlich Bewertung sind die eigentliche Herausforderung. Der Bericht eines Zeitzeugen indes verleiht dem historischen Geschehen vor allem für Jugendliche eine Authentizität und Lebendigkeit, die auf keinem anderen
Wege erreichbar ist. Die Auswirkungen der Geschichte auf das
Schicksal eines konkreten, ihnen gegenüber sitzenden Menschen, die
Möglichkeit, diesen zu befragen, verknüpfen die anonymen Ereignisse
mit persönlichen Erlebnissen auf beiden Seiten des Dialogs: den historischen Erlebnissen des Zeitzeugen und jenen der Jugendlichen im
Gespräch mit diesem.
Akten – sofern sie nicht beizeiten vernichtet werden konnten – spiegeln im Rückblick auf die Diktaturen in erster Linie die Perspektive
der Täter. Der Einsatz der Oral History in der pädagogischen Arbeit
bietet demgegenüber Gelegenheit, die Alltagsgeschichte zu beleuchten
und in ihr der Perspektive von Opfern Geltung zu verschaffen. In der
persönlichen Begegnung entgeht der Lernprozess dabei einer großen
Gefahr: Jugendliche identifizieren sich nicht gern mit Schwachen, mit
Unterlegenen – und als solche erscheinen die Opfer in der Täterperspektive. Die unmittelbare Bekanntschaft mit Überlebenden, die einem brutalen und scheinbar übermächtigen Gegner getrotzt haben,
schafft positive Identifikationsangebote. Die Zeitzeugen werden zu
Helden der Selbstbehauptung, die einer scheinbar unentrinnbaren, tödlichen Bedrohung widerstanden haben.
Um diese Chancen effektiv zu nutzen, bedarf es freilich der Einbindung der Zeitzeugenbegegnung in ein umfassendes didaktisches Kon-
10
Werner Imhof
zept. Unabdingbarer Bestandteil muss auch die historisch-kritische
Analyse des Zeitzeugenberichts sein. Sie darf aber niemals in seiner
Gegenwart stattfinden.
Vor allem drei weitere Aspekte verleihen der Oral History im Bildungsbereich ein herausragendes Potential:
• Handlungsorientierung und Aktivierung: Jugendliche können in
hohem Maße eigenverantwortlich in Vorbereitung und Verlauf
des Unterrichtsgeschehens eingebunden werden. Sie werden
zum Mitveranstalter und Gastgeber.
• Nachhaltigkeit: Durch den menschlichen Kontakt wird der
Transfer, die Verbindung zwischen dem historischen Geschehen und dem eigenen Alltag, für Jugendliche erleichtert. Im Unterschied zu Schulbuchlektüre oder Lehrervortrag ragt die Begegnung etwa mit einem Auschwitz-Überlebenden deutlich aus
dem Unterrichtsalltag heraus und bleibt unvergesslich. In diesem Zusammenhang erworbenes Wissen und Verständnis ist
besonders nachhaltig.
• Aufklärung und Prävention: Die Erfahrung zeigt, dass kein anderes pädagogisches Verfahren in gleichem Maße geeignet ist,
politisch fehlgeleitete Jugendliche zu erreichen und Prozesse
des Umdenkens zu befördern. Zudem haben verschiedene Studien ein erschreckendes Unwissen der jungen Generation über
die totalitären Systeme nach 1945 aufgedeckt.4 Die betreffenden
historischen Zeiträume fallen im Geschichtsunterricht nicht selten ganz unter den Tisch. Unterrichtsprojekte mit Zeitzeugengesprächen können durch ihre große Strahlkraft hier effizient Defizite beseitigen.
4.
Zukunft der Bildungsarbeit mit Zeitzeugen
Die von der Brücke/Most-Stiftung in den letzten acht Jahren
gesammelten Erfahrungen mit Zeitzeugengesprächen beziehen sich
vor allem auf Begegnungen von Jugendlichen mit HolocaustÜberlebenden. Die Erwartungshaltung, was diese zu erzählen haben,
ist eindeutig und muss einleitend kaum thematisiert werden. Das ist ab
Geschichte verbindet - Die Zeitzeugenprojekte der Brücke/Most-Stiftung 11
1945 nicht ganz so einfach. Annäherungsweise wäre für viele
Zeitzeugen, die in die Bildungsarbeit integriert werden, wohl das
Etikett „Dissident“ passend – aber das ist wiederum mit so vielen
Konnotationen verknüpft, dass es wenig nützlich erscheint. Zu denken
ist beispielsweise an Václav Havels Reflektionen zu diesem Begriff.
Er betonte, das Etikett sei ihm nicht sympathisch, weil er selbst und
Gleichgesinnte ja nicht gegen, sondern für etwas eingetreten seien:
etwa die Achtung der Menschenrechte, der Grundrechte, die auch in
den Verfassungen der realsozialistischen Staaten verbürgt waren.
„Dissident bedeutet nämlich wie bekannt Abtrünniger – die
Dissidenten fühlen sich aber nicht als Abtrünnige, als Treulose, weil
sie nämlich niemandem untreu geworden sind, eher umgekehrt: Sie
sind sich selbst mehr treu geworden. Falls sich manche doch von
irgend etwas abgewandt haben, dann nur davon, was in ihrem Leben
falsch und entfremdend war, also: von dem Leben in der Lüge.“5
In Zukunft geht es unter anderem darum, zu vermitteln, dass die
Lebensbedingungen in der DDR und der CSSR vor 1989 so
beschaffen waren, dass ganz normale Menschen, auch ohne
öffentlichkeitswirksam für einen Systemumsturz einzutreten,
zahllosen Einschränkungen und Schikanen ausgesetzt waren. Nicht
nur heldenhafte Freiheitskämpfer und Streiter gegen das Unrecht, die
für ihre Überzeugungen langjährige Haftstrafen in Kauf nahmen,
hatten mit Problemen zu kämpfen, sondern auch Menschen, die gar
nichts Auβergewöhnliches anstrebten: Selbstverwirklichung in ihrem
Beruf, freie Meinungsäuβerung, freie Information, unbeschränkten
Austausch und Verkehr mit Angehörigen, Freunden oder
Berufskollegen auch im Ausland, Reisefreiheit, Freiheit der
künstlerischen Betätigung, der Presse, der Bildung, der Versammlung,
der Berufswahl.
Da keine Auschwitz-Nummer auf dem Arm ihre Zeitzeugenschaft
„beglaubigt“ und ein Etikett „Dissident“ aus den genannten Gründen
irreführend ist, bewährt es sich in der Regel die Methode der
biografischen Erzählung: Zeitzeugen berichten chronologisch, wo und
wie sie aufgewachsen sind, was sie in Schule, Ausbildung und
Freundeskreis erlebten und mit welchen Widerständen sie sich dabei
12
Werner Imhof
auseinanderzusetzen hatten. Anschlieβend
ausführlich Gelegenheit zu Fragen.
haben
die
Zuhörer
Auch wenn die Zeitzeugen Holocaust-Überlebende sind ist dieses
Vorgehen zielführend. Werden dagegen bestimmte Themen
vorgegeben oder allein das erlittene Leid zur Sprache gebracht,
besteht die Gefahr, dass die Betroffenen als etwas absonderliche
Fabelwesen erscheinen, die eben doch ein bisschen „anders“ waren als
ihre Mitmenschen und deshalb ein besonderes Schicksal erlebt haben.
Oder der Bericht wirkt anekdotisch, und auch dann kann leicht der
Eindruck entstehen, die Betreffenden hätten sich vermutlich irgendwie
unangemessen verhalten und seien deshalb in Schwierigkeiten
geraten. Den Zuhörern kommt der Bericht besonders dann nahe, wenn
sie merken, dass sie ganz gewöhnlichen Menschen gegenübersitzen,
die sich ihre Probleme keineswegs durch irgendwelche
Absonderlichkeiten eingehandelt haben.
Mit umfangreichen pädagogischen Begleitangeboten, namentlich der
Anregung, sich auf lokale historische Spurensuche zu begeben, strebt
„Geschichte verbindet“ das Ziel an, den Lernenden zu vermitteln, dass
sich Geschichte nicht irgendwo fernab an besonderen Orten
(Führerbunker, Auschwitz, Stalingrad, Hiroshima, Berlin, Prag,
Berliner Mauer…) abgespielt hat, sondern vor ihrer Haustür – und
dass sie deshalb auch Einfluss darauf und Verantwortung dafür haben.
5.
Stimmen
Die folgenden Äußerungen legen Zeugnis ab von der hohen Akzeptanz, die das bisherige Wirken der Brücke/Most-Stiftung in der historisch-politischen Bildungsarbeit bei allen Beteiligten erfährt.
• Prof. Manfred Alexander, Vorsitzender der deutsch-tschechischen
Schulbuchkommission: „In einer einzigen der von Ihnen organisierten Begegnungen lernen Schüler mehr über ihr Nachbarland als in
ihrer gesamten übrigen Schulzeit.“
• Hans-Hinrich Kahrs, Geschichtslehrer am Gymnasium Warstade /
Hemmoor: „Die persönliche Begegnung mit Frau Miková und ihr
Bericht waren eindrucksvoller, bedrückender und nachhaltiger als
Geschichte verbindet - Die Zeitzeugenprojekte der Brücke/Most-Stiftung 13
alles, was ich bisher über den Nationalsozialismus und den Holocaust gelesen oder gesehen habe. Die bestehenden Vorurteile –
man hätte ja schon so viel über den Nationalsozialismus im Unterricht gehabt – wurden weggewischt. Die Aufmerksamkeit und Bereitschaft zur inneren Anteilnahme waren durch die persönliche
Begegnung sehr hoch.“
• Dr. Michaela Vidláková, Holocaust-Überlebende: „Ich kann nur
bewundern, mit welchem persönlichen Einsatz Sie sich dieser Tätigkeit gewidmet haben. Ich glaube, dass dadurch, dass Sie mit so
vielen Überlebenden Kontakt aufgenommen haben, für Sie jene
Zeit nicht nur eine aus Büchern abgelesene Geschichte, sondern
ganz hautnahe Realität geworden ist. Und – was vielleicht noch
wichtiger ist, Sie können tatsächlich Brücken bauen: 1945 war für
mich jeder Deutsche ein Feind.“
• Erika Bezdičková, Holocaust-Überlebende: „Der Besuch war immer bestens vorbereitet und organisiert. Nicht nur, dass Sie diese
Problematik beherrschen – Ihr Einfühlungsvermögen brachte mich
oft zum Staunen.“
• Eine Schülerin aus Berlin: „Sie haben es geschafft, dass sogar die,
denen der Geschichtsunterricht nicht gefällt, aufmerksam zugehört
haben.“
• Ein Schüler aus Dresden: „Die Begegnung hat eine unheimliche
Faszination ausgelöst. Je länger erzählt wurde, desto stiller wurde
es in der Aula. Im Anschluss an die Veranstaltung habe ich in Gesprächen mit Mitschülern, die dem rechten Spektrum zuneigten, erfahren, dass bei ihnen durch die Begegnung mit den Zeitzeugen ein
Prozess des Umdenkens eingesetzt habe.“
1
Das Projekt wird gefördert von der Europäischen Union, Programm Ziel 3 / Cíl 3, dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds
und der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“.
2
„Zaplať panbuh za fotbal“ (Dem Himmel sei gedankt für den
Fußball). Anzuschauen unter http://www.ceskatelevize.cz/
ivysilani-jako-driv/10252576450-zaplatpanbuh-za-fotbal/.
14
Werner Imhof
3
Auf der Tagung „Zwangsarbeit im Nationalsozialismus – Bildungsarbeit am Übergang der Zeitgeschichte zur Geschichte“ am
30. 8. 2007 im Umweltforum Berlin.
4
Besonders eindrücklich: Monika Deutz-Schroeder, Klaus Schroeder, Soziales Paradies oder Stasi-Staat? Das DDR-Bild von Schülern - ein Ost-West-Vergleich. Stamsried 2008 (= Studien zu Politik und Geschichte, Band 6). Siehe auch:
http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,567907,00.html.
5
Václav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben. Reinbek bei
Hamburg 1989, S. 38.
[Der Autor ist Historiker und war von 1999 bis 2002 Pressereferent
der Brücke/Most-Stiftung. Seit 2003 koordiniert er die Bildungsarbeit
mit Zeitzeugen.]
Urban Kaiser, M.A.
Exklusive Staatsbürgerschaftspolitik als Hemmnis
für demokratische Konsolidierung in den baltischen Staaten?
Der vorliegende Beitrag ist eine Kurzfassung der Magisterarbeit des
Autors zum Thema „Ethnische Minderheiten und Konsolidierung der
Demokratie in den baltischen Staaten. Die exklusive Staatsbürgerschaftspolitik Estlands und Lettlands – Ein Hemmschuh für deren demokratische Konsolidierung? Ein Vergleich mit der inklusiven Staatsbürgerschaftspolitik Litauens“. Die Magisterarbeit wurde im November 2007 dem Fachbereich Sozialwissenschaften, Medien und Sport
der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz vorgelegt. Der Autor arbeitet zurzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am FraunhoferZentrum für Mittel- und Osteuropa (MOEZ) in Leipzig.
Mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme Ende der
1980er Jahre setzten in den mittel- und osteuropäischen Staaten Transformationsprozesse ein. Zentrale Herausforderung hierbei war das
„Dilemma der Gleichzeitigkeit“ (Offe 1994) – die zeitgleiche Transformation des politischen Systems von der autoritären Herrschaft zur
Demokratie sowie der Wirtschaftsverfassung von Plan- zu Marktwirtschaft. In einigen Fällen, wie beispielsweise den baltischen Staaten
Estland, Lettland und Litauen kam mit der neu gewonnenen staatlichen Unabhängigkeit eine weitere Herausforderung hinzu. Die erfolgreiche Implementierung eines demokratischen Systems sagt aber noch
nichts über dessen Konsolidierung aus, inwieweit die neue innerstaatliche Verfasstheit also von den relevanten Akteuren als "the only game in town" (Linz und Stepan 1996) tatsächlich akzeptiert wird.
Eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für die Konsolidierung der mittel- und osteuropäischen Demokratien resultiert aus der
Tatsache, dass viele Staaten der Region durch eine ethnisch heterogene Bevölkerung gekennzeichnet sind. In besonderer Weise trifft dies
auf die baltischen Staaten zu. Die Tatsache, dass Lettland und Estland
2
Urban Kaiser
nach ihrer erneuten Unabhängigkeit 1991 die Staatsbürgerschaft nicht
automatisch allen zu dieser Zeit dauerhaft auf ihrem Staatsgebiet lebenden Personen offerierten, führte dazu, dass ein großer Teil ihrer
Bevölkerung zunächst von der Staatsbürgerschaft und den damit verbundenen, vor allem partizipatorischen Rechten ausgeschlossen wurde. Auch wenn in den entsprechenden Gesetzen nicht explizit die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe der entscheidende Ausschlussgrund war, waren von dieser Exklusion de facto vor allem die –
hauptsächlich russischsprachigen1 - ethnischen Minderheiten in diesen
beiden Staaten betroffen. Im Gegensatz zur exklusiven Staatsbürgerschaftspolitik seiner baltischen Nachbarn praktizierte Litauen eine Politik der inklusiven Staatsbürgerschaft und gewährte allen im Jahr
1991 Gebietsansässigen automatisch die litauische Staatsbürgerschaft.
Der vorliegende Beitrag untersucht, inwieweit die exklusive Staatsbürgerschaftspolitik Estlands und Lettlands im Vergleich zur inklusiven Staatsbürgerschaftspolitik Litauens (negativ) in der Unterstützung der demokratischen Systeme durch die Bevölkerung
reflektiert wird und inwieweit dies eine Gefahr für deren erfolgreiche Konsolidierung darstellt. Dabei bieten die baltischen Staaten
für ein „most similar systems design“ zur Analyse des Effekts der
Staatsbürgerschaftspolitik auf demokratische Konsolidierung geradezu
ideale Bedingungen, da sie eine Vielzahl relevanter makroanalytischer
Gemeinsamkeiten aufweisen.
Unter dem Begriff „ethnische Minderheiten“ werden alle Angehörigen von Minderheitenvolksgruppen subsumiert, unabhängig davon, ob
sie Staatsbürger des Landes sind, in dem sie leben, oder nicht. Auf
individueller Ebene werden in allen drei baltischen Staaten diejenigen
Personen als Angehörige der "ethnischen Minderheiten" identifiziert,
die nicht der Titularnation angehören. Es wird somit ausdrücklich
nicht zusätzlich zwischen verschiedenen ethnischen Minderheiten differenziert, da das entscheidende Kriterium der exklusiven Staatsbür1
Mit diesem Begriff sind neben den ethnischen Russen vor allem ethnische Ukrainer und Weißrussen gemeint, aber auch andere slawische Minderheiten, wie
Polen. Wenn im Folgenden vereinfacht von Russen gesprochen wird, sind damit
stets auch diese anderen slawischen Minderheiten impliziert.
Exklusive Staatsbürgerschaftspolitik als Hemmnis
3
gerschaftspolitik Estlands und Lettlands nicht eine bestimmte ethnische Zugehörigkeit war und aufgrund dessen keine systematischen
Unterschiede zwischen verschiedenen ethnischen Minderheiten erwartet werden.
Das dem Beitrag zugrunde liegende Konzept der liberalen Demokratie
nach Diamond (1999) fordert von einem demokratischen System mehr
als nur die Abhaltung freier Wahlen2. Von zentraler Bedeutung sind
der Ausschluss einer direkten oder indirekten Herrschaft des Militärs
oder anderer nicht gewählter Akteure, die horizontale Verantwortlichkeit zwischen den Regierungsmitgliedern untereinander sowie die
Stärkung des Pluralismus. Dies alles kann nur funktionieren, wenn es
in einer Verfassung niedergeschrieben ist und ein Rechtsstaat existiert.
Allerdings sagt die Existenz dieser Kriterien noch nichts über die
Konsolidierung eines demokratischen Systems aus. Diese ist erst gegeben, wenn es in mehrfacher Weise legitimiert ist, sowohl in den
Einstellungen als auch im Verhalten der Eliten einerseits und der Bevölkerung andererseits (Vgl. Diamond 1999: 10ff; 65ff).
Während die Eliten eines Staates die Demokratie und die dazu gehörenden Gesetze, Verfahren und Institutionen als einzig denkbare Ordnungsform ansehen müssen, ist in der Bevölkerung ein breiter Konsens über die Legitimation der Demokratie Voraussetzung für die
Konsolidierung – über jede gesellschaftliche Grenze hinweg (Vgl. Diamond 1999: 66ff). Die Einstellungen der Bevölkerung und der Eliten
zur Demokratie als Idee im Allgemeinen und dem eigenen politischen
System im Besonderen bilden dabei die Grundlage für die politische
Kultur eines Landes.
Wie kann die Konsolidierung der Demokratie in einem Staat nun empirisch gemessen werden? Hierzu entwickelt Diamond (1999:68) ein
Indikatorensystem, dass sowohl die Einstellungen als auch das Verhalten der Eliten und der Bevölkerung sowie von kollektiven Akteuren3 in Bezug auf das demokratische System misst. Da die Konsolidie2
3
Für die zehn spezifischen Kriterien Diamonds für eine liberale Demokratie siehe
Diamond (1999: 11f).
Als Beispiele hierfür nennt Diamond politische Parteien, Gewerkschaften oder
Wirtschaftsverbände.
4
Urban Kaiser
rung der Demokratie letztendlich von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängt wird auf die Analyse der Eliten und der kollektiven
Akteure verzichtet. Stattdessen konzentriert sich die Analyse auf die
Einstellungen der Bevölkerung.
Welche Bedingungen stellt Diamond nun für die demokratische Konsolidierung auf der Ebene der Einstellungen der Bevölkerung auf?
Seinen Indikator hierfür bildet er aus folgenden Kriterien: Mehr als
70 Prozent der Bevölkerung eines Staates sind davon überzeugt, dass
Demokratie als Ideal jeder anderen denkbaren Ordnungsform vorzuziehen ist. Eine gleiche Mehrheit muss außerdem die im eigenen
Land implementierte Demokratiestruktur als die angemessenste Ordnungsform für dieses Land ansehen. Zudem sollte das angesprochene
Zustimmungsniveau nicht nur kurzfristig gehalten werden, sondern
über eine längere Zeitspanne zu beobachten sein. Des Weiteren darf
der Anteil derjenigen, die aktiv für eine autoritäre Ordnungsform eintreten und der Demokratie damit die Legitimation absprechen, nicht
mehr als 15 Prozent betragen (Vgl. Diamond 1999: 69).
Anknüpfend an Diamond und sein Konzept der demokratischen Konsolidierung bietet Fuchs (1999, 2002) mit seinem hierarchischen Modell der Demokratieunterstützung eine geeignete systematische Strukturierung. In seinen Ausführungen unterscheidet er drei Ebenen der
demokratischen Unterstützung (Vgl. Abbildung 1): Erstens, die Unterstützung der generellen Prinzipien und Werte der Demokratie
(Kultur), zweitens die Unterstützung für das im eigenen Land implementierte demokratische Regime mit seiner Verfassung und seinen
demokratischen Institutionen (Struktur) sowie drittens, die auf den
Erfahrungen der Bevölkerung beruhende Bewertung des tatsächlichen
Funktionierens dieses Regimes (Performanz). Die kognitive Differenzierungsfähigkeit der Bürger hinsichtlich dieser drei Objektebenen
von Demokratie wird von Fuchs und Roller (2006:81) mittels einer
Faktorenanalyse verifiziert.
Exklusive Staatsbürgerschaftspolitik als Hemmnis
5
Abbildung 1: Ebenenmodell der politischen Unterstützung von Fuchs.
Unterstützung der
Demokratienorm
Unterstützung des
demokratischen Regimes
des eigenen Landes
Konsolidierung
der Demokratie-
ideal
Performanz
der Demokratie
= kausaler Zusammenhang
= vermittelter Effekt
Quelle: Fuchs (1999: 124), vereinfachte und modifizierte Darstellung
Fuchs betont weiter, dass der ausschlaggebende Faktor für die Persistenz einer Demokratie die Unterstützung des demokratischen Regimes
des eigenen Landes ist. Die demokratische Konsolidierung ist demnach eine systemische Konsequenz der Unterstützung der Demokratie
auf der Strukturebene (Vgl. Fuchs 2002: 37).
Mit Blick auf die Besonderheiten der demokratischen Konsolidierung
in ethnisch heterogenen Staaten ist die Akzeptanz des Staates an sich
eine weitere notwendige Vorbedingung (Vgl. Gaber 2006: 38; 60).
Linz und Stepan (1996: 33) betonen die allgemeine Relevanz der
Form der Staatsbürgerschaftspolitik für eine erfolgreiche Konsolidierung in ethnisch heterogenen Demokratien, indem durch die Gewährung gleicher Staatsbürgerschaftsrechte wie in Litauen die Loyalität
der ethnischen Minderheiten zum jeweiligen Staat gestärkt wird und
sich hinsichtlich des Niveaus der Unterstützung nicht signifikant vom
entsprechenden Niveau der Titularnation abweicht. Hingegen kann in
6
Urban Kaiser
Staaten mit exklusiver Staatsbürgerschaftspolitik wie Lettland und
Estland eine weit größere ethnische Kluft in dieser Frage vermutet
werden.
Neben dieser über die Integrität des Staates gegebenen eher indirekten
Bedeutung der Staatsbürgerschaftspolitik für die demokratische Konsolidierung ist auch eine direktere Relevanz gegeben: Eine exklusive
Staatsbürgerschaftspolitik bedeutet einen Mangel in der demokratischen politischen Struktur eines Landes. Daher ist für Angehörige der
ethnischen Minderheiten in Lettland und Estland zu erwarten, dass die
ethnische Kluft in Bezug auf die Unterstützung der Demokratie im
eigenen Land im Vergleich zur Titularnation signifikant größer ist als
in Litauen. Hierbei bleibt es eine empirisch zunächst offene Frage, ob
diese Kluft "nur" auf der Performanzebene der Demokratie des eigenen Landes auftritt oder sich auch in der Bewertung der institutionellen Strukturen der Demokratie des eigenen Landes zeigt und mithin
auch, inwiefern dies eine Gefahr für die demokratische Konsolidierung bedeutet.
Unter der berechtigten Annahme weitgehend vergleichbarer sonstiger
politischer und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen kann schließlich
erwartet werden, dass in Litauen die Unterstützung des im eigenen
Land implementierten demokratischen Systems insgesamt höher ist
als in Estland und Lettland.
Exklusive Staatsbürgerschaftspolitik als Hemmnis
7
Abbildung 2: Theoretisches Modell der Bedeutung der Form der Staatsbürgerschaftspolitik für die demokratische Konsolidierung in ethnisch heterogenen
Staaten.
Unterstützung der
Demokratienorm
Unterstützung des
demokratischen Regimes
des eigenen Landes
Konsolidierung
der Demokratie-
Performanz
der Demokratie
Staatsbürgerschaftspolitik
k
Nationale Identität
D
k ti
Integrität des
Staates
= kausaler Zusammenhang
= vermittelter Effekt
= notwendige Voraussetzung für
= Reflexion in
Quelle: Eigene Darstellung
Der empirische Befund zeigt, dass die Identifikation der ethnischen
Minderheiten mit dem jeweiligen Staat in Litauen (54 Prozent) tatsächlich höher ist als in Estland (47 Prozent) und Lettland (46 Prozent). Allerdings fällt der Rückstand Estlands und Lettlands auf Litauen mit 7 respektive 8 Prozentpunkten, angesichts der beschriebenen
schwerwiegenden Folgen der exklusiven Staatsbürgerschaftspolitik in
diesen beiden Staaten, verhältnismäßig gering aus. Jedoch verschleiern diese Werte einen interessanten und durchaus relevanten Aspekt:
8
Urban Kaiser
Teilt man die Angehörigen der ethnischen Minderheiten in die Kategorien "Staatsbürger" und "Nichtbürger" auf, zeigt sich im Falle Estlands, dass es innerhalb der Gruppe der ethnischen Minderheiten bezüglich der Identifikation mit dem Titularstaat große Differenzen zwischen den Personen mit Staatsbürgerschaft und jenen ohne
Staatsbürgerschaft gibt. Immerhin rund 56 Prozent der ethnischen
Nicht-Esten mit estnischer Staatsbürgerschaft können sich zumindest
ein wenig mit Estland identifizieren, während der entsprechende Anteil bei den "Nichtbürgern" bei nur rund 39 Prozent liegt. Für Lettland
zeigt sich ein vergleichbares Bild. Die ethnische Kluft in Bezug auf
die nationale Identität ist in allen Ländern statistisch signifikant
(p<0,05). Damit weist also auch Litauen trotz inklusiver Staatsbürgerschaftspolitik noch Defizite bezüglich der (mentalen und emotionalen)
Integration seiner ethnischen Minderheiten auf. Jedoch ist die dortige
Differenz zwischen Titularnation und ethnischen Minderheiten geringer als in Estland und Lettland, bei Unterscheidung zwischen "Staatsbürgern" und "Nichtbürgern" wird die Differenz noch deutlicher. Insgesamt bestätigen die empirischen Befunde bezüglich des Ausmaßes
der nationalen Identität in den baltischen Staaten die Erwartungen
weitgehend. Zugleich lässt sich aus den empirischen Befunden aber
auch keine (akute) Gefahr für die Integrität aller drei baltischen Staaten ablesen, so dass ein stabiler Staat als eine wesentliche Grundvoraussetzung für eine konsolidierte Demokratie in allen drei Fällen als
gegeben angesehen werden kann.
In Bezug auf die Zustimmung zur Demokratie als grundsätzlich beste
Staatsform übertrifft Litauen als einziger der drei Staaten mit 75 Prozent den von Diamond geforderten Schwellenwert von 70 Prozent. In
Lettland und Estland beträgt dieser Wert hingegen nur 67 bzw. 63
Prozent. Gleichzeitig ist die geäußerte Präferenz für eine andere
Staatsform, die als aktive Ablehnung der Demokratie als Staatsform
interpretiert werden kann, in Litauen mit 13 Prozent am geringsten
und in Lettland mit knapp 20 Prozent am höchsten. Estland liegt mit
rund 15 Prozent genau auf dem von Diamond als Höchstgrenze definierten Wert.
Betrachtet man diese Ergebnisse in einem zweiten Schritt getrennt
nach ethnischer Zugehörigkeit (vgl. Abbildung 3), zeigt sich zweier-
Exklusive Staatsbürgerschaftspolitik als Hemmnis
9
lei: Zum einen ist das Ausmaß der Unterstützung in allen drei Staaten
unter den Angehörigen der jeweiligen Titularnation höher als unter
den ethnischen Minderheiten. Zum anderen ist diese Differenz in Litauen mit knapp 21 Prozentpunkten deutlich höher als in Lettland mit
zehn und in Estland mit rund sechs Prozentpunkten.
Abbildung 3: Unterstützung der Demokratieidee in den baltischen Staaten nach ethnischer Zugehörigkeit (in Prozent).
Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage des PCP II; Alle n zwischen 84 und 671
Letzteres liegt aber vor allem in den deutlich positiveren Einstellungen der ethnischen Litauer (78 Prozent) zum Demokratieideal im Vergleich zu den Angehörigen der Titularnationen in Estland (65 Prozent)
und Lettland (71 Prozent) und weniger in den Einstellungen der ethnischen Minderheiten zum Demokratieideal begründet. Schließlich ist
das entsprechende Ausmaß der Unterstützung unter den ethnischen
Minderheiten mit Zustimmungsraten zwischen 57 Prozent in Litauen
und 61 Prozent in Lettland in allen drei Staaten auf einem vergleichbaren – wenn auch relativ niedrigem – Niveau. Diese empirischen Ergebnisse zeigen, dass es in allen drei baltischen Staaten, speziell unter
den Angehörigen ethnischer Minderheiten, ein klares Defizit bezüglich der Existenz einer demokratischen Kultur gibt.
10
Urban Kaiser
Der empirische Befund hinsichtlich der Performanz der Demokratie in
den baltischen Staaten zeigt durchweg eine sehr geringe Zufriedenheit
sowohl unter den ethnischen Minderheiten als auch unter den Angehörigen der jeweiligen Titularnation.
Abbildung 4: Performanz der Demokratie in den baltischen Staaten nach ethnischer
Zugehörigkeit (in Prozent).
Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis des PCP II. Verwendung 10er-Skala (1=voll und
ganz unzufrieden - … 10 = voll und ganz zufrieden; Prozentsatz der Zufriedenen
(Werte 7-10). Werte für Unzufriedene (Werte 1-4) sowie "Indifferente" (Werte 5
und 6) nicht ausgewiesen; Alle n zwischen 112 und 677
Dennoch sticht bei der Betrachtung der Ergebnisse ein Teilbefund ins
Auge: Während in Estland und Lettland die Zufriedenheit mit dem
gegenwärtigen Funktionieren der Demokratie unter den Titularnationen höher ist als bei den ethnischen Minderheiten (17 zu 12 bzw. 16
zu 7 Prozent) ist die Situation in Litauen genau umgekehrt. Hier ist
nämlich die Zufriedenheit mit dem Funktionieren des demokratischen
Systems unter den ethnischen Minderheiten mit 22 Prozent wesentlich
höher als unter den ethnischen Litauern mit 14 Prozent.
Die nach Fuchs (1999, 2002) entscheidende Frage nach der Unterstützung der Demokratiestruktur des eigenen Landes zeigt folgendes Bild:
In der gesamten Bevölkerung, unabhängig von ihrer ethnischen Zuge-
Exklusive Staatsbürgerschaftspolitik als Hemmnis
11
hörigkeit liegt die Zustimmung bei gerade einmal 26 Prozent, in Lettland sogar bei nur 23 Prozent. In Litauen liegt der entsprechende Prozentanteil hingegen bei immerhin rund 48 Prozent. Damit liegt die
Unterstützung des im eigenen Land implementierten demokratischen
Systems in Litauen deutlich höher als in Estland und Lettland. Dieser
empirische Befund bestätigt die anfangs vorausgegangenen Überlegungen, dass in Litauen die Unterstützung für die Demokratie des eigenen Landes insgesamt höher ist als in Estland und Lettland.
Bei Betrachtung des Ausmaßes der Unterstützung der Demokratiestruktur des eigenen Landes, getrennt nach ethnischer Zugehörigkeit (Abbildung 5), lässt sich zudem feststellen, dass sowohl im Vergleich der Titularnationen als auch im Vergleich der jeweiligen ethnischen Minderheiten vergleichbar große Differenzen zu beobachten
sind, so dass das Gesamtergebnis nicht aufgrund eines deutlich geringeren Minderheitenanteils in Litauen systematisch verzerrt sein dürfte.
Abbildung 5: Unterstützung der demokratischen Regime in den baltischen Staaten nach
ethnischer Zugehörigkeit (in Prozent).
Anmerkung:
Alle n zwischen 89 und 622.
Quelle:
Eigene Berechnungen auf Grundlage des PCP II
Die Erwartung hingegen, dass die ethnische Kluft in Bezug auf die
Unterstützung der Demokratie im eigenen Land in Lettland und Estland größer ist als in Litauen, lässt sich mit Blick auf Abbildung 6 nur
12
Urban Kaiser
teilweise bestätigen. Die Politik der exklusiven Staatsbürgerschaftspolitik scheint sich nach diesem Befund in Lettland im Gegensatz zu
Estland offensichtlich nicht in der Unterstützung der Demokratie des
eigenen Landes niederzuschlagen.
Abbildung 6: Unterstützung der demokratischen Regime in den baltischen Staaten
nach ethnischer Zugehörigkeit (Varianzanalyse).
Titularnation
Ethnische Minderheiten
Means
Standardabweichung
N
Means
Standardabweichung
N
F
Signifikanzwert
Estland
2,1
0,8
583
2,6
0,8
285
55,2
0,000
Lettland
2,4
0,9
622
2,4
0,8
339
1,3
0,265
Litauen
1,9
0,9
603
2,0
0,9
90
1,2
0,273
Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage des PCP II. Arithmetisches Mittel der Unterstützung des demokratischen Regimes des eigenen Landes auf 3-PunkteSkala (1 = Demokratie im eigenen Land ist die beste Staatsform; 2 = Indifferent;
3= Andere Staatsform ist besser). ANOVA; (p<0,05)
Gibt es dennoch Hinweise, die für eine auf den ersten Blick nicht zu
entdeckende vorhandene Reflexion der Staatsbürgerschaftspolitik
sprechen? Zunächst ist vorstellbar, dass sich unter den Angehörigen
ethnischer Minderheiten, die die Demokratie als grundsätzliche Staatsform unterstützen im Vergleich zu den Unterstützern der Demokratieidee unter den ethnischen Letten, prozentual mehr Personen befinden, die zugleich die implementierte Form der Demokratie nicht ausdrücklich präferieren. Ein deutlich höherer Anteil solcher
"unzufriedener Demokraten" (Klingemann 1999: 32) an den grundsätzlichen Demokratiebefürwortern in der Gruppe der ethnischen
Minderheiten im Vergleich zum entsprechenden Anteil in der Gruppe
der Titularnation wäre ein solcher Hinweis. Ob eine solche Diskrepanz in der Motivlage tatsächlich existiert, kann empirisch durch die
Kombination der Einstellungen zur Demokratie grundsätzlich und zur
Struktur der Demokratie im eigenen Land zu einem Index überprüft
werden (vgl. Fuchs und Roller 2006: 88ff.). Der diesbezügliche empirische Befund zeigt jedoch, dass nur in Estland eine erwähnenswerte
Exklusive Staatsbürgerschaftspolitik als Hemmnis
13
Diskrepanz zwischen Titularnation und ethnischen Minderheiten in
Bezug auf den Anteil der "Kritischen Demokraten" an der Gruppe der
"Demokraten" existiert. Für Lettland gibt es hingegen keinen vergleichbaren Befund.
Eine weitere mögliche Erklärung für das empirische Ergebnis im Falle
Lettlands liegt in der Tatsache begründet, dass der Anteil der ethnischen Minderheiten mit Staatsbürgerschaft zum Zeitpunkt der Messung in Lettland im Vergleich zu Estland deutlich höher war (Vgl.
Aasland 2002: 60). Es ist zu vermuten, dass persönlich vom Ausschluss von der Staatsbürgerschaft betroffene Angehörige ethnischer
Minderheiten dem demokratischen System des eigenen Landes skeptischer gegenüberstehen als solche, die nicht direkt von dieser Exklusion berührt sind. Dies könnte sich im Falle Lettlands dahingehend
auswirken, dass sich eine vernehmlich positivere Bewertung der ethnischen Minderheiten mit Staatsbürgerschaft aufgrund ihres höheren
Anteils im Vergleich zu den ethnischen Minderheiten ohne Staatsbürgerschaft in Lettland in deutlicherer Weise auf das Gesamturteil auswirken könnte als in Estland.
Es stellt sich daher die Frage, ob innerhalb der Gruppe der ethnischen
Minderheiten signifikante Differenzen in der Unterstützung der Demokratieform des eigenen Landes zwischen Staatsangehörigen und
Nichtstaatsbürgern existieren. Abbildung 7 zeigt, dass in beiden Staaten die Unterstützung der Demokratie des eigenen Landes in der
Gruppe der ethnischen Minderheiten ohne Staatsbürgerschaft signifikant geringer ist als in der Vergleichsgruppe mit Staatsbürgerschaft –
sowohl auf der Performanz- als auch auf der Strukturebene.
14
Urban Kaiser
Abbildung 7: Unterstützung der Struktur der demokratischen Systeme Estlands und
Lettlands unter den ethnischen Minderheiten in Abhängigkeit von der Staatsbürgerschaft
(Varianzanalyse).
Ethn. Minderheiten mit
Staatsbürgerschaft des
Titularstaates
Ethn. Minderheiten ohne
Staatsbürgerschaft des
Titularstaates
Struktur
Means
Standardabweichung
N
Means
Standardabweichung
N
F
Signifikanzwert
Estland
2,5
0,8
124
2,6
0,7
153
4,2
0,041
Lettland
2,4
0,9
184
2,6
0,7
128
4,9
0,028
Kultur
Ethn. Minderheiten mit
Staatsbürgerschaft des
Titularstaates
Ethn. Minderheiten ohne
Staatsbürgerschaft des
Titularstaates
Means
Standardabweichung
N
Means
Standardabweichung
N
F
Signifikanzwert
Estland
1,5
0,8
130
1,7
0,9
155
3,4
0,066
Lettland
1,6
0,8
184
1,7
0,9
127
2,2
0,143
Performanz
Ethn. Minderheiten mit
Staatsbürgerschaft des
Titularstaates
Ethn. Minderheiten ohne
Staatsbürgerschaft des
Titularstaates
Means
Standardabweichung
N
Means
Standardabweichung
N
F
Signifikanzwert
Estland
4,3
2,0
132
3,9
1,9
168
4,5
0,035
Lettland
3,9
1,8
201
3,1
1,7
139 15,8
0,000
Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage des PCP II; ANOVA; p<0,05.
Diese signifikant bessere Bewertung der ethnischen Minderheiten mit
Staatsbürgerschaft dürfte sich in Lettland aufgrund des im Vergleich
zu Estland deutlich höheren Anteils der ethnischen Minderheiten mit
Staatsbürgerschaft im weitaus stärkeren Maße auf die Gesamtergebnisse für die ethnischen Minderheiten niederschlagen. Mit Blick auf
dieses Resultat scheint es folglich auch in Lettland doch eine gewisse
Reflexion der exklusiven Staatsbürgerschaftspolitik in der Unterstützung des demokratischen Systems zu geben, auch wenn diese erst auf
den zweiten Blick erkennbar wird und diese Erkenntnis aufgrund der
Exklusive Staatsbürgerschaftspolitik als Hemmnis
15
ihr zugrunde liegenden Operationalisierung mit aller Vorsicht formuliert werden muss.
Zusammenfassend kann die Konsolidierung der Demokratie in keinem der drei baltischen Staaten als abgeschlossen gelten. Zugleich
zeigt die Analyse, dass die exklusive Staatsbürgerschaftspolitik Estlands und Lettlands tatsächlich in der Unterstützung der Demokratie
durch die Bevölkerung reflektiert wird. Die festgestellten ethnischen
Differenzen bzw. die Differenzen zwischen Staatsbürgern und Nichtstaatsbürgern in ihren Einstellungen zum implementierten demokratischen System stellen denn auch ein Hemmnis für die Konsolidierung
der beiden Staaten dar. Zugleich wurde aber auch deutlich, dass eine
exklusive Staatsbürgerschaftspolitik und deren Konsequenzen mehr
als ein zusätzliches Hindernis im Konsolidierungsprozess der baltischen Staaten als grundlegendes Problem interpretiert werden müssen.
Denn noch schwerwiegender auf die demokratische Konsolidierung
wirkt sich die Tatsache aus, dass sich die Unterstützung der Demokratie als Ideal in allen drei Staaten auf vergleichsweise niedrigem Niveau bewegt. Zwar unterstützt in allen drei Ländern jeweils eine
Mehrheit der ethnischen Minderheiten die Demokratie grundsätzlich,
das Ausmaß bleibt aber in allen drei Fällen jeweils deutlich unter dem
Diamondschen Kriterium von 70 Prozent. Zwar hängt auch die Unterstützung der Demokratie als Idee von den konkreten Erfahrungen der
Bevölkerung mit dem im eigenen Land implementierten demokratischen System ab. Neben diesen Erfahrungen sind aber für die grundlegende Akzeptanz vor allem langfristig entstandene kulturelle Traditionen wirksam, welche wohl nur langfristig veränderbar sind. Die
Konsolidierung der baltischen Demokratien erscheint also vor allem
eines zu erfordern – Geduld.
16
Urban Kaiser
Literatur
Aasland, Aadne (2002): Citizenship Status and Social Exclusion in
Estonia and Latvia. In: Journal of Baltic Studies. Vol. 33 (1). S. 57-77.
Diamond, Larry (1999): Developing Democracy. Toward Consolidation. Baltimore/London: The John Hopkins University Press.
Fuchs, Dieter (1999): The Democratic Culture of Unified Germany.
In: Norris, Pippa (Hrsg.): Critical Citizens, Global Support for Democratic Government. Oxford/New York: Oxford University Press: S.
123-145.
Fuchs, Dieter (2002): Das Konzept der politischen Kultur: Die Fortsetzung einer Kontroverse in konstruktiver Absicht. In: Fuchs, Dieter/Roller, Edeltraud/Weßels, Bernhard (Hrsg.): Bürger und Demokratie in Ost und West. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. S. 27-49.
Fuchs, Dieter/Roller, Edeltraud (2006): Learned Democracy? Support of Democracy in Central and Eastern Europe. In: International
Journal of Sociology. Vol. 36 (3). S. 70-96.
Gaber, Rusanna (2006): National Identity and Democratic Consolidation in Central and Eastern Europe. In: International Journal of Sociology. Vol. 36 (3). S.35-69.
Klingemann, Hans-Dieter (1999): Mapping Political Support in the
1990s: A Global Analysis. In Norris, Pippa (Hrsg.): Critical Citizens,
Global Support for Democratic Government. Oxford/New York: Oxford University Press: S. 31-56.
Linz, Juan/Stepan, Alfred (1996): Problems of Democratic Transition and Consolidation. Southern Europe, South America and PostCommunist Europe. Baltimore/London: The John Hopkins University
Press.
Offe, Claus (1994): Der Tunnel am Ende des Lichts. Erkundungen
der politischen Transformation im Neuen Osten. Frankfurt am
Main/ NewYork: Campus.
Daniela Pelka
Deutsch-polnische Sprachinteraktionen in den
„Oberschlesischen Nachrichten“
1.
Die deutschsprachigen Printmedien in Oberschlesien nach
dem politischen Umbruch 1989
Bereits zwischen 1984 und 1986 wurden in Oberschlesien mehrere
Versuche unternommen, eine Zeitung für die in der Region lebenden
Deutschen zu begründen, doch sind diese Initiativen kläglich gescheitert.1 Die Gemeinsame Erklärung, unterzeichnet am 14.11.1989 in
Warschau vom Bundeskanzler Helmut Kohl und vom ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten Polens Tadeusz Mazowiecki,
ermöglichte den Angehörigen der deutschen Minderheit dann zwar
zumindest den legalen Bezug deutscher Presserzeugnisse2, doch in der
Zeit des politischen Umbruchs wollte man sich mit solch einer Lösung
allein nicht mehr zufrieden geben.
Die Tätigkeit der Angehörigen der deutschen Minderheit und der von
ihnen später ins Leben gerufenen verschiedenen Einrichtungen wurde
zwar von Anfang an von polnischen und ausländischen Medien begleitet3, doch war man mit ihrer Berichterstattung nicht immer einver1
Vgl. Breit, Holger (1998: 114ff). Vor diesem Hintergrund stimmt es also nicht –
wie Glensk behauptet –, dass die Aktivisten der Minderheit in der Oppelner
Region es nicht einmal
geschafft haben, an ihr eigenes Presseorgan zu
denken, als die Redaktion der „Trybuna Opolska“ mit der Herausgabe der
Beilage „Oberschlesische Nachrichten“ begann; vgl. Glensk, Joachim (2006:
150).
2
Vgl. Scholz-Knobloch, Till (2004: 86); Lasatowicz, Maria Katarzyna (2007:
890).
3
Bereits in der ersten Ausgabe der „Oberschlesischen Nachrichten“ erwähnt
Johann Kroll in
seiner darin veröffentlichten Rede, dass die Aufstellung
eines Kandidaten aus der deutschen
Minderheit, der in den Ersatzwahlen
am 4.2.1990 den verstorbenen Senator Osmańczyk ersetzen
sollte, nicht nur
in Deutschland und Polen, sondern darüber hinaus in „ganz Westeuropa,
Amerika, Australien und Japan“ für Schlagzeilen sorgte; vgl. Kroll, Johann
(1990: 2).
2
Daniela Pelka
standen und zufrieden. Von Anfang an war man also darauf bedacht,
eigene Medien aufzubauen, unter denen sich auch Presseprodukte finden sollten. Vor allem den anfänglichen Aktivitäten der Deutschen in
Polen standen die polnischen Journalisten nämlich häufig mit Misstrauen, ja sogar mit Argwohn, gegenüber. Nicht selten fanden sich in
ihren Artikeln Bezeichnungen wie „fünfte Kolonne“, „Zerstörer der
sozialen Ordnung“, „Hitleranhänger“ oder „Revisionisten“, mit denen
die ersten Minderheitsaktivisten bedacht wurden.4 Aber auch später
kritisierte man die Arbeitsergebnisse der polnischen und ausländischen Medien, die oft nur oberflächlich waren, die Arbeit der SKGD
und anderer Organisationen in einem falschen Licht zeigten und nicht
auf die Gesamtheit der Arbeit der Deutschen Minderheit aufmerksam
machten.5
Abgesehen von deutschsprachigen bzw. deutsch-polnischsprachigen
Radio- und Fernsehsendungen, die nach dem politischen Umbruch
1989 für polnische Rundfunk- und Fernsehsender produziert wurden,
sowie den im Internet zugänglichen Web-Seiten6, kommt v.a. den
Printmedien die Aufgabe zu, über die Deutschen in Oberschlesien, die
deutsch-polnischen Beziehungen und alles, was mit der deutschen
Kultur und Tradition, Geschichte und Gegenwart in der Region verbunden ist, zu berichten. Die wichtigste Rolle spielt hier heute das
„Schlesische Wochenblatt“, auf dessen Vorläufer – die „Oberschlesischen Nachrichten“ – im weiteren Teil des vorliegenden Beitrags näher eingegangen wird, aber daneben gibt es einige weitere Pressepro4
Vgl. Miś, Engelbert (2000: 179). Von 200 Veröffentlichungen über die Deutsche Minderheit aus der polnischen Presse, die im Jahre 1990 von dem Redakti
onsteam der „Oberschlesischen Nachrichten“ gelesen wurden, wurde lediglich
in 4 versucht, die Geschichte der Deutschen in Schlesien auf objektive Weise
darzustellen, vgl. Miś, Engelbert (2007: 165).
5
Vgl. Urban, Rudolf (2009: 279).
6
Im Internet werden ausgewählte Artikel des „Schlesischen Wochenblattes“
veröffentlicht und die gesamte Zeitung kann auch als Online-Ausgabe bezogen
werden. Auch die „Ratiborer-Mitteilungen“ und die „VDH-Mitteilungen“ sind
als pdf-Dateien zugänglich. Darüber hinaus veröffentlicht die Sozial-Kulturelle
Gesellschaft der Deutschen wöchentlich einen Newsletter, in dem sich neben
wichtigsten Informationen aus den Reihen der SKGD ein Pressespiegel und
Veranstaltungstipps finden.
Deutsch-polnische Sprachinteraktionen
3
dukte, die von verschiedenen Einrichtungen – darunter auch denjenigen der deutschen Minderheit in Polen – herausgegeben werden (bzw.
wurden, da ihre Herausgabe bereits wieder eingestellt worden ist) und
in erster Linie an die Deutschen vor Ort gerichtet sind.
Zu erwähnen wäre hier die seit 1998 erscheinende Monatszeitschrift
„Schlesien heute“ und das 2-Wochenmagazin „Oberschlesien“, das bis
2005 unter dem Titel „Unser Oberschlesien“ erschien. Beide werden
im Senfkorn-Verlag herausgegeben, der seinen Hauptsitz in Görlitz
hat und eine Filiale auf dem Annaberg hat. Der Bund der Jugend der
deutschen Minderheit gibt seit 2004 die deutsch-polnische Zeitschrift
„Antidotum“ heraus, die als Informationsblatt des Bundes anzusehen
ist, und die Vereine Deutscher Hochschüler in Ratibor und Oppeln –
die deutschsprachigen „VDH-Mitteilungen“7. Ein kleines Kirchenorgan ist das vom Minderheitenseelsorger und Vorsitzenden des Minderheitenrates der Oppelner Diözese herausgegebene Informationsblatt „Die Heimatkirche“, das mit einer Zusammenfassung bzw. gesamten Übersetzung in polnischer Sprache erscheint. Das Jugendjournal „vitamin.de“, das zwischen 2003 und 2008 auch eine quasipolnische Ausgabe hatte8, berichtete zwar seltener über Ereignisse aus
der Minderheit, die darin veröffentlichten Texte stammten allerdings
größtenteils aus der Feder von Jugendlichen der Deutschen Minderheit. In Ratibor wiederum wurde bis 2008 das selbstständige Bulletin
„Oberschlesische Stimme“ herausgebracht9, das über die Aktivitäten
des Deutschen Freundschaftskreises im Bezirk Schlesien informierte.
Seit Dezember 2008 fungiert es sie als monatliche Beilage des „Schlesischen Wochenblattes“. Schließlich erscheint seit September 2009 im
Rahmen der „Nowa Trybuna Opolska“ wöchentlich das Beiblatt
„Heimat. Mała ojczyzna”, das seit Juli 2010 auch deutsche Übersetzungen der polnischsprachigen Texte bringt. Als populärwissenschaftliche bzw. wissenschaftliche Zeitschriften werden seit 1993 vom Jo7
Vor der Entstehung des Vereines Deutscher Hochschüler in Oppeln vom Verein
Deutscher Hochschüler in Ratibor unter dem Titel „Ratiborer Mitteilungen“
herausgegeben.
8
Herausgegeben wurde es von „Silesiapress“, musste allerdings wegen fehlender
finanzieller Unterstützung der deutschen Seite eingestellt werden.
9
Von 1989 bis 2005 unter dem Titel „Informations- und Kulturbulletin“.
4
Daniela Pelka
seph-von-Eichendorff-Konversatorium quartalweise die deutschpolnischen „Hefte für Kultur und Bildung“10 und seit 2003 vom Oberschlesischen Eichendorff-Kultur- und Begegnungszentrum in Lubowitz die Quartalschrift für Geschichte, Kultur und Literatur – „Eichendorff-Hefte“ sowie das deutsch-polnisch-tschechische „Lubowitzer Jahrbuch“ herausgegeben.
2.
Von den „Oberschlesischen Nachrichten“ zum „Schlesischen Wochenblatt“
Am 11. April 1990 beschloss das polnische Parlament einstimmig die
Auflösung des Hauptamtes für Kontrolle der Presse und der Schauspiele11 und novellierte das Presserecht12, wodurch die Zensur offiziell
aufgehoben wurde und darüber hinaus die Angelegenheiten der Registrierung der Tageszeitungen und Zeitschriften vom besagten Amt
an die Woiwodschaftsgerichte übertragen wurden.13 Bereits neun Tage
später erschien als bescheidenes vierseitiges Beiblatt der „Trybuna
Opolska“ – des Presseorgans der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei und Vorläufers der heutigen „Nowa Trybuna Opolska“ – die nach
dem Zweiten Weltkrieg erste deutsch-polnische Zweiwochenschrift in
Oberschlesien:
„Oberschlesische
Nachrichten.
Wiadomości
górnośląskie“. Der aberwitzige Vorwurf, dass das Erscheinungsdatum
der ersten Ausgabe Nr. 0 – der 20.04.199014 – der Geburtstag Hitlers –
kein Zufall war, wurde von polnischen Nationalisten noch nach Jahren
10
Das erste Heft erschien unter dem Titel „Kwartalne zeszyty oświatowe” und
war polnischsprachig, die weiteren waren schon zweisprachig, wobei die
Nummern 2-19 den Titel „Hefte für Kulturbildung“ trugen.
11
Polnisch: Główny Urząd Kontroli Prasy i Widowisk – GUKPiW.
12
Dies geschah mit dem Gesetz „Ustawa z 11.04.1990 o uchyleniu ustawy o
kontroli publikacji i widowisk, zniesieniu organów tej kontroli oraz zmianie
ustawy ‘Prawo prasowe’” (Dz. U. 1990 Nr 29, poz. 173). Unterzeichnet wurde
dieses sog. „Gesetz über die Aufhebung der Präventionszensur“ vom
Präsidenten Wojciech Jaruzelski.
13
Vgl. Kolasa, Władysław Marek (2004: 28).
14
Urban gib hier fälschlicherweise das Datum 1.04.1990 an; vgl. Urban, Rudolf
(2009: 279).
Deutsch-polnische Sprachinteraktionen
5
verbreitet, wie z.B. in dem Buch von Ryszard Surmacz „Znów tracimy Śląsk“ [Wir verlieren Schlesien wieder].15
Nach der Doppelnummer 05-06 vom 15.07.-15.08.1990, der Letzten
von Andrzej Kracher in der Funktion des leitenden Redakteurs vorbereiteten, übernahm mit der Dreifach-Nummer 7-9 vom 16.08.30.09.1990 Engelbert Miś die Aufgaben des Chefredakteurs der Zeitung, die er mit einer Unterbrechung zwischen 1994-199816 bis April
2010 ausübte.17 Unter dem Titel „Oberschlesische Nachrichten. Wiadomości górnośląskie“ erschien die Zeitung bis zur Nummer 21 vom
15.-31.03.1991 und änderte danach aus rechtlichen Gründen ihren Titel in „Oberschlesische Zeitung. Gazeta Górnośląska“ (Nummer
1(22), da die Nummerierung fortgesetzt werden durfte, vom 1.15.4.1991). Mit der Nummer 18(81) vom 01.-07.10.1993 wurde die
Zeitung von einem Zweiwochenblatt in ein Wochenblatt umgewandelt, was auch die Änderung des Zeitungskopfes nach sich zog. Noch
ein weiteres Mal wurde der Titel im Jahre 1995 (Nummer 1(150) vom
10.-16.02.1995) geändert und zwar in „Schlesisches Wochenblatt. Tygodnik Śląski“, unter dem es bis heute verkauft wird. Seit der Nummer 17(942) vom 23.-29.04.2010 ist Till Scholtz-Knobloch Chefredakteur der Zeitung, die ab Januar 2011 den Titel „Wochenblatt.pl“
erhält, wodurch deutlich gemacht werden soll, dass sie nicht nur über
Deutsche in Schlesien, sondern in ganz Polen berichtet und sie alle
ansprechen will.18
15
Vgl. Cholewa, Krzysztof (1999: 5 und 13).
Kracher zeichnet verantwortlich als Chefredakteur von der Nummer 49(142)
vom 16.-22.12.1994 bis zur Nummer 31(330) vom 31.07.-6.08.1998, Miś
wieder ab der Nummer 32(331) vom 7.-13.08.1998.
17
Die eigentliche Übernahme der Stelle erfolgte am 1.09.1990, vgl. Miś, Engelbert (2000: 180).
18
Persönliche Mitteilung von Till Scholtz-Knobloch.
16
6
3.
Daniela Pelka
Deutsch-polnische Interaktionen in den „Oberschlesischen
Nachrichten“
Deutsche und polnische Elemente findet man in der Zeitung bereits im
Titel, der in beiden Sprachen geführt wird und somit sowohl für einen
monolingual deutsch- als auch polnischsprachigen Empfänger verständlich ist. Auch einige Titel der einzelnen Artikel werden in beiden
Sprachen angeführt, doch bei ihrem Inhalt ging man dann schon anscheinend davon aus, dass die Leserschaft zweisprachig ist und sowohl die deutsche als auch die polnische Sprache versteht: Die Artikel
erscheinen dementsprechend entweder auf Deutsch oder auf Polnisch.
Erst in den späteren Ausgaben der Zeitung wird neben ausgewählte
polnische Texte eine Zusammenfassung in deutscher Sprache oder
umgekehrt gestellt, oder es wird der gesamte Text von einer Sprache
in die andere übersetzt, so dass auch monolingualen Lesern zumindest
bei einem Teil der Artikel ein Einblick in die darin behendelte Problematik gewährt wird.
Dass die deutsche und polnische Sprache in den Zeitungsartikeln miteinander interagieren, beobachtet man auch auf der orthographischen,
lexikalischen und grammatischen Ebene der jeweiligen Texte. Im Folgenden sollen einige Einflüsse des Polnischen auf das Deutsche aufgezeigt werden, die in den deutschsprachigen Texten der ersten fünf
Ausgaben der „Oberschlesischen Nachrichten“ festgestellt wurden,
wobei ich mich hier auf die Vorstellung einiger ausgewählter Beispiele der lexikalischen Ebene beschränke.
Nicht selten findet man in den untersuchten Texten Wörter, die direkt
aus dem Polnischen übernommen wurden. Am häufigsten sind dies
Bezeichnungen für polnische Institutionen, Einrichtungen, Organisationen, Begriffe aus der Verwaltungssprache sowie Örtlichkeitsnamen.
Viele von ihnen haben keine direkte Entsprechung im Deutschen, so
dass durch ihre Übernahme lexikalische Lücken im Wortbestand des
Deutschen gefüllt werden, ohne dass umschreibende Formen „gedichtet“ werden müssten. Nicht selten sind auch polnische Bezeichnungen
für verschiedenen regionale Speisen und Gerichte:
• Bei einem Treffen in meiner Wohnung mit drei Abgeordneten
in den Sejm kamen wir überein, dass wir mit einer Gruppe von
Deutsch-polnische Sprachinteraktionen
7
4 Mitgliedern der Minderheit uns mit den Mitgliedern der Komission für die Minderheiten im Sejm treffen wollen. (1, S. 2)19
• Trotzdem nahmen wir mit der „Solidarność” Kontakt auf und
haben in drei Gesprächen (zwei in Oppeln und eine in meiner
Wohnung) über unsere Lage sowie über eine gute Zusammenarbeit gesprochen. (1, S. 2)
• Beim Fleischer Urban gab es die besten „Krupnioki“ (20, S. 4)
• auch Büchsen mit „Flaki“ sowie echte „Krakowska“ oder „Kabanosy“ finden hier reißenden Absatz. (23, S. 2)
Wie man an den Beispielen20 sehen kann, werden die polnischen Lexeme zum Teil ohne Unterschied zu deutschen im Satz verwendet,
zum Teil werden sie in Anführungsstriche gesetzt, wodurch ihre Andersartigkeit hervorgehoben wird. Zudem werden die Substantive
großgeschrieben, was als Anpassung an die deutsche Schreibweise
gedeutet werden kann.
Bei einem Teil der übernommenen polnischen Lexeme erscheint in
Klammern ihre deutsche Übersetzung (a) und im Falle von Toponymen – der frühere deutsche Name (b):
a. Man bedenke, dass in Biała die Solidarność kein Mitglied
hat, dass also im Komitet Obywatelski (Bürgerkomitee)
eine ganz andere Einstellung den Wahlen gegenüber bestand, als in Oppeln oder in Neisse zum Beispiel (22, S.
1)
b. In diesem, in Dobrzeń Wielki ehemals Döbern, wo jetzt
das grosse Elektrizitätswerk gebaut wird. (28, S. 3)
19
Die in Klammern angegebene Zahl ist die Nummer der am Ende des Artikels
aufgelisteten untersuchten Texte der „Oberschlesischen Nachrichten“, danach
kommt die Seitenangabe des Belegs, da einige der Artikel auf zwei Seiten
abgedruckt worden sind. Die Schreibweise der jeweiligen Beispiele entspricht
dem Original.
20
„Sejm“ – polnisches Parlament, „Solidarność“ – Gewerkschaftsname (wörtlich
übersetzt: „Solidarität“), „krupnioki“ – „Graupenwurst“, „flaki“ – „Kutteln“,
„krakowska“ – „Krakauer“, „kabanosy“ – „Cabanossi“.
8
Daniela Pelka
Weniger mit einer Übersetzung als mit dem Versuch einer Erklärung
bzw. Umschreibung der polnischen Ausdrücke hat man es in folgenden Sätzen zu tun:
c. Die Jugend aus dem Osten sucht Partnerinnen „z pochodzeniem“, mit deutscher Abstammung, um auf diese Weise legal in die Bundesrepublik auswandern zu können
(22, S. 3)
d. Was man hier hört, ist die gwara śląska, das warme polnische Schlesisch, in welchem einfache Menschen zu
Hause sind. (28, S. 1)
Würde man den Ausdruck „z pochodzeniem“ ins Deutsche übersetzen, erhielte man nur die Wendung „mit Abstammung“. An dieser
Stelle ist es klar, dass jeder Mensch eine Abstammung hat, doch man
muss die Geschichte und die soziale Struktur Schlesiens kennen, um
zu wissen, dass unter diesem „pochodzenie“ konkret die deutsche Abstammung verstanden wird. „Gwara śląska“ heißt lediglich „der schlesische Dialekt“ – kurz: „Schlesisch“. Die Ergänzung, dass es sich hier
um das polnische Schlesisch handelt, wäre für das Verständnis der im
Artikel beschriebenen Situation insofern wichtig, als es noch das deutsche Schlesisch gibt, doch dass die Autorin ausgerechnet Wärme damit assoziiert, gibt schon ihre persönliche Einstellung wieder und hat
mit der reinen Übersetzung nichts mehr zu tun.
Häufig sind in den untersuchten Artikeln polnische Toponyme zu finden. Neben Straßennamen (a) und Flurnamen (b) treten hier vor allem
Siedlungsnamen (c) auf:
a. Bereits zu Anfang dieses Jahres wurde in der Stadt Zabrze ein „Haus Oberschlesien“ gegründet, welches sich in
Zabrze-Mikulczyce auf der ul. Mickiewicza 34 befindet
(36, S. 5)
b. Der damalige Steinbruch lebt heute noch im Volksmund
als „Kamionka“ weiter und hat Seltenheitswert (25, S. 4)
c. Ich war zum Beispiel in Staniszcze Wielkie (2, S. 1)
Deutsch-polnische Sprachinteraktionen
9
Der Einsatz polnischer Oikonyme scheint dabei keinen Regeln zu folgen: In manchen Artikeln werden deutsche (a), in anderen polnische
Namen verwendet (b), einmal wird aus dem Deutschen ins Polnische
(c) und ein anderes Mal aus dem Polnischen ins Deutsche (d) übersetzt. Manchmal wird in einem Artikel – und darin sogar in einem
Satz – für eine Ortschaft der polnische und für eine andere der deutsche Name verwendet (e):
a. Es handelt sich um die Orte Brieg, Neisse, Groß Strehlitz,
Kreuzburg und Grottkau in der Woiwodschaft Oppeln
sowie um die Orte Tarnowitz, Rybnik, Kattowitz,
Beuthen, Hindenburg, Ober-Lazisk und Gleiwitz in der
Woiwodschaft Kattowitz. (31, S. 2)
b. Deutscher Freundschaftskreis jetzt auch in Toruń --- Damit ist Toruń die fünfte Gruppe des DFK im altpreußischpommerschen Bereich neben den bereits bestehenden Gruppen in Elbląg, Gdańsk, Gdynia und Słupsk.
Auch Poznań, Bydgoszcz und Olsztyn zeichnen sich Bestrebungen zur Gründung von DFK-Gruppen ab (30, S.
2)
c. Hohenkirch (Wysoka), Groß Stanisch (Staniczsze Wielkie), Stubendorf (Izbicko), Kranstädt (Krzanowice), Kolonowskie – Grafenweiler, Rosenberg (Olesno), RatiborSüd (Racibórz), St. Annaberg (Góra św. Anny) (37, S. 6)
d. Das Haus steht in Dobrzeń Wielki (Döbern) und ist eines
der schönsten im Dorf (28, S. 1)
e. Familien aus Gross Kottorz und aus Szczedrzyk (25, S.
4); Es gibt nämlich keine direkte Verbindung von Biała
nach Neisse. Man muss über Prudnik fahren (22, S. 1)
Die oben zitierten Lexeme wurden entweder als nicht integrierte Wörter aus dem Polnischen ins Deutsche übernommen bzw. ihre Integration fand lediglich auf morphologischer Ebene statt21, indem sie mit
21
Wie oben bereits erwähnt, könnte man nur bei einigen aus dem Polnischen
übernommenen Substantiven, die, wie im Deutschen üblich, großgeschrieben
wurden, von graphematischer Integration sprechen.
10
Daniela Pelka
einem deutschen Artikel versehen wurden. Man begegnet in den untersuchten Texten aber auch Wörtern, die sowohl morphologisch als
auch phonetisch-graphematisch ins Deutsche integriert wurden, indem
zusätzlich ihre Aussprache und damit auch Schreibweise (sowie gegebenenfalls die jeweiligen Endungen) an die Empfängersprache
Deutsch angepasst wurden, wie z.B.:
• Unter diesen Voraussetzungen reichten wir dann am 24.3.1989
die Unterlagen zur Registrierung bei der Wojewodschaft
Wydział Spraw Wewnętrznych in Oppeln ein. (1, S. 2)
• Dann war er Lehrer in der Schule in Pogórze und auf dem Lyceum in Biała (22, S. 1)
Die Bezeichnung „Wojewodschaft“ geht dabei auf die polnische Administrationseinheit „województwo“ und „Lyceum“ auf die früher
vier, heute drei Jahre dauernde und zum Abitur führende Schulart „liceum“ zurück.
Durch die Veränderung der polnischen Aussprache und der damit zusammenhängenden Schreibweise sowie der Endungen bestimmter
Wörter glaubt man anscheinend, ein deutsches Wort zu gebrauchen, in
Wirklichkeit aber sind die auf solch eine Art und Weise gebildeten
Wörter im Deutschen manchmal gar nicht vorhanden. Statt vom
„Fortsetzen“ ist dann die Rede vom „Kontinuieren“ und „Russisten“
werden zu „Russizisten“22:
• Es fanden sich aber immer wieder mutige Landsleute, die die
Arbeit kontinuierten. (1, S. 1)
• Nun geht es darum, diese gute Tradition nicht nur zu kontinuieren, sondern sie dort, wo sie nicht besteht, zu schaffen. Darf
man beiseite stehen? (2, S. 7)
• Jetzt ist das Problem: Was machen wir mit den Russizisten?
(22, S. 3)
22
Im Polnischen heißt „fortsetzen“ – „kontynuować“ und „Russist“ – „rusycysta“.
Deutsch-polnische Sprachinteraktionen
11
Auch bei „Normalisation“ und „Registration“ erkennt man die polnische Vorlage für „Normalisierung“ und „Registrierung“ – „normalizacja“ und „rejestracja“:
• Der steiniger Weg zur Normalisation (26, S. 7)
• Der aus 5 Personen bestehende Vorstand schritt an erster Stelle
zur Registration aller Deutschen und Polen deutscher Abstammung in der Stadt Zabrze und Umgebung wobei diese Liste im
Spätsommer des vorigen Jahres mit der Nummer 19 127 abgeschlossen werden konnte (36, S. 5)
Eine wesentliche Rolle spielt hier die phonetische Ähnlichkeit der
deutschen und polnischen Entsprechungen. Allerdings kann sie zum
Gebrauch von Lexemen führen, die zwar im Deutschen vorhanden
sind, doch bereits als veraltet bzw. veraltend empfunden werden:
• Ist Abnegation geraten? (2, S. 1)
• Zur Visite in Polen (13, S. 6)
• Man musste die Toten auf dem Feld begraben, weil der Kirchhof zu klein war (14, S. 1)
Statt von „Abnegation“23, „Visite“24 und dem „Kirchhof“25 zu sprechen, würden hier „Teilnahmslosigkeit“, „Besuch“ und „Friedhof“
mehr dem gegenwärtigen Entwicklungsstand des Deutschen entsprechen.
23
Im „Duden Deutsches Universalwörterbuch“ nicht verzeichnet, vgl. Duden
Deutsches Universalwörterbuch (1996), im „Duden Die Sinn- und
Sachverwandten Wörter“ als veraltetes Synonym zur Teilnahmslosigkeit.
Daneben findet man u.a.: Gleichgültigkeit, Desinteresse, Interesselosigkeit,
Passivität, vgl. Duden. Die Sinn- und Sachverwandten Wörter (1986: 655).
24
„Visite“ ist ein regelmäßiger Besuch des Arztes an den Krankenbetten einer
Station bzw. (bildungsspr. veraltend) ein [Höflichkeits]besuch, vgl. Duden
Deutsches Universalwörterbuch (1996: 1682).
25
„Kirchhof“: (veraltend) Friedhof bei einer Kirche, vgl. Duden Deutsches
Universalwörterbuch (1996: 837), dafür aber im polnischen Schlesischen
lebendig
als
„kerchów“,
vgl.
Cząstka-Szymon,
Bożena/Ludwig,
Jerzy/Synowiec, Helena (1999: 83).
12
Daniela Pelka
Neben den aus dem Polnischen direkt übernommenen Lexemen begegnet man in den untersuchten Texten auch hybriden Lexemen, die
sich aus einem polnischen und einem deutschen Bestandteil zusammensetzen:
• Teller und Babenformen aus Steingut (14, S. 3)
„Baba“ (Pl. „baby“) bezeichnet im Polnischen einen Sand- oder Napfkuchen und wird hier als Bestimmungswort mit dem deutschen
Grundwort „Formen“ zu einem hybriden Kompositum zusammengesetzt. Die Endung „-en“ in „Baben“ deutet dabei darauf hin, dass man
es hier mit einem morphologisch integrierten Wort zu tun hat.
Neben Lexemen, die direkt aus dem Polnischen übernommen wurden,
findet man in den untersuchten Artikeln Lexeme bzw. Syntagmen, die
zwar aus deutschen Morphemen bzw. Lexemen bestehen, ihrer Form
oder Bedeutung nach allerdings vom Standarddeutschen abweichen
und ein polnisches Vorbild erkennen lassen.
Ist das „Kulturhaus“26, wie in dem Satz:
• Wir haben in Biała ein Kulturhaus (22, S. 3)
zum Bestandteil des deutschen Lexikons geworden – auch wenn im
Westen vielleicht nicht alle wissen, was darunter genau zu verstehen
ist –, so sind die folgenden Lexeme und Formulierungen doch eher
ungewöhnlich:
• Um den Besichtigern ein Bild des Ureinwohners unserer Landschaft zu machen27 (14, S. 1)
• Das kann nicht sein und liegt wohl auch nicht in den Intentionen der Spender (2, S. 7)
• Alle Angestellten bekommen Kündigung (22, S. 3)
26
Lehnübersetzung des russischen „dom kultury“: Gebäude für kulturelle od. politische Veranstaltungen, vgl. Duden Deutsches Universalwörterbuch (1996:
908).
27
Auch hier müsste die Wendung „sich ein Bild von jmdm., etw. machen“ eingesetzt werden, vgl. Duden Redewendungen (2007: 120): Damit sich die
Besucher ein Bild davon machen können.
Deutsch-polnische Sprachinteraktionen
13
• Und sie fragt jeden Sonntag, ob er schon eine gefunden habe,
die mit ihm bleiben wollte auf Gut und Böse (28, S. 3)
Auch wenn im Polnischen Menschen, die eine Ausstellung besichtigen, als „zwiedzający“ – die „Besichtigenden“ – bezeichnet werden,
wäre im Standarddeutschen eher von den „Besuchern“ die Rede. Auch
in den weiteren Sätzen erkennt man als polnische Vorlage jeweils die
Wendungen: „leżeć w intencjach“, „dostać wypowiedzenie“, und „na
dobre i na złe“, die Wort für Wort ins Deutsche übersetzt wurden und
denen die deutschen Wendungen: „den Intentionen/Absichten entsprechen“, „jmdm. kündigen“ und „in guten und in schlechten Zeiten“
entsprechen.
In dem nächsten Satz wiederum erhält der Phraseologismus „die Augen zumachen” mit der Bedeutung „sterben“28 die Bedeutung der polnischen Wendung „zamknąć na co oczy“ und zwar „so tun, als ob man
etwas nicht sehen würde, etwas nicht wüsste“29:
• Wir sehen nur unser Schicksal und machen die Augen zu vor
der tragischen Vergangenheit derer, die das Los unter unseren
Himmel vertrieb (2, S. 1)
Standardsprachlich würde damit die deutsche Wendung „die Augen
vor etw. verschließen“ korrespondieren.
4.
Abschließende Bemerkungen
Beim Vergleich der sprachlichen Ausformung der deutschsprachigen
Texte der ersten und der späteren Ausgaben der „Oberschlesischen
Nachrichten“ und ihrer Nachfolgerinnen – der „Oberschlesischen Zeitung“ und des „Schlesischen Wochenblattes“ – ist eine weitgehende
Progression sichtbar. Einerseits sprachen die Autoren der ersten Texte
ein Deutsch, an das sie sich erst einmal wieder erinnern mussten, an28
„Die Augen zumachen bzw. schließen“: (verhüllend) sterben; „die Augen vor
etw. verschließen“: etwas nicht zur Kenntnis nehmen, etwas nicht wahrhaben
wollen, vgl. Duden Deutsches Universalwörterbuch (1996: 169).
29
Vgl. Skorupka, Stanisław/Auderska, Halina/Łempicka, Zofia (Hrsg.) (1990:
503).
14
Daniela Pelka
dererseits waren es zum Teil Menschen, die keine sprachliche, geschweige denn journalistische Ausbildung hinter sich hatten. Da sie
sowohl Deutsch als auch Polnisch sprachen, können die in ihren
deutschsprachigen Artikeln auftretenden Einflüsse des Polnischen als
natürliche Erscheinungsformen der Zweisprachigkeit angesehen werden.
Liest man die folgende Annonce, die in der ersten Ausgabe der „ON“
geschaltet wurde:
„Einladung von DR. KLAR SPRACHLABOR zum voller 9 Tagstrainingsprachgruppen im Deutsch und Englisch. Die Gruppen sind für:
- Anfänger
- Fortgeschrittene
- Avancierte
Im Unterricht nehmen 12 Personen teil. Die individuelle korrektur
führen Lektor und Psychologe. Briefanmeldung (Briefumschlag mit
Briefmarke für die Korrespondenz): 43-190 Mikłów, Waryńskiego 48,
Tel.: Zabrze 71 32 08 (Mo-Fr 13-21 Uhr)“ (Nr. 0-1, 15.05.30.05.1990, S. 5)
kann man mit Zufriedenheit konstatieren, dass die heutigen Mitarbeiter des „Schlesischen Wochenblattes“ auf das Angebot derartiger
Sprachlabore getrost verzichten können.
15
Deutsch-polnische Sprachinteraktionen
Artikel der „Oberschlesischen Nachrichten“, auf die im Artikel
Bezug genommen wird:
1. Kroll, Johann: Wir wollen Frieden und Toleranz, Nr. 0,
20.04.1990, S. 1 und 2.
2. Kracherowa, Nina: Ist Abnegation geraten?, Nr. 0-1, 15.05.30.05.1990, S. 1 und 7.
3. Kremser, Fryderyk: Konversatorium Joseph Frh. v. Eichendorff,
Nr. 0-1, 15.05.-30.05.1990, S. 2.
4. DPA: Gang durch die Flammen, Nr. 0-1, 15.05.-30.05.1990, S. 2.
5. NK: Zwei Wochen in Deutschland, Nr. 0-1, 15.05.-30.05.1990,
S. 2.
6. Lipinsky-Gottersdorf: Heimat an der Prosna, Nr. 0-1, 15.05.30.05.1990, S. 4.
7. Mientus, Konrad: Raszowa. Raschau. Die geschichtliche
gangenheit des Dorfes, Nr. 0-1, 15.05.-30.05.1990, S. 4.
Ver
8. DPA: Schamanentum im Rheinland, Nr. 0-1, 15.05.-30.05.1990,
S. 5.
9. Kremser, Fryderyk: Das Heimatkreuz, Nr. 0-1, 15.05.-30.05.1990,
S. 5 und 7.
10. Sprichwörter und Sinnsprühe, Nr. 0-1, 15.05.-30.05.1990, S. 5.
11. Wetter-und Bauernregeln (aus der Sprichwortsammlung Andrzej
Krybus), Nr. 0-1, 15.05.-30.05.1990, S. 5.
12. Kluczniok, Józef: Unser Hobby: das Aquarium, Nr. 0-1, 15.05.30.05.1990, S. 5.
13. von Weizäcker, Richard: Friedrich der Grosse. (Auszüge), Nr. 0-1,
15.05.-30.05.1990, S. 6.
14. Kracherowa, Nina: Die Insel des Seligen, Nr. 0-2, 1.0615.06.1990, S. 1 und 3.
15. „Dialog“ Nr. 1/2, 1990: Die EG meint es gut mit Polen – Die
Frage ist nur: Wie gut?, Nr. 0-2, 1.06-15.06.1990, S. 1.
16
Daniela Pelka
16. Kracherowa, Nina: Dummheit oder Provokation?, Nr. 0-2, 1.0615.06.1990, S. 2.
17. Hepa, Mikołaj: Leserbrief, Nr. 0-2, 1.06-15.06.1990, S. 2.
18. Krybus, Andrzej: Rückkehr zur traditionen, Nr. 0-2, 1.0615.06.1990, S. 2.
19. NK: Zwei Wochen in Deutschland, Nr. 0-2, 1.06-15.06.1990, S. 2.
20. Mientus, Konrad: Raszowa. Raschau. Die geschichtliche
Vergangenheit des Dorfes, Nr. 0-2, 1.06-15.06.1990, S. 4.
21. Humor śląski (aus der Sammlung Andrzej Krybus), Nr. 0-2, 1.0615.06.1990, S. 5.
22. Kracherowa, Nina: Der neue Bürgermeister, Nr. 0-3, 15.061.07.1990, S. 1 und 3.
23. Görlich, Joachim Georg: Nordrhein-Westfalen als Brücke zum
Nachbarn, Nr. 0-3, 15.06-1.07.1990, S. 1 und 2.
24. N.N.: Vierzehn Tage Deutschland, Nr. 0-3, 15.06-1.07.1990, S. 2.
25. Mientus, Konrad: Dębska Kuźnia. Dembiohammer, Nr. 0-3,
15.06- 1.07.1990, S. 4.
26. Bachmann, Klaus: Der steiniger Weg zur Normalisation, Nr. 0-3,
15.06-1.07.1990, S. 7.
27. Leserbriefe, Nr. 0-3, 15.06-1.07.1990, S. 7.
28. Kracherowa, Nina:
S. 1 und
3.
Endstation,
Nr.
0-4,
1.07-15.07.1990,
29. Oberschlesischer Wohlfahrtsverband will verstärkt Ostdeutsche
unterstützen, Nr. 0-4, 1.07-15.07.1990, S. 2.
30. Deutscher Freundschaftskreis jetzt auch in Toruń, Nr. 0-4, 1.0715.07.1990, S. 2.
31. Deutsche Lehrer für Deutschunterricht in Schlesien, Nr. 0-4, 1.0715.07.1990, S. 2.
32. DFK-Gruppe Bytom jetzt mit eigener Bibliothek und eigenem
Büro, Nr. 0-4, 1.07-15.07.1990, S. 2.
Deutsch-polnische Sprachinteraktionen
17
33. Europa jenseits Oder und Neisse, Nr. 0-4, 1.07-15.07.1990, S. 2.
34. Mientus, Konrad: Dębska Kuźnia. Dembiohammer, Nr. 0-4, 1.0715.07.1990, S. 4.
35. 30 Kinder auf Ferien in Deutschland, Nr. 0-4, 1.07-15.07.1990,
S. 5.
36. Piowczyk, Eugeniusz: Kräftige Tätigkeit in Zabrze, Nr. 0-4, 1.0715.07.1990, S. 5.
37. Regelmässige Gottesdienste in deutscher Sprache, Nr. 0-4, 1.0715.07.1990, S. 6.
38. Krybus, Andrzej: „Mein Herz für Oberschlesien“, Nr. 0-4, 1.0715.07.1990, S. 7.
39. Krybus, Andrzej: „Mein Herz für Oberschlesien“, Nr. 0-4, 1.0715.07.1990, S. 7.
Literatur
Breit, Holger (1998): Die Deutschen in Oberschlesien, München.
Cholewa, Krzysztof (1999): Wer sucht sich da einen Feind? In:
Schlesisches Wochenblatt 26.11.-2.12.1999, S. 5 und 13.
Cząstka-Szymon, Bożena/Ludwig, Jerzy/Synowiec, Helena (1999):
Mały słownik gwary Górnego Śląska. Część I, Katowice.
Duden. Die Sinn- und Sachverwandten Wörter (1986), Mannheim,
Leipzig, Wien, Zürich.
Duden Deutsches Universalwörterbuch (1996), Mannheim, Leipzig,
Wien, Zürich.
Duden. Redewendungen (2007), Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich.
Glensk,
Joachim
(2006):
Zarys
dziejów
niemieckiego
czasopiśmiennictwa na Śląsku. In: Hendzel, Władysław/Pospiech,
Jerzy (Hrsg.): Z dziejów i dorobku polskiego i niemieckiego
czasopiśmiennictwa na Śląsku, Opole/Gliwice, S. 141-152.
18
Daniela Pelka
Kolasa, Władysław Marek (2004): Prasa Krakowa w dekadzie
przemian 1989-1998. Rynek – polityka – kultura, Kraków. (S. 19-41
abrufbar
unter:
http://fidkar.wbp.krakow.pl/fidkar/temp/ap_mat/dziennikar/01/04_kol
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Małgorzata Świder
Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach
1945 - ein Bestandteil der Repolonisierungs- und
Polonisierungspolitik.
Die Einnahme des Oppelner Schlesiens Anfang 1945 und die
Einführung der polnischen Verwaltung in diesem Gebiet waren nicht
nur mit der Einführung einer neuen Staatlichkeit, sondern auch mit
neuen Grundsätzen für die Organisation des sozialen und politischen
Lebens verbunden. Ein grundlegendes Problem im von den
Kriegserlebnissen wiedererwachenden Polen war die Sicherung und
Integration der 1945 erworbenen Gebiete. Infolge der Veränderungen,
die sich im Sommer 1944 abzeichneten, kamen neue politische Kräfte
an die Macht, die sich um die Machtübernahme in den Gebieten
bemühten, die neu an Polen angegliedert wurden. Dies war eine
erfolgreiche Taktik, denn sie beruhte auf der Tatsache, daß zusammen
mit Einheiten der Roten Armee Menschen in die ehemaligen
Ostgebiete des Dritten Reichs strömten, die die wichtigsten
Funktionen in diesen Gebieten übernehmen sollten und aus linken
Gruppierungen stammten. In verhältnismäßig kurzer Zeit nahmen sie
Schlüsselpositionen ein, sowohl in den Strukturen der staatlichen
Verwaltung als auch in den wesentlichen gesellschaftlichen
Organisationen. Auf diese Weise ist es gelungen, ein ganzes System
von Verbindungen zu schaffen, das es ermöglichte, neue Grundsätze
für die gesellschaftliche Politik, darunter die Nationalitätenfrage, in
den neu angeschlossenen Gebieten, insbesondere aber im Oppelner
Schlesien, einzuführen.
Das Oppelner Schlesien ist ein Teil Oberschlesiens, der nach der
Teilung im Jahre 1921 beim Deutschen Reich verblieben war und
1945 in polnische Verwaltung übergeben wurde. Im Jahre 1945
entstand das Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete, dem
alle Fragen in Verbindung mit der Bewirtschaftung und Eingliederung
der neu an Polen angegliederten Gebiete unterstanden. An dessen
Spitze stand Władysław Gomułka, einer der einflussreichsten
2
Małgorzata Świder
polnischen Kommunisten. Das Gebiet war ein NationalitätenVersuchslabor der besonderen Art. Dort wurden Maßnahmen
eingeleitet, die die einheimische Bevölkerung mit der polnischen
Bevölkerung integrieren sollte. Das wurde von der Tatsache
begünstigt, daß der schlesische Wojewode, der gleichzeitig die
Funktion des Regierungsbevollmächtigten für das Oppelner Schlesien
erfüllt, General Aleksander Zawadzki, besonders aktiv war,
Maßnahmen festzulegen und einzuleiten, die gegen die Exklusivität
der Bewohner von Schlesien gerichtet waren. Wichtiges Element
dieser Maßnahmen war die Bevölkerung. Auf dem Gebiet des
Oppelner Schlesien wohnte die größte geschlossene Gruppe
ehemaliger Bürger des Dritten Reichs, die zur polnischen Minderheit
gehörten. Sie waren es, die als Autochthonen bezeichnet wurden,
ihnen wurde die meiste Aufmerksamkeit geschenkt, bei der
Entfernung jeglichen deutschen Einflusses, die sowohl in ihrer
Mentalität als auch in ihrem Umfeld bemerkt wurden. Die
Maßnahmen, die im Oppelner Schlesien ergriffen wurden, wurden im
Folgenden auf die übrigen neu angegliederten Gebiete ausgeweitet.
Dieser
Aufsatz
ist
den
Entgermanisierungund
Repolonisierungsmaßnahmen gewidmet, denen die Kinder
unterworfen wurden, die das Gebiet des Oppelner Schlesiens bewohnt
haben. Es ist nicht möglich, diese Maßnahmen von der Aktion zur
Entgermanisierung und Repolonisierung/Polonisierung zu trennen, der
die gesamte damalige Bevölkerung der polnischen Westgebiete
unterworfen wurden. Darum werden auch die allgemeinen Grundlagen
in Verbindung mit dem Schulwesen der Nachkriegszeit dargestellt, die
Begriffe Entgermanisierung/Polonisierung und Repolonisierung
werden besprochen, dann wird auf die Problematik in Verbindung mit
der Verwendung der deutschen Sprache durch die schlesische
Bevölkerung aufmerksam gemacht, auf die gesellschaftliche Situation,
die Akzeptanz der Schulen durch die junge Generation, sowie
Beispiele für konkrete Aktionen gegeben, denen die Kinder
unterzogen wurden, z.B. im Rahmen von Änderungen deutsch
klingender Vornamen und Familiennamen. Abschließend wird auf die
Probleme im Betrieb der Schule aufmerksam gemacht, die aus den
Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach 1945
Kriegszerstörungen,
der
Nationalitätensituation
und
Integrationsschwierigkeiten im Oppelner Schlesien resultierten.
3
den
Alle Arten von Maßnahmen, die die polnische Verwaltung auf dem
Gebiet von Oberschlesien, insbesondere jedoch auf dem Gebiet des
Oppelner Schlesien ergriffen hat, deren Ziel es war, die deutschen
Überreste zu beseitigen und diese Gebiet in das übrige Gebiet Polens
zu integrieren, haben die Bildungseinrichtungen nicht übergangen.
Die Schulen spielten damals eine wichtige Rolle, nicht nur bei der
Ausbildung der jungen Generation, sondern auch als Ort, der Einfluss
auf die Erwachsenen hatte. Es wundert also nicht, daß schon im
Februar 1945 die Treffen des polnischen Aktivs Fragen zur
Problematik des Schulwesens in den Westgebieten, die 1945 Polen
eingegliedert worden sind, gewidmet wurden. Die Bildungsbehörden
begannen, die Erziehung vorrangig zu behandeln, da im Angesicht der
sich abzeichnenden Veränderungen "der Mensch im demokratischen
Geiste zu erziehen" war. Im April 1945 sagte der damalige
Bildungskurator Jan Smoleń auf der Versammlung der
Schulinspektoren, daß die Demokratisierung des Lebens alle
Schichten der schlesischen Bevölkerung umfassen sollte, unabhängig
von der sozialen Herkunft, dem Umfang der Polnisch-Kenntnisse, der
Konfession
und
der
politischen
Überzeugungen.1
Die
Erziehungsaufgaben bezeichnete der Inspektor als Erziehung im
demokratischen, nationalen und gesellschaftlichen Geiste, dessen
Grundsätze die Schüler im "schulischen wie außerschulischen" Leben
anwenden sollten.2. Im Sinne der Richtlinien durften auf dem Gebiet
von Oberschlesien nur Schulen mit polnischer Unterrichtssprache
bestehen. Gleichzeitig wurde angeordnet, bis auf Weiteres den
1
GBl. KOS KOS (Kuratorium Okręgu Szkolnego) Śląskiego 1945 [Kuratorium
des Schulbezirks Schlesien], Nr. 2, Ziffer 75, Konferencja inspektorów
szkolnych 27-28.04.1945 [Konferenz der Schulinspektoren].
2
Ebenda, Ziffer 52, Okólnik [Rundschreiben] Nr. 19, unterschrieben von Kurator
J. Smoleń.
4
Małgorzata Świder
Deutsch-Unterricht in allen Schulen einzustellen, die dem Kuratorium
des Schulbezirks Schlesien unterstanden3.
In allen Dokumenten und Richtlinien aus dieser Zeit ist die Rede
von Repolonisierung und Entgermanisierung. Was war
Repolonisierung, was war Entgermanisierung?4
In der Publizistik, die sich mit den Repolonisierungsmaßnahmen
beschäftigte, wurde versucht, den oft benutzten Begriff
„Repolonisierung“ (Repolonizacja) zu definieren, als einen positiven
Abschnitt der Politik und als Teil des Programms zur Realisierung der
Rückkehrers Polens Polen in die Westgebiet. Unter dem Begriff
Repolonisierung konnte man nicht nur „die Polonisierung der
autochthonen,
teilweise
germanisierten
Bevölkerung
der
Wiedergewonnenen Gebiete“ verstehen bzw. die Sättigung dieser
Gebiete durch das polnische Volk, sondern auch die faktische und
vollkommene Eingliederung dieser Gebiete in das polnische
Staatswesen. Die Repolonisierung war ein politischer Begriff, der eine
endgültige - formale und faktische - Anerkennung der Westgrenze in
der Form, die in der Konferenz von Potsdam festgelegt worden war,
bezweckte.
Zur
Erreichung
der
politisch
verstandenen
Repolonisierung müßten zwei Hauptaufgaben erfüllt werden:
- Die Ansiedlung der polnischen Bevölkerung, die in die autochthone
Bürgerschaft integriert werden sollte, und
- die Entfernung der Deutschen.
Das Programm der Repolonisierung sah auch eine
wirtschaftliche Verbindung mit dem polnischen Restland vor.
feste
Ohne Zweifel spielten die einheimischen Bewohner Schlesiens eine
Schlüsselrolle in der Repolonisierung. Sie waren eine biologische und
politische Grundlage für die Rückkehr Polens in die Gebiete an, und
3
4
B. Snoch, Szkolnictwo w województwie śląsko-dąbrowskim 1945-1950 [Das
Schulwesen in der Wojewodschaft Schlesien-Dombrowa], Czestochowa 1988,
S. 34.
Zum Thema der Entgermanisierung sehe: M. Świder, Die sogenannte
Entgermanisierung im Oppelner Schlesien in den Jahren 1945-1950,
Europaforum-Verlag, Lauf 2002.
Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach 1945
5
daher sollte im Interesse des Staates eine Repolonisierungspolitik
betrieben werden, die folgendes erlaubte:
- volle, aber konfliktlose Eingliederung in die neu zu bildende
Gesellschaft in den Gebieten
- Polonisierung der teilweise germanisierten Bevölkerung
Wiedergewinnung
derer,
die
aufgrund
verschiedener
Fehlentscheidungen der Verwaltung emigriert waren. Die in den
Gebieten verbleibende Bevölkerung sollte zum Fundament des neu
entstehenden polnischen Gesellschaftslebens werden.
Eugeniusz Paukszta, ein Aktivist des Polnischen Westverbandes
(Polski Związek Zachodni),5 verstand unter dem Begriff der
Repolonisierung eine feste Integration der Westgebiete, jedoch unter
Beibehaltung bestimmter gruppenspezifischer Merkmale, damit sie
sich dennoch vollkommen mit dem staatlichen und nationalen System
verschmelzen ließen. Die Repolonisierung durfte sich nicht nur auf die
politische oder wirtschaftliche Sphäre beschränken. Eine gleich
wichtige Rolle hatte er dem emotionalen und kulturellen Bereich
zugewiesen. Die volle Repolonisierung war daher eine endgültige
kulturelle Assimilierung. Die so verstandene Repolonisierung
bedeutete eine konstruktive Einwirkung der Obrigkeit und der
gesellschaftspolitischen Organisationen auf die Bevölkerung, um eine
gesellschaftliche und nationale Integration zu erreichen.
Die Grundlage für die Repolonisierungsmaßnahmen in den sog.
Wiedergewonnenen Gebieten war die Theorie der polnischen
Abstammung der dort lebenden Bevölkerung, die sogenannte Theorie
der autochthonen Bevölkerung.6 Es wurde z.B. behauptet, daß die
5
6
E. Paukszta, Myśl nad przyśpieszeniem kulturalnego zespolenia Ziem
Odzyskanych, „Strażnica Zachodnia” 1946, Nr.. 6, S. 207ff.
Der Begriff „Autochthon“ wurde in vielfältiger Weise benutzt. Gelegentlich
verwendete man den Begriff als ein Synonym für die einheimische, polnische
Bevölkerung der Westgebiete, manchmal aber auch als Bezeichnung für die
deutsche Bevölkerung, die in den Gebieten geblieben war. Mitunter wurde die
Bezeichnung auch für die ganze Bevölkerung Schlesiens, polnischer wie
deutscher Abstammung, gebraucht. Mit der Zeit wurde der Begriff stark
6
Małgorzata Świder
autochthone Bevölkerung trotz jahrhundertlanger Zugehörigkeit zum
Deutschen Reich kein deutsches Nationalbewußtsein entwickelt habe.
Als Grund dafür nannte man die Feindlichkeiten zwischen der
autochthonen Gruppe und den Deutschen. Die Autochthonen besäßen
kein ausgebildetes polnisches Nationalbewußtsein, weil alle
entsprechenden Bestrebungen von den Deutschen rücksichtslos
unterdrückt worden seien. Die Aufgabe Polens bestand darin, den
Rückstand zu überwinden und die Autochthonen zur „nationalen
Reife“ und einer „bewußt polnischen Haltung“ zu führen. Dies war für
Polen besonders wichtig: „(...) Angesichts des heutzutage in
friedlichen Umständen dauerhaften deutsch-polnischen Konfliktes,
(...) sollten sich in den Westgebieten nur solche Bevölkerungsteile
befinden, die einen lückenlosen, antideutschen Damm bilden
könnten.“7 Aus diesem Grund war die wichtigste Aufgabe des
Repolonisierungsprozesses die Trennung der polnischen von der
deutschen Bevölkerung. Die polnischen Autochthonen sollten nach
der Verifizierung den Kern der neuen Gesellschaft bilden.
Bei den Anstrengungen, die Deutschen aus Schlesien und anderen
ehemaligen deutschen Gebiete auszusiedeln und die Spuren des
deutschen Erbes zu entfernen, wurde auch der Begriff
„Entgermanisierung“, viel seltener der Begriff Polonisierung,
gebraucht. Dabei muß man wissen, daß der Begriff im
Zusammenhang mit Maßnahmen zur Entfernung aller deutschen
Spuren, d.h. sowohl der Menschen als auch ihrer materiellen und
geistigen Hinterlassenschaften, verwendet wurde. Praktisch wurden
unter diesem Begriff alle destruktiven Maßnahmen von politischen
und gesellschaftlichen Organisationen und der Verwaltung
verstanden, deren Zielsetzung es war, neben der Aussiedlung der
Bevölkerung auch sämtliche Spuren der deutschen Geschichte in den
in die Administration Polens übergegangenen Gebieten zu
verwischen. Es sollte eine systematische Entfernung der deutschen
Überreste in Sprache, Schrift und sogar in der Mentalität sein. Im
7
abgewertet. Z. Dulczewski, Problematyka badań socjograficznych na Ziemiach
Zachodnich, in: „Przegląd Zachodni” 1995/1.
Z. Izdebski, Doświadczenia opolskie - podstawy repolonizacji, S. 252-253, Str.
Zach.1947/9.
Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach 1945
7
Laufe der Zeit modifizierte sich die offizielle Bedeutung des Terminus
„Entgermanisierung“. Am Anfang der Übernahme und Besiedlung der
neuen Gebiete verstand man darunter die Aussiedlung der Deutschen
und die Sicherstellung der zurückgelassenen Güter.8 Nachdem die
Aussiedlung abgeschlossen war, bezeichnete der Begriff eine
mechanische Entfernung aller Kulturspuren der Deutschen. In dieser
späteren Bedeutung verwendete man den Ausdruck am häufigsten,
was besonders in den Rundschreiben des Ministeriums und des
Wojewodschaftsamtes deutlich wird.9 Es kristallisierten sich vier
Schwerpunkte heraus:
- Aussiedlung der Deutschen
- Ausschaltung der deutschen Sprache in Wort und Schrift, d.h.
Entfernung des deutschen Schriftgutes im privaten und öffentlichen
Bereich
- Bekämpfung der prodeutschen Einstellung und Mentalität
- Änderung der Vor- und Familiennamen; die Polonisierung der
Namen, d.h. Angleichung an polnische Grammatik und Orthographie,
und die Repolonisierung, d.h. Rückkehr zu den von der
Hitlerregierung geänderten Namen.
Die Entgermanisierung sollte die durch die deutsche Zivilisation
überlagerte einheimische, der polnischen gleichgesetzte Kultur wieder
zum Vorschein bringen.10 Nach einem genaueren Einblick in die
Problematik der einheimischen Bevölkerung wollte man, gemäß der
Propaganda, feststellen, daß im Volk polnische Tradition noch immer
lebte und „die Herzen polnisch schlugen“. Auf den Herzen der
einheimischen Bevölkerung läge nur ein Schimmer der deutschen
8
MSWiA CA War. (Ministerstwo Spraw Wewnętrznych i Administracji w
Warszawie) MAP (Ministerstwo Administracji Publicznej) Sign. 303, K. 3.
9
AP Kat (Archiwum Państwowe w Katowicach) UWŚl/Sp-Pol. (Urząd
Wojewódzki Śląski/Wydział Społeczno-Polityczny) Sygn. 551, K. 9f. Erlaß des
Wojewoden vom 23.04.1948, Nr. SP.II-49/60/48, betr. die Koordinationskommissionen zur Liquidierung der deutschen Hinterlassenschaften; vgl. A.
Rogalski, Akcja kulturalna na Ziemiach Odzyskanych. Podstawy, założenia i
plan realizacji, In: Odzyskane ziemie odzyskani ludzie. Poznań 1946, S. 49.
10
S. Mazurek, Młodzieżowe wspominki, „Odra” 1947/3.
8
Małgorzata Świder
Kultur, trotz jahrhundertlanger Germanisierung.11 In der Praxis
wurden die Begriffe „Repolonisierung“ und „Entgermanisierung“ oft
als Synonyme benutzt, als Bezeichnung für die gänzliche Entfernung
jeglicher Spuren, die an die Präsenz des deutschen Staats - und
Kulturwesens
in
irgend
einer
Form
erinnerten.
Als
„Entgermanisierung“ wurde vorwiegend eine destruktive Tätigkeit
bezeichnet, z.B. Entfernung oder Austreibung. Als Repolonisierung
dagegen wurden Maßnahmen beschrieben, die etwas schaffen sollten,
z.B. wirtschaftliche Verbindungen oder Besiedlung. In der Praxis
wurden beide Termini jedoch abwechselnd benutzt, weil man von der
Annahme ausging, daß sie sich gegenseitig vervollständigten. Die
Trennung dieser Begriffe war daher sehr schwierig, wobei generell der
Begriff Repolonisierung als weiter verbreitet angesehen wurde. Man
sprach selten von einer Polonisierung, obwohl, dies in manchen Fällen
doch der Fall war, besonders in Bezug auf die Jugendlichen und
Kindern.
Diese
Entscheidung
wurde
auf
Grund
der
Propagandamaßnahmen eingeführt, hauptsächlich der Theorie der
slavischen/polnischen Abstammung der Bewohner Schlesien. Mann
wollte die polnische Bevölkerung nicht polonisieren, wenn, dann nur
re-polonisieren.
Die deutsche Sprache
Ein sehr wichtiger Bestandteil der Entgermanisierungsaktion
/Polonisierung der Oppelner Schlesiens war die deutsche Sprache.
Von Anfang an wurde der Sprache besondere Aufmerksamkeit
gewidmet, da man der Meinung war, daß dies ein wichtiges Merkmal
der Nationalen Zugehörigkeit war. Besonders achtete man auf die
Benutzung der deutschen Sprache. Die Richtlinien dafür wurden
schon während einer Besprechung der Landkreisräte, die in das Gebiet
des Oppelner Schlesien im Frühjahr 1945 entsandt werden sollten,
bekannt gegeben. Damals verkündete der Wojewode die Leitlinien für
die künftige Politik der Behandlung der deutschen Sprache: „Die
11
E.C. Repatrianci, NO (Nowiny Opolskie) Nr. 10 vom 9.03.1947, S. 3; siehe
auch die Einführung vom W. Barcikowski, in: Odzyskane ziemie - odzyskani
ludzie, Poznań 1946, S. 7.
Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach 1945
9
deutsche Sprache wird vollkommen entfernt. Die Kinder sollten auf
dem schnellsten Wege die bei uns verhasste deutsche Sprache
vergessen. Wir müssen diesen Haß vertiefen, weil wir vor dem
Problem stehen: wir oder sie. Es ist jetzt keine Zeit für Sentimentalität
und Mitleid mit dem Deutschtum.“12 Es gab zwar Stimmen, die vor der
Einführung des sprachlichen Kriteriums zur Bestimmung der
Nationalität warnten, sie wurden jedoch nicht gehört.13
Direkt nach der Übernahme Oberschlesiens durch den polnischen
Verwaltungsapparat gab der Wojewode eine Anordnung (29. Januar
1945) bezüglich der Entfernung der Spuren der Okkupation heraus,
die auch die Sprache Betraffen.14 Im Sinne der Weisung waren alle
Hausbewohner und -verwalter verpflichtet, deutsche Inschriften,
Schilder, Parolen, Bekanntmachungen, Embleme, Zeitungen und
Plakate zu entfernen. Mit sofortiger Wirkung erhielten Städte,
Siedlungen, Straßen und Plätze ihre polnischen Namen zurück
(Repolonisierung). Die deutsche Sprache wurde in Wort und Schrift
verboten (Pkt. 3). Um den polnischen Charakter Oberschlesiens zu
unterstreichen, wurde angeordnet, die polnische Fahne zu hissen und
den polnischen Piastenadler (ohne Krone) aufzustellen. Im Oppelner
Schlesien wurden alle Schilder entfernt und durch polnische ersetzt.
Obwohl die Massnahmen zur Entgermanisierung, als dringend und
bevorzugt angesehen wurden, velauften sie nicht im gewünschten
Tempo und in der angestrebten Breite. Die umfassende Entfernung der
Kulturspuren deutscher Provenienz war auf Grund ihrer Masse und
12
AP Kat UWSl/Og, (Urząd Wojewódzki Śląski/Wydział Organizacyjny) Sign.
162, K. 249 Protokoll der Konferenz.
13
E.O.(Edmund Osmańczyk?) Zasiewy i kataster narodowościowy. Dwa palące
zagadnienia Opolszczyzny. Dz. Zach. vom 30.03.1945. Auch in der nächsten
Zeit wurde das Problem der Sprache als Kriterium zur Bestimmung der
Volkszugehörigkeit differenziert betrachtet, z.B. berichtete Ossowski in:
„Zagadnienia więzi regionalnej i więzi narodowej na Śląsku Opolskim“,
„Przegląd socjologiczny“, 1947/ Nr. 1/4, daß die Mehrzahl der
polnischsprachigen Einheimischen, die während der schlesischen Aufstände an
den Kämpfen teilgenommen hatten, nicht auf polnischer, sondern auf deutscher
Seite zu finden waren.
14
Amtszeitung Nr. 1, S. 9.; AP Kat UWŚl/AP (Urząd Wojewódzki Śląski/
Wydział Administracyjno-Prawny) Sign. 26, S. 44.
10
Małgorzata Świder
Popularität nicht einfach.15 Die größten Schwierigkeiten bereiteten der
Verwaltung die deutsche Sprache und die Nachkriegsjugend. Trotzt
der Verbote der polnischen Administration wurde die deutsche
Sprache noch häufig benutzt. Diese Tatsache ist nicht nur aus dem
bewußten Gebrauch der Sprache, sondern aus der Notwendigkeit ihrer
Benutzung abzuleiten. Die schlesische Bevölkerung konnte sich
nämlich in der polnischen Sprache oft nicht frei artikulieren.
Besonders die junge Generation, die häufig nach dem Krieg zum
ersten Mal polnisch hörte, hatte damit Probleme. Trotz der
Schwierigkeiten ist die Mehrheit der schlesischen Jugend 1945 nicht
zur polnischen Schule gegangen. Anfänglich spielte die fehlende
Sicherheit in den Gebieten eine entscheidende Rolle. Im Frühjahr
1945 waren Kinder auf dem Weg zur Schule durch militärische
Einheiten belästigt und festgehalten worden, ältere von ihnen mußten
sich sogar an den angeordneten Zwangsarbeiten beteiligen.16 Für das
Fernbleiben der Jugendlichen war zum größten Teil auch die
verbreitete Armut in der schlesischen Gesellschaft verantwortlich.17
Viele Familien blieben nach dem Krieg ohne Väter und Ehemänner,
d.h. also ohne Einkommen. Diese Situation wurde dadurch verschärft,
15
AP Kat. PZZ (Polski Związek Zachodni) Wełnowiec Sign. 6, K. 12.
Rundschreiben des Schlesischen Kreises des PZZ betr. die Propaganda-Aktion
während der „Woche der Wiedergewonnenen Gebiete“ von März 1946.
16
AP Kat PZZ Okr. Śl, (Okręg Śląski) Sign. 3. Bericht des Delegierten des PZZ
von Gleiwitz über die Lage in der Zeit vom 25.04.1945 bis 21.05.1945
17
Im Juli 1947 wurde die autochthone Jugend, die die deutschen Schulen
besuchte, registriert, um sie weiterzubilden. Von 186 theoretisch geeigneten
Kandidaten wollten 60 keine höhere Ausbildung haben. Als Grund dafür wurde
die schlechte materielle Lage der Familie angegeben, besonders die Pflicht, den
abwesenden Vater zu vertreten. AP Kat, KOS SL. Sign. 105, K. 2, dazu siehe
auch: AP Kat. WUIiP Kat. (Wojewódzki Urząd Informacji i Propagandy w
Katowicach) Sign. 71. K. 26; Dies war durch die kriegsbedingte
Bevölkerungsstruktur verursacht: im Landkreis Glubczyce lebten im September
1945 (alles ca. – Werte) 44.082 Personen, davon 33% Kinder, 48% Frauen und
19% Männer. Die Stadt Gleiwitz bewohnten im Juni 1945 30.000 Personen,
davon 31% Kinder, 52% Frauen und 17% Männer. J. Misztal, Polityka władz
polskich wobec mieszkańców, S. 126; Z. Kowalski gab an, daß sich im
Oppelner Schlesien im Sommer 1945 ca. 80-90% Männer außerhalb ihrer
Wohngebiete befanden. Z., Kowalski, Powrót Śląska Opolskiego, S. 403.
Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach 1945
11
daß die Familien in der ersten Zeit unter polnischer Verwaltung,
weder Rente noch irgendeine andere soziale Unterstützung bezogen.
Im Gegenteil wurden sie noch zusätzlich mit finanziellen Belastungen,
wie z.B. einer Miete für ihr enteignetes Haus, konfrontiert.18 In der
Gruppe der Kinder und Jugendlichen lag der Anteil an Waisen bzw.
Halbwaisen bei 70-75%. Kinder im Alter von 8-15 Jahren mußten
arbeiten, und aus den Städten wurde gemeldet, daß Kinder um Geld
oder Brot bettelten.19 Die Schulverwaltungen aus Bytom, Gliwice und
Racibórz informierten, daß dort 2000-3000 Kinder nicht die Schule
besuchten. 15% der Kinder litten unter Tuberkulose, außerdem waren
60% bereits infiziert. Aufgrund der Avitaminose mußte im Landkreis
Gliwice bei vielen Kindern mit Erblindung gerechnet werden.20
Zbyszko Bednorz21 berichtete im Juli 1946, daß im industriellen Teil
des Oppelner Schlesien dreimal mehr Kinder starben als geboren
wurden.22
Die größten Erziehungsschwierigkeiten gab es in der Gruppe der
Jugendlichen von ca. 14 Jahren. Sie hatten ihr ganzes Leben in der
Hitler-Zeit verbracht, deutsche Schulen besucht und waren somit von
der NS-Ideologie geprägt.23 Selbst die Schlesier sagten, daß nach
Hitler mit der Jugend nicht alles „richtig sei“, ohne dies jedoch weiter
zu kommentieren. Der Einfluß der Ideologie des Dritten Reiches
machte eine Integration fast unmöglich. Dabei nannte man als Gründe
18
AAN War. MZO Sign. 84, K. 56. Vertraulicher Pressedienst der ZAP vom
5.06.1946: „Nędza na Opolszczyźne“.
19
Z. Bednorz, Pod ziemią jest jaśniej, „Tygodnik Powszechny“, Nr. 49 vom
24.02.1947.
20
AAN War. (Archiwum Akt Nowych w Warszawie) MZO (Ministerstwo Ziem
Odzyskanych) Sign. 84, K. 61. Vertraulicher Pressedienst der ZAP vom
5.06.1946: „Ratujmy dzieci śląskie“.
21
Zbyszko Bednorz (1913-2010) Schriftsteller und Dichter.
22
Z. Bednorz, Pod ziemią jest jaśniej. „Tygodnik Powszechny”, Nr. 49 vom
24.02. 1947.
23
Trzeba odniemczyć Ziemie Zachodnie. O nowy typ kresowego Polaka,
„Dziennik Zachodni“ vom 20.05.1945; Die Erziehung der Jugend gehörte zu
den wichtigsten Aufgaben des polnischen Staates im Repolonisierungsprozeß.
Das Ziel war: „Vernichtung des hitlerischen Gifts, tief in ihrer (der Jugend)
Seele eingepflanzt.“
12
Małgorzata Świder
dafür den kulturellen Dualismus, die emotionale Bindung an deutsche
Eigenarten und die Überzeugung vom Potential Deutschlands.24 Die
verbliebene Ideologie war für die damaligen Machthaber ein Indiz für
das Weiterbestehen der deutschen Hinterlassenschaften. Die in vielen
Köpfen noch vorhandene Überzeugung einer besonderen Rolle „des
Herrenvolkes“ mußte nach Ansicht der Verwaltung auch die Eltern
der Jugendlichen angesteckt haben, und somit war die
Repolonisierung zunichte.25 Die Jugendlichen wurden zudem
verdächtigt, geheime antipolnische Organisationen zu bilden und
Gerüchte über baldige Grenzveränderungen zu verbreiten.26
Polonisierungsanstrengungen
Die Hauptverwaltung des Westverbandes (Polski Związek Zachodni –
PZZ) in Poznań arbeitete mehrere Instruktionen aus, die die
Handlungsweise bei den Bestrebungen zur Beseitigung der deutschen
Spuren und der deutschen Kultur beschrieben. Unter anderem wurde
Ende 1946 oder Anfang 1947 (kein Datum) eine Instruktion erarbeitet,
in der auf die Notwendigkeit der Aufstellung mehrerer Jugendgruppen
für Umfragen hingewiesen wurde. Die Fragen sollten an erster Stelle
Auskunft über Nationalbewußtsein, Sprache und Gruppengebräuche
der Gemeinschaft mit beschränkten nationalen Empfindungen geben.
Als weitere Aufgabe für die geplanten Gruppen war die Bekämpfung
des deutschen Erbes vorgesehen. Dies sollte in Form einer Vertiefung
des Nationalbewußtseins insbesondere bei Kindern und Jugendlichen
geschehen und in Form von Beobachtungen der „Stimmungslage und
24
P. Madajczyk, S. 197; AAN War. MIP (Ministerstwo Informacji i Propagandy)
Sign. 503, K. 37. Situationsbericht aus Kreuzburg für November 1946.
Kreuzburg 8.12.1946: Die Äußerung des Vorsitzenden des GemeindeNationalrates (Gminna Rada Narodowa- GRN) in Strzeleczkach: „Aus der
heutigen (Autochthonen)-Generation wird Polen keinen Nutzen ziehen können,
sie sprechen zwar polnisch, sind jedoch durch die Germanismen verdorben.“
25
AP Op. St.P. (Starostwo Powiatowe) Olesno, Sign. 42. Bericht von Szum ,
Gemeinde Bogucica, betr. die Verifikation der Bevölkerung vom 4.04.1946.
26
AP Kat. UWŚl./Og. Sign. 119, K. 44. Situationsbericht des Starosten der kreisfreien Stadt Beuthen vom 29.01.1946.
Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach 1945
13
der Tendenzen in der polnischen Bevölkerung, die in der
Vergangenheit bewußt oder unbewußt unter den Einflüssen der
deutschen Kultur standen“, erfolgen.27 Von den unterschiedlichen
deutschen Hinterlassenschaften wurde die in manchen Gruppen noch
existierende Überzeugung von der Stärke und Überlegenheit
Deutschlands für die gefährlichste gehalten. In die Aktion der
Befreiung von fremden Elementen (d.h. deutschen) sollten auf
unterschiedliche Weise Kinder und Erwachsene einbezogen werden.
Die Kinder mußten im allgemeinen nationalen Geist erzogen werden.
Die Erwachsenen forderte man auf, „ihren Aberglauben über den
Vorrang der deutschen Kultur abzulegen“ und Vertrauen in die Kraft
und die Stärke Polens zu setzen.28
Die Verwaltung hat während der Aktion der Entgermanisierung
beunruhigende Erscheinung beobachtet, daß die deutschen
Sprachkenntnisse besonders bei den jungen Menschen weiter
entwickelt waren als die polnischen. Die Jugend weigerte sich, die
polnische Sprache zu erlernen. In Zabrze beispielsweise lehnten es
Kinder ab, ein polnisches Gedicht über ein nationales Ereignis, die
Schlacht um Psie Pole, auswendig zu lernen. Angeblich sprachen sie
in den Pausen ausschließlich deutsch.29 In Bytom quittierte ein
Jugendlicher die Frage, warum er deutsch spreche mit der Bemerkung:
Man könnte ebenso fragen, warum man jetzt polnisch spreche.30 Die
angewendeten Maßnahmen, Propaganda und „Umerziehung“ zeigten
bei den bilingualen Schlesiern kaum Erfolge. Nicht nur Erwachsene,
27
AP Poz. PZZ (Polski Związek Zachodni), Sign. 66, K.1. Instruktion der
Hauptverwaltung des PZZ betr. die Aktion zur Entfernung der deutschen
Spuren.
28
Ibidem K. 3.
29
AAN War, MZO, Sign. 55, K. 8, Situationsbericht des Wojewodschaftsamtes
in Kattowitz für Februar 1947; Noch im Oktober 1949 wurde berichtet, daß die
Kinder der sog. Autochthonen in Polskiej Cerkwi in der Schule deutsch
sprachen. AP Kat. UWSL/Og. Sign. 206. Protokoll der periodischen Konferenz
aller politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Organisationen im
Landkreis vom 28.10.1949.
30
AP Kat., PZZ Okr.Śl., Sign.121, K. 85. Anonymschreiben an Dz. Zach. vom
28.05.1946.
14
Małgorzata Świder
auch Kinder und Jugendliche sprachen 4-5 Jahre nach Kriegsende
noch deutsch.31
Nach anfänglichem Rückzug des Gebrauches der deutschen Sprache,
der mit Repressalien erreicht worden war, belebte sich sie jedoch neu
und entwickelte sich weiter, so daß 1947 sogar zweijährige Kinder
deutsch sprechen konnten. In den Kreisen des Oppelner Schlesien war
die Lage besonders schwierig. Im Landkreis Opole wurden in der Zeit
von Januar bis August 1948 insgesamt 155 Personen wegen
Benutzung der deutschen Sprache angezeigt.32 Trotzt der Vorbote und
angewandten Straffen bedienten sich die Schlesier in großer Zahl der
deutschen Sprache, sogar die schulpflichtige Jugend wehrte sich
gegen das Erlernen des Polnischen. Obwohl, die Bevölkerung, die als
Deutsche angesehen wurde, schon ausgesiedelt wurde, hörte man z.B.
in Bytom ununterbrochen Deutsch, was, wie die Vertreter des PZZ
behaupteten, ein Beweis für die unkorrekte Durchführung der
Entgermanisierung war.33 Auch die Appelle, die deutsche Sprache
aktiv zu bekämpfen, blieben ohne sichtbaren Erfolg34. Bei der
Besprechung der Landräte und Bürgermeister am 19. Juni 1947 im
Wojewodschaftsamt in Katowice wurde gefordert, Familien, deren
Kinder die Schule boykottierten, die polnische Sprache nicht erlernten
31
AP Kat UWŚl/Og., Sign. 207, K. 2, Protokoll der periodischen Konferenz im
Landkreis Cosel, Cosel 28.10.1949; AP Kat UWSl/Og., Sign. 209, K. 37
Protokoll der periodischen Konferenz im Landkreis Falkenberg vom
21.10.1949; AP Kat UWSl/Og., Sign. 220, K. 2, Protokoll der periodischen
Konferenz in Hindenburg vom 27.05.1949.
32
AP Op. StP Opole, Sign. 113, K. 64. Vertrauliches Schreiben der Starostei von
Oppeln, gesellschaftspolitisches Referat vom 31.07.1948
33
Ujemny objaw, PZZ Biuletyn wewnętrzno-organizacyjny 1947/1, S. 18.
34
Zgrzyty na Opolszczyźnie, NO Nr. 28 vom 13. Juli 1947, S. 4: „Wszyscy
podpisali deklarację wierności Narodowi i Państwu Polskiemu i mogą być za
swoją niewierność do j. polskiego pociągnięci do odpowiedzialności przez
każdego dobrego Polaka.“ E.P., Nie stawać na półmetku. Wzywamy do walki z
pozostałościami niemczyzny, „Polska Zachodnia” Nr.10, 1947/3. Kto na Śląsku
mówi po niemiecku ? „Słowo Powszechne” Nr. 25 vom 17.04.1947. Dwuletnie
Polki mówią po niemiecku. Problem ponownej weryfikacji, „Gazeta Ludowa”
Nr. 151 vom 4.06.1947.
Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach 1945
15
oder keine Sprachfortschritte vorweisen konnten, hart zu bestrafen.35
Im Landkreis Strzelce Opolskie wurden anläßlich einer Kontrolle der
Entfernung der deutschen Inschriften kurze Gespräche mit den
Kindern in getrennten Zimmern geführt, um ihre „richtige Erziehung“
zu überprüfen.36 Allein die aus Westfalen stammenden Immigranten,
besonders ihre Kinder, und Juden deutscher Herkunft durften die
deutsche Sprache benutzen. Die polnischen Juden dagegen sollten für
ihre Benutzung ähnlich wie die polnischen Bürger bestraft werden.37
Die Problematik des Gebrauchs des Polnischen war ebenso ein Thema
in der „Parlamentskommission für die Wiedergewonnenen Gebiete“.
Während der Junisitzung der Kommission im Jahre 1947 hatte der
Innenminister über die eingeführten Maßnahmen, u.a. über die
Anordnung der Bekämpfung der deutschen Sprache in den
Westgebieten, berichtet.38
Einen besonderen Platz nahm die Bekämpfung der deutschen Sprache
in einem Ministerialerlaß (MZO) vom 24. Juni 1947 ein, in dem die
Bekämpfung dieser Erscheinung bei der verifizierten Bevölkerung zu
einer landesweiten Aufgabe (alle Neuen Gebiete) gemacht wurde.39
Auf die Konsequenzen für die Benutzer der deutschen Sprache und
auf die absolute Notwendigkeit zur Zusammenarbeit bei der
endgültigen Verwischung der deutschen Spuren wies der Wojewode
gegenüber der Wojewodschaftskommandantur der Miliz (Komenda
Wojewódzka Milicji Obywatelskiej – KW MO) und der Sicherheit
35
AP Kat. UWSl/Sp-Pol. Sign.19, K. 19, Konferenz der Starosten und
Stadtpräsidenten im Wojewodschaftsamt von Kattowitz vom 19.06.1947.
36
AP Op. StP Strzelce Opolskie, Sign.114, K. 61 Bericht über eine außerordentliche Kontrolle zur Entfernung der deutschen Hinterlassenschaften, Groß
Strelitz 25.11.1947.
37
MSWiA CA war. MZO Sign. 145. Konferenz der Leiter der gesellschaftspolitischen Referate vom 23.-24. 09. 1947.
38
MSWiA CA War. MZO, Sign. 49, K 31. MAP an den Vorsitzenden der Sejmkommission für die Wiedergewonnenen Gebiete vom 23.07.1947 II/SP/5d/60/4.
39
Rundschreiben des MZO, Dep. der Öffentlichen Verwaltung an alle Wojewoden in den Wiedergewonnenen Gebieten vom 24.06.1947 (L. dz.
349/II/147/pf/47).
16
Małgorzata Świder
(Wojewódzki Urząd Bezpieczeństwa Publicznego - WU BP) drei
Wochen später, am 11. August 1947, hin. Er empfahl dem
Kommandanten, die deutsche Sprachbenutzung in dem ihm
unterstellten Bereich auf dem Dienstwege zu ahnden, weil „die
Benutzung der deutschen Sprache als eindeutiger Beweis für die
Zugehörigkeit zur deutschen Nationalität anzusehen ist.“40
Die Namen der Kinder
Weil der Klang des Namens als Beweis der Zugehörigkeit der
autochthonen Bevölkerung zur polnischen Nation galt, übernahmen
die Starosten die Initiative die deutschen Namen der Schlesier zu
entfernen. Dies war wichtig, weil der polnische Klang des Namens
offiziell auch durch das Ministerium für die Wiedergewonnenen
Gebiete als nationales Merkmall anerkannt wurde. In dem
Rundschreiben vom 20.03.1946 wurde darauf hingewiesen, daß man
angesichts
des
nicht
herauskristallisierten
nationalen
Selbstbewußtseins bei der Feststellung der polnischen Nationalität auf
den Klang des Namens achten sollte. Diese Verordnung basierte auf
den Erfahrungen der Wojewodschaft Schlesien. Sie stellte für alle
Verwaltungsorgane in den Wiedergewonnenen Gebieten obligatorisch
fest, daß die polnische Abstammung sich u.a. aus folgendem ergeben
könnte:
- standesamtlichen Urkunden oder Personalausweisen
- der Führung eines polnisch klingenden Familiennamens
- der Verwandtschaft mit polnischen Volkszugehörigen.41
Als Beispiel für die praktische Umsetzung dieser Vorschriften dient
der Starost aus Koźle. Er ordnete im Mai 1945 an, daß die
40
AP Kat. UWŚl/Sp-Pol., Sign. 552, K. 19ff., Kopie des Schreibens des Wojewoden von Schlesien-Dąbrowa an KWMO und WUBP vom 11.08.1947,
Nr. Dz. L.SP-II-53/24/47.
41
AAN War. MZO Sign.43, K. 12. Das Rundschreiben des MZO Nr. 2 vom
20.03.1946. In diesem Zusammenhang war viel wichtiger die Verordnung des
MZO vom 6.04.1946 über die Verfahren zur Feststellung der polnischen
Volkszugehörigkeit von Personen, die in den Wiedergewonnenen Gebieten
wohnhaft waren (DzU MZO Nr. 4 Pos. 26).
Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach 1945
17
Verifikationskommissionen nur aus Mitgliedern mit polnischen
Namen bestehen dürften. Die Dorfschulzen und Bürgermeister sollten
Verzeichnisse von Bürgern anlegen, die ihre ursprünglich polnischen
Namen in rein deutsche Namen vor 1945 geändert hatten.42 In
Zusammenhang mit dieser Aktion informierte der Starost das
Wojewodschaftsamt über die von Deutschen vorgenommenen
Namensänderungen, die während der Verifikation festgestellt wurden.
Die Anträge dieser Personen wurden deshalb noch nicht befürwortet,
weil ihre Nationalität Zweifel zuließe. In den vom PZZ
herausgegebenen Richtlinien für den Dienstgebrauch der
Verifizierungsorgane, die eine Zusammenfassung der bisherigen
Verifizierungspraxis waren, wurde eine freiwillige Änderung des
Familiennamens als Kennzeichen polenfeindlicher Haltung oder
deutscher Volkszugehörigkeit betrachtet.43 Nach weiterer Betrachtung
des Problems stellte man allerdings fest, daß die Namen auch von
„zweifelsfreien“ Polen, sogar von den Aufstandsteilnehmern, geändert
worden waren. Im Fazit stimmte der Starost einer positiven
Verifikation solcher Bürger zu, die trotz der Namensänderung den
„polnischen Geist“ nicht verloren hätten.
Das man Menschen mit deutschen Namen verifizieren wollte, hieß
nicht, dam man die Namen nicht ändern wollte und zwar auf dem
schnellstem Wege, auch mit der Beteiligung der Schule an der Aktion.
42
AP Op. StP Koźle Sign. 225, K.10. Der Erlaß des Starosten von Cosel vom
25.05.1945; In den Sammlungen des Nationalarchivs in Oppeln wurden
Verzeichnisse der geänderten Namen aufgehoben. Sie umfassen jedoch nur
einige Gemeinden. Es ist nicht bekannt, wann sie zusammengestellt wurden.
Sind sie 1945 ausgearbeitet und in der folgenden Zeit genutzt worden oder
stammen sie erst aus dem Jahr 1947, d. h. aus der Zeit, aus der auch das
Schreiben über die Wiedereinführung von polnischen Vor- und Nachnamen
von den Bewohnern Kedzierzyns stammt? (Das Schreiben vom 20. November
1947 umfaßte 32 Anträge K. 29). Die Verzeichnisse der geänderten Namen, die
sowohl einzelne Personen als auch ganze Familien umfaßten, sind K. 30 - 31
aus der Gemeinde Czyszki (72 Änderungen), K. 34 Gemeinde Blazejowice (20
Änderungen), K. 39 Gemeinde Landzimierz (54 Änderungen). AP Opole, StP.
Koźle, Sign. 183.
43
Informator o podstawach prawno-politycznych rehabilitacji i weryfikacji na
Śląsku, PZZ Okręg Śląski, Katowice 1945.
18
Małgorzata Świder
Die Durchführung der Entgermanisierung der Namen der Kinder
eignete sich sehr, als eine Aktion, die die Kinder und Erzieher
einbeziehen konnte. Die Lehrer wurden verpflichtet, bei der
Repolonisierung mitzuwirken, besonders bei der Elimination der
deutschen Vor- und Nachnamen. Das Wojewodschaftsamt und die
Starosteien erwarteten von den Schulen eine lebhafte Beteiligung an
den vom Wojewoden eingeleiteten Maßnahmen. Die Schulbehörde im
Bezirk Schlesien und ihr Leiter, der Kurator Jerzy Borek, verpflichtete
im Oktober 1947 alle Lehrer, über die Entgermanisierung der Namen
aller Kinder und ihrer Eltern während eines organisierten Treffens in
der Schule zu informieren. Dabei sollten die versammelten Eltern über
die bedingungslose Notwendigkeit der Änderung der deutschen
Namen belehrt werden. Notfalls durften sie den Eltern mit einer
„Entziehung der staatsbürgerlichen Rechte“ drohen.44 Die
Aufforderungen zur Mitarbeit der Erzieher wurden von einer breit
angelegten Propaganda, die in der Presse von den Pädagogen eine
kämpferische Einstellung forderte, begleitet.45 Die Lehrer mußten mit
den Eltern der Kinder mit deutschen Vornamen ein Gespräch „vom
Herz führen“ (d.h. ein intensives persönliches Gespräch) und erklären,
daß es in Schlesien niemals deutsche Namen gegeben habe. Deutsche
Vornamen wurden als „hitlerischer Einfall“ bezeichnet, den man auf
44
Ibidem. Nach den Empfehlungen des Kurators sollten die von den Kindern
mitgebrachten Gegenstände deutscher Provenienz wie: Bilder, Schriftstücke,
Zeichnungen und Bücher in der Schule gesammelt werden, wo sie unter
Umständen auch vernichtet würden. Die Kinder sollten auch für die deutschen
Hinterlassenschaften in Form von deutschen Inschriften sensibilisiert werden.
45
„Gazeta Robotnicza” (GR) Nr. 244 vom 6.09.1947, Do walki z niemczyzną
występują kierownicy szkół; „Trybuna Robotnicza” (TR) 290 vom 21.10.1947,
Kobiety śląskie i młodzież przystępują do walki z niemczyzną. Wiec
społeczno-polityczny w Katowicach poświęcony walce z resztkami
niemczyzny na Ziemi Śląskiej; TR Nr. 251 vom 12.09.1947, Do walki z
resztkami niemczyzny wzywa nauczycieli wojewoda gen. A. Zawadzki na
zjeżdzie ZNP w Kat; Dz. Zach. Nr. 248 vom 10.09.1947, Walka z resztkami
niemczyzny obowiązuje każdego uświadomionego obywatela; GR Nr. 248 vom
10.09.1947, Bojowa postawa nauczycielstwa winna dopomóc w walce z
niemczyzną. Apel wojewody gen. A. Zawadzkiego do kierownikw szkół; GR
Nr. 244 vom 6. 09.1947, Do walki z niemczyzną występują kierownicy szkół.
Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach 1945
19
dem schnellsten Wege ausrotten müsse, damit sich die Kinder für
solche Namen nicht zu schämen brauchten.46
Zur berühmtesten Repolonisierungsaktion im Schulbereich, die in der
Presse ein breites Echo fand, gehörte die Initiative des Gymnasiums
für Mädchen in Opole.47 In der Schulaula versammelte man alle
Schülerinnen und ihre Eltern, die deutsche Vor- oder Nachnamen
trugen. Während des Treffens wurde an die Versammelten und ihre
nationalen Gefühle appelliert. Dabei rief man dazu auf, die
„äußerliche deutsche Kruste“ in Form eines Namens zu entfernen.
Neben den ideologischen Aufrufen gab auch ein Starosteibeamter aus
Opole namens Cieślik praktische Informationen zur Namensänderung.
Über dieses Treffen berichtete im November 1947 der „Dziennik
Zachodni“. Eine Kopie dieses Berichtes schickte das
Wojewodschaftsamt an alle Starosteien und Stadtverwaltungen als
Vorbild für die allgemeine Administration.48 Die Schulen und die
Lehrer engagierten sich nachdrücklich, wie dies aus den
Rechenschaftsberichten der Starosteien hervorgeht, und zeigten sogar
eine weitgehende Eigeninitiative.49 So beklagten manche Eltern die
Willkür der Lehrer, die unaufgefordert und nach eigenem Ermessen
die Vor- und Nachnamen der Schüler änderten.50 Diese häufig
46
NO Nr. 36 vom 5.09.1948, An alle Schuldirektoren, Gemeindevorsteher,
Bürgermeister
47
Die Idee dazu könnte während eines Treffens der Inspektoren und Leiter der
Schulen, das am 9.09.1947 in Kattowitz veranstaltet wurde, geboren sein. Diese
Zusammenkunft fand unter dem Motto „Zum Kampf mit dem Deutschtum“
statt. GR Nr. 244 vom 6.09.1947, Do walki z niemczyzną występują
kierownicy szkół; Dieses Zusammentreffen war ein Bestandteil einer
breitangelegten Maßnahme, die durch die mittleren Schulen organisiert wurde.
48
Dz. Zach Nr. 302 vom 4.11.1947, Akcja polszczenia imion i nazwisk na terenie
Opola; Pismo UW Wydz. społ-polityczny z 1.12.1947 w sprawie polszczenie
imion i nazwisk.
49
Im März 1948 berichtete die Gemeinde Twarog, daß besonders die Lehrer sich
an der Aktion der Namensänderung beteiligten. AP Gl. StP Gliwice Sign. 213,
K. 90. Gemeinde Twarog an die Starostei in Gleiwitz am 24.03.1948.
50
Sogar der Kindergarten war von dem Aktionismus nicht ausgenommen. Aus
dem Landkreis Cosel wurde berichtet, daß die Erzieherinnen im Kindergarten
Druck auf ein Kind wegen seines Namens ausübten. AP Op. StP Kozle, Sign.
20
Małgorzata Świder
ausgeübte Eigenmächtigkeit war jedoch mit den innerdienstlichen
Richtlinien der Schulbehörde in der Wojewodschaft und der deutlich
ausgesprochenen Erwartung der allgemeinen Administration
konform.51
Die Idee, die Schule in die Repolonisierung und Polonisierung von
Namen einzubeziehen, beschränkte sich nicht nur auf das
Wojewodschaftsamt in Katowice. Auch der Allensteiner Wojewode
stellte im Jahre 1948 einen Entwurf zur Durchführung der Änderung
deutscher Namen von Kindern mit Hilfe der Schule vor.52 Vor allem
sollte, nach Meinung des Wojewoden, die Aktion diskret durchgeführt
werden, um den Widerstand der Kinder und der Eltern nicht zu
wecken. Exemplarisch sollte man bei festlichen Gelegenheiten einem
Kind in Anwesenheit seiner Freunde einen polnischen Vornamen
geben und diesen dann solange benutzen, bis sich das Kind an ihn
gewöhnt habe. Ein Idealfall wäre es, wenn bei dieser Initiative ein
Schulfreund dem Kind den Namen zuteilen würde. Die Aktion sollte,
ohne Rücksicht auf deren Dauer, bis zum Schluß durchgeführt
werden. Nach Ansicht des Wojewoden dürfe man jedoch weder
Repressionen noch behördlichen Druck ausüben.
Unter Mitwirkung der Behörden und staatlichen Unternehmen wurden
von den politischen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen
massive Aufklärungskampagnen durchgeführt und die Autochthonen
mit deutschklingenden Namen unmittelbar zu deren Änderung oder
Abänderung aufgefordert. Waren die Betroffenen mit einer
Veränderung ihrer Namen nicht einverstanden, hatten sie verschiedene
Nachteile zu gewärtigen: ihre Kinder wurden nicht in höhere Schulen
aufgenommen, ihre Angelegenheiten in den Behörden wurden nicht
406, K. 25 Bericht vom 1949. In manchen Schulen trugen Kinder ohne
rechtliche Grundlage geänderte Namen. Z.B. hieß Zigneta Mantke in der
Schule Mankowska, was nur auf dem Willen der Lehrerin basierte. AP Op StP
Glupczyce, Sign. 166. Aussage Frau Edyta Mantke vom 19.05.1950.
51
AP Kat KOS Śl Sign. 39, K. 5. Schreiben des Kurators des schlesische Schulkreises in Kattowitz. Die Anordnung stimmte mit der Anordnung Nr. 2
vom 20.01.1948 überein.
52
AAN War. MZO Sign. 68, K.140. Rundschreiben des Wojewoden von Allenstein Nr. 9/4 vom 1948.
Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach 1945
21
erledigt, sie bekamen weder einen Arbeitsplatz noch
Lebensmittelkarten. Trotzdem weigerten sich viele Menschen, ihre
Namen zu ändern. Dies betraf nicht nur die schlesische Bevölkerung,
sondern auch die Zugezogenen. Sie waren in gleichen Maßen den
Repressalien unterworfen.
Schule als Umerziehungsort
In der Nachkriegszeit erfüllten die Schulen auch die Funktion von
Repolonisierungszentren, die sowohl für Jugendliche als auch für
Erwachsene bestimmt waren. In ihnen wurden Repolonisierungskurse
organisiert, deren Ziel es war, allen denen Polnisch beizubringen, die
schlesischen Dialekt sprachen, sowie denen, die sich nicht der
polnischen Sprache bedienten, aufgrund ihres bisherigen Lebens, z.B.
Rückwanderer aus Westeuropa. Ziel der Kurse war Kultur- und
Bildungsarbeit, aber vor allem politische Erziehungsarbeit, die in
Form von "Repolonisierung der örtlichen Bevölkerung sowie der
Aufzeigung der polnischen Tradition dieser Gebiete und der Werte
dieser Menschen für Zuwanderer aus anderen Gebieten" umzusetzen
war.53 Die Kurse richteten sich an die verhältnismäßig große Gruppe
"der örtlichen Bevölkerung, deren nationales Bewußtsein im hohen
Grade geschwächt wurde" und die Verbindung zur polnischen Kultur
durfte sich nicht auf die "Kenntnis des schlesischen Dialekts", des
"Schlesischen" und von Liedern beschränken. Davon, daß diesen
Kursen von Beginn der polnischen Verwaltung an eine große
Bedeutung zugeschrieben wurde, kann die Tatsache zeugen, daß
bereits im Amtsblatt vom 1. April 1945 die Grundsätze für ihre
Organisation besprochen wurden. Die Personen, die in den Jahren
1946-1949 in die Repolonisierungskurse aufgenommen wurden,
legten einen Schwur mit folgendem Inhalt ab: „Wir schwören, daß wir
den teuersten von unseren Vätern übermittelten Schatz, die polnische
53
Zit. nach P. Skarbek, Rozwój szkolnictwa szkół szczebli średnich na Ziemi
Prudnickiej w latach 1945-1970 [Die Entwicklung des Schulwesens der
weiterführenden Schulen im Gebiet Prudnik in den Jahren 1945-1970], Prudnik
1986, S. 91.
22
Małgorzata Świder
Sprache (…) von preußischen Einflüssen reinigen”54. Die Aktion zur
Organisation von Repolonisierungskursen im Oppelner Schlesien
dauerte von 1945 bis 1951 und umfasste etwa 50.000 Einwohner. Die
größten Einrichtungen mit Repolonisierungscharakter in diesem
Gebiet waren das Staatliche Repolonisierungs-Gymnasium und
Lyzeum in Oppeln. Jährlich machten hier 200-300 Schüler ihren
Abschluss. In einigen Orten wurden Repolonisierungskurse nicht nur
in den Schulen, sondern auch in Betrieben organisiert55.
Im Jahre 1945 gab das Kuratorium für den Schulbezirk Schlesien in
Kattowitz die Broschüre "Rahmenprogramm der Kurse für
Erwachsene und nicht mehr schulpflichtige Jugendliche" heraus, das
die Einführung eines dreistufigen Polnisch-Unterrichts vorsah. Die
erste Stufe sah Übungen im Lesen, Sprechen und Schreiben,
Rechtschreib- und Grammatikübungen vor. Auf der zweiten Stufe
wurden die vorhandenen Kenntnisse vertieft und die Aussprache
geübt. Die dritte Stufe war für fortgeschrittene Kursteilnehmer
bestimmt und umfasste alle Elemente der beiden vorhergehenden
Kurse auf erweitertem Niveau. Neben dem Unterricht der polnischen
Sprache sah das Programm auch „Kenntnisse über das moderne
Polen“ vor. Dieses Fach umfasste folgende Kapitel: Polen in den
neuen Grenzen, worauf unsere Rechte auf Oder und Lausitzer Neiße
beruhen, die geographischen Landschaften Polens, der wirtschaftliche
und soziale Umbau Polens, Polen im alten und neuen politischen
System56.
Im Jahre 1947 wurden auf dem Gebiet des Oppelner Schlesiens mit
Einverständnis des Schulkuratoriums Schlesien in Kattowitz
Eingangsklassen geschaffen, die Sammelklassen zur Angleichung des
Wissensstands von Schülern waren, die durch den Krieg
Bildungslücken hat. Sie wurden in den Gebieten eingerichtet, in denen
autochthone Bevölkerung überwog. In diesen Klassen wurde die
Stundenzahl für den Polnisch-Unterricht auf 6 Wochenstunden erhöht,
dann auf 7 Stunden, gleichzeitig mußte sich die Schule aktiv an den
54
Ebenda, S. 92.
Ebenda, S. 93.
56
Ebenda, S. 95.
55
Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach 1945
23
Maßnahmen der öffentlichen Verwaltung bei der Durchführung einer
breitgefaßten Aktion zur Entgermanisierung beteiligen. Beispielsweise
wurden Kinder zur Durchführung von Maßnahmen ausgenutzt, vor
denen Erwachsene Abstand gehalten hatten, z. B. die Beseitigung
deutscher Aufschriften auf Friedhöfen.
Diese Aktion gehörte zu den schwierigsten der Entgermanisierung und
führte zu zahlreichen Konflikten. Besonders umstritten war die
Entfernung deutscher Inschriften von den Friedhöfen - dabei ging es
nicht nur um deutsche Formulierungen, sondern auch um deutsche
Namen. Die Mehrzahl der Priester widersetzte sich der Aktion mit der
Begründung: „Eine Namensänderung verstorbener Menschen ist
schwer durchzuführen. (...) Die Kirche möchte an der Aktion nicht
teilnehmen, damit die Ruhe der Toten nicht gestört wird.“57 In Stary
Paczków rief der Dekan die ihm unterstellten Priester zu sich und
verbot die Teilnahme an dieser Aktion. Die Schulkinder, die bei der
Aktion helfen wollten, wurden des Friedhofs verwiesen, weil sie die
Inschriften angeblich auf barbarische Weise entfernt hätten.58
Die Teilnahme der Kinder an solcher Aktionen war von den Lehrer
gesteuert und gefordert und resultierte oft aus ihrer persönlichen
Überzeugung. Beispielsweise, sprach sich der Leiter einer Schule aus
dem Kreis Koźle in einem an den Wojewoden adressierten Brief von
September 1947 für die Beschleunigung der Aktion der
Entgermanisierung aus, „(...) weil jedes Anzeichen deutscher Arbeit
mit einem doppelten Kampf gegen die deutschen Spuren beantwortet
werden muß.“59. In dieser Zeit ist zu Neubelebung der deutschen
Sprache gekommen, daß man mit der Veränderung der
außenpolitischen Lage in Verbindung setzte.
57
AP Op. StP., Strzelce Opolskie, Sign. 115, K. 29. Protokoll vom 19.05.1948
über Entfernung der deutschen Spuren am 13.05.1948 in Leśnicy, Bericht des
Priesters von Leśnicy.
58
AP Kat. UWŚl/Sp-Pol., Sign. 554, K. 5. Rechenschaftsbericht der Wojewodschaftskontrollkommission zur Entfernung der deutschen Spuren. Bericht über
die Kontrolle im Landkreis Neiße vom 25.10-31.10.1947; siehe auch AP Kat.
UWŚl/Sp-Pol., Sign. 554, K.28. Kopie des Protokolls der Gemeinde Stary
Paczków vom 27.10.1947.
59
AP Kat. UWŚl/Sp-Pol. Sign. 550, K. 107.
24
Małgorzata Świder
Die Schule wurde auch Erziehungsort für die Kinder von polnischen
Repatrianten, die aus dem Osten gekommen waren. Im Laufe der Zeit
konnte man bei dieser Bevölkerungsgruppe Unzufriedenheit erkennen,
die vor allem aus fehlender Verpflegung und den durchgeführten
politischen Veränderungen resultierten. Sie selbst gaben im Übrigen
oft Anlass zu ihrer Kritik, unter anderem durch schlechtes
Wirtschaften oder auch Konflikte mit der autochthonen Bevölkerung,
deren ungelöste Eigentumsfragen zugrunde lagen. Ein wichtiges
Element, das das Verhältnis der Behörden zu dieser
Bevölkerungsgruppe bildete, die die Westgebiete bewohnten, war
deren offene Kritik an den Maßnahmen der Regierung. Auf die
Effekte musste man nicht lange warten.
In „Dziennik Ludowy“ vom 11. Dezember 1946, wurde in einem
Artikel über Raubbau in den Westgebieten behauptet, daß die
Repatriierten „die Westgebiete verwüsten und aus sich selbst
Vertriebene aus den Buggebieten machen, was Polen in den Augen
des Auslands kompromittiert, worauf das Ausland nur wartet.“ Nach
kurzer Analyse schlußfolgerte man:
- Niemand wurde aus den Buggebieten vertrieben. Alle, die hierher
gekommen sind, taten dies, weil sie der obligatorischen
Kollektivwirtschaft in der Sowjetunion mißtrauten.
- Die Ostbauern waren nie in der Volksbewegung aktiv und wurden
dank ihrer Passivität sie bei den Wahlen zu Unterstützern der
„Sanacja“.
- Diese Menschen möchten eine Kontinuität der faschistischen Politik
vor 1939 im heutigen demokratischen Polen sehen.
- Es wurden natürlich auch Mittel gefunden, um diese Situation und
die Nörgler unter Kontrolle zu bekommen: Armee, Schule und diverse
Strafmaßnahmen.
Wie weit man sich der Schule bediente, um eine neue Realität zu
schaffen, davon zeugt die Tatsache, daß am 1. Juni 1948 gemäß der
Verordnung des Bildungsministeriums gesellschaftlich-pädagogische
Auswahlkommissionen zur Aufnahme von Jugendlichen auf
Oberschulen einberufen wurden. Zur Kommission gehörten: der
Schuldirektor,
Vertreter
des
Pädagogischen
Rats,
ein
Schule und Jugend im Oppelner Schlesien nach 1945
25
gesellschaftlicher Vertreter, der von den Verwaltungsorganen
delegiert wurde. Die Zusammensetzung der Kommission wurde vom
Kuratorium bestätigt, ihre Aufgabe war die Zulassung der Schüler zu
den Oberschulen. Grundlage für die Aufnahme war, neben der
Vorbildung der Kandidaten, die gesellschaftliche Herkunft. Ziel dieses
Verfahrens war es, Kindern aus Arbeiter- und Bauernfamilien eine
weiterführende Schulbildung zu ermöglichen und unerwünschte
Gruppen zu eliminieren. Dies bezog sich in erster Linie auf Kinder aus
Familien, die „feindlich gegenüber der neuen politischen Realität“
waren. Dank dieser Art von Maßnahmen wollte man die Grundlage
für die Entstehung eines „Kaders der Volksintelligenz“ schaffen, „die
sich mit der neuen gesellschaftlich-politischen Realität identifiziert.“60
Schluss
Die Schule in der Nachkriegszeit hat Erziehungs- und
Bildungspflichten übernommen. Nach den Kriegsjahren mussten
normal funktionierende Institutionen geschaffen werden, die das
Gefühl von Stabilität und Normalität gaben. In dieser Zeit hatte die
Schule mit vielen Problemen zu kämpfen, angefangen bei Problemen
mit Räumlichkeiten und Materialien über fehlende Lehrbücher bis zur
nicht ausreichenden Zahl an Lehrkräften. Diese ohnehin ernsten
Probleme begleiteten soziale Probleme, die sich in den schulischen
Beziehungen widerspiegelten. Grundlegend war das Problem der
Konflikte zwischen den Schülergruppen, die aus ihrer Herkunft
resultierten. Dazu kamen Konflikte vor politischem Hintergrund, die
die Haltung der Schüler beeinflussten, wie auch Erziehungsprobleme,
die aufgrund der Kriegserlebnisse der Kinder und Jugendlichen
entstanden waren. Auch wenn zu Propagandazwecken über die
Erziehungs- und Integrationserfolge unter den Jugendlichen der
Westgebiete geschrieben wurde, kam man nicht umhin, die Probleme
zu bemerken, die für aufmerksame Beobachter des Lebens im
Oppelner Schlesien sichtbar waren. "... noch während des Kriegs habe
B. Snoch, Szkolnictwo w województwie śląsko-dąbrowskim 1945-1950 [Das
Schulwesen in der Wojewodschaft Schlesien-Dombrowa]. Częstochowa 1988,
S. 113.
26
Małgorzata Świder
ich an Hitler geglaubt, lange kam ich nicht damit zurecht, daß
Deutschland den Krieg verlieren wird, obwohl alles darauf hinwies,
erst nach dem Krieg wurden mir die Augen geöffnet. Ich bin in ein
Repolonisierungs-Lyzeum gekommen. Die Ideologie hatte sich in
dieser Zeit noch nicht herauskristallisiert. Mein Weg zu Polen und
zum Sozialismus war nicht einfach. Ich kann mich an die ersten Tage
in der Schule erinnern, ein Schüler aus meiner Klasse hat mich in der
Pause mit einem Messer angegriffen, weil ich kein Polnisch konnte.
Dies resultierte bei ihm aus der Lust, sich an den Deutschen zu
rächen, weil sie seinen Vater in einem deutschen Konzentrationslager
umgebracht hatten. Ich dachte, daß ich aus der Schule abhauen sollte.
Ein Lehrer, dem ich sehr dankbar bin, hat mich von diesem Schritt
abgehalten. Im Laufe der Zeit haben sich die Beziehungen zwischen
den Jugendlichen verbessert, und alle in der Klasse kamen gut
miteinander aus, unabhängig davon, welcher Herkunft jemand war. In
der Schule wurde uns beigebracht, fortschrittlich zu denken, polnisch
zu denken. Die Schule verlassen habe ich bereits als Pole, aufrechter
Patriot und Internationalist…”61 Alle Repolonisierungs- und
Polonisierungsmaßnahmen, die sowohl an Jugendliche als auch an
Erwachsene gerichtet waren, sollten helfen, eine einheitliche
polnische Bevölkerung in den Westgebieten zu schaffen. Trotz vieler
Maßnahmen, Aktionen, Appelle und Strafen, war die Bevölkerung,
die dieser Art von Maßnahmen unterzogen wurde, ihnen gegenüber
skeptisch, manchmal auch feindlich. Das betraf sowohl die örtliche
Bevölkerung (die Autochthonen) als auch die Ansiedler. Nach Jahren
des Überlebenskampfes während des Kriegs waren die Menschen
ermüdet von den neuen Verwaltungsmaßnahmen und politischen
Handlungen. Ihre Begründetheit und Effektivität war weit von den
Absichten entfernt und die übertriebene Propagandasprache war
damals gewiss genauso lächerlich und unproduktiv wie heute.
61
Zitiert nach T. Musioł, Einleitung, [in: ] Oświata na Opolszczyźnie w latach
1945-1959 [Bildung im Oppelner Land in den Jahren 1945-1959], Katowice
1961, S. 26
Stefan Troebst
Vorläufer der friedlichen Revolution 1989 in den
osteuropäischen Nachbarstaaten∗
Lassen Sie mich mit einer selbstkritischen Bemerkung beginnen: Dass
es riskant ist, zuerst einen Titel festzulegen und danach den entsprechenden Vortrag zu verfassen, ist ein Allgemeinplatz. Denn bevor
man den Text geschrieben hat, kann man ja eigentlich nicht wissen, ob
der Titel wirklich passt. Und in der Tat ist mir erst beim Schreiben
aufgegangen, dass in der Überschrift meines Vortrags – „Vorläufer
der friedlichen Revolution 1989 in den osteuropäischen Nachbarstaaten“ – gleich drei aus der Sicht des Zeithistorikers problematische
Vorab-Annahmen stecken. Nämlich
erstens, dass 1989 eine Revolution stattgefunden hat;
zweitens, dass diese friedlich war;
und drittens, dass es Ähnliches bereits vor 1989 im östlichen
Europa gegeben hat.
Die Punkte 1 und 2 sind schnell geklärt:
(Ad 1) In sämtlichen Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes
sowie den Nachfolgestaaten der Sowjetunion hat es im Zeitraum 1989 bis 1991 einen mehr oder weniger abrupten Regimewechsel gegeben, der teils von unten, teils von oben ausgelöst wurde. Der britische DDR- und Osteuropaexperte Timothy
Garton Ash hat dafür die Bezeichnung refolution (mit „f“) vorgeschlagen – also eine Kombination aus „Revolution“ und „Reform“. Symbol dafür ist der Runde Tisch, wie er im Februar
1989 in Polen „erfunden“ und anschließend nach Ungarn, in die
DDR, nach Bulgarien und andernorts exportiert wurde. Andere
Begriffe für diesen Vorgang sind „Wende“, „temporäre Macht∗
Vortrag im Rahmen der Europa von „Mehr Demokratie e. V. Sachsen“, Villa
Rosental, Leipzig, 4. Mai 2010.
2
Stefan Troebst
teilung“ oder „ausgehandelter Übergang“ – zugeschnitten auf
die ja ganz unterschiedlichen nationalen Verlaufsfälle.
(Ad 2) „Friedlich“ war dieser Übergang in den meisten dieser
Fälle, in Lettland, Litauen und Rumänien allerdings nicht. Hier
wurde seitens der kollabierenden Regime scharf geschossen,
und entsprechend gab es Tote. Im rumänischen Fall wurde
überdies der Diktator von einem militärischen Schnellgericht
abgeurteilt und durch Erschiessen hingerichtet – also ein deutlicher Unterschied etwa zum benachbarten Bulgarien oder zur
DDR.
Bei genauer Betrachtung trifft die Bezeichnung „friedliche Revolution“ eigentlich nur auf die DDR zu – nicht auf Polen: da war es eine
vorübergehende Teilung der Macht zwischen Kommunisten und Demokraten; nicht auf die Tschechoslowakei: da kam es zu einem Kollaps der Macht, so dass die dortige Bürgerbewegung sie nur noch aufzuheben brauchte; nicht auf Ungarn: denn da war vieles, was andernorts 1989 ins Rollen kam, schon in den Jahren davor auf dem Reformwege erfolgt; und auch nicht auf Bulgarien, wo eine bloße „Palastrevolte“ innerhalb der kommunistischen Partei stattfand.
Wie sieht es nun aber mit den „Vorläufern der friedlichen Revolution
1989“ im östlichen Europa aus? Ich könnte mir es jetzt leicht machen,
und die Etappen des Widerstandes gegen die Parteidiktatur sowjetischen Typs in chronologischer Reihenfolge aufzählen und sie dabei
sämtlich ausschließen:
Der 17. Juni 1953 war ein militärisch niedergeschlagener Aufstandsversuch, keine friedliche Revolution; die Revolution von
1956 in Ungarn war nicht friedlich;
der Prager Frühling 1968 war zwar friedlich, aber nicht revolutionär, sondern eine Reformbewegung aus der Staatspartei heraus;
die Streikbewegung in Polen 1970 und dann ab 1980/81 Solidarność zielten gleichfalls auf gewaltfreien und evolutionären
Regimewechsel;
Vorläufer der friedlichen Revolution 1989
3
und Gorbačëvs Programm von perestrojka, glasnost’ und – heute meist vergessen – uskorenie (Beschleunigung) war eine
schüchterne und zögerliche Reform von oben, definitiv keine
Revolution von unten.
Heißt das nun, dass die friedliche Revolution in der DDR keine Vorläufer in den osteuropäischen Nachbarstaaten gehabt hat? Natürlich
nicht! Vielmehr sind gleich zwei Entwicklungslinien auszumachen,
welche die Hegemonialmacht Sowjetunion und die anderen Warschauer Pakt-Staaten lange vor 1989 prägten, ja transformierten, und
die deutlich auf die DDR ausstrahlten. Das eine sind die bereits genannten Daten 1953, 1956, 1968, 1970 und 1980/81. Das andere ist
der Wandel der sowjetischen Hegemonieausübung, der mit den Epochenjahren 1956 (Entstalinisierung), 1968 (Einmarsch der Warschauer
Pakt-Truppen in die ČSSR) und 1989 (De facto-Aufgabe des sowjetischen Führungsanspruches, aber auch Absage jeglicher Hilfeleistung
gegenüber den eigenen Bündnispartnern) zu kennzeichnen ist. Das ist
der größere Rahmen, innerhalb dessen auf nationaler Ebene die genannten Machtproben zwischen Regime und Opposition zu sehen
sind.
Ich will diesen Wandel des sowjetischen Hegemoniemodells, der ja
die Arbeiterprotestbewegung in Polen im Sommer 1956 und den von
sowjetischen Truppen dann blutig niedergeschlagenen Aufstand im
Herbst in Ungarn 1956 erst möglich gemacht hat, in seinen Wirkungen kurz beschreiben: Nikita Chruščëv, so könnte man im Nachhinein
sagen, hat 1956 systemlogisch alles falsch gemacht, was er falsch machen konnte, indem ein funktionierendes hegemoniales System, nämlich den Stalinismus, durch einen Zick-Zack-Kurs aus dem Gleichgewicht brachte: Er hat mit seinem Entstalinisierungskurs zum einen das
1948 erfolgte Ausscheren des Jugoslawien Titos aus dem Ostblock im
Nachhinein legitimiert, zum anderen aber damit den 1960 erfolgten
Bruch mit Maos China herbeigeführt. Der polnischen Parteiführung
um Władysław Gomułka gestand er eine weitreichende Liberalisierung zu, während er im Falle Ungarns den Einsatz brutaler Gewalt anordnete. Damit verunsicherte er die KP-Führer in den Satellitenstaaten
hochgradig. Bestes Beispiel war die DDR, in der 1956 auf ein kurzfristiges, nach sowjetischem Vorbild angeordnetes ideologisches
4
Stefan Troebst
Tauwetter eine Periode des Neo-Stalinismus folgte. Und mit seiner
berühmten und zweifelsohne mutigen Entstalinisierungsrede vom
Frühjahr 1956, in der er etliche Massenverbrechen Stalins wie die Parteisäuberungen und den GULag beim Namen nannte, bewirkte
Chruščëv in der UdSSR selbst einen massiven Legitimitätsverlust der
Partei.
1956 hatte also eine doppelte Wirkung auf die DDR: Zum einen
brachte es im Innern so gut wie keine nachhaltige Veränderung – ganz
ähnlich wie übrigens in der benachbarten ČSSR. Zum anderen aber
strahlten die dramatischen Wirkungen dieses Epochenjahrs auf Polen
und Ungarn, in abgeschwächter Form auch auf Rumänien und Bulgarien, sowie natürlich auf die Sowjetunion selbst auch und gerade auf
die DDR aus. In der SED machte sich ein regelrechter Ungarn-Schock
bemerkbar, wohingegen Intellektuelle und Oppositionelle den Klimawandel im Nachbarstaat Polen, aber auch in der UdSSR mit Neid und
Bewunderung zur Kenntnis nahmen. In Polen, Rumänien und Bulgarien, aber auch in der UdSSR war nach 1956 nichts mehr wie zuvor.
Und in Ungarn, das zeigen die bis heute anhaltenden heftigen Konflikte dort über die „richtige“ Erinnerung, gilt unbestritten „1956“, nicht
„1989“, als wichtigste Wendemarke in der jüngsten Geschichte der
eigenen Nation. (Strittig ist „lediglich“ ob es sich um einen demokratischen Volksaufstand oder um eine faschistische Konterrevolution
handelte.) Meine These ist also, dass mit Blick auf Ostmitteleuropa, ja
sogar auf die Sowjetunion bzw. die Russländische Föderation „1989“
ohne „1956“ nicht denkbar ist. Insofern war „1956“ auch für die DDR
ein Wendepunkt, allerdings ein ambivalenter, der sowohl für den militärisch unterstrichenen Hegemonialanspruch der UdSSR – Stichwort:
Ungarn – als auch für von Moskau gebilligte ideologische Liberalisierung – Stichwort: Polen - stand.
Ganz ähnlich das Schicksalsjahr „1968“, also der „Prager Frühling“,
aber auch die Studentenbewegung in Frankreich, Westdeutschland
und andernorts – zwei Veränderungsprozesse, die ursächlich unverbunden waren, aber dennoch unmittelbare Berührungsflächen aufwiesen, so etwa die IX. Weltfestspiele der Jugend und Studenten im
Sommer 1968 in der bulgarischen Hauptstadt Sofija, bei denen es zu
einem intensiven gesamteuropäischen Ideentransfer (und zu zahlrei-
Vorläufer der friedlichen Revolution 1989
5
chen Zusammenstössen mit den bulgarischen Sicherheitsorganen)
kam. Und natürlich pilgerten bundesdeutsche und westeuropäische
Jugendliche, Studierende und Intellektuelle vor der Intervention der
Warschauer-Pakt-Truppen am 21. August in großer Zahl nach Prag,
wo sie – wie in Sofija – zahlreiche Altersgenossen aus der DDR trafen. Während aber im Westen „1968“ als Symbol gesellschaftlicher
Öffnung und Aufsprengung von Konventionen gilt, steht „1968“ im
Osten für die sogenannte Brežnev-Doktrin von der begrenzten Souveränität der sowjetischen Satellitenstaaten (sprich: Militärinvasion), für
die Restauration kommunistischer Parteiherrschaft in Form einer zynisch „normalizace“ – „Normalisierung“ - genannten Repressionswelle. Und, nicht zu vergessen, für die antisemitische Hetzkampagne der
polnischen Kommunisten, die zur fluchtartigen Auswanderung der
meisten der verbliebenen Juden Polens führte. Mit anderen Worten:
Die europäische Erinnerung am „1968“ ist eine geteilte, ja eine gegensätzliche – und das galt zumal für die DDR. „1968“ transportierte aber
noch eine andere Botschaft, nämlich die, dass die UdSSR ein Koloß
auf tönernen Füssen war. Seine Autorität war nur noch gering, konnte
er sie doch nur noch mit militärischen Mitteln geltend machen – was
ihn aber umso gefährlicher und unberechenbarer werden ließ.
Dies belegten vor allem die 1970er Jahre. Ende 1970 kam es zu einem
regelrechten Aufstand der Werftarbeiter in Danzig, Gdingen und Stettin, den 45 Arbeiter mit dem Tode und Parteichef Gomułka mit dem
Rücktritt bezahlen mussten. Das sowjetische Herrschaftsmodell stieß
allmählich an seine Grenzen: Gesellschaftlicher Protest war nur noch
mit Gewalt einzudämmen – entweder durch die eigene Sondermiliz
oder durch sowjetische Truppen. Auch außerhalb des Bündnisgebietes
verfiel das Ansehen Moskau: In Afghanistan hielten ab 1979 wenige
tausend Mudschaheddin-Kämpfer bis zu 115.000 sowjetische Truppen
in Schach, ja dezimierten sie.
Dass der Teilerfolg von Solidarność, wie er im Danziger Abkommen
mit der Regierung vom August 1980 festgelegt wurde, in Wirklichkeit
der Durchbruch demokratischer Oppositionsbewegungen im gesamten
Warschauer Pakt-Bereich war, zeigte nicht nur das jetzt geschmiedete
Bündnis von Arbeiterschaft und Intelligenz sowie die hilflose Reaktion des nun kopflosen Regimes. Ich meine natürlich die Ausrufung des
6
Stefan Troebst
Kriegsrechts in Polen vom Dezember 1981, welche der zum Parteichef gemachte General Wojciech Jaruzelski persönlich vollzog. Exakt
ein Jahr zuvor war es zu einem wesentlich symbolträchtigeren und
folgenreicheren Akt gekommen, nämlich zur Errichtung des monumentalen, 42 Meter hohen Denkmals für die 1970 von der Miliz ermordeten Werftarbeiter vor der Danziger Lenin-Werft. Dem hatten die
kommunistischen Machthaber in den 21 Punkten vom August 1980
zähneknirschend zustimmen müssen. (Sie kennen vielleicht das Foto,
auf dem Lech Wałęsa vor einer Lenin-Statue mit einem übergroßen
Kugelschreiber, auf dem die Madonna von Tschenstochau zu erkennen ist, das Abkommen unterschreibt.) Zum einen wurde mit dem
Danziger Denkmal, wie es hieß, „das Blutopfer an der Ostseeküste“
von 1970 öffentlich als heroische Tat gewürdigt, und zum anderen
war damit das Deutungsmonopol der Partei in für alle sichtbarer Weise gebrochen. Die von Danzig ausgehende Botschaft an alle Oppositionsbewegungen im sowjetischen Machtbereich lautete also: Es ist
möglich, einen politischen Gegenentwurf schrittweise durchzusetzen
und symbolische Etappensiege zu erringen. Die Reaktion in der DDR
war Entsetzen in SED, FDGB und MfS und ungläubiges Staunen in
der rudimentären Bürgerbewegung. Nicht zufällig kam ja damals die
Parole auf: „Danzig brennt, Leipzig pennt!“
Aus der Perspektive der DDR-Machthaber waren aber genau so bedenklich wie die offenen Oppositions- und Dissidentenbewegungen,
also Solidarność in Polen und, weniger zahlreich, Charta 77 in der
ČSSR, die weniger spektakulären Veränderungen der anderen staatssozialistischen Regime. Dies galt für das in bizarren Nationalismus
abdriftende Rumänien Nicolae Ceauşescus ebenso wie für das aus
Ostberliner Sicht erschreckend liberale Ungarn János Kádárs, ja selbst
für das Bulgarien des moskautreuen Todor Živkov. Und die sowjetische Perestrojka löste dann endgültig eine Belagerungspsychose der
SED-Gerontokratie aus.
Überspitzt formuliert könnte man sagen, dass die Wirkung der Oppositionsbewegungen in Ostmitteleuropa auf die Akteure der friedlichen
Revolution in der DDR lediglich eine mittelbare war. Die letztgenannten wurden von den erstgenannten nur indirekt, kaum direkt, beeinflusst. Dass seit Februar 1989 in Warschau ein Runder Tisch stand, es
Vorläufer der friedlichen Revolution 1989
7
im Juni in Polen halbfreie Wahlen gab und im August der Sejm den
oppositionellen Demokraten und Solidarność-Aktivisten Tadeusz Mazowiecki zum polnischen Ministerpräsidenten wählte, realisierten nur
wenige DDR-Bürger - und für die meisten Bürgerrechtler blickten besorgt nach China, wo es am 4. Juni auf dem Pekinger Tian’anmenPlatz zu einem Massaker von Sicherheitskräften an demonstrierenden
Studenten kam – ein Verbrechen, das ein SED-Politbüromitglied seinerzeit als - Zitat: - „das Wiederherstellen der Ordnung“ begrüßte.
Entscheidend war vielmehr die von Solidarność, aber auch von
Gorbačëv ausgelöste Panikreaktion der SED, wodurch die Schwäche
der Partei nicht nur den Bürgerrechtlern, sondern großen Teilen der
DDR-Bevölkerung offenkundig wurde. Das könnte man auf die Formel bringen: „Der Kaiser ist nackt - und er hat außerdem keinen ‚großen Bruder’ mehr!“ Entsprechend verringerte sich das politische Einschüchterungspotenzial der Kommunisten, aber auch das ganz konkrete von Volkspolizei, Staatssicherheit, Betriebskampfgruppen und Nationaler Volksarmee.
Ich will damit in keiner Weise die vielfältigen Kontakte und Verbindungen herunterspielen, die Bürgerrechtler, Kirchenvertreter, Umweltaktivisten und andere in der DDR zu Gleichgesinnten in Polen,
der ČSSR, Ungarn und andernorts hatten. Teilweise sind ja sogar Solidarność-Aufrufe in der DDR gedruckt worden. Aber eine unmittelbare Querverbindung, einen direkten Draht, wie er etwa zwischen Solidarność und Charta 77 bestand, hat es in die DDR nicht gegeben.
Insofern fällt mein Resümee vorsichtig aus: „Vorläufer der friedlichen
Revolution 1989 in den osteuropäischen Nachbarstaaten“ hat es gegeben, natürlich, aber sie haben die Akteure der friedlichen Revolution
in der DDR im Jahr 1989 im Konkreten kaum beeinflusst. Auf den
Verlauf der Ereignisse haben sie aber dennoch bedeutenden Einfluß
genommen, indem sie die Machtposition der SED, wie gezeigt, massiv
geschwächt haben. Durch das Prisma von „1989“ gesehen wird überdies deutlich, dass die DDR – wie bereits Stalin betont hat – keine
vollwertige Volksdemokratie wie etwa Ungarn oder Rumänien, sondern eine sowjetische Kreation und somit viel stärker von der UdSSR
abhängig war. Während in Polen die Kommunisten der durch lange
Jahre des Kampfes gestählten und mitgliederstarken Solidarność 1989
8
Stefan Troebst
noch eine Machtteilung aufzwingen konnten und in Bulgarien die
„Wende“ gar eine rein innerparteiliche Angelegenheit war, wurden die
von Moskau abgeschriebene SED von einer friedlichen Protestbewegung binnen kurzem in die Knie gezwungen und anschließend abgewählt. Bleibt die schwer zu beantwortenden und damit weiter hin
spannende Frage, was mit Blick auf die DDR im Jahr 1989 wichtiger
war – die Paralyse der sowjetischen Führungspartei oder der Aufstieg
von Solidarność zur Regierungspartei im Nachbarstaat Polen.
Jördis Winkler
Ausgewählte Aspekte staatlicher Sprachenpolitik
am Beispiel der Republik Burjatien in Russland
1.
Einleitung
Ein Hauptanliegen moderner Nationen sollte die Wahrung der verschiedenen, auf ihrem Territorium lebenden Volks- und
Sprachgruppen sein. Wie die einzelnen Staaten ihre Minderheitenund Sprachenpolitik – und damit das Verhältnis zwischen den verschiedenen Sprachen – gestalten, hat dabei maßgeblichen Einfluss
auch auf deren Integrationsverlauf. Staatliche Sprachenpolitik gestaltet sich im Spannungsverhältnis von Globalisierung auf der einen und
der Besinnung auf ethnische und regionale Faktoren auf der anderen
Seite. Harald Haarmann (1988) umfasst mit dem Begriff Sprachenpolitik die Sprachsituation in den heutigen Staaten der Welt, die in aller
Regel als multilingual bezeichnet werden kann. Sprachenpolitik bezieht sich somit auf das Verhältnis zwischen verschiedenen Sprachen
sowie auf die Problematik, mehrere in einem Staat gesprochene Sprachen, besonders in multilingualen Staaten, in ein Gleichgewicht zu
bringen. Ulrich Ammon geht davon aus, dass streng genommen „alle
Staaten (oder sogar alle dazu fähigen Gemeinwesen) Sprachenpolitik
[machen], z.B. indem sie entscheiden, in welcher Sprache sie kommunizieren, welche sie in ihren Bildungsinstitutionen lernen lassen usw.“
(Ammon 2000: 654). Eine große Rolle spielt der Status einer Sprache1
und somit die rechtliche Stellung der jeweiligen Sprache im sozialen
System, die durch die Verfassung oder andere gesetzgeberische Akte
deklariert und gefestigt wurde. Zudem treffen in der Sprachenfrage
1
Dabei werden insbesondere Staats- und Amtssprachen als auch Titularsprachen
voneinander unterschieden. Unter dem Begriff der Titularsprache ist die Sprache
der namensgebenden Ethnie des jeweiligen Föderationssubjektes der Föderation
Russland zu verstehen. So ist zum Beispiel das Burjatische die Titularsprache
der Republik Burjatien. Einige Titularspra chen sind Staatssprachen (z.B. das
Tatarische, Burjatische), andere Titularsprachen sind es nicht (z.B. die Sprache
der Komi-Permjaken, Korjaken) (s. dazu auch Chubrikov 2003: 11f.).
Jördis Winkler
2
unterschiedlichste Interessen aufeinander: Auf der einen Seite haben
Regierungen „Interesse an der Einheit des staatlichen Territoriums, an
politischer Stabilität und an der Administrierbarkeit des Staates. Der
Gebrauch von nur einer Sprache beziehungsweise möglichst wenigen
Sprachen im öffentlichen Bereich erleichtert die Kosten von Exekutive, Jurisdiktion und Legislative.“ (Köhler 2005: 1) Auf der anderen
Seite stellt die gemeinsame Sprache in vielen Fällen einen wesentlichen Faktor der Eigendefinition eines Volkes dar: „In der Position als
Minderheit möchten Völker ihre kulturelle und sprachliche Identität
bewahren.“ (ebd.) Aus dem letztgenannten Gedankengang lässt sich
ableiten, dass die Verwendung einer Sprache zu den Grundrechten
eines jeden Menschen gehört, da sie ein wesentlicher Bestandteil der
eigenen Identität ist. Umgekehrt ausgedrückt bedeutet dies, dass ein
Verbot oder der Untergang einer Sprache ihren Sprechern die Möglichkeit nimmt, einen Teil ihrer Individualität im Alltag zu
verwirklichen.
Ebenso wie die Mehrheit der Republiken Russlands2 hat auch Burjatien ein Sprachengesetz zum Schutz und Erhalt der auf dem
Territorium der Republik gesprochenen Sprachen erlassen und die Titularsprache – das Burjatische – zur Staatssprache erklärt. Daneben
bietet die im Jahre 1994 angenommene Verfassung den Sprachen juristischen Schutz. Dessen ungeachtet nimmt die Autorin an, dass die
gesetzlichen Voraussetzungen kaum ausreichend sind, um die burjatische Sprache zu bewahren und zu fördern. Im weiteren Verlauf dieses
Beitrages werden am Beispiel der Republik Burjatien Aspekte der russischen bzw. burjatischen Sprachenpolitik herausgearbeitet und
aufgezeigt, ob diese der burjatischen Minderheit die Möglichkeit gibt,
ihre Sprache, Kultur und Tradition zu bewahren.
2
Der Begriff „Föderation Russland“ (exakter für „Russische Föderation“, RF)
sowie die gleichwertige Parallel- und Kurzform „Russland“ werden im Rahmen
dieser Arbeit synonym verwendet (vgl. Zikmund 2000). Zudem findet der
Begriff „Russländische Föderation“ Anwendung.
3
Ausgewählte Aspekte staatlicher Sprachenpolitik
2.
Russland als multiethnischer und polylingualer Staat
Russland ist nicht nur der flächengrößte Staat der Erde, sondern zugleich einer der größten Vielvölkerstaaten. Nach dem gegenwärtigen
Stand3 besteht Russland aus 83 Territorialeinheiten, auch Föderationssubjekte genannt:
• 21 Republiken (республика): diese besitzen eine eigene Verfassung und Gesetzgebung und haben innerhalb Russlands den
höchsten Grad an innerer Autonomie;
• 1 autonomes Gebiet (автономная область): das Jüdische Autonome Gebiet;
• 4 autonome Kreise (автономный округ);
• 9 Regionen (край);
• 46 Gebiete (область);
• 2 Städte von föderaler Bedeutung (город федерального
значения): Moskau und St. Petersburg.
Diese Föderationssubjekte wurden nach unterschiedlichen Kriterien
gebildet: „[…] die einen nach dem Kriterium der ethnischen Zusammensetzung, die anderen aufgrund rein administrativ-territorialer
Aspekte. So sind die Republiken, die autonomen Bezirke und das autonome Gebiet nach einer Ethnie benannt, die in diesem Territorium
lebt, also nach der sogenannten Titularnation, während die Regionen
und die Gebiete keine solche Titularnation besitzen.“ (Köhler 2005:
15f.) Allerdings bildet nur in wenigen Republiken und autonomen Bezirken die jeweilige Titularnation die Bevölkerungsmehrheit, häufig
stellt die russische Bevölkerung die Mehrheit. „Die eher polytechnische Zusammensetzung der Subjekte ist z.T. auch ein Ergebnis der
Grenzziehungen der Sowjetzeit, durch welche manche Volksgruppen
3
Die Angabe bezieht sich auf die aktuellen Online-Daten des Fischer
Weltalmanach. Durch
Zusammenlegung oder Umwandlung einzelner
Föderationssubjekte hat sich die Anzahl der
Föderationssubjekte
bereits
geändert (vgl. die Arbeit von Ulrike Köhler (2005), die noch
von 89 bzw. 88
Föderationssubjekten spricht) und wird dies sicherlich auch in Zukunft tun.
In der Verfassung wird dies in Artikel 65 Absatz 2 berücksichtigt.
Jördis Winkler
4
absichtlich oder willkürlich ‚auseinandergerissen’ wurden.“ (Pfeil
2006: 421)
Eine der ersten allgemeinen, die gesamte Bevölkerung Russlands erfassenden Erhebungen stellt die Volkszählung von 1897 dar. Seitdem
wurden weitere Volkszählungen durchgeführt, die erste auf dem Gebiet der Föderation Russland seit dem Zerfall der Sowjetunion stammt
aus dem Jahr 2002.4 Im Rahmen dieser Volkszählung konnte jeder
Erfasste seine Nationalität frei angeben, ohne aus einer vorgegebenen
Liste auswählen zu müssen. Es gab auch keine Kriterien, wie zum
Beispiel Muttersprache, verwandtschaftliche Verhältnisse oder Wohnort, nach denen die Nationalität zu bestimmen war: „Gefragt wurde
schlicht nach der nationalen Zugehörigkeit gemäß der eigenen Definition des Befragten.“ (Köhler 2005: 17). Während Russen knapp 80
Prozent der Bevölkerung5 in der Föderation Russland ausmachen, umfassen die übrigen knapp 20 Prozent weit über 170 Ethnien6 (s.
Graphik 1).
4
5
6
Die letzte Volkszählung fand im Oktober 2010 statt. Zu dieser Erhebung lagen
bei Erarbei tung dieses Beitrages (Stand: April 2011) jedoch nur erste Ergebnisse vor, so z.B. unter RI ANOVOSTI 2011.
Gemäß den Ergebnissen der Volkszählung von 2002 leben circa 116 Millionen
Russen in der Föderation Russland (entspricht 79,8 Prozent der Bevölkerung).
Darunter finden sich sowohl ethnische Minderheiten im engeren Sinne (das
heißt solche, die außerhalb Russlands kein eigenes „Mutterland“ haben) als
auch nationale Minderheiten, die ein einem anderen Staat die staatstragende
Mehrheit bilden, zum Beispiel Deutsche.
5
Ausgewählte Aspekte staatlicher Sprachenpolitik
Graphik 1: Bevölkerung Russlands (Volkszählung von 2002).
Tataren (5,5 Mio.)
Ukrainer (2,9 Mio.)
Baschkiren (1,7 Mio.)
Tschuwaschen (5,9 Mio.)
Tschetschenen (1,4 Mio.)
Armenier (1,1 Mio.)
Mordwinen (840.000)
Weißrussen (815.000)
Awaren (760.000)
Kasachen (655.000)
Udmurten (637.000)
Aserbaidschaner (622.000)
Mari (605.000)
Deutsche (597.000)
Kabardiner (520.000)
Osseten (515.000)
Darginer (510.000)
Burjaten (445.000) … und
andere
Quelle: eigene Darstellung
Große Minderheiten stellen, bedingt durch die Jahrhunderte währende
Verbindung in einem einzigen Staatswesen, die Angehörigen der ostslawischen Staaten Ukraine und Weißrussland sowie Angehörige
anderer GUS-Staaten dar. Aufgrund natürlichen Schwunds und vor
allem der Migration ins Ausland geht ihre Zahl jedoch stark zurück.
Ebenfalls zu den Minderheiten zählen die nichtslawischen Völker und
Jördis Winkler
6
kleinen Ethnien, die im Zuge der Expansion des Russischen Reiches
in seinen Staatsverband gelangt sind und ihre nationale Identität in
unterschiedlichem Maße bis heute bewahrt haben. Allein in Sibirien
leben über 40 verschiedene indigene Völker.
Gegenwärtige gesetzliche Grundlagen der Sprachenpolitik in Russland
Mit der Verfassung7 wurde in Russland erstmals der Terminus der flächendeckenden „Staatssprache“ eingeführt, zu der in Artikel 68
Absatz 1 der Verfassung die russische Sprache bestimmt ist. Das bedeutet grundsätzlich, dass die russische Sprache im Verkehr mit
Staatsorganen und Institutionen der öffentlichen Selbstverwaltung sowie im Zuge von Wahlen und vor Gericht verwendet wird. Allerdings
wird den Republiken im folgenden Absatz des gleichen Artikels das
Recht eingeräumt, weitere Staatssprachen einzuführen. Von dieser
Möglichkeit haben fast alle Republiken Gebrauch gemacht und die
Sprache(n) der jeweiligen Titularnation(en) als zweite Staatssprache
eingeführt.
In der Verfassung werden bestimmte Teilaspekte des Rechts auf Identität behandelt, so zum Beispiel in Artikel 26 das Recht auf ein freies
nationales Bekenntnis sowie auf den Gebrauch der Muttersprache und
die freie Sprachwahl in Erziehung, Unterricht und künstlerischer Tätigkeit. Gemäß Artikel 68 Absatz 3 der Verfassung garantiert
Russland allen Völkern der Russländischen Föderation das Recht auf
die Schaffung von Voraussetzungen für das Erlernen sowie die Förderung der Muttersprache. Unklar ist jedoch der konkrete Umfang dieses
Rechtes: aus der Bestimmung kann man nur eine allgemeine Förderungspflicht des russischen Staates und bestenfalls die Einrichtungen
eines minoritären Schulwesens ableiten. Konkrete finanzielle Pflichten zur Förderung und weiteren Entwicklung sind jedoch nirgends
festgelegt.
7
Soweit nicht anders gekennzeichnet, bezeichnet „Verfassung“ in den weiteren
Ausführungen die „Verfassung der Russländischen Föderation“ aus dem Jahr
1993 in der gelten den
Fassung.
7
Ausgewählte Aspekte staatlicher Sprachenpolitik
Die RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) hat
nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als letzte der 15 Unionsrepubliken am 25.10.1991 ein Sprachengesetz mit dem Titel „Über die
Sprachen der Völker der Russländischen Föderation“ verabschiedet.
Seither wurde es am 24.07.1998 und am 11.12.2002 geändert. In der
Einleitung des Gesetzes werden die Sprachen der Völker der Föderation Russland als nationales Gut Russlands bezeichnet und unter den
Schutz des Staates gestellt. In Kapitel 1 des Sprachengesetzes wird
den Föderationssubjekten das Recht zugestanden, eigene Sprachenregelungen zu treffen. Darüber hinaus ist in Artikel 1 Absatz 2
festgelegt, dass das Gesetz keine Vorschriften für den Gebrauch der
Sprachen im Bereich der zwischenmenschlichen und nichtoffiziellen
Beziehungen und bei der Tätigkeit gesellschaftlicher und religiöser
Organisationen aufstellt. – Das Gesetz „Über die Staatssprache der
Föderation Russland“ wurde 2005 verabschiedet und legt – entsprechend der Verfassung – in Artikel 1 Absatz 1 die russische Sprache als
Staatssprache der Föderation Russland fest. Ziel des Gesetzes ist es,
die Rolle des Russischen als Staatssprache der Föderation Russland zu
festigen und die Rechte der Bürger bezüglich der Verwendung des
Russischen als Staatssprache zu sichern.
Sprachengesetzgebung mit Bezug zum russischen Bildungssystem
Die wesentlichen Grundlagen des russischen Bildungssystems sind in
dem föderalen Gesetz „Über die Bildung“ (Bildungsgesetz) geregelt.
Darüber hinaus lassen sich weitere Bestimmungen in dem bereits erwähnten Sprachengesetz „Über die Sprachen der Völker der
Russischen Föderation“ sowie in den Sprachengesetzen und Programmen zur Entwicklung der Sprache, Kultur und Bildung in
einzelnen Republiken finden. In Artikel 9 Absatz 1 des Sprachengesetzes wird das in der Verfassung (Artikel 26) gewährleistete Recht
auf freie Wahl der Erziehungs- und Unterrichtssprache wiederholt.
Grundsätzlich wird das allgemeine Recht der Bürger Russlands auf
Bildung in der Muttersprache konkret auf die „grundlegende allgemeine Bildung“ und auf die tatsächlich im Bildungssystem
vorhandenen Möglichkeiten beschränkt (Art. 9 Abs. 2 Sprachengesetz,
Jördis Winkler
8
Art. 6 Abs. 2 Bildungsgesetz). Den Angehörigen kleiner Völker und
ethnischen Gruppen sowie den außerhalb ihres oder ohne eigenes Subjekt lebenden Bürgern wird gemäß Artikel 9 Absatz 5 des
Sprachengesetzes die Förderung des muttersprachlichen Unterrichts
zugestanden. Die Formulierung ist jedoch sehr allgemein gehalten und
stellt kaum einen realen Anspruch auf Förderung dar (vgl. Pfeil 2006:
428f.; Köhler 2005: 39ff.).
Laut dem zweiten Bericht der Regierung der Russischen Föderation
an den Europarat von 2005 sind insgesamt 75 Sprachen, darunter auch
Minderheitensprachen, Unterrichtsgegenstand von Lehrplänen (Russia
Report 2005: 30). Wie bereits erwähnt wurde, ist die freie Wahl der
Unterrichtssprache in der Verfassung Russlands garantiert. Gleichzeitig wird Russisch jedoch als Staatssprache und als
Kommunikationsbasis für die verschiedenen Ethnien festgeschrieben.
Damit ist dieses Recht durch verschiedene objektive und subjektive
Faktoren beeinträchtigt. Zu den objektiven Faktoren gehören vor allem finanzielle Schwierigkeiten, welche die Möglichkeiten der
Erweiterung der Verwendung der Sprachen im Bildungswesen stark
einschränken. Als subjektiver Faktor wird die Tatsache gesehen, dass
viele Eltern nicht daran interessiert sind, ihre Kinder in eine nationale
Schule zu schicken. Die in russischer Sprache erworbene Ausbildung
bietet größere soziale Perspektiven in Hinblick auf eine weitere Ausbildung oder Arbeitsplatzsuche (vgl. auch Köhler 2005: 41). Das
Recht auf freie Wahl der Bildungssprache durch die Eltern für ihre
Kinder ist damit de facto eingeschränkt. Auch der Beratende Ausschuss des Europarates empfiehlt in seiner Stellungnahme zur
Russischen Föderation hinsichtlich der Bildungssprache in der Praxis:
„The authorities are urged to establish detailed rules for implementing
the right to receive instruction in and of minority languages provided
in federal legislation. […] Further efforts are needed in order to continue expanding the scope and volume of such teaching, inter alia, by
clarifying responsibility for responding to demand and raising awareness of existing possibilities among children and parents.” (Opinion
on the RF 2006: 42)
Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass angesichts der großen Zahl an
Nationalitäten und Sprachen auf dem Territorium der Russländischen
9
Ausgewählte Aspekte staatlicher Sprachenpolitik
Föderation staatliche Sprachenpolitik nur dann effektiv sein kann,
wenn den Sprachen der Nationalitäten Russlands Schutz und Förderung in z.B. den oben umrissenen gesetzlichen Regelungen
zugesichert wird.
4.
Die burjatische Minderheit – Sprachenpolitik in Burjatien
Sibirien zählt zu den Gebieten großer ethnolinguistischer Heterogenität. Die Burjaten, deren Sprache der mongolischen Sprachfamilie
zugeordnet wird, sind das größte nichtrussische Volk Sibiriens. Ihre
Vorfahren hatten sich aus Stämmen herausgebildet, die nördlich der
Mongolei lebten. Sie siedelten zunächst verstreut und sprachen verschiedene Dialekte. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte festigten
sich jedoch ihre Beziehungen untereinander, so dass die Burjaten beim
Erscheinen der Russen in diesem Gebiet eine gewisse ethnische Geschlossenheit aufweisen konnten. Die Geschichte des burjatischen
Volkes zeigt deren lange traditionelle Bindung an ihr heutiges Siedlungsgebiet. Ebenso wie andere Völker Russlands vermischten sich
die Burjaten mit den russischen Siedlern. Dies führte zwar nicht zur
Auslöschung eines ethnischen Bewusstseins in der burjatischen Bevölkerung, schränkte jedoch spätere Separatismusgedanken, wie sie
unter anderem nach der Auflösung der Sowjetunion diskutiert wurden8, stark ein. Auch heute noch erklären die Regionalpolitiker der
sibirischen Gebiete und Städte von Zeit zu Zeit, dass sie ihre Beziehungen zur Regierung in Moskau ändern wollen. In der
überregionalen Presse werden diese Aussagen als geradezu skandalöse
Forderungen nach Souveränität bis hin zur völligen Unabhängigkeit
aufgefasst. In der lokalen Presse finden sie hingegen kaum Beachtung.
Genau diese Gelassenheit kann ein Indiz dafür sein, dass der Abspaltungsgedanke an sich nicht mehr zur Debatte steht, sondern es
vielmehr um vernünftige Grenzen geht.
8
Die politischen Veränderungen in der ehemaligen Sowjetunion hatten bei den
Burjaten die Hoffnung auf Selbstständigkeit geweckt. Im Jahre 1990 äußerten sie daher ihren Anspruch auf Loslösung von der Sowjetunion. Knapp 3
Jahre später sprach sich die Mehrheit der Burjaten in einem Referendum jedoch
für den Verbleib in der Föderation Russland aus.
Jördis Winkler
10
Der Lebensraum der Burjaten umfasst heute die Burjatische Republik,
die über ein relativ hohes Maß an Souveränität verfügt, sowie den Autonomen Bezirk Ust-Ordinski östlich von Irkutsk und den Autonomen
Bezirk der Aginer Burjaten im westlichen Teil des Gebietes Tschita.9
Burjatien ist eine multiethnische Republik: Rechnet man alle kleinen
Völkerschaften mit ein, leben auf ihrem Gebiet mehr als 100 verschiedene Nationalitäten (vgl. Daten zur Volkszählung von 2002).
Wie in vielen Republiken Russlands bildet das Titularvolk auch im
Falle Burjatiens nur eine – wenn auch starke – Minderheit. Die Anzahl
derjenigen, die sich zur burjatischen Nationalität bekennen, hat sich
im Verlauf der letzten Jahrzehnte jedoch stets erhöht. Nach Angaben
der Volkszählung von 2002 lebten in der burjatischen Republik
272.910 Burjaten. Die russische Bevölkerung dominiert in Burjatien
(665.512), danach folgen Ukrainer (9.585), Tataren (8.189), Ewenken
(2.334), Weißrussen (2.276), Armenier (2.165), Aserbaidschaner
(1.674) und Deutsche (1.548). Entsprechend der Volkszählung wurden
auf dem gesamten Territorium der Russländischen Föderation 445.175
Burjaten gezählt, weitere 40.600 leben in der Mongolei.
Sprachengesetzgebung mit Bezug zum burjatischen Bildungssystem
Die historische Sprachenpolitik in Burjatien war geprägt von zwei unterschiedlichen Strömungen, die noch heute starken Einfluss auf die
sprachliche Situation des Burjatischen haben: Einerseits wird die Geschichte des burjatischen Volkes als Teil der Geschichte Russlands
betrachtet, andererseits ist das Volk der Burjaten noch immer stark mit
der Geschichte der mongolischen Welt aufgrund ähnlicher soziokultureller Charakteristika verbunden.
Im Juni 1992 verabschiedete die Republik Burjatien das Gesetz „Über
die Sprachen der Völker der Republik Burjatien“, welches den wirtschaftlichen, sozialen und juristischen Schutz der jeweiligen Sprachen
gewährleisten soll (vgl. Chubrikov 2003: 86f.). Die Einleitung des Ge9
Diese Aufteilung auf verschiedene Verwaltungseinheiten geht auf das Jahr 1937
zurück, als Stalin aus Furcht vor einem burjatischen Nationalismus das Gebiet
der Burjaten zerteilen und zwei burjatische Bezirke von der BurjatischMongolischen ASSR abtrennen ließ.
11
Ausgewählte Aspekte staatlicher Sprachenpolitik
setzes betont, dass die Bewahrung und Entwicklung einer jeden Nation eng mit der Erhaltung und dem Funktionieren einer Sprache
verbunden ist. Ebenso wie in anderen Republiken der Russländischen
Föderation wurde auch in Burjatien die Titularsprache zur Staatssprache erhoben. In Artikel 6 wird den Bürgern der burjatischen Republik
das Recht zugesprochen, sich mit Erklärungen, Vorschlägen oder Klagen in den Staatssprachen sowie auch „in anderen Sprachen“ an
staatliche und öffentliche Organisationen und Einrichtungen wenden
zu können. Auch der Erhalt einer Antwort in der entsprechenden
Sprache soll gewährleistet sein. Dieses Recht wird bereits im dritten
Satz des Artikel 6 eingeschränkt – sollte es unmöglich sein, eine Antwort in der jeweiligen Sprache zu geben, werden die Staatssprachen
der Republik angewandt. Es wird bezweifelt, dass diese Regelungen
in vollem Umfang eine Anwendung in der Praxis finden: „Der Grund
für diese Formulierungen dürfte darin liegen, dass bei der Abfassung
der Gesetzestexte in alter sowjetischer Tradition weniger an die tatsächliche Realisierbarkeit und Umsetzung der Regelungen in die
Praxis gedacht wurde, als vielmehr an die Präsentation einer idealen
Zielvorstellung.“ (Köhler 2005: 60)
Am 22. Februar 1994 wurde die Verfassung der Republik Burjatien
vom Parlament angenommen. Eine Besonderheit der aktuellen sprachlichen Situation in Burjatien ist, dass zum ersten Mal in der
Geschichte des burjatischen Volkes die burjatische Sprache einen juristischen Status erworben hat. Ebenso wie in dem Gesetz „Über die
Sprachen der Völker der Republik Burjatien“ ist in Artikel 67 der Verfassung festgeschrieben, dass die Staatssprachen der Republik
Burjatien sowohl die burjatische als auch die russische Sprache sind.
Ungeachtet des dreifachen Schriftwechsels (von der mongolischen
über die lateinische bis zur kyrillischen Schrift) stellt die Herausbildung einer einheitlichen burjatischen Schriftsprache auch heute noch
einen Kernpunkt der burjatischen Identität dar. Wissenschaftler in
Burjatien vertreten verschiedene Standpunkte, wie sich die burjatische
Sprache in Zukunft entwickeln wird. Aktuelle wissenschaftliche Untersuchungen beschäftigen sich weniger mit der Gefahr des
Verschwindens der burjatischen Sprache durch eine zunehmende Assimilation der burjatischen Bevölkerung, sondern vielmehr mit der
Jördis Winkler
12
weiteren Entwicklung und Festigung des Burjatischen insbesondere
als Staatssprache.
Ein Blick auf die Entwicklung des Bildungssystems in Burjatien zeigt,
dass die einheimische Aristokratie bereits Anfang des 18. Jahrhunderts erste Schulen auf dem Gebiet der heutigen Republik Burjatien
gegründet hat. Allerdings unterlag die Anwendung der burjatischen
Sprache in der Schule im weiteren Verlauf der Geschichte heftigen
Schwankungen: Im 18. Jahrhundert fand der Unterricht zum größten
Teil in russischer Sprache statt, da die Schüler zu „gehorsamen Dienern der russischen Selbstherrschaft“ (Große Sowjet-Enzyklopädie
1955: 156) erzogen werden sollten und es lange Zeit an einheimischen
Lehrkräften mangelte. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die burjatische Sprache fest im Unterricht verankert. Noch bis Anfang der
70er Jahre wurde das Burjatische als Unterrichtssprache angewandt,
einige Jahre später wurde der fakultative Unterricht in der burjatischen
Sprache eingeführt.
Gegenwärtig gibt es in Burjatien mehr als 160 nationale Schulen. Generell ist die burjatische Sprache im System der allgemeinen Bildung
der Republik nur in den Anfangsklassen der nationalen Schulen vertreten. In allen übrigen allgemeinbildenden Institutionen der Republik
wird die burjatische Sprache als normaler Fremdsprachenunterricht
unterrichtet (vgl. Chubrikov 2003: 43). Dennoch nimmt die Zahl der
städtischen Schulen und regionalen Zentren, in denen Burjatisch unterrichtet wird, seit den letzten Jahren leicht zu. Zudem wird in 10
Schulen die ewenkische Sprache unterrichtet. Unterricht in Sprachen
der anderen in der Republik Burjatien lebenden Nationalitäten (Ukrainer, Tataren, Deutsche, Armenier und andere) wird nicht angeboten,
obwohl dies oft gewünscht wird (vgl. Dyrcheeva 2003: 18). Im Fernsehen wurden Programme zum Erlernen der burjatischen Sprache
eingeführt und im Schuljahr 1991-92 eröffnete die erste Fakultät der
burjatischen Philologie am Staatlichen Pädagogischen Institut der Republik Burjatien.
Die gegenwärtigen gesetzlichen Grundlagen der russischen Sprachenpolitik sowie sprachen- und bildungsrelevante Regelungen der
Republik Burjatien bilden eine solide Basis für den Erhalt und den
13
Ausgewählte Aspekte staatlicher Sprachenpolitik
Schutz der burjatischen Sprache – allerdings sind kaum Quellen über
die praktische Umsetzung dieser Ziele vorhanden. Obwohl insbesondere durch das Sprachengesetz der Burjatischen Republik die Sprache
der Titularnation rechtlichen Schutz erhalten hat, nimmt die Bedeutung der burjatischen Sprache in der Bevölkerung der Republik mit
Zunahme des administrativen Grades tendenziell ab. So hat O. M.
Chubrikov (2003: 42) nachgewiesen, dass bei jungen Leuten die russische Sprache eine wesentlich größere Rolle spielt als das Burjatische
(s. dazu die weiteren Ausführungen zu Sprachkenntnissen bei Kindern
und Jugendlichen). Zudem würde das Russische immer mehr alle
Sphären des öffentlichen Lebens durchdringen und die burjatische
Sprache auf den familiären Bereich, hier vor allem in Bezug auf die
Kommunikation mit älteren Generationen, zurückdrängen (vgl. dazu
auch die Umfrage von Randalov et al. 2006).
Sprachkenntnisse bei Kindern und Jugendlichen
Im Jahre 2002 veröffentlichte T. P. Bažeeva die Ergebnisse einer Studie, in der Familien in der Republik Burjatien nach sozialen und
sprachlichen Aspekten in Bezug auf die Herausbildung einer frühen
russisch-burjatischen bzw. burjatisch-russischen Zweisprachigkeit befragt wurden (Bažeeva 2002). Die Befragung wurde sowohl in Städten
als auch auf dem Land durchgeführt. Insgesamt wurden 700 Personen
(Eltern und Kinder) befragt und damit 700 Fragebögen ausgewertet.
Einige wesentliche Aspekte sollen hier wiedergegeben werden.
• Immerhin 80,6 % der Schulkinder lernen die burjatische Sprache in der Schule. Dabei wird der russischen Sprache in den
Städten der Republik eine größere Bedeutung zugesprochen als
auf dem Land: nur 70,7 % der städtischen Schulkinder erlernt
das Burjatische, auf dem Land sind es dagegen 85,5 %.
• Gegensätze bei der Auswahl der Sprache der Kommunikation
bestehen nicht nur zwischen Stadt- und Landbewohnern, sondern auch zwischen Eltern und Kindern (siehe Tabelle 1). Die
Anwendung der burjatischen Sprache in Familien, die auf dem
Land leben, ist vielfach höher als in den Familien in der Stadt.
Jördis Winkler
14
Tabelle 1: Die Verkehrssprache in den Familien nach Geburtsort der Eltern und Kinder
(in %).
Quelle: Bažeeva 2002: 62
• Der Besuch eines Kindergartens bringt kaum einen Vorteil bezüglich des Erlernens der burjatischen Sprache (vgl. Tabelle 2).
Vielmehr nimmt der Anteil der Kindergartenkinder, die sich untereinander
nur
Russisch
unterhalten, stark zu (53,5 %). Die Fähigkeit, sich sowohl auf
Russisch als auch auf Burjatisch zu unterhalten, nimmt im Kindergarten mit Blick auf die Kinder, die zu Hause bleiben, ab.
Tabelle 2: Die Verkehrssprache in den Familien nach Besuch des Kindergartens (in %).
Quelle: Bažeeva 2002: 62
• Mit dem Besuch des Kindergartens fängt die aktive Zweisprachigkeit der Kinder an. In diesem Zusammenhang wirkt sich die
Schließung von mehr als 200 Kindergärten in den Jahren 1995
15
Ausgewählte Aspekte staatlicher Sprachenpolitik
bis 1999, darunter 12 nationale Kindergärten in zumeist von
Burjaten bewohnten Gebieten, negativ auf das Erlernen der burjatischen Sprache aus (vgl. Bažeeva 2002: 117).
Eine weitere Studie zur Beherrschung der burjatischen Sprache in den
Schulen der Republik wurde von Randalov, Žalsanova und Dašibalov
(2006) durchgeführt. Die Autoren führten eine Umfrage unter
272 Schulkindern sowohl in Städten als auch auf dem Land durch.
Grundsätzlich
wurde festgestellt, dass die burjatische Sprache an
333 allgemein bildenden Schulen der Republik und in über 100 Vorschuleinrichtungen (25 %
aller
Vorschuleinrichtungen)
unterrichtet wurde. Die Ergebnisse umfassen u.a. folgende Aspekte:
• Die Anzahl der SchülerInnen, die Burjatisch als ihre Muttersprache lernen, stieg dabei in den letzten Jahren deutlich an:
waren es im Jahr 1990 noch 21.415 SchülerInnen, so stieg diese
Zahl im Jahr 1998 bereits auf 43.269 SchülerInnen und im Jahr
2005 auf 48.031 SchülerInnen an.
• Neben Fragen zur persönlichen Einschätzung der burjatischen
Sprachkenntnisse (Fähigkeit, die burjatische Sprache zu verstehen, zu sprechen, zu lesen, zu schreiben) wurden die Schüler
und Schülerinnen dazu befragt, welche Probleme sie bei der
Aneignung des Burjatischen im Rahmen eines Schulfaches sehen.
Fast
die
Hälfte
aller
Befragten
in
den
Städten (46,3 %) sah die größte Schwierigkeit darin, dass sie
die russische Sprache bereits seit ihrer Kindheit kannten. Darüber hinaus gaben fast ein Drittel (32 %) der Schüler und
Schülerinnen an, keine Zeit zum Lernen zu haben, da sie viele
andere
wichtige
Fächer
hätten.
• Den Schülern stehen verschiedenste Möglichkeiten innerhalb
der sie umgebenden sozialen Sphären zur Verfügung, um die
burjatische Sprache zu lernen: in Kommunikation mit ihren Eltern und Verwandten, in der Schule, mit Freunden und
Altersgenossen, mit Nachbarn, aber auch in Kultureinrichtungen (Kino, Theater, Museum, Bibliothek etc.). Dennoch bleibt
das Burjatische die Sprache der Kommunikation in der Familie,
16
Jördis Winkler
wie die nachfolgende Tabelle zeigt. Hauptsächlich ist es die ältere Generation, die die Sprache, Kultur und Traditionen der
Burjaten an die nächste Generation weitergibt.
Tabelle 3: Reguläre Nutzung der burjatischen Sprache (in %).
Mit den Großeltern
31
Im Dazan
24
Mit den Eltern
20
Mit Verwandten
12
Mit Geschwistern
10
Mit Nachbarn
9
Mit Freunden
6
In der Schule
3
In Kultureinrichtungen
1
Im öffentlichen Raum
1
Quelle: nach Randalov et al. 2006
Fazit
Ganz allgemein kann zusammengefasst werden, dass die wichtigste
Funktion sprachenpolitischer Maßnahmen „in der möglichst reibungslosen Kommunikation innerhalb aller denkbaren gesellschaftlichen
und politischen Gruppen und Ebenen und zwischen ihnen [besteht].
[…] Kommunikation und Verständigung müssen in der zwischenmenschlichen, persönlichen Privatsphäre ebenso wie zwischen
Institutionen innerhalb eines Staates gewährleistet sein.“ (Korch 2000:
26) Sprache ist damit immer auch ein Mittel der Macht, wie Theodor
Berchem betont: „A language can be an instrument of power, and it is
worth remembering that one force always sets a counterforce in motion and if these are not more or less in balance, this can have very
negative consequences which might even result in violence and war.“
17
Ausgewählte Aspekte staatlicher Sprachenpolitik
(Berchem 2003: 25f.) In diesem Sinne hebt auch Barthold C. Witte
hervor, dass Sprachenpolitik „immer im Kontext politischer, wirtschaftlicher, kultureller Macht gesehen werden [muss]. Sprache folgt
der Macht.“ (Witte 1998: 17) Letztendlich finden nicht nur in der
Wirtschaft, sondern auch im kulturellen und sozialen Bereich globale
Prozesse statt, die die Minderheiten auch in der Föderation Russland
vor große Probleme stellen. So erweist sich z.B. die soziale Abwanderung der einheimischen Bevölkerung aus dem angestammten
Siedlungsgebiet (u.a. durch den Wegzug der Jugend auf der Suche
nach einer Ausbildung oder nach Arbeit) als eine Gefahr für den Erhalt der jeweiligen Sprachen – die Anzahl der aktiven Sprecher im
jeweiligen Siedlungsgebiet geht damit stark zurück.
Obwohl die Verfassung der Russländischen Föderation in Artikel 26
sowie das Gesetz „Über die Bildung“ in Artikel 9 Absatz 1 die freie
Wahl der Erziehungs- und Unterrichtssprache garantieren, kritisiert O.
M. Chubrikov, dass das Burjatische an den Schulen nicht ausreichend
unterrichtet wird. Grundsätzlich können Kinder, sofern ihre Eltern
dies wünschen, burjatischsprachigen Unterricht in Anspruch nehmen.
Somit ist den Eltern ein Mitspracherecht bei der Wahl der Unterrichtssprache gegeben. Dies ist jedoch einerseits durch objektive Faktoren
wie die mangelnde finanzielle Unterstützung nationaler Schulen eingegrenzt. Andererseits spielen subjektive Faktoren wie das Interesse
der Eltern, ihren Kindern eine in russischer Sprache erworbene Ausbildung zukommen zu lassen, eine große Rolle. Dies bietet größere
soziale Perspektiven in Hinblick auf eine weitere Ausbildung oder
Arbeitsplatzsuche. Sprachengesetze können dabei nur einen Rahmen
zur weiteren Entwicklung der Minderheitensprachen bieten. Wie und
in welchem Umfang die gesetzlichen Bestimmungen in der Realität
umgesetzt werden hängt insbesondere von der Interessenvertretung
der jeweiligen Minderheit ab.
Jördis Winkler
18
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Jördis Winkler
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Ralph M. Wrobel
Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens
in preußischer Zeit am Beispiel der Dorfschule in
Kerpen
1.
Problemstellung
Die zweisprachige Situation in weiten Teilen Oberschlesiens bis 1945
sowie das Vorhandensein einer großen deutschen Minderheit im Oppelner Schlesien heute sind das Ergebnis eines langen historischen
Prozesses. Als Preußen in der Mitte des 18. Jahrhunderts die Herrschaft über Schlesien erlangte, wurde im Osten des Landes ein polnischer Dialekt gesprochen, der bis heute existiert und unter Namen wie
„Wasserpolnisch“ oder „pośląsku“ bekannt ist. Dabei handelt es sich
um einen altpolnischen Dialekt mit vielen tschechischen und deutschen Elementen.1 Östlich der oberschlesischen Sprachgrenze war
Deutsch zu dieser Zeit lediglich in den größeren Städten verbreitet.2
Dies hat sich jedoch während der Zugehörigkeit Oberschlesiens zu
Preußen grundlegend geändert, wobei u.a. auch der preußischen
Schulpolitik eine besondere Bedeutung zukommt
Nach Jahrhunderten der Vernachlässigung wurde u.a. auch das oberschlesische Volksschulsystem durch die neue preußische Regierung
grundlegend reformiert. Insbesondere die Schulreform von 1801 bewirkte eine kontinuierliche Verbesserung der Situation in den dörfli1
2
Vgl. dazu z.B. Reinhold Olesch - Die slavischen Dialekte Oberschlesiens, in:
JBUnivBreslau 28, 1987, S. 325 - 336, Peter Chmiel - Deutsche Lehnstrukturen im sog. Wasserpolnschen, in: OSJB 3, 1987, S. 201 - 214, Herbert Matuschek -Das Polnisch der Oberschlesier. Zu den Kontroversen um ein Idom, in:
OSJB 13, 1997, S. 93 - 120 und OSJB 14/15, 1998/1999, S. 193 - 214.
Die Sprachgrenze verlief direkt südlich von Oberglogau. Vgl. dazu Klaus Heinisch Beiträge zur Geschichte der ehemaligen deutsch-polnischen Sprachgrenze
im südwestlichen Oberschlesien, in: JBUnivBreslau, Bd. XXII, 1981, S. 191 239.
2
Ralph M. Wrobel
chen Schulen. Aus vereinzelten kirchlichen Einrichtungen wurde ein
Netz von staatlich überwachten Schulen, die zumindest ein Minimum
an schulischer Bildung für alle Bürger des Königreiches schaffen sollte. Dabei bestand in Oberschlesien kontinuierlich das Problem, in
welcher Sprache und mit welcher sprachlich-edukativen Zielsetzung
der Unterricht erfolgen soll. Ob in diesem Zusammenhang während
der preußischen Zeit von einer gezielten „Germanisierung“ Oberschlesiens gesprochen werden kann, ist fraglich. Andererseits wurde
das Bildungsniveau gerade der ländlichen Bevölkerung durch die
preußische Schulpolitik beständig gehoben.
In diesem Aufsatz soll anhand eines Fallbeispiels untersucht werden,
wie die preußischen Reformen auf die faktische Entwicklung des
oberschlesischen Dorfschulwesens gewirkt haben. Als Beispiel wird
die Dorfschule in Kerpen, Kreis Neustadt/OS, gewählt, da für sie zahlreiche Quellen vorliegen, von Kirchenvisitationsprotokollen des 17.
Jahrhunderts bis zu einer vollständig erhaltenen Schulchronik von
1870. Deshalb werden zunächst der geschichtlich-kulturelle Hintergrund des Dorfes sowie die Ursprünge der Dorfschule in Kerpen untersucht. Darauf aufbauend werden die faktischen Veränderungen
durch die preußischen Schulreformen von 1765 und 1801 dargestellt.
Dabei sollen v.a. die administrativ-rechtlichen Aspekte wie z.B.
Schulaufsicht, die materielle Ausstattung der Schulen und die pädagogisch-sprachlichen Verfügungen untersucht werden. Abschließend
wird gezeigt, dass erst nach der Einführung des preußisch-deutschen
Lehr- und Lectionsplan von 1872 von einer gezielten Germanisierung
Oberschlesiens gesprochen werden kann. Dadurch soll die sprachliche
Entwicklung in Oberschlesien und insbesondere die Entstehung der
Zweisprachigkeit seiner ländlichen Bevölkerung exemplarisch nachgezeichnet werden.
2.
Die Ausgangssituation im 17. und 18. Jahrhundert
2.1
Das Dorf Kerpen – geschichtlich-kultureller Hintergrund
Das Kirchdorf Kerpen (poln. Kierpień) liegt links der Oder im Kreis
Neustadt/OS (pow. Prudnik). Es ist heute Bestandteil der Gemeinde
Głogówek (Oberglogau) und hat ca. 320 zumeist einheimische Be-
Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 3
wohner, die den schlesisch-polnischen Dialekt als Muttersprache sprechen.3 Bereits vor dem Jahr 1274 wurde das Dorf Kerpen durch das
Kloster Leubus auf den sumpfigen Wiesen der Nachbardörfer Lobkowitz und Komornik als Straßenangerdorf neu ausgesetzt. (vgl. Abb.
1) Der Begriff "est locata", der in dieser Urkunde für den Rechtsakt
der Ansiedlung gebraucht wird, weist auf eine Siedlung aus wilder
Wuzel hin. Eine Kirche wird in Kerpen erstmalig 1335 in der bischöflichen Rechnungslegung als „ecclesia de Kepowa“ erwähnt. 4 Das
vermutlich zunächst deutschsprachige Dorf wurde aber spätestens im
16. Jahrhundert polnisch. Von 1561 bis 1626 war Kerpen an diverse
Adelige der Umgebung verpfändet, teilweise zusammen mit der ganzen Propstei Kasimir, zu der es gehörte.5 Seit 1655/60 übernahm der
Minoritenkonvent aus der benachbarten Stadt Oberglogau die Pfarradministration in Kerpen. Gründe dafür werden die polnische Sprache der Einwohner und wohl auch der allgemeine Priestermangel dieser Zeit gewesen sein. Dadurch wurde Kerpen für einige Zeit Filiale
der Nachbarkirche Schreibersdorf.6 In seinen „Beyträgen zur Beschreibung von Schlesien“ schreibt Zimmermann 1784: „Kerpen, gehöret dem Stift Leubus, liegt im Glogauer Kreise, hier ist ein Vorwerk,
1 Kirche, Schule, 17 Bauern, 1 Mühle, 24 Gärtner, 16 Häusler, 375
Einwohner.“7 Bezüglich der Sprache in der Oberglogauer Gegend
heißt es: „der gemeine Mann im Glogauschen (…) spricht pohlnisch“.8
3
Vgl. Kuria Diecezjalna w Opolu (Hrsg.): Rocznik Diecezji Opolskiej 2000,
Opole 2000, S.124.
4
Vgl. Ralph Wrobel Wrobel - Die Zisterzienser an der Hotzenplotz - Eine Studie
zur Siedlungs-, Rechts-, und Wirtschaftsgeschichte der zur Zisterzienserpropstei
Kasimir gehörigen Dörfer an der Hotzenplotz im Mittelalter, Herausgegeben im
Auftrag der Historischen Kommission für den Kreis Neustadt/Oberschlesien,
Bremen 1991, S. 16 und S. 47.
5
Vgl. Augustin Weltzel - Die Cisterzienserpropstei Kasimir, in: Schlesisches Pastoralblatt 1889, Heft 16 - 22, S. 153 - 154.
6
Vgl. dazu z.B. Heinrich Schnurpfeil - Geschichte und Beschreibung der Stadt
Oberglogau in Oberschlesien: mit der Genealogie der Grafen von Oppersdorff,
Oberglogau 1860, S. 164.
7
Friedrich A. Zimmermann, Beiträge zur Beschreibung von Schlesien, Bd. 3
(1784) , S. 105.
8
Ebd., S. 96.
4
Ralph M. Wrobel
Dass dies auch auf Kerpen zutraf bestätigt z.B. der oberschlesische
Chronist A. Weltzel, welcher von der „polnisch redende(n) Gemeinde“ des Dorfes Kerpen im Jahre 1810 spricht.9 Seit diesem Jahr wurden das Dorf und Gut durch die Säkularisation der kirchlichen Güter
königlich-preußisch. Zwischen 1817 und 1848 wurde hier die Bauernbefreiung durchgeführt.10 Durch eine Separation der landwirtschaftlichen Flächen und eine Regulierung der Hotzenplotz am Ende des 19.
Jahrhunderts entstand eine bis heute landwirtschaftlich geprägte Gemeinde. Aufgrund der Sprache kam es zudem nach dem Zweiten
Weltkrieg zu keinem umfassenden Bevölkerungsumtausch.
9
Vgl. Weltzel – Die Cisterzienserpropstei Kasimir (wie Anm. 5), S. 179.
Vgl. Alfons Schwach - Beiträge zur Ortschronik von Kerpen, Oberglogau 1929,
S. 12 - 14.
10
Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 5
Abb. 1: Die Lage der katholischen Schule in Kerpen (um 1765).
Quelle: Ausschnitt aus „Schlesien links der Oder“, aufgenommen von Regler 1763–1770
(Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin).
2.2
Anfänge der Kerpener Dorfschule
Im 17. und 18. Jahrhundert war das Schulwesen in Oberschlesien sehr
dürftig, aber nicht so trostlos, wie es an manchen Stellen beschrieben
wird.11 In den Städten und größeren Pfarrdörfern gab es fast überall
Schulen, auch im Pfarrdorf Kerpen. Dies gehörte in preußischer Zeit
11
Vgl. z.B. Josef Schermuly – Das Lehrer-Seminar in Oberglogau – Festschrift
zur Jubelfeier seines hundertjährigen Bestehens, Breslau 1902, S. 5, wo es
heißt: „Die Kinder in den Ortschaften um Oberglogau z.B. wuchsen bis dahin
[das Jahr 1800] ohne jegliche Schulbildung auf.“.
6
Ralph M. Wrobel
zum Schulbezirk Oberglogau, welcher dem alten Kreis Oberglogau
(dem Osten des späteren Kreises Neustadt/OS) entsprach. Innerhalb
dieses Bezirkes gab es laut Zimmermann (1784) 21 Schulen, zwanzig
in Pfarrdörfern und eine im Marktflecken Klein-Strehlitz, wobei die
Stadtschule in Oberglogau – bereits 1379 urkundlich erwähnt – selber
keine Erwähnung findet.12 Die meisten dieser Schulen lassen sich bis
in die zweite Hälfte des 17. Jahrhundert zurückverfolgen. Ältere Quellen liegen hingegen durchgehend nicht vor.13 Wann das Dorfschulwesen in dieser Region Oberschlesiens entstand, ist daher nicht eindeutig
nachvollziehbar. Eine tiefe Zäsur wird in jedem Fall der Dreißigjährige Krieg bedeutet haben, da in dieser Zeit auch viele Pfarreien verwaisten und zu Filialen wurden.
Die Kirche in Person des Pfarrers hatte seit alters her die Aufsicht
über die örtliche Schule. Vermutlich war der Pfarrer ursprünglich auch
12
Die Schulen waren in den Pfarrdörfern Broschütz, Damasko (Propstei Kasimir),
Dobrau (nur Filiale), Ellguth, Friedersdorf, Gläsen, Kerpen, Komornik, Kujau,
Lonschnig, Deutsch-Müllmen, Psychod, Deutsch-Rasselwitz, PolnischRasselwitz, Rosnochau, Schö-nau, Schreibersdorf, Twardawa, Walzen, AltZülz sowie in dem Marktflecken Klein-Strehlitz vorhanden. Zimmermann –
Beyträge zur Beschreibung von Schlesien (wie Anm. 7), S. 99 – 117. Die
Schule in Oberglogau bestand nachweislich bereits im 14. Jahrhundert. [Vgl.
Joseph Strecke - Das Ober Glogauer Schulwesen von seinen Anfängen bis zum
Endedes 18. Jahrhunderts, in: Aus dem Oberglogauer Lande – Heimatkundliche
Beilage zur Oberglogauer Zeitung, 1926, S. 45 – 46; 1927, S. 1 – 4, 7 –8, 16, 19
–20.].
13
Vgl. dazu die Visitationsberichte von 1679 und 1687/88 bei Josef Jungnitz –
Visitationsbe-richte der Diözese Breslau, Archidiakonat Oppeln. 1. Teil,
Breslau 1904, und die deutsche Übersetzung der Berichte bei Johannes Preisner
- Das Oberglogauer Archipresbyteriat im Licht der Visitationsberichte von
1679, 1680 und 1688, Landeskundliche Schriftenreihe der Historischen Kommission für den Kreis Neustadt, Oberschlesien, e.V., Bd. 1, Menden 1999. Für
wenige oberschlesische Dörfer gibt es aber auch deutlich frühere Hinweise auf
Schulen, z.B. Makau bei Ratibor, wo bereits 1536 ein Lehrer erwähnt wird,
welche seine Mahlzeiten beim Johanniter-Komtur erhält. Vgl. dazu Ralph
Wrobel – Die Johanniter in Oberschlesien: Gründung, Entwicklung und
Niedergang der Kommenden Maau, Alt-Zülz und Cosel, Würzburg 2011, S. 59.
Es muss also Schermuly – Das Lehrer-Seminar in Ober-Glogau (wie Anm. 11),
S. 5, widersprochen werden, der behauptet, „die Kinder aus den Ortschaften um
Ober-Glogau z.B. wuchsen bis dahin ohne jegliche Schulbildung auf.“.
Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 7
der Lehrer der Kinder, übergab diese Tätigkeit aber immer weiter an
den Organisten / Küster, der damit erst im Zeitverlauf auch zum
Schullehrer wurde. Dadurch war die Schule eine traditionell kirchliche
Einrichtung, die erst im Verlauf der preußischen Zeit staatlich wurde.
Allerdings sagt das Vorhandensein einer Schule oder eines Lehrers
nichts über die tatsächliche Qualität des örtlichen Bildungswesens aus.
Auch dort, wo eine Schule im 17. oder 18. Jahrhundert genannt wird,
waren die Schulhäuser i.d.R. sehr klein, der Schulbesuch der Kinder
sehr unregelmäßig und die Ausbildung der Lehrer schlecht. Teilweise
handelte es sich bei den Lehrern um ehemalige Soldaten, die eventuell
einen wenige Monate andauernden Kursus im Lehrerseminar im Kloster Rauden besucht hatten. Die Schulen hatten zudem eher Charakter
von Küster- oder Pfarrschulen, in denen neben dem Katechismus nur
Kirchenlieder gelehrt wurden.14
Auch in Kerpen hat es eine solche Küster- oder Pfarrschule gegeben.
Ob hier bereits im Mittelalter eine Schule vorhanden war, kann jedoch
nur vermutet werden, geht aber aus keiner Quelle hervor. Da der Ort
um 1625 noch einen eigenen Pfarrer besaß, aber bereits um 1655/60
unter die Administration der Minoriten aus Oberglogau gestellt werden musste, kann davon ausgegangen werden, dass auch die Schule –
sofern sie vor dem Krieg bestanden hatte – neu errichtet und wieder
mit einem Lehrer besetzt werden musste. Im benachbarten Alt-Zülz
wird z.B. aus dem Jahre 1668 der Bau einer Pfarrschule erwähnt. Davor soll für den Schullehrer keine Wohnung im Ort bestanden haben.15
In Kerpen gab es bis tief ins 19. Jahrhundert noch nicht einmal ein
Pfarrhaus, sondern nur ein Absteigequartier für den Priester der Mino-
14
Vgl. Alois Maria Kosler – Die Preußische Volksschulpolitik in Oberschlesien
1742 – 1848, Breslau 1929 (Nachdruck Sigmaringen 1984: Beiträge zur
Geschichte und Landeskunde Oberschlesiens), S. 6 – 9. Die Verbindung von
Lehrer- und Küsteramt blieb in Schlesien bis ins 20. Jahrhundert erhalten. Vgl.
dazu auch Gustav Braun – Geschichte des organisch vereinigten Schulamtes in
Schlesien: ein Beitrag über die Entwicklung der deutschen Volksschule unter
besonderer Berücksichtigung der Dotationsverhältnisse, Breslau 1933.
15
Vgl. Heinrich Bittner – Die Dörfer aus dem Zülzer Archipresbyteriatsbuche
vom Jahre 1674 und 1719, Neustadt 1936, S. 50.
8
Ralph M. Wrobel
riten im Vorwerk.16 Entsprechend mögen auch die schulischen Verhältnisse lange Zeit unsicher gewesen sein.
In den Kirchenvisitationen der Jahre 1679 und 1687/88 wird erstmals
ein Lehrer in Kerpen erwähnt. Er war aber – wie üblich – nicht nur
Schullehrer, sondern auch Kirchenbediensteter, also Küster und Organist. Dies geht aus späteren Quellen zu seiner Dotation deutlich hervor.17 So erwähnt die Visitation von 1687/88: „Scholiarcha Andreas
Ziemianek 14 annis servit.“ (Der Lehrer Andreas Ziemianek dient seit
14 Jahren.)18 Er muss also um 1673/74 seinen Schuldienst in Kerpen
begonnen haben. Wie lange er in Kerpen als Lehrer war, ist nicht bekannt. Die Kirchenbücher von Kerpen erwähnen dann die Übernahme
des Schulmeisteramtes durch Martin Hase (Haase/ Hasse), der dort in
den folgenden Jahrzehnten mehrfach als Scholiarcha oder SchulMeyster erwähnt wird. Er starb am 5.8.1772 in Kerpen 49 Jahre alt,
sein Amt wohl noch immer ausführend. Nur wenige Wochen später,
nämlich am 20.9.1772 hat Johan George Sukala das Amt des Schulmeisters in Kerpen übernommen.19 Die Schullehrer wurden demnach
zu dieser Zeit schnell ersetzt. Für Kerpen kann deshalb seit 1747 von
einer nachgewiesenen Schullehrer-Kontinuität gesprochen werden.
Das ist insofern von Bedeutung, als dass damals die Lehrerstellen häufig für Jahrzehnte unbesetzt blieben und somit gar kein Unterricht
stattfand.20
Wie das Schulhaus in Kerpen zu dieser Zeit ausgesehen hat, ist nicht
bekannt. Es wird vermutlich ähnlich wie im benachbarten, ebenfalls
dem Patronat des Klosters Leubus unterstehenden Dorf Komornik
16
Vgl. Weltzel - Die Cisterzienserpropstei Kasimir (wie Anm. 5), S. 162.
Vgl. (Rezeß) zur Parzelle XIII, Actum Kerpen den 25ten April 1817
[Staatsarchiv Oppeln: Grund Acten für Bd. II Blatt 85 des Grundbuches von
Kerpen / Gemeinde Kerpen 1819 - 1943, Sign.: 45/1519/0/3079, fol. 40-40v.].
18
Vgl. Jungnitz – Visitationsberichte (wie Anm. 13), S. 523 – 524.
19
Kirchenbücher Kerpen 1655 - 1945 (Pfarrarchiv Kerpen, Kopien im Besitz des
Verfassers), ohne Folionummern. Das Jahr der Übernahme ins Kerpener
Dienstverhältnis geht leider aus den Aufzeichnungen nicht hervor, da Hase aber
1747 als Vater einer Tochter erwähnt wird, muss er zumindest kurz zuvor nach
Kerpen gekommen sein.
20
Vgl. Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 9.
17
Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 9
ausgesehen haben. Hier war allerdings im Jahre 1679 überhaupt kein
Schulhaus vorhanden.21 Erst 1708 wurde eine „domuncula“ (Häuschen) von der Gemeinde errichtet.22 Von dem 1794 erneuerten Haus
heißt es in der Schulchronik des Ortes: „Das Schulgebäude hatte
massive Wände, war aber nur mit Stroh gedeckt. Es bestand aus einer
kleinen Lehrstube, einer kleinen Wohnstube für den Lehrer und einer
ganz kleinen Kammer… (die) Familie (des Lehrers) musste ihre Lagerstätte auf dem Bodenraume errichten, was deren Gesundheit nicht
sehr zuträglich gewesen sein kann.“23 Ebenso wird man sich auch die
Schule in Kerpen vorstellen müssen, welche dann erstmalig bei Zimmermann 1784 ausdrücklich Erwähnung findet, aber sicherlich deutlich älter sein wird.
21
Vgl. Jungnitz – Visitationsberichte (wie Anm. 13), S. 185 - 186.
Vgl. Metrica Archipresbyterialis Glogoviae Superioris anno 1730
(Diözesanarchiv Breslau: Sign.: II b 95, fol. 115.).
23
Schulchronik Komornik (Pfarrarchiv Komornik, Kopie im Besitz des Verfassers), fol. 4.
22
10
Ralph M. Wrobel
Abb. 2: Die Pfarräcker bei Kerpen 1811.
Quelle: Ausschnitt aus der „Brouilon-Carte von dem Vorwerk Kerppen im Neustaedter
Creise speciel vermessen im Jahre 1811“ (Staatsarchiv Oppeln, ohne Sign.).
2.3
Die materielle Ausstattung des Kerpener Lehrers
Die Entschädigung der oberschlesischen Schullehrer bestand bis ins
späte 18. Jahrhundert hinein hauptsächlich aus der Zuweisung eines
Stückes Land zur eigenen Bearbeitung sowie aus der Lieferung von
Getreide oder anderen Naturalien. Manchmal überließ man ihm auch
einen Garten oder einige kleine Teiche. Außerdem übte er nebenbei
auch das Amt des Organisten, Küsters und Gemeindeschreibers aus,
wodurch er zusätzlich auch etwas Geld verdienen konnte. 24 Auch für
den Kerpener Lehrer lassen sich alle diese Ämter nachweisen.25 Insge24
25
Vgl. Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 69.
Vgl. Schul- und Gemeinde Chronik von Kerpen 1870 - 1935 (Schularchiv Ker
pen, Kopien im Besitz des Verfassers), fol. 2.
Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 11
samt war die Entlohnung nicht einheitlich geregelt, so dass es große
Unterschiede von Dorf zu Dorf gab. Über welches Einkommen der
Kerpener Schullehrer im 17. und 18. Jahrhundert verfügte, geht bereits
aus dem Kirchen-Visitationsprotokoll von 1679 hervor. Es nennt als
Ausstattung des Lehrers zunächst „agrum pro conseminatione unius
modii siliginis“ (Acker mit einem Scheffel Winterweizen besäht).26
Dieser Acker lag innerhalb eines großen Wiesen- und Ackerstreifens,
der zur Kerpener Kirche gehörte, und war 1811 drei preußische Morgen und 53 Quadratruten groß. Dies geht konkret auch aus der Brouillon Karte des Gutes Kerpen aus dem Jahre 1811 hervor (vgl. Abb. 2).
In einem Rezeß aus dem Jahre 1817 wird dieses Stück auch als ursprünglicher „Organisten-Acker“ bezeichnet und beinhaltete neben
dem eigentlichen Acker auch zwei Wiesen zwischen Hotzenplotz und
Piosnitza-Graben. Dabei ist es interessant anzumerken, dass der damalige Lehrer, Bartholomäus Koschek, angab, diesen Acker hätte schon
sein Großvater als Organist in Kerpen zur Verfügung gehabt. Er sei
erst später zur Dotation der Schule hinzugezogen worden.27
Betrachtet man die Dörfer des alten Kreises Oberglogau in den Kirchenvisitationsprotokollen oder Archipresbyteriatsbüchern des 17.
Jahrhunderts, fällt auf, dass lediglich in Klein-Strehlitz, Lonschnig
und Kujau auch ein Schulacker vorhanden war. Schulgärten finden
sich in Schreibersdorf, Broschütz, Legelsdorf, Simsdorf und PolnischRasselwitz.28 Die Dotation des Kerpener Lehrers mit eigenem Land
war daher eher überdurchschnittlich. Auf jeden Fall wird daraus der
enge Bezug der Schule in Kerpen zur Pfarrkirche deutlich. So kann
26
Vgl. Jungnitz – Visitationsberichte (wie Anm. 13), S. 191 – 192.
Vgl. (Rezeß) zur Parzelle XIII (wie Anm. 17) Das Stück umfasste demnach im
Jahre 1817 3 Morgen und 125 QR Acker, 2 Morgen und 99 QR Wiesen sowie
98 QR Strauchwerk, Summe: 6 Morgen 142 QR. Auch in der benachbarten
Schule von Deutsch-Rasselwitz diente eine Schullehrerfamilie nachweislich
über drei Generationen von 1806 bis 1904. Vgl. dazu J. Pfeiffer – Von den Dt.
Rasselwitzer Schulen, in: Aus dem Oberglogauer Lande, Heimalkundliche Beilage zur Oberglogauer Zeitung, 5. Jg. (1929), Nr. 1, S. 3 und Nr 11, S. 41, hier
S. 3.
28
Vgl. dazu Jungnitz – Visitationsberichte (wie Anm. 13) und Bittner – Die Dörfer aus dem Zülzer Archipresbyteriatsbuche (wie Anm. 15).
27
12
Ralph M. Wrobel
man vermuten, dass das „Organisten-Stück“ irgendwann nach der
Gründung des Dorfes und der Kirchengemeinde aus dem Kirchengrund herausgelöst und für den Organisten dotiert wurde. Als dieser
auch das Schullehreramt übernahm, ging das Grundstück stillschweigend in die Dotation der Schule über. Demnach wäre die Gründung
der Kerpener Schule nicht mit der Gründung der Pfarrgemeinde gleich
zu datieren, sondern muss später stattgefunden haben.
Hinzu erhielt der Lehrer in Kerpen gemäß der Visitation von 1679 „a
quovis rustico unum libonem panis” (von jedem Bauern ein Laib Brot)
und „unum florenum a communitate“ (einen Florin von der Gemeinde).29 Auch diese Einnahmen tauchen in späteren Quellen noch wiederholt auf, wobei die Brotabgabe eine Leistung für den Organisten /
Küster und die Geldzahlung wohl das Einkommen als Gemeindeschreiber darstellen. Ebenso erhielten z.B. auch die Lehrer in Schreibersdorf und Walzen diese Zahlung. Gemäß dem Archipresbyteriatsbuch von 1674 bekamen die Lehrer in Alt-Zülz und Legelsdorf vom
Pfarrer vier Taler jährlich und an allen Sonn- und Festtagen zusammen mit ihrer Familie ein Mittagsmahl. Hinzu kamen von jedem Bauern ein Brot und ein böhmischer Groschen sowie verschiedene unregelmäßige Einnahmen. Die Brotabgabe für den Lehrer wurde z.B. in
Simsdorf 1674 von den Bauern verweigert.30 Andere Lehrer, wie die
in Schönau, Deutsch-Rasselwitz oder Friedersdorf wurden hingegen in
erster Linie mit unterschiedlichen Mengen von Getreide entlohnt. Der
Lehrer in Komornik hatte sowohl 1674 als auch 1730 keinen festgesetzten Sold, sondern nur einen kleinen Garten.31 Die Natural- und
Geldeinnahmen des Kerpener Lehrers waren daher nur durchschnittlich. Er wird jedoch davon kaum gelebt haben können.
Deshalb wird der Kerpener Lehrer immer noch einen weiteren Beruf
ausgeübt haben. Die Lehrer in Oberschlesien übten zu dieser Zeit re29
Vgl. Jungnitz – Visitationsberichte (wie Anm. 13), S. 191 - 192.
Vgl. Bittner – Die Dörfer im Zülzer Archipresbyteriatsbuche (wie Anm. 15),
S. 50.
31
Vgl. dazu Jungnitz – Visitationsberichte (wie Anm. 13). Zu Komornik auch
Proventenbuch der Gemeinde Komornik (Pfarrarchiv Komornik, Kopie im Besitz des Verfassers), fol. 20, wo es heißt: „Ludirector nullos fundos habet…“.
30
Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 13
gelmäßig weitere Berufe neben ihrem Amt als Organist und Lehrer
aus. Entweder waren sie Handwerker oder unterhielten eine eigene
Landwirtschaft.32 Für Kerpen ist der Nebenberuf des Lehrers für die 2.
Hälfte des 18. Jahrhunderts nachgewiesen. Er war Landwirt und hatte
eine große Wiese vom administrierenden Minoritenkonvent in
Oberglogau gepachtet. So heißt es in den Kerpener Kirchenbüchern:
„Der Schulmeister zinßet dem hoch Löbl. Minoriten Kloster Jahrlichen Wißen zins in S. Martini 3 Thl. Schleßisch, in dem Zinß muß er
die Administration Wiße behegen und darauf achtung geben. Schulmeisters Zins Wißen über der Kleinen baach im bergel biß an die bache. Von der Kleinen bach Vorm Obrecie genandt und durch auß biß
an den Piaschitzer graben. Das Zogrodzisko Von Puszyna graben biß
an die Rudna 12 ruthen breit überall. Den Winckel bey der Mille 13
ruthen breit(,) in die lenge Vom Tamm biß an rederer graben.“33
Damit wird übrigens exakt der breite Streifen Pfarrgrund beschrieben,
der gemäß der Brouillon-Charte des Gutes Kerpen aus dem Jahre 1811
auch den Schul- und Organistenacker enthielt. Der Lehrer Hase war
somit in Kerpen ein durchschnittlicher Landwirt. Wann er überhaupt
Zeit gehabt hat, den Unterricht durchzuführen, ist daher sehr fraglich.
3.
Veränderungen durch die preußischen Schulreformen
3.1
Die Schulreform von 1765
Bis in die preußische Zeit hinein war das oberschlesische Volksschulwesen – wie auch in anderen Teilen des Königreiches – schlecht
und verbesserungsbedürftig. Gerade in Oberschlesien sollten durch
Verbesserungen zwei Ziele gleichzeitig erreicht werden: zum einen
die Erziehung der ungebildeten Landbewohner und zum anderen die
Verbreitung der deutschen Amtssprache. Dies erkannte auch der Provinzialminister Ernst Wilhelm von Schlabrendorf, der von Friedrich
dem Großen 1755 bis 1769 an die Spitze der schlesischen Kammer
berufen wurde. Auf einer Visitationsreise 1764 fand er fast keine
funktionsfähige Schule in Oberschlesien vor. Es wurden lediglich ei32
33
Vgl. Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 8.
Vgl. Kirchenbücher Kerpen (wie Anm. 19), ohne genaue Datierung.
14
Ralph M. Wrobel
nige Gebete gelehrt. In den polnischsprachigen Gebieten verstanden
weder Geistliche noch Lehrer deutsch. Unmittelbar nach dieser Reise
ergingen daher seine ersten Verfügungen zur Verbesserung des
Schulwesens. Doch erst das preußische Schulreglement von 1765 regelte die Verhältnisse umfassend. Demnach bestand eine Schulpflicht
für alle Kinder vom vollendeten 6. bis 13. Lebensjahr. Diese war jedoch wegen der Dienstpflicht derselben beschränkt. Desweiteren sollte die Entfernung der Gemeinden vom Schulort maximal ½ Meile betragen. Die Lehrer sollten über deutsche und polnische Sprachkenntnisse verfügen, die Schulaufsicht durch die örtliche Pfarrer ausgeübt
und die Baukosten für Schulgebäude durch Gemeinden unter Mitwirkung der Dominien erbracht werden. Die Eltern der Schüler hatten ein
Schulgeld zu errichten. Durch dieses Reglement konnten aber nur wenige Verbesserungen erreicht werden. 34
Zum Kerpener Schulbezirk gehörten Ende des 18. Jahrhunderts der
Pfarrort Kerpen, das Nachbardorf Repsch sowie seit ihrer Gründung
um 1780 die Kolonie Reitersdorf.35 Repsch wird vermutlich aufgrund
des Schulreglements von 1765 zu Kerpen geschlagen worden sein, da
die Kirchengemeinde als Filiale zu Oberglogau gehörte, Kerpen aber
näher lag und ebenfalls polnischsprachig war. Die Anzahl der zu betreuenden Schüler und Schülerrinnen wird deshalb in der Kerpener
Schule zu dieser Zeit nicht unbedeutend gewesen sein. Ob diese alle
überhaupt in die Schule gingen, und wenn ja, wie regelmäßig, ist aber
völlig unsicher. Sowohl die Eltern als auch die Gutsherrschaften fühlten sich durch die Schulpflicht in ihren Verdienstmöglichkeiten eingeschränkt, da sie die Kinder zur Arbeit brauchten.36 So waren die Kinder der Kerpener Bauern beiderlei Geschlechts verpflichtet, nach Bedarf und Willkür der Herrschaft gegen Kost und Lohn auf sämtlichen
Vorwerken Hofdienste zu verrichten. Sie konnten vom Probst der Zisterzienser in Kasimir auch auf die südlich von Oberglogau gelegenen
Vorwerke des Ordens beordert werden.37 Desweiteren wurde sie von
34
Vgl. Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 9 - 22.
Vgl. Schul- und Gemeinde Chronik von Kerpen (wie Anm. 25), fol. 1.
36
Vgl. Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 32.
37
Vgl. Schwach – Beiträge zur Ortschronik von Kerpen (wie Anm. 10), S. 8.
35
Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 15
ihren Eltern benötigt, um z.B. das Vieh auf der Allmende zu hüten.38
Auch fiel es den Eltern häufig schwer, das Schulgeld zu bezahlen. So
wurden die Kinder häufig im achten oder neunten Lebensjahr wieder
aus der Schule genommen.
Wenn Schulunterricht erfolgte, war er zudem auf sehr geringem Niveau. Zumeist war die Lehrstube auch das Wohnzimmer des Lehrers.
Dieser brachte seinen Schülern den Katechismus, einige Gebete und
Lieder bei, manchmal das Buchstabieren oder sogar etwas Lesen und
Schreiben. Grundsätzlich fand der Unterricht in polnischer Sprache
statt, in der deutschen Sprache wurden die Kinder kaum unterrichtet.39
Es kann daher nicht verwundern, dass der Kerpener Lehrer Bartholomäus Koschek bei der Anfertigung des Diensturbariums im Jahre
1798 als Dolmetscher und Namensschreiber für 55 der 61 Unterzeichner dienen musste sowie 1810 bei der Säkularisation des Gutes den
Einwohnern des Dorfes das Edikt des Königs in die polnische Sprache
übersetzte.40 Immerhin entsprach die sprachliche Bildung Koscheks
dem Schulreglement, da er offensichtlich zweisprachig war. Aber
selbst im Jahr 1817 wurde der Dienstablösungsrezess in Kerpen nur
von zehn den 61 Kerpener Unterzeichnern selber unterschrieben.41
Der Wirkungsgrad der Schulausbildung war daher in Kerpen auch
nach den Reformen von 1765 offensichtlich recht begrenzt.
38
Vgl. Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 209. Gemäß
dem Diensturbarium des Dorfes Kerpen von 1798 wurde das Vieh nach
Einbringen des Grummets bis zum 1. Mai gemeinschaftlich auf allen Wiesen
gehütet. Vgl. dazu Schwach – Beiträge zur Ortschronik von Kerpen (wie Anm.
10), S. 9.
39
Vgl. Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 64 - 65 und
71 - 73.
40
Vgl. Schwach – Beiträge zur Ortschronik von Kerpen (wie Anm. 10), S. 11;
Weltzel – Die Cisterzienserpropstei Kasimir (wie Anm. 5), S. 179.
41
Vgl. Dienstablösungsrezess von Kerpen, 1817 (Staatsarchiv Oppeln: Sign.
3344, fol. 81 - 82.).
16
3.2
Ralph M. Wrobel
Die Schulreform von 1801
3.2.1 Volksschulsystem und Schulaufsicht
Erst mit dem Schulreglement aus dem Jahr 1801 für die katholischen
Elementarschulen kam es zu wirklichen Neuerungen. Ursprünglich
sollte das Edikt nur eine Abänderung und Ergänzung des Reglements
von 1765 sein, behandelte aber alle Punkte in so klarer Weise, dass es
bis ins beginnende 20. Jahrhundert Gültigkeit behielt. Insbesondere
wurden der Status des Schullehrers, seine materielle Versorgung sowie die Anforderungen an sein Bildungsniveau erhöht.42 Organisatorisch unterstanden die Schulen jetzt einer verteilten Aufsicht. Statt den
traditionellen geistlichen Instanzen wie Ortspfarrer, Erzpriester und
General-Vikaramt wurde die Aufsicht nun dem Ortspfarrer als Revisor
und einem geistlichen Kreisschulinspektor übertragen. Der Kerpener
Pfarrer hatte als Schulrevisor auch einmal wöchentlich persönlich den
katholischen Religionsunterricht zu besorgen. Er unterstand dabei direkt dem Kreisschulinspektor, welcher alle Schulen seines Bezirkes
einmal jährlich visitieren musste. Das Patronat über die Schule lag
zudem gemäß preußischem Landrecht beim Dominium, also der
Grundherrschaft. Das war in Kerpen zunächst das Zisterzienserkloster
Leubus, vertreten durch den Probst von Kasimir. Seit der Säkularisation 1810 übernahm der königliche Fiskus, der aufgrund dessen auch
Patron der örtlichen Pfarrkirche war, diese Funktion. Nach § 49 des
Schulreglements waren zudem in jedem katholischen Schuldorf zwei
Schulvorsteher zu wählen, die sich primär mit den materiellen Fragen
wie z.B. dem Schulausbau zu beschäftigen hatten.43 Damit wurden
auch die Gemeinden staatlicherseits an den Schulfragen beteiligt.44
42
Vgl. Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 116 - 124.
Vgl. Schul-Reglement für die niederen katholischen Schulen in den Städten und
auf dem platten Lande von Schlesien und der Grafschaft Glatz, 1801,
abgedruckt in: Heinrich Simon – Das Provinzial-Gesetzbuch der Schlesischen
Verfassung und Verwaltung, 6. Heft: Das Schul-Recht und die UnterrichtsVerfassung von Schlesien, Breslau 1848 (Nachdruck in: Sammlungen der
Gesetze, Verordnungen, Erlasse, Bekanntmachungen zum Elementar- bzw.
Volksschulwesen im 19./20. Jahrhundert, Bd. 4, 1989), S. 15 - 52, hier S. 42.
44
Vgl. Ulrich Seng – Die Schulpolitik des Bistums Breslau im 19. Jahrhundert,
Dortmund 1989, S. 72.
43
Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 17
Der Lehrer stand zwischen den Institutionen Schule, Kirche und Gemeinde, da er neben dem Lehramt auch das Amt des Organisten /
Küsters und des Gemeindeschreibers hielt.
Da es in Oberschlesien zu wenige Schulen gab, wurde zudem seit
1817 eine Initiative zum Schulbau befördert.45 Die Gründung der
Schule im benachbarten Repsch im Jahre 1836 und die Herauslösung
dieses Ortes aus dem Kerpener Schulverband ist auf diese preußische
Schulbauinitiative von 1817 zurückzuführen. Im Jahre 1855 bestanden
im Schulbezirk Oberglogau insgesamt 32 Schulen.46 Innerhalb eines
halben Jahrhunderts waren demnach bereits zehn neue Schulen hinzu
gekommen. Die folgende Tabelle zeigt die Lehrer an der Kerpener
Schule.
Tabelle 1: Kerpener Lehrer vor 1872.
Zeit
Lehrer
1674/79/88 Scholaris Andreas Ziemianek
1688: Scholiarcha Andreas Ziemianek 14 annis servit.
ca. 1747 1772
Martin Hase (Haase/ Hasse) Scholiarcha / SchulMeyster
+ 5.8.1772 (49 Jahre alt)
1772/88
Johan George Sukala, Schulmeister
Schuldienst ab 20.9.1772, am 29.4.1787 als Wittwer
(54 Jahre alt) erneut verheiratet mit der Jungfer Catherina Jendretzky (24 Jahre alt)
1798
1828
– Bartholomäus Koschek (Kosiek)
1828
– Johann Trojan
45
46
Schullehrer und Organist ab 16.9.1798, + 1828
Vgl. Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 119 - 120.
Vgl. Schul-Currenden-Buch des Schulbezirkes Oberglogau 1844 – 1873 (Archiv der Historischen Kommission für den Kreis Neustadt/OS e.V.), fol. 18v.
18
Ralph M. Wrobel
1839
1839
1874
+27.4.1839
- Joseph Barnert
auch Gärtner in Kerpen, ab 1.8.1874 erkrankt und von
Anton Hoppe vertreten, + 27.11.1874 (62 Jahre, an
Lungensucht)
Adjuvant
Julius Skora (15.8.1873 - 1.4.1874, an Lungensucht)
Quellen: Jungnitz – Visitationsberichte (wie Anm. 13), Kirchenbücher Kerpen (wie Anm.
19) und Schul- und Gemeinde Chronik von Kerpen (wie Anm. 25).
Als Schulrevisoren fungierten die Administratoren der Kerpener Kirche, die erst Ende des 19.Jahrhunderts wieder eine selbständige Pfarrei wurde. Dies waren der Administrator Dorotheus Rudoph (+ 1819),
sowie die Lokalisten Anselm Grabiec (1819 - 1835) und Michael Kuss
(1835 – 1880). Umfassende Revisionen fanden in Kerpen z.B. 1839
durch Weihbischof Latussek, 1853 durch Schul- und Regierungsrat
Bernhard Josef Bogedain, 1858 denselben als Weihbischof, und 1866
durch den Königl. Regierungs-und Schulrat Wittig statt.47 Dadurch
wird auch die Einbindung der Kerpener Schule in das kirchliche Aufsichtssystem deutlich.
47
Schul- und Gemeinde Chronik von Kerpen (wie Anm. 25), fol. 3. Von diesen
ist insbesondere der Schulrat und spätere Weihbischof Bernhard Josef Boge
dain (1810 – 1860) von großer Bedeutung. Er führte in Oberschlesien die polnische Sprache an den Volksschulen und an den Lehrerseminaren ein. Vgl. da
zu auch Abschnitt 3.2.4. Zur Person z.B. Bernhard Stasiewski – Bogedain,
Bernhard, in: Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803 bis 1945:
ein biographisches Lexikon, Berlin 1983, S. 62 - 63.
Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 19
3.2.2 Lehrerbesoldung und materielle Schulausstattung
In materieller Hinsicht sah das Schulreglement von 1801 eine Verbesserung der Ausstattung der Lehrer mit Schulhaus und Schulgrundstücken sowie ein Grundgehalt vor, womit es sich deutlich vom Reglement des Jahres 1765 unterschied.48 Konkret heißt es im Reglement,
dass die Lehrer ein „gutes, beständiges Haus“ zur Wohnung haben
sollen, sowie Acker- und Wiesenstücke, die ausreichend zur Haushaltung einer Familie und Fütterung von zwei Kühen sind. Das Mindesteinkommen, sollte aus einem Gehalt von 50 Talern, 15 Scheffeln
Roggen und 3 Scheffeln Gerste, sowie 9 Klaftern Holz zum Heizen
bestehen. Es sollte zu einem Drittel vom örtlichen Dominium als Patron und zu zwei Dritteln von der Gemeinde entrichtet werden. (§ 12
und § 19a)49 Das galt aber nur für die neu bestellten Lehrer. In Kerpen
musste Lehrer Bartholomäus Koschek aber nicht lange auf einer Verbesserung seiner Besoldung warten. Um das Jahr 1810 sind die reglementsmäßigen Zahlungen und Sachleistungen schon nachgewiesen.50
Vermutlich war Kerpen zu dieser Zeit bereits säkularisiert und die
Gutsherrschaft gehörte dem preußischen Fiskus.
Gemäß der Kerpener Schulchronik wurde im Jahre 1834 vor Ort eine
neues massives einstöckiges Schul- und Wohnhaus errichtet. Es bestand aus einer Lehrerstube, einer kleinen Wohnstube für die Lehrerfamilie, einer Kochstube, einem Keller sowie einem Dachboden mit
Bretterverschlag. Hinzu kamen Wirtschaftsgebäude und eine
Schwarz- und Federviehstallung. In den Jahren 1861 bis 1870 wurde
dieses Schulhaus noch erweitert. So bemerkt Lehrer Barnert, dass
1861: „eine Stube nebst Gewölbe ausgefertigt worden“ sei. Im Jahre
1870 schreibt er zudem, der Bauzustand des Schulgebäudes sei „ziemlich gut“. In diesem Jahre sei zudem eine zweite Lehrstube im hinteren Teil des Schulgebäudes eingerichtet worden, ebenso eine Dachstube über der Lehrerwohnung für einen Adjuvanten. Auch seien zwei
neue Holzställe entstanden, die das Schulgebäude mit der Scheune fest
48
Vgl. Seng – Die Schulpolitik des Bistums Breslau (wie Anm. 44), S. 73.
Vgl. Schul-Reglement 1801 (wie Anm. 43), S. 20 - 23 und 27.
50
Vgl. Weltzel - Die Cisterzienserpropstei Kasimir (wie Anm. 5), S. 173.
49
20
Ralph M. Wrobel
verbinden würden.51 Dieses Haus, das bis 1910 als Schulgebäude in
Kerpen genutzt wurde, stand schräg neben der Kirche zwischen den
Höfen der Gärtner Rack und des Bauern Sacher, vermutlich auf einem
traditionell zur Pfarrkirche in Kerpen gehörigen Grundstück.52
Abb. 3: Haus und Garten der katholischen Schule in Kerpen (vor 1911).
Quelle: Handzeichnung nach den Katasterakten 1910 [Staatsarchiv Oppeln, Grund Ac
ten für Bd. II Blatt 85 des Grundbuches von Kerpen / Gemeinde Kerpen 1819 –
1943, Sign.:
45/1519/0/3079, fol. 28].
Der Kostenaufwand für den Neubau von 1834 ist leider nicht bekannt.
Gemäß dem Kerpener Diensturbarium von 1798 hatte das Dominium
51
52
Vgl. Schul- und Gemeinde Chronik von Kerpen (wie Anm. 25), fol. 3 - 4.
Vgl. Handzeichnung nach den Katasterakten 1910 [Staatsarchiv Oppeln, Grund
Acten für Bd. II Blatt 85 des Grundbuches von Kerpen / Gemeinde Kerpen
1819 – 1943, Sign.: 45/1519/0/3079, fol. 28].
Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 21
das Baumaterial zu beschaffen, was auf das Allgemeine Landrecht in
Preußen zurückging, die Gemeinde hatte die Baukosten für den Bauhandwerker zu bezahlen, ebenso freie Spann- und Handdienste zu leisten.53 Vor der Säkularisierung des Gutes Kerpen wird der Zisterzienserorden allerdings kaum zum Schulbau beigetragen haben. Aus dem
ebenso zur Zisterzienserpropstei Kasimir gehörigen Nachbardorf
Komornik ist z.B. aus der Schulchronik bekannt, dass der Orden 1794
als Patron „weder zur Pfarrei noch zu den Schulgebäuden etwas
bei(trug)“54. Da ab 1810 der königlich preußische Fiskus Schulpatron
in Kerpen war, ist jedoch von einer reglementsmäßigen Lastenverteilung bei dem Bau des Schulgebäudes in Kerpen 1834 auszugehen.
Auch der Ausbau der Schule 1870, der 450 Thaler kostete, wurde vom
Fiskus getragen. Hinzu kamen die unentgeltlichen Spann- und Handdienste der Gemeinde.55
Nach der Einführung des Schulreglements von 1801 und der Säkularisation von 1810 hat sich zudem die Ausstattung des Kerpener Lehrers
Koschek mit Grundstücken verbessert. Während auf der Brouillon
Karte des Gutes Kerpen aus dem Jahre 1810 noch lediglich das „Organistenstück“ als Ausstattung der Kerpener Schule erkennbar ist,
taucht in einem Verzeichnis von 1865 sowie der Schulchronik von
1870 eine umfangreichere Landausstattung auf. So besaß der Lehrer
gemäß Schulchronik nun hinter der Schule einen Schulgarten von ca.
½ Morgen Fläche und gleich dahinter in derselben Breite ein Ackerstück bis an die Hotzenplotz von ca. 3 Morgen. (Vgl. Abb. 3) Dabei
handelt es sich offensichtlich um einen Teil des bis 1810 zur Pfarrei
gehörigen Pfarrstückes von ca. 8 Morgen Größe, welches auf der
Brouillon Karte von 1811 deutlich erkennbar ist. Hinzu kam ein
Schulacker von 7 Morgen gleich hinter dem Dorf auf Schreibersdorf
zu, Obritze genannt. Dies muss ein Teil des Pfarrstückes gewesen
sein, innerhalb dessen auch der „Organistenacker“ lag. Diese 10 Morgen waren gemäß der Aufstellung von 1865 tatsächlich 7 Morgen
Schulgrundstück und 3 Morgen Organisten-Acker. Hinzu kamen seit
53
Vgl. Schul- und Gemeinde Chronik von Kerpen (wie Anm. 25), fol. 1.
Vgl. Schulchronik Komornik (wie Anm. 23), fol. 4.
55
Vgl. Schul- und Gemeinde Chronik von Kerpen (wie Anm. 25), fol. 5.
54
22
Ralph M. Wrobel
der Hutungsablösung von 1857 noch 1 Morgen Wiesen auf Zarudnia.56 Diese Erweiterung des Landbesitzes der Kerpener Schule wird
nach der Säkularisation des Gutes Kerpen im Rahmen des Rezesses
von 1817 erfolgt sein, von der sich Auszüge in den Grundbuchakten
der Schule in Kerpen erhalten haben.57
Tabelle 2a: Einkünfte des Lehrers (1865) zahlbar von der Gemeinde.
Thl. /Sgr./Pf.
Gehalt (1869 um 25 Thl. erhöht)
50
20 Scheffel Rogen á 1 ½ Thl.
35 / 29 / 9
4 Scheffel Gerste á 1 Thl.
5/8/8
7 Klafter Kiefern Leibholz (seit 1841)
25
Zu Benutzung 7 Morgen Acker á 3 Thl. Ertrag
21
Zur Benutzung 1 Morgen Hutungsland, Ertrag
1
Hütungsentschädigung für Schwarzvieh
2
Summe:
146 / 8 / 5
Tabelle 2b: Einkünfte als Organist (1865) zahlbar von der Kirche.
Thl./Sgr./Pf.
Fundationen
1
1/3 der vorkommenden Accidenzen
5
Neujahrsgeld
2 / - / 18
56
Vgl. Specielles Verzeichnis sämtlicher Einnahmen des Lehrers und Organisten
Barnert zu Kerpen (Staatsarchiv Oppeln, Grund Acten für Bd. II Blatt 85 des
Grundbuches von Kerpen / Gemeinde Kerpen 1819 – 1943, Sign.:
45/1519/0/3079, fol. 11 – 11v.).
57
(Rezeß) zur Parzelle XIII (wie Anm. 17).
Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 23
54 hausbackene Brote von den Bauern á 5 Sgr.
9
17 Kirmeskuchen von den Bauern á 1 Sgr.
- / 17
Zur Benutzung 3 Morgen Acker á 3 Thl. Ertrag
9
Summe:
27 / - / 5
Quelle: Specielles Verzeichnis sämtlicher Einnahmen des Lehrers und Organisten Bar
nert zu Kerpen [Staatsarchiv Oppeln, Grund Acten für Bd. II Blatt 85 des Grund
buches von Kerpen / Ge
meinde
Kerpen
1819
–
1943,
Sign.:
45/1519/0/3079, fol. 11 – 11v].
Das Gehalt der Lehrer in der Oberglogauer Umgebung wurde seit
1816 fixiert, im gleichen Jahr auch das Schulgeld der Eltern abgeschafft.58 Wie man anhand der Aufstellung von 1865 deutlich erkennen kann, sind alle Einkommen, die der Lehrer in seiner Funktion als
Organist bereits 1679 erhielt, noch erhalten. Damals hatte er neben
dem Organistenacker von jedem Bauern ein Brot und von der Gemeinde einen Florin erhalten, nun – ca. 200 Jahre später – erscheinen
neben den drei Morgen immer noch die „hausbackenen Brote“ sowie
gewisse geringe Geldeinnahmen. Hinzu kamen Kirmeskuchen von
den Bauern, welche sicherlich auch eine alte Abgabe für den Küster /
Organisten darstellen. Seine Einkünfte als Schullehrer, wie sie aus
Tabelle 2a hervorgehen, sind hingegen jüngeren Ursprungs und auf
die Umsetzung der preußischen Schulreglements von 1765 und 1801
zurückzuführen.
3.2.3 Lehrerausbildung und Verbesserung der Pädagogik
Gemäß dem Schulreglement von 1801 durften die Lehrer und Adjuvanten (Hilfslehrer) kein nebenberufliches Gewerbe mehr ausüben.
Insbesondere wurden ihnen nun „alle und jede Gewerbe nachdrücklich verboten, besonders der Bier- und Brandweinausschank, das
Handeln und Musikmachen in Wirtshäusern und bei Hochzeiten“ (§
32). Auch mit der eigentlichen Landwirtschaft sollten sie sich nicht
58
Vgl. Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 163.
24
Ralph M. Wrobel
beschäftigen, sondern ihren Acker verpachten. (§ 14) 59 Für Kerpen ist
hingegen belegt, dass zumindest Lehrer Barnert (1839 – 1874) neben
dem Schulacker noch eine eigene Gärtnerstelle mit entsprechendem
Acker besaß. Er wird daher wie die anderen Landwirte des Ortes gelebt und gewirtschaftet haben. 60
Die Lehrer sollten zudem eine Fachausbildung an einem staatlichen
Lehrerseminar abgeschlossen haben.61 Dafür wurde im Jahre 1800 in
Oppeln ein neues Seminar für Oberschlesien errichtet, das ab 1803
dann in Oberglogau residierte.62 Keine Neuerungen gab es hingegen
bei der Forderung nach deutschen und polnischen Sprachkenntnissen.
So war der ab dem 16. September 1798 in Kerpen ansässige Schullehrer und Organist, Bartholomäus Koschek, nachweislich in beiden
Sprachen, deutsch und polnisch, bewandert. Über seine Ausbildung
liegen allerdings keine Informationen vor. Das gilt auch für die Nachfolger Koscheks, die Lehrer Johann Trojan (1828 – 1839) und Joseph
Barnert (1839 – 1874). Dass Zweisprachigkeit bei Lehrer Barnert vorlag, ist dadurch deutlich, dass er die Schulchronik des Dorfes 1870 in
deutscher Sprache verfasste, den Unterricht aber offensichtlich primär
in polnischer Sprache abhielt.63 Ob einer der Lehrer das Seminar in
Oberglogau besucht hat, ist zwar nicht nachgewiesen. kann aufgrund
der Anforderungen aus dem Schul-Reglement von 1801 aber vermutet
werden.
In pädagogischer Sicht brachte das Reglement von 1801 folgende Änderungen: Statt eines stumpfen Auswendiglernens sollten die Lehrer
sich jetzt um eine Bildung des Verstandes der Kinder bemühen. Durch
die sogenannte sokratische Methode sollte den Kindern vom Sinnli59
Schul-Reglement 1801 (wie Anm. 43), S. 23 und 34.
Gemäß dem Rezess über die Zuteilung der Hutung Zarudnia und der Hoyna
Wiesen zu Kerpen, 1857 (Staatsarchiv Breslau: Kom. Gen. Rej. Opolskiej: III
8383), fol. 97, hielt er die Gärtnerstelle Hyp.-Buch Nr. 4.
61
Vgl. Schul-Reglement 1801 (wie Anm. 43), § 1, ebenso Kosler – Die
preußische Volks-schulpolitik (wie Anm. 14), S. 117 - 118.
62
Vgl. Schermuly – Das Lehrer-Seminar in Ober-Glogau (wie Anm. 11), S. 6 - 8,
und Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 232.
63
Vgl. Schul- und Gemeinde Chronik von Kerpen (wie Anm. 25), fol. 2 - 3.
60
Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 25
chen ausgehend das Abstrakte erschlossen werden. In einer Anweisung der köngl. Schuldirektion wurde lt. § XII zu den Inhalten des
Elementarunterrichts bestimmt: „Buchstabenkenntniß, Buchstabiren
und Lesen, Religion und Christenthum; Rechnen und Schreiben,
Kenntniß des menschlichen Körpers, und der vorzüglichsten Mittel,
um ihn gesund und zur Arbeit tauglich zu halten; (…) Bekanntschaft
mit der Natur“. 64 Ein entsprechendes Elementarbuch in deutscher und
polnischer Sprache wurde durch die preußische Verwaltung bereitgestellt und war bereits 1803 „beinahe in ganz Schlesien eingeführt“65,
also wohl sicherlich auch in Kerpen, dort aber in der polnischen Version. Ergänzt sei noch, dass das Recht zur Züchtigung der Schulkinder
in Preußen stets unumstritten war. Die Gesetze beschränkten sich lediglich darauf, Ausschreitungen zu verhindern.66
Im Reglement von 1801 wurde ausdrücklich akzeptiert, dass während
der Ernte die Schulen auf dem Lande für vier Wochen vollständig geschlossen wurden (§ 39) und im Sommer („von Georgi bis Martini“,
d.h. 23.4. – 11.11.) nur vormittags drei Stunden Unterricht stattfanden.
Im Winter hatte der Lehrer dazu noch zwei Stunden zusätzlich zu unterrichten. Nur die Nachmittage am Mittwoch und Sonnabend wurden
ihm zur Erholung frei belassen. (§ 43) Dabei waren die kleinen Kinder, welche Buchstabieren lernen, nur einige Stunden am Vormittag
zum Schulbesuch verpflichtet. Faktisch besuchten viele Kinder die
Schule jedoch nur drei Monate im Jahr, wobei die Verhältnisse in den
deutschsprachigen Kreisen links der Oder deutlich besser gewesen
sein sollen als im rein polnischsprachigen Teil rechts des Flusses.67
Bezüglich des Schulbesuches ist es in der ersten Hälfte des 19. Jahr64
Vgl. Seng – Die Schulpolitik des Bistums Breslau (wie Anm. 44), S. 76 - 77.
Ebd., S. 79.
66
Vgl. Rudolf Korth – Die preußische Schulpolitik und die polnischen
Schulstreiks: Ein Beitrag zur preußischen Polenpolitik der Ära Bühlow,
Würzburg 1963, S. 14. An der Kerpener Schule wurden die Kinder noch in der
Zwischenkriegszeit von deutschen Lehrern, wie auch nach dem Krieg von ihren
polnischen Nachfolgern „geprügelt“. [Mündliche Mitteilung von Kerpener
Schulkindern der Zeit.].
67
Schul-Reglement 1801 (wie Anm. 43), S. 36 - 39, sowie Kosler – Die
preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 167 und S. 121 - 122.
65
26
Ralph M. Wrobel
hunderts aber wohl zu einer deutlichen Besserung in Oberschlesien
gekommen. So verlautet ein Circular-Schreiben der königlichen Regierung in Oppeln aus dem Jahre 1855 an den Schulinspektor für den
Oberglogauer Bezirk: „Die im § 43 des katholischen Schulreglements
vom 18. Mai 1801 nachgegebene halbtägige Sommerschule ist an vielen Orten zu unserer Genugthuung ganz außer Gebrauch gekommen,
und es wird das ganze Jahr hindurch mit Ausnahme der Rekreationstage täglich ein fünfstündiger Unterricht erteilt.“68 Wie das Schreiben
weiter fortfährt, konnten sich diese Besserungsmaßen allerdings noch
nicht überall durchsetzen. Allerdings konnte der Schullehrer Barnert
1870 in der Chronik schreiben, der Schulbesuch in Kerpen sei „ziemlich regelmäßig“, es gäbe aber auch den „Türunterricht“, worunter
wohl das Unterrichten der Kinder auf dem Hof vor der Schule zu verstehen ist, wenn zu viele derselben zur Schule kamen.
Zudem wurde durch das Reglement von 1801 die Einstellung eines
Adjuvanten (Hilfslehrers) bei mehr als 100 Schülern pro Schule gefordert (§ 27).69 In Kerpen gab es allerdings trotz einer steigenden Anzahl schulpflichtiger und schulbesuchende Kinder (107 [1864], 140
[1870]) durchgehend nur eine einklassige Schule mit einem Lehrer.70
Unterricht kann daher erst möglich gewesen sein, wenn viele Kinder
fehlten. In den Nachbardörfern war die Situation nicht viel anders. In
Repsch, wo 1836 eine eigene Schule erbaut worden war, wurden 71
Kinder (1864) von einem Lehrer unterrichtet, in Körnitz gab es eine
katholische Schule mit zwei Lehrern für 238 Kinder (1864), die auch
aus den Nachbardörfern Reitersdorf und Neuhof kamen.71 Dass die
Erfolge des Unterrichts begrenzt sein müssen, ist damit sicherlich
deutlich. Dennoch ist ein Fortschritt feststellbar. Wie sich die Schulreformen in Kerpen auswirkten kann grob anhand eines Vergleichs von
Unterschriften der örtlichen Hofbesitzer in Dokumenten festgestellt
werden. So unterzeichneten im Jahre 1817 noch fast alle Stellenbesit68
Vgl. Schul-Currenden-Buch Oberglogau (wie Anm. 46), fol. 17v.
Vgl. Schul-Reglement 1801 (wie Anm. 43), S. 33.
70
Vgl. Felix Triest - Topographisches Handbuch für Oberschlesien, Breslau 1864
(Neudruck Sigmaringen 1984), S. 1078, und Schul- und Gemeinde Chronik
von Kerpen (wie Anm. 25), fol. 3 - 4.
71
Vgl. Triest – Topographisches Handbuch (wie Anm. 70), S. 1070 und 1080.
69
Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 27
zer den Dienstablösungsrezess mit drei Kreuzen, während 1857 von
87 Unterzeichnern des Hutungsablösungsrezesses schon 55 ihren Namen selber schreiben konnten. Drei Kreuze machten hier nur noch 15
Unterzeichner, insbesondere Häusler. Die restlichen 17 Einwohner
fehlten.72 Auch wenn die Unterschriften 1857 zumeist krakelig und
unsicher erscheinen, kann man doch von einer Verbesserung der Alphabetisierung sprechen. Man muss ja auch berücksichtigen, dass es
sich bei den Unterzeichnern um Landwirte handelte, die bei ihrer täglichen Arbeit nie eine Schreibfeder in der Hand hielten.
3.2.4 Sprachenpolitik
Von besonderem Interesse ist die preußische Sprachenpolitik dieser
Zeit in Oberschlesien. Sie ist als sehr wechselhaft zu bezeichnen. Um
1815 war den Kinder in den meisten polnischsprachigen Orten Oberschlesiens die deutsche Sprache kaum bekannt. Deshalb wurde die
Lehrerausbildung im Seminar in Oberglogau in den Jahren von 1814
bis 1844 nur deutsch-sprachig abgehalten, um Lehrer für Oberschlesien auszubilden, welche die deutsche Sprache – die Staatssprache
Preußens – beherrschten.73 Desweiteren wurde großer Wert auf die
Vermittlung der deutschen Sprache in den polnischsprachigen Dorfschulen gelegt. Das stieß bei der polnischsprachigen Bevölkerung
kaum auf Widerstand. Ganz im Gegenteil, häufig hatten polnischsprachige Eltern sogar den Wunsch, ihre Kinder Deutsch lernen zu lassen,
weil damit ein sozialer Aufstieg ermöglicht wurde. Zudem handelte es
sich dabei um keine nationalpolitisch motivierte Germanisierung, sondern den Versuch, Bildungsstand und innerstaatliche Kommunikationsfähigkeit der polnischsprachigen Bevölkerung zu verbessern.74 Al72
Vgl. Dienstablösung Kerpen 1817 (Staatsarchiv Oppeln: Sign. 45/1519/0/3344),
fol. 64 - 96, und Rezess über die Zuteilung der Hutung (wie Anm. 60).
73
Vgl. Schermuly – Das Lehrerseminar in Ober-Glogau (wie Anm. 11), S. 63,
ebenso bei Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 138 155.
74
Vgl. ebd, S. 273. Das wird auch in der Diskussion um die richtige Schulsprache
in Oberschlesien, welche damals u.a. in den Schlesischen Provinzialblättern
abgehalten wurde deutlich. Vgl. dazu z.B. Joseph Kauschke – Ueber die
28
Ralph M. Wrobel
lerdings kamen auf diese Weise manchmal auch rein deutschsprachige
Lehrer in polnischsprachige Ortschaften, worunter der Unterricht natürlich litt.75 Die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit wird
dadurch deutlich, dass um 1815 noch kaum ein Fortschritt bei der Einführung der deutschen Sprache in Oberschlesien festgestellt werden
konnte, andererseits im Jahre 1824 alle Schulen im Kreis Neustadt als
„deutsch“ (21) oder „polnisch-deutsch“ (32), keine als „polnisch“ galten.76 Kerpen muss demnach zu den polnisch-deutschen Schulen gezählt worden sein, was aber als Übertreibung der tatsächlichen Verhältnisse angesehen werden muss, da hier auch Jahrzehnte später nur
geringe Deutschkenntnisse der Kinder festgestellt werden können.
Die Erfolglosigkeit dieser Politik wurde erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich und führte zu einem grundlegenden Wechsel in der
preußischen Sprachpolitik. So wurde einerseits im Jahre 1844 Polnisch-Unterricht für die Lehramtskandidaten im Oberglogauer Seminar Vorschrift.77 Ebenso wurde die polnische Sprache in den Volksschulen nun gefördert. So heißt es beispielsweise in einem Schreiben
der königlichen Regierung in Oppeln vom 19.2.1863: „Den Lehrern
an polnischen Schulen (…) muß es überlassen bleiben die Muttersprache der betreffenden Kinder zur Vermittlerin des (…) gegebenen Stoffes zu machen.“78 Andererseits machte noch 1859 der Neustädter
Landrat den Lehrern in den „utraquistischen Schulen“ des Kreises eine Circular-Verfügung der Kreisschulinspektoren bekannt, in der bemängelt wird, dass „der deutschen Sprache immer noch nicht die erErziehung des gemeinen Mannes in Oberschlesien, in: SchlProvBl 15, 1792, S.
487 - 498, und 15, S. 98 - 109 & 305 - 317; Schaffarczyk – Ueber die
Möglichkeit einer schnellen allgmeinen Einführung der deutschen Sprache in
dem polnisch redenden Theile Oberschlesiens, in: SchlProvBl 100, 1834, S. 155
- 157; K. Bischoff – Soll der Unterricht in der Volksschule in der Muttersprache
ertheilt werden? – Mit Rücksicht auf die Schulen polnischer Gegenden
Schlesiens, in: SchlProvBl 129, 1849, S. 515 - 522.
75
Vgl. Schermuly – Das Lehrer-Seminar in Ober-Glogau (wie Anm. 11), S. 64,
wo von einem Lehrer Neumann aus Neustadt berichtet wird, der 1835 nach
Klein-Strehlitz kam, des Polnischen aber gar nicht mächtig war.
76
Vgl. Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 137 und 283.
77
Vgl. Schermuly – Das Lehrer-Seminar in Ober-Glogau (wie Anm. 11), S. 64.
78
Vgl. Schul Currenden-Buch Oberglogau (wie Anm. 46), fol. 66.
Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 29
wünschte und nöthige Sorgfalt und Beförderung gewidmet wird.“79
Der deutsche Sprachunterricht muss sich daher bis dahin kontinuierlich auf einem sehr niedrigen Niveau befunden haben, wenn er überhaupt stattfand. Entsprechend schreibt Lehrer Barnert noch 1870 in
der Schulchronik: „die Muttersprache der Schüler ist polnisch, jedoch
werden sie auch in der deutschen Sprache bis zum Verständnis gebracht“80. Bis zu dieser Zeit kann daher wohl kaum von einer Zweisprachigkeit Kerpens wie seiner oberschlesischen Nachbardörfer gesprochen werden.
4. Ausblick und Bewertung
Zu massiven weiteren Veränderungen kam es im oberschlesischen
Schulwesen erst nach der Reichsgründung im Jahre 1870. Im „Gesetz
betreffend der Beaufsichtigung des Unterrichts- und Erziehungswesens“ vom 11. März 1872 wurde endgültig festgelegt, dass Schulen
„Veranstaltungen“ des Staates sind. Insbesondere die katholische Kirche wurde - im jetzt beginnenden Kulturkampf - aus dem Schulwesen
ausgeschlossen. Entsprechend wurden die Schulaufsichtsorgane nur
noch vom Staat ernannt. Die Beteiligung der Gemeinden wurde auf
die äußere Schulverwaltung, d.h. Errichtung, Ausstattung und Unterhaltung der Schulen, begrenzt. Einen Einfluss auf die Auswahl der
Lehrer hatte sie damit nicht mehr.81
Gemäß des Lehr- und Lectionsplanes vom 15.10.1872 durfte ab dem
Schuljahr 1872/73 der „Unterricht … nur in deutscher Sprache stattfinden“, wie auch die Kerpener Schul- und Gemeinde Chronik vermeldet.82 Nach einem Schreiben der königlichen Regierung in Oppeln
vom 1.6.1872 sollte die Schule „ die Aufgabe (haben), die ihr anvertrauten Kinder, besonders diejenigen, deren Muttersprache nicht die
deutsche ist, in den Gebrauch der deutschen Sprache soweit einzufüh79
Betr. den deutschen Unterricht in utraquistischen Schulen, in: Neustädter
Kreisblätter 1859-04-30, S. 89 - 90.
80
Vgl. Schul- und Gemeinde Chronik von Kerpen (wie Anm. 25), fol. 4.
81
Vgl. Korth – Die preußische Schulpolitik (wie Anm. 66), S. 15.
82
Vgl. Schul- und Gemeinde Chronik von Kerpen (wie Anm. 25), fol. 4 - 5.
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Ralph M. Wrobel
ren und darin zu befestigen, als erforderlich ist, um sie in ihren künftigen Lebensverhältnissen zur mündlichen und schriftlichen Verständigung mit ihren deutsch redenden Mitbürgern zu befähigen.“83 Lediglich der Religionsunterricht durfte noch in der Muttersprache der
Kinder durchgeführt werden. Darin kann einerseits das Ende einer
sprachlichen Toleranz, wie sie im Königreich Preußen üblich gewesen
war, gesehen werden, andererseits aber auch ein konkretes Bemühen
der preußisch-deutschen Staatregierung durch eine einheitliche Schulausbildung alle Bürger des neuen deutschen Nationalstaates zur
Kommunikation in der deutschen Staatssprache zu befähigen. Letztendlich handelt es sich mit der Gesetzgebung von 1872 aber um einen
Übergang von der pädagogisch-orientierten zur nationalpolitisch bestimmten Schulpolitik.84 Zusammen mit der kirchenfeindlichen Politik
Bismarcks in den kommenden Jahren, waren die Ergebnisse dieser
Politik verheerend, da sie in der oberschlesischen Bevölkerung eine
anti-deutsche und später sogar pro-polnische Haltung begünstigten.
Andererseits wurde in dieser Zeit das Schulwesen erheblich weiterentwickelt. Am 15.8.1873 wurde endlich ein erster Adjuvant (Hilfslehrer) in Kerpen eingestellt. Er hieß Julius Skora und stamme aus Leschnitz. Außerdem wurde endlich auch der sogenannte Industrieunterricht in Kerpen eingeführt. Er bestand aus einer handwerklichen Ausbildung wie z.B. Handarbeiten für die Mädchen.85 Eigentlich war er
schon durch das Schulreglement von 1801 gefordert worden. (§ 58)86
Aufgrund zahlreicher Widerstände dauerte die Einführung in vielen
Ortschaften viele Jahrzehnte, in Kerpen immerhin 69 Jahre! Die Industrieschule für die Mädchen wurde ab 1870 jeweils zwei Stunden
wöchentlich durch die Lehrertochter Mathilde Barnert erteilt.87 Als
83
Schreiben der Königl. Regierung Oppeln vom 1.6.1872 (Schul-Currenden-Buch
Oberglogau (wie Anm. 46), fol. 119v.).
84
Vgl. Korth – Die preußische Schulpolitik (wie Anm. 66), S. 35 - 41.
85
Vgl. Kosler – Die preußische Volksschulpolitik (wie Anm. 14), S. 123.
86
Vgl. Schul-Reglement 1801 (wie Anm. 43), S. 48 - 49.
87
Vgl. Schul- und Gemeinde Chronik von Kerpen (wie Anm. 25), fol. 5. An der
Übungsschule des Lehrerseminars in Oberglogau fand die Einführung der
Industrieschule auch erst1863 statt. Vgl. dazu Schermuly – Das Lehrer-Seminar
in Oberglogau (wie Anm.11), S. 153.
Die Entwicklung des oberschlesischen Schulwesens in preußischer Zeit 31
das alte Schulgebäude zunehmend baufällig und für die steigende
Schülerzahl zu klein wurde, errichtete die Gemeinde Kerpen 1911 ein
neues Schulhaus auf dem Nachbargrundstück. Kurz vor Beginn des
zweiten Weltkrieges kam es zudem zu einer Vermögensauseinandersetzung bezüglich der bisher vereinigten Schul- und Kirchenämter des
Lehrers, konkret bezüglich „Küsterschulgehöft” und Acker. Erst damals wurden auch diese beiden Ämter strikt getrennt. Damit entstand
aber erst kurz vor dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches in
Oberschlesien und somit auch Kerpen überhaupt ein modernes Schulwesen.
Betrachtet man die Entwicklung des Schulwesens in Kerpen exemplarisch für das Schulwesen im preußischen Oberschlesien, kann man zu
den folgenden Ergebnissen kommen. Eine kontinuierliche aber langsame Verbesserung der materiellen und pädagogischen Situation bezüglich Lehrerdotation, Schulhausbau und Klassenverkleinerung ist
durchaus erkennbar. Durch die Schaffung des Lehrerseminars in
Oberglogau konnte auch die Ausbildung der Lehrer deutlich verbessert werden. Andererseits war es sehr kontraproduktiv, die Finanzlast
bei den Gemeinden zu konzentrieren. Wirkliche Verbesserungen traten deshalb immer erst ein, wenn die örtliche Gemeinde materiell dazu
in der Lage war. In Kerpen wird das Patronat des königlichen Fiskus
die Entwicklung beschleunigt haben. Denn dadurch, dass die königliche Regierung selber die Patronatspflichten besaß, stellte deren Leistung auch sicher. Zudem ist von einer wechselhaften Minderheitenund Sprachenpolitik im preußischen Oberschlesien zu sprechen. Aber
erst mit der Reichsgründung 1870 wurde das Schulwesen in Oberschlesien und damit auch Kerpen massiv modernisiert, allerdings verbunden mit einer Politik, die gegen die katholische Kirche (Kulturkampf) und die polnische Sprache der oberschlesischen Bevölkerung
gerichtet war. Die preußischen Schulreformen haben demnach in Kerpen wie auch in ganz Oberschlesien eine enorme Weiterentwicklung
bewirkt, eine gezieltere staatliche Bildungspolitik, die auch zentral
finanziert ist, wäre aus heutiger Sicht aber viel erfolgreicher gewesen.

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