31 B. Konstellationsanalyse: Konfliktstrukturen in der irischen
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31 B. Konstellationsanalyse: Konfliktstrukturen in der irischen
B. Konstellationsanalyse: Konfliktstrukturen in der irischen Kolonialgesellschaft im 18. Jahrhundert I. Einleitung „Nationalistische Ideologie ist weder der Ausdruck einer nationalen Identität (zumindest gibt es keinen rationalen Weg, um nachzuweisen, daß dies der Fall ist) noch die willkürliche Erfindung von Nationalisten für politische Zwecke. (...) Genau weil ihre [nationalen – MR] Annahmen nicht rein willkürlicher Natur sind, müssen sie eine mehr oder weniger plausible Verbindung mit existierenden sozialen Arrangements und Bedürfnissen, mit tatsächlichen Überzeugungen und mit oftmals weit verbreiteten politischen Mißständen aufweisen.“1 Der zentrale Gesichtspunkt dieser These JOHN BREUILLYS liegt in der Annahme, daß nationale Ideologien nicht willkürlich, sondern in Abhängigkeit von und Anlehnung an konkrete, präexistente gesellschaftliche Sachverhalte entstehen. Mit dieser Position steht Breuilly keineswegs allein, sie reflektiert vielmehr eine allgemeine Grundannahme, die zumindest seit ERNEST RENANS lakonischer Feststellung, daß der Mensch sich selbst nicht aus dem Stegreif erfinden kann,2 in der Nationalismusforschung implizit oder explizit opinio communis ist.3 Wenn jedoch Nationalismus und nationale Ideologien auf der Basis gesellschaftlicher und historischer Realitäten entstehen, dann müssen sie, wie ERIC HOBSBAWM schreibt, „im Kontext dieser Realitäten erklärt werden.“4 Dazu bedarf es zweierlei: Erstens muß das generelle Verhältnis zwischen dem gesellschaftlichen Entstehungskontext des Nationalismus5 und dem tatsächlichen Entstehungsprozeß im Vorgriff geklärt werden, bevor im zweiten Schritt der auf diese Weise umrissene Rahmen mit Inhalt gefüllt und nach den spezifischen „so- 1 J. Breuilly, Nationalism and the State, Manchester 19932, S. 63. (meine Übersetzung) Renan, Nation, S. 34. 3 Vgl. exemplarisch K.W. Deutsch, Nation und Welt, in: H.A. Winkler (Hg.) Nationalismus, Königstein 19852, S. 49-66; B. Anderson, Imagined Communities, Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1991; A.D. Smith, National Identity, Harmondsworth 1991; E. Gellner, Nationalismus und Moderne, Hamburg 1995 (engl. Originalausg. 1983); E.J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus seit 1780, Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt/M. 19922 (engl. Originalausg. 1990). 4 Hobsbawm, Nationen, S. 20. 5 ‚Der Nationalismus’ wird hier als generischer Begriff für die gesamte Bandbreite spezifischer Nationalismen (d.h. der spezifischen Ausprägungen des übergreifenden Phänomens ‘Nationalismus) verstanden. 2 31 zialen Arrangements", die im Kontext des konkreten Untersuchungsgegenstands relevant werden, gefragt werden kann. a) Das Verhältnis zwischen Entstehungskontext und Entstehungsprozeß des Nationalismus. Der überwiegende Teil der Nationalismusforschung, der von der These ausgeht, daß es sich beim Nationalismus um ein Phänomen moderner Gesellschaften handelt, das erst im Laufe des 18. Jahrhunderts, an der Schwelle zur Neuzeit entsteht,6 sieht einen Zusammenhang zwischen der Entstehung des Nationalismus einerseits und gewissen gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozessen andererseits.7 Letztere werden wahlweise mit den Stichworten ‘staatliche Zentralisierung’, ‘Säkularisierung’, ‘Industrialisierung’, ‘soziale Mobilität’, Durchsetzung der ‘Marktwirtschaft’, Entstehung einer ‘Hochkultur’ samt der dazugehörigen staatlichen Bildungsinstitutionen, ‘technologischer Fortschritt’ und ‘neuen Kommunikationsformen’ umrissen.8 Die Akzentuierung der einzelnen Faktoren unterscheidet sich zwar ebenso von Autor zu Autor wie die Nachdrücklichkeit, mit der einige Autoren einen bestimmten Nexus zwischen gesellschaftlichem Entstehungskontext und der tatsächlichen Genese des Nationalismus hervorzuheben versuchen, aber angesichts des Tableaus gesellschaftlicher Referenzpunkte ist ein modernisierungs-theoretischer Bezugsrahmen dieser Autoren schlechterdings nicht von der Hand zu weisen. Sie gehen ausnahmslos alle davon aus, daß gewisse gesellschaftliche Bedingungen erfüllt sein müssen, bevor Nationalismus überhaupt entstehen kann. Andererseits muß RENANS Hinweis, daß der Mensch sich nicht aus dem Stegreif erfindet, und daß ,die‘ Nation – wie der Einzelne – der Endpunkt einer langen Vergangenheit von Anstrengungen, Opfern und Hingabe darstellt, ernstgenommen werden.9 Auch die Nation kann der Mensch nicht aus dem Stegreif erfinden, er muß zu diesem Zweck auf präexistentes, kulturelles ,Rohmaterial’ zurückgreifen.10 A. D. SMITH hat hierfür die einprägsame Formulierung gefunden, daß der Nationalismus, einem Chamäleon gleich, die Farbe seines Kontextes annimmt.11 6 Autoritativ hierzu Langewiesche, Nation/Forschungsstand, S. 200-204. Vgl. O. Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland, 1770-1990, München 1993, S. 14; P. Alter, Nationalismus, Frankfurt/M. 1985, S. 10; Winkler, Nationalismus, S. 6. 8 Vgl. exemplarisch Deutsch, Nation, S. 51-53; Anderson, Imagined Communities, S. 9-46; Smith, National Identity, S. 59-61; Gellner, Nationalismus, S. 34-97; Hobsbawm, Nationen, S. 20-24. 9 Renan, Nation, S. 34. 10 Vgl. Gellner, Nationalismus, S. 77. 11 Smith, National Identity, S. 79. 7 32 Diesen Ergebnissen der modernen Nationalismusforschung zufolge gibt es also einen doppelten Nexus zwischen der Genese des Nationalismus und seinem gesellschaftlichen Entstehungskontext: 1.) Bedingungsebene. Gewisse strukturelle Voraussetzungen müssen in einer Gesellschaft erfüllt sein, bevor einerseits ‘die Nation’ denkbar, kommunizierbar und schließlich sensuell erfahrbar gemacht werden und bevor andererseits eine Nachfrage nach nationalistischen Orientierungsmustern entstehen kann. Ohne eine politische Öffentlichkeit beispielsweise ist die Genese eines Nationalismus kaum vorstellbar. Andererseits sind diese strukturellen Voraussetzungen bloß als notwendige, nicht aber als hinreichende Entstehungsbedingungen eines Nationalismus zu betrachten: So kann – um beim Beispiel zu bleiben – die Entstehung einer politischen Öffentlichkeit zwar die Genese eines Nationalismus nach sich ziehen, sie muß es aber nicht. Mit deterministischen Setzungen im Stil einer Rezeptur für die Genese des Nationalismus kommt man also nicht weiter, es bedarf notwendig der empirischen Überprüfung am Einzelfall, wenn man die unentbehrlichen Vorbedingungen für die Genese eines spezifischen Nationalismus ergründen will. 2.) Konstruktionsebene. Nationalisten konstruieren ‘ihre’ Nation unter Rückgriff auf gesellschaftliche Werte, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster und mit Hilfe von Symbolen und sozialen Praktiken, die sie aus der Asservatenkammer gesellschaftlich-kultureller Artefakte entlehnen. Aufgrund der Mobilisierungserwartungen und -hoffnungen von Nationalisten, die sie bei zweckrationalem Vorgehen dazu veranlassen, ‘ihre’ Nation maßgeschneidert zu den antizipierten Erwartungen der potentiellen Gefolgschaft zu entwerfen, ist die spezifische Form, die einem Nationalismus verliehen wird, also nur im kulturellen Kontext seiner Entstehungsgesellschaft zu entschlüsseln. Angesichts des doppelten Nexus empfiehlt es sich, zunächst mit der Untersuchung des historischen Hintergrunds und der Entstehungsbedingungen des republikanischen Nationalismus in Irland zu beginnen, um den Rahmen für die weitere Analyse abzustecken. Neben einer allgemeinen Einführung des Lesers in die irische Geschichte des 18. Jahrhunderts dient dieses Kapitel vor allem dem Zweck, Konfliktpotentiale und mögliche Bruchstellen in der irischen Gesellschaft zu identifi33 zieren, die entweder Barrieren oder Ansatzpunkte für nationalistische Identifikationsprozesse bilden konnten und zugleich entscheidenden Einfluß auf Vergemeinschaftungsprozesse in der irischen Gesellschaft hatten.12 Im Zentrum der folgenden Konstellationsanalyse steht also eine konflikttheoretisch fundierte Analyse gesellschaftlicher Fragmentierungsprozesse (oder positiv gewendet: innergesellschaftlicher Gruppenbildungsprozesse).13 Diese Fokussierung der Konstellationsanalyse ist hochgradig präjudizierend und daher erklärungsbedürftig. Der Grund für diese Vorentscheidung liegt im zentralen Spezifikum der Genese des republikanischen Nationalismus in Irland – seinem kolonialen Entstehungskontext. Wir beenden also an dieser Stelle den allgemeinen Vorgriff und beginnen damit, den abgesteckten analytischen Bezugsrahmen an den konkreten Untersuchungsgegenstand anzubinden. b) Der koloniale Entstehungskontext des republikanischen Nationalismus in Irland. Von MAX WEBER stammt die Erkenntnis, daß „»Nation« (...) ein Begriff [ist], der, wenn überhaupt eindeutig, dann jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr Zugerechneten definiert werden kann. Er besagt, im Sinne derer, die ihn jeweilig brauchen, zunächst unzweifelhaft: daß gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten sei, gehört also der Wertsphäre an. Weder darüber aber, wie jene Gruppen abzugrenzen seien, noch darüber, welches Gemeinschaftshandeln aus jener Solidarität zu resultieren habe, herrscht Übereinstimmung.„14 Demnach können also über den empirisch nachprüfbaren Einzelfall hinaus keine verläßlichen Aussagen über den mit einer Nation verbundenen Handlungshorizont, ihre tatsächlichen Demarkationslinien oder Zugehörigkeitskriterien gemacht 12 In Anlehnung an Max Weber wird hierunter eine soziale Beziehung verstanden, deren „Einstellung des sozialen Handelns (...) auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht.“ Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 19805, S. 21. (Fortan zitiert als WG) 13 Auf eine einfache Formel gebracht, geht die Konflikttheorie davon aus, daß Konflikte „in allen Gesellschaften vorfindbare Prozesse der Auseinandersetzung [sind], die auf unterschiedlichen Interessen sozialer Gruppierungen beruhen und die in unterschiedlicher Wese institutionalisiert sind und ausgetragen werden.“ B. Schäfers (Hg.), Grundbegriffe der Soziologie, Opladen 19985, S. 182. Hinsichtlich der gesellschaftlichen Funktionalität oder Dysfunktionalität von Konflikten herrscht Uneinigkeit. In der Tradition G. Simmels bewerten Strukturfunktionalisten Konflikte als positive Erscheinungen, die zur Aneignung neuer sozialer Normen und damit dem gesellschaftlichen Wandel dienen. Im Gegensatz dazu bewertete R. Dahrendorf Konflikte als Gefahr für das gesellschaftliche Gefüge und machte die sozial integrative Wirkung der Konfliktregelung gegenüber den potentiell explosiven Effekten der Konfliktaustragung stark. Letztlich wird man wohl anhand der Intensität der Konflikte und der applizierten Konfliktregelungsmechanismen bzw. der Art der Konfliktaustragung entscheiden müssen, ob es sich um ein funktionales oder dysfuntkionales Phänomen handelt. Vgl. ebd. 183f. Der entscheidende Pluspunkt einer konflikttheoretischen Herangehensweise besteht in der Fokussierung auf Interessen und Machtpotentiale, mittels derer diese Interessen umgesetzt werden bzw. werden können. 34 werden. Gleichwohl richtet WEBERS These die Aufmerksamkeit auf zwei Aspekte, die allen Nationalismen gemein sind: Erstens handelt es sich um Abgrenzungen – also um die Klassifizierung der Welt in die Gruppe der Zugehörigen (‚die Eigenen’) und der Nichtzugehörigen (‚die Fremden’) auf der Basis von nur im Einzelfall zu ermittelnden Differenzbestimmungen15 – und zweitens beinhaltet das Konzept ‚Nation’ sui generis eine Handlungsaufforderung. Es ist diese notwendige Klassifizierung in das ‚Eigene’ und das ‚Fremde’ nebst ihren Implikationen,16 die im kolonialen Entstehungskontext eines Nationalismus zu spezifischen Problemen führt. Kolonisten und Kolonisierte stehen in ständigem Austausch miteinander und gleichen sich so im Laufe der Zeit tendenziell aneinander an (ohne daß damit behauptet werden soll, daß diese Entwicklung automatisch Konsequenzen für den hierarchischen Aufbau einer Kolonialgesellschaft nach sich zieht). Das Ergebnis solcher kolonialer Interaktionsprozesse ist, daß ‚der Kolonist’ nicht mehr einfach als ‚Fremder’ stigmatisiert werden kann, er ist aus der Sicht der Kolonisierten ein ‚vertrauter Fremder’, der im Laufe von mehreren Generationen durchaus beginnen kann, sich von seiner kolonialen Muttergesellschaft zu entfremden und sich in der Kolonie als ‚Einheimischer’ zu fühlen. Klassische Beispiele für dieses Problem der Beziehungen zwischen kolonialem Zentrum und kolonialer Peripherie sind im 18. Jahrhundert neben den englischen Kolonisten in Irland vor allem die englischen Kolonisten in Amerika. Der entscheidende Gesichtspunkt ist, daß in einem solchen Fall typische Mechanismen der nationalen Integration nach innen durch Abgrenzung nach außen, wie sie etwa MICHAEL JEISMANN am deutschfranzösischen und LINDA COLLEY am britischen Beispiel diskutiert hat,17 nicht mehr funktionieren. Nationalistisch motivierter Widerstand bedeutet im kolonialen Kontext zwangsläufig Widerstand gegen das koloniale Mutterland (den äuße14 WG, S. 528. B. Giesen, Die Intellektuellen und die Nation, Eine deutsche Achsenzeit, Frankfurt/M. 1993, S. 86-101. So auch Canetti, Masse, S. 186: „Denn es ist eitel, von Nationen zu sprechen, wenn man sie nicht in ihren Unterschieden bestimmt.“ 16 Vgl. R. Koselleck, Vergangene Zukunft, Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 19922, S. 212: „Eine politische oder soziale Handlungseinheit [also auch eine Nation – MR] konstituiert sich erst durch Begriffe, kraft derer sie sich eingrenzt und damit andere ausgrenzt, und d.h. kraft derer sie sich selbst bestimmt.“ Notabene: Die Klassifizierung in das ‚Eigene’ und das ‚Fremde’ ist keine differentia specifica des Nationalismus, sondern ubiquitär. Vgl. ders., Feindbegriffe, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch 1993, S. 83-90, S. 83. 15 35 ren Feind) und eine normalerweise in der ‚eigenen’ gesellschaftlichen Hierarchie hoch angesiedelte Kolonistengruppe (den inneren Feind). Innere Feinde sind aber stets ambivalenter Natur, sie sperren sich gegen polare, dichotomische Klassifizierungen (‚das Eigene’/‚das Fremde’, ‚Freund’/‚Feind’), weil generell die Möglichkeit besteht, daß sie die Seiten wechseln und im Widerstand gegen das koloniale Mutterland zu Verbündeten avancieren.18 Das zweite Problem, das zwar nicht für den kolonialen Entstehungskontext eines Nationalismus spezifisch ist, aber hier in besonders ausgeprägter Form auftritt, ist, daß die inhärente Homogenitätsfiktion des Nationalismus, mittels derer Nationalisten Gemeinschaft zu stiften versuchen, nachhaltig in Frage gestellt wird. Keins der üblichen, potentiell Gemeinsamkeitsglauben und Solidaritätsempfinden stiftenden Kriterien greift im kolonialen Kontext. Zur Erhärtung dieser These kann der von A.D. SMITH entwickelte Kriterienkatalog aufgegriffen und diskutiert werden.19 ¾ Gemeinsame Abstammung. Nationalisten haben es im kolonialen Kontext stets mit mindestens zwei Abstammungsgemeinschaften zu tun. Diese Schwierigkeit taucht auch in anderen Gesellschaften auf – man denke nur an Vielvölkerstaaten wie Österreich oder das russische Reich –, aber im Unterschied zu den Vielvölkerstaaten kann sie in einer Kolonialgesellschaft nicht dadurch gelöst werden, daß man numerisch unterlegene ethnische Bevölkerungsgruppen als Minderheiten deklariert und einer hegemonialen (als ‚national’ apostrophierten) ethnischen Bevölkerungsgruppe unterordnet. Im kolonialen Kontext ist es nämlich in der Regel die numerisch unterlegene Kolonistenschicht, die den kolonialen Staatsapparat dominiert und zur Verteidigung ihrer hegemonialen Position einsetzt. Also stellt sich hier das aus den Vielvölkerstaaten bekannte Muster auf den Kopf: In einem kolonialen Regime wird die Mehrheit der Kolonisierten durch die Minderheit der Kolonisten marginalisiert. 17 M. Jeismann, Das Vaterland der Feinde, Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992; L. Colley, Britons, Forging the Nation 1707-1837, London 1992. 18 Koselleck, Feindbegriffe, S. 89, weist am Beispiel der Bürgerkriege – dem extremsten Fall innerer Feindschaft – auf das paradoxe Wesen des ‚inneren Feindes’ hin: „Die meisten und vielleicht die brutalsten Bürgerkriege werden dort ausgetragen, wo sich beide oder alle Parteien mit derselben Sprache als Feinde definieren und dementsprechend ermorden. Ein Blick in die Zeit der religiösen Bürgerkriege oder heute nach Jugoslawien genügt.“ 19 Smith, National Identity, S. 11, 14, 21. 36 ¾ Gemeinsame historische Erfahrungen und Erinnerungen kann es in einem kolonialen Kontext nicht geben, weil die Kolonisierten den im Vergleich zur Vorgeschichte relativ kurzen Erfahrungszeitraum, den sie mit den Kolonisten teilen (also die Geschichte der Kolonisation), als Entrechtungs-, Leidens- und Unterdrückungsgeschichte (Geschichte der ‚Opfer’) lesen, während die Kolonisten ihn als Geschichte legitimer Eroberung oder legitimer Zivilisationsprojekte interpretieren (Geschichte der ‚Sieger’). Insofern hat man es immer mit mindestens zwei konfligierenden Geschichtsauffassungen und zwei Bedingungssets kollektiver Erinnerung zu tun, die zwar potentiell über die gleichen Referenzpunkte in den res gestae verfügen, sie aber diametral entgegengesetzt deuten. ¾ Ein oder mehrere Elemente einer gemeinsamen Kultur sind im kolonialen Kontext ebenfalls eher unwahrscheinlich. Im Einzelfall kann nicht ausgeschlossen werden, daß es im kolonialen Kontext Elemente gemeinsamer Kultur gibt (wie etwa die konfessionelle Gemeinsamkeit zwischen Kolonisten und Kolonisierten im von Österreich besetzten Teil Polens), aber in Irland war dies dezidiert nicht der Fall: Es gab keine Sprachgemeinschaft zwischen der gälisch sprechenden autochthonen Bevölkerung und den englischen Kolonisten, keine konfessionelle Gemeinschaft zwischen Katholiken und Anglikanern, eigene kollektive Selbst- und Fremdbezeichnungen20, keine geteilte Tradition, keinen gemeinsamen Herkunftsmythos. ¾ Gleiche Rechte und Pflichten, rechtliche oder politische Gleichheit scheiden aus offensichtlichen Gründen im kolonialen Kontext ebenfalls als Referenzpunkte für die Konstruktion einer nationalen Homogenitätsfiktion aus, denn das zentrale Merkmal kolonialer Herrschaft besteht eben darin, Kolonisten gegenüber den Kolonisierten rechtlich, politisch, ökonomisch, sozial oder kulturell zu privilegieren. Unter diesen Umständen taugen auch gemeinsame Institutionen wie eine Verfassung oder ein Parlament nicht 20 Die gälische Bevölkerung bezeichnete sich selbst als ‚Gael’, die Kolonisten dagegen als ‚Gall’ (= Fremde), wobei sie zwischen normannischen Siedlern (‚Séan Gall’ = ‚alte Fremde’) und englischen Siedlern (‚Núa Gall’ = ‚neue Fremde’) unterschied. Ähnlich aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang die gälischen Bezeichnungen für Schotten (Albanach) und Engländer (Sasanach = Sachsen), die gleichzeitig zur Bezeichnung der ethnischen wie der konfessionellen Zugehörigkeit dienten, die Schotten also als Presbyterianer und die Engländer als Anglikaner auswiesen. 37 als potentielle Integrationskerne, weil der Zugang zu diesen Institutionen für Kolonisten und Kolonisierte grundsätzlich ungleich geregelt ist. Aus diesen Gründen ist die Konstruktion einer gesellschaftlichen Integrationsinstanz wie ‚der Nation’ im kolonialen Kontext noch prekärer als ohnedies schon. Um es mit einem Satz zusammenzufassen: Das Wesen einer kolonialen Gesellschaft ist fundamental durch ein hohes Ausmaß an Fragmentierung geprägt, die der Genese eines Nationalismus – verstanden als eine Integrationsideologie, welche eines gesellschaftlichen Konsenses oder Solidaritätsempfindens bedarf oder auf dessen Affirmation abzielt – potentiell eher hinderlich ist. Genau in dieser Fragmentierung liegt der Grund für eine konflikttheoretische Fundierung der Analyse. Aufgrund der kolonialen Präfiguration ist die Entstehung eines freiwilligen gesellschaftlichen Konsenses höchst unwahrscheinlich. Gleichzeitig ist die koloniale Lagerbildung von gesamtgesellschaftlicher Tragweite, weil sie tendenziell alle gesellschaftlichen Bereiche erfaßt und situative, kleinräumigere Interessenkonflikte überformt. Sozialökonomische Gegensätze und politische Konflikte werden auf diese Weise von den Zeitgenossen in einem kolonialen Bezugsrahmen wahrgenommen, gedeutet und entschieden und können so eine distinktiv koloniale Gestalt annehmen.21 Auch die Beurteilung des cui bono wurde von Zeitgenossen in der Regel kolonial vorstrukturiert. Neue Gesetze werden nicht danach beurteilt, inwiefern sie zum Nutzen der Gesamtgesellschaft, sondern nur inwiefern sie zum Nutzen der eigenen kolonialen Großgemeinschaft sind.22 21 Folgendes Beispiel mag diese Struktur verdeutlichen: In den 1790er Jahren kam es in den Randgebieten Ulsters zu erheblichen agrarischen Unruhen, deren Ursache in einem beträchtlichen Bevölkerungswachstum und einer daraus folgenden relativen Verknappung der Ressource Land bestand. Die Grundherren reagierten auf diese Situation, indem sie die Pachten bis an die Schmerzgrenze erhöhten und die Pachtbedingungen für Kleinpächter verschlechterten. Andernorts hätte das zu einer Verschärfung des Klassengegensatzes zwischen Landbesitzern und Landpächtern und zu agrarischem Protest gegen die Landbesitzer geführt. Nicht so jedoch in Ulster. Hier wurde der Konflikt von den Kleinpächtern kolonial und konfessionell gedeutet: Protestantische Pächter sahen sich von der katholischen Konkurrenz in die Ecke gedrängt, die aufgrund eines niedrigeren Lebensstandards schlechtere Pachtbedingungen akzeptieren konnte, und setzten sich zur Wehr, indem sie Geheimbünde gründeten und die katholischen Pächter durch Drangsalierung aus den als angestammt ‚protestantisch’ betrachteten Siedlungsgebieten Ulsters in den ‚katholischen’ Westen abzudrängen versuchten. Die katholischen Pächter setzten sich mit den gleichen Mitteln zur Wehr und im Nu entspann sich eine auf die Randgebiete Ulsters begrenzte Auseinandersetzung, die Züge eines „ethnic cleansing“ annahm. Vgl. R. Kee, The Most Distressful Country (The Green Flag, Bd. 1), Harmondsworth 1972, S. 43f., 57-61; J. Smyth, The Men of No Property, Irish Radicals and Popular Politics in the Late 18th Century, Dublin 1992, S.46-50. 22 So beschwerten sich etwa die anglo-irischen Protestanten über das von England 1699 verhängte Wollexportverbot mit der kolonial fundierten Begründung, daß davon vorwiegend die angloirische Gemeinschaft und insbesondere anglo-irische Wollweber betroffen seien. D. Dickson, New 38 Unter solchen Rahmenbedingungen nimmt die Herstellung eines in der Zielperspektive gesamtgesellschaftlichen – also auch eines nationalen – Konsenses notwendigerweise die Gestalt einer Sammlungspolitik an. Im Zentrum dieser Sammlungspolitik steht die Frage, wem es gelingt, auf der Basis postulierter gemeinsamer Interessen oder zumindest ausreichender Zugeständnisse an die Partikularinteressen einzelner Gruppen – aber auch durchaus brachial, auf der Basis schierer Einschüchterung und Repression – genug gesellschaftliche Gruppen um sich zu sammeln, um „den eigenen [in diesem Fall: ‚nationalen’ – MR] Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen.“23 Der Verweis auf ‚Einschüchterung’ und ‚Repression’ deutet bereits an, wo das Zentrum einer solchen Sammlungspolitik zu verorten ist – in der Sphäre der Macht. Der springende Punkt ist, daß Legitimationsstrategien wie etwa die Postulierung gemeinsamer Interessen zwar flankierend als vertrauensbildende Maßnahme von Bedeutung sind24 und unter Umständen die Überwindung von Lagern erleichtern können, daß es aber letztlich um die Machtfrage geht. Schließlich müssen gemeinsame Interessen nicht vorhanden sein, sondern nur vorläufig wechselseitig glaubhaft gemacht werden, schließlich müssen Zugeständnisse nicht realiter gemacht, sondern vorerst nur glaubhaft für die Zukunft angekündigt werden. Somit hängt die Verwirklichung dieser Postulate und Ankündigungen zunächst notwendig davon ab, ob die Macht vorhanden ist, sie umzusetzen – und im zweiten Schritt davon, ob nach dem Machterwerb noch Bereitschaft besteht, die Absprachen einzulösen (was ggf. wieder Konsequenzen für das Machtpotential einer solchen Allianz hat, weil die Gefahr einer Refragmentierung besteht). Mit einem Wort: Sammlungspolitik zielt grundsätzlich immer auf Machtakkumulation ab, während der Zweck, zu dem das generierte Machtpotential eingesetzt werden soll, ebenso verhandelbar ist wie die Legitimation für den Akkumulationsversuch situativ begründet. Daher ist die Genese eines Nationalismus im kolonialen Kontext – gleichviel wie die Referenzpunkte einer konkreten nationalen Integrationsideologie gesetzt werden – stets eine politische Angelegenheit, wenn man in Anlehnung an WEBER unter ‚Politik’ „Streben nach MachtFoundations: Ireland 1660-1800, Dublin 1987, S. 48; J.C. Beckett, The Making of Modern Ireland, 1603-1923, London 1966, S. 156. 23 WG, S. 28: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ 24 ‚Vertrauensbildende Maßnahmen’ implizieren aber notwendig, daß dieses Vertrauen zunächst nicht existiert, sondern erst mühsam durch die Tat (d.h. die Einhaltung der vereinbarten Übereinkünfte) aufgebaut werden muß und daher an ihr in der Folgezeit immer zu messen ist. 39 anteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt“25 versteht. Konstellationsanalyse: Konzeption und Umfang. Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen dient die Konstellationsanalyse dazu, der Fragmentierung der irischen Kolonialgesellschaft inhaltliche Plastizität zu verleihen. Welche antagonistischen Potentiale bauten sich in der irischen Gesellschaft auf, welche gegensätzlichen Lager formierten sich? Wie veränderten sich die Konturen der Ausgangskonstellation, welche Annäherungs- und Entfremdungstendenzen lassen sich beobachten? Welche Machtmittel brachten die gegnerischen Parteien unter ihre Kontrolle? Die Relevanz dieser Fragestellungen liegt darin, daß sie den unmittelbaren Bedingungshintergrund für die Genese des republikanischen Elitennationalismus in Irland und den direkten Argumentationszusammenhang für die Agitation irischer, republikanischer Nationalisten bildeten, deren Anfänge sich bis kurz nach „Grattan’s Revolution“ von 1782 zurückverfolgen lassen. Aus diesem Grund bildet das Jahr 1782 den Endpunkt des Zeitraums, der in der Konstellationsanalyse abgedeckt werden muß. Den Anfang macht dagegen das Jahr 1691, weil dies die chronologische Zäsur zwischen der kompletten Etablierung der englischen Kolonialherrschaft in Irland im 17. und ihrer Ausübung im 18. Jahrhundert darstellt.26 Untersuchungsebenen. Aus Gründen der Darstellbarkeit und Übersichtlichkeit werden die inneririschen, endogenen Entwicklungen in die vier Ebenen ‘politische Herrschaft’, ‘Wirtschaft’, ‘soziale Ungleichheit’ und ‘Kultur’ aufgefächert, wobei ‚Wirtschaft’ und ‚soziale Ungleichheit’ wegen ihrer offensichtlichen Überlappungen zusammen diskutiert werden, um Redundanzen zu vermeiden. Diese offensichtliche Anlehnung an das gesellschaftsgeschichtliche Konzept H.U. WEHLERS könnte den Anschein erwecken, daß es sich bei dieser Konstellationsanalyse um den Versuch handelt, eine allgemeine, irische Geschichte des 18. Jahrhunderts zu schreiben.27 Nichts wäre weiter von den vergleichsweise bescheidenen Zielsetzungen des Autors entfernt: Es geht hier lediglich um eine pragma- 25 M. Weber, Politik als Beruf, in: Gesammelte Politische Schriften, hrsg. v. Marianne Weber, München 1921, S.396-450. S. 397. 26 Diesem Konzept eines ‚langen’ 18. Jahrhunderts zwischen 1691 und 1800 folgen – wie schon im Titel augenfällig wird – auch T.W. Moody/W.E. Vaughan (Hgg.), A New History of Ireland, Bd. 4 (18th-Century Ireland, 1691-1800), Oxford 1986. 27 H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, München 19892, S. 7. 40 tisch motivierte Übernahme erprobter Kategorien, die helfen sollen, die Herangehensweise zu strukturieren und die Informationen übersichtlich zu ordnen.28 Wiederum wegen des kolonialen Kontextes kann sich die Konstellationsanalyse jedoch nicht mit einer Untersuchung inneririscher Entwicklungen begnügen, sondern muß auch exogenen Faktoren Beachtung schenken. Ganz offensichtlich gilt das für die Beziehungen Englands zu Irland, denn die Interventionen des kolonialen Mutterlands hatten beträchtliche Konsequenzen für die inneririschen Verhältnisse. Insofern muß Englands Irlandpolitik also unbedingt in die Betrachtung integriert werden – zumal in diesem Aspekt die Grenze zwischen ‚Innen’ und ‚Außen’ verschwimmt und zu einer Standpunktfrage wird: Von der Warte des britischen Empire betrachtet handelte es sich bei der Irlandpolitik um imperiale Kolonial- und Innenpolitik, aus der irischen – insbesondere der irisch-nationalen – Perspektive dagegen um Außenpolitik. Daher ist es allenfalls möglich, analytisch zwischen diesen beiden Perspektiven sauber zu unterscheiden. Diesem Umstand wird in der Konstellationsanalyse Rechnung getragen, indem der Bereich britischer Einflußnahme als prägender Faktor inneririscher Gesellschaftsentwicklung der Diskussion der vier gesellschaftlichen Dimensionen zugeschlagen wird und die Motive und Gründe, welche die britische Kolonialmacht zu ihrer spezifischen Einflußnahme veranlaßten, als externe Faktoren in einem eigenen Kapitel behandelt werden. Darüber hinaus sind mit der Amerikanischen und der Französischen Revolution zwei „Außenereignisse“ in die Konstellationsanalyse mitaufzunehmen, die für die Selbstverortung und die Einschätzungen gesellschaftlicher Realität durch die irischen Zeitgenossen nachweislich von besonderer Bedeutung waren.29 Hier entstanden Modelle und Präzedenzfälle, die in den Äußerungen und Argumenten irischer Nationalisten und Radikaler immer wieder aufgegriffen und reflektiert wurden. Wenn es also darum geht, unmittelbare Bedingungshintergründe und 28 Gleichwohl besteht kein Grund, die von Wehler entwickelten Definitionen der vier gesellschaftlichen Dimensionen – vgl. ebd., S. 10f. – zu ändern, sie sind beim Lesen der von ihm entlehnten Begriffe gleichsam mitzudenken. 29 Vgl. O.D. Edwards, The Impact of the American Revolution on Ireland, in: The Impact of the American Revolution Abroad, Papers Presented at the Fourth Symposium, May 8 and 9, 1975, Washington 1976, S. 127-159; M.R. O'Connell, Irish Politics and Social Conflict in the Age of the American Revolution, Philadelphia 1965; C.J. Woods, Ireland and the French Revolution, in: Éire-Ireland 7 (1973), S. 34-41; M. Elliott, Partners in Revolution, The United Irishmen and France, New Haven 1982; L. Swords, The Green Cockade, The Irish in the French Revolution, 41 Argumentationszusammenhänge zu analysieren, dürfen diese beiden exogenen Bezugspunkte inneririscher Entwicklung nicht unterschlagen werden. Thematische Schwerpunktsetzungen der Konstellationsanalyse. Um dem Ausufern vorzubeugen und zu verhindern, wider Willen doch in den Ruch zu geraten, allgemeine Geschichtsschreibung treiben zu wollen, ist es notwendig, die Konstellationsanalyse durch strikte Selektion nach der übergreifenden Fragestellung (nach den Entstehungsbedingungen des republikanischen Elitennationalismus) auszurichten und verstärkt solche Aspekte zu behandeln, die in diesem Kontext relevant sind. Angesichts des theoretischen Vorgriffs kann es nicht überraschen, daß sich dahinter primär eine Fokussierung auf die kolonialen Strukturen der irischen Gesellschaft verbirgt. So wird sich etwa der Bereich ‘Politische Herrschaft’ vor allem auf politische Gruppenbildungsprozesse, auf das Regiment des Kolonialregimes und die Entstehung oppositioneller Regungen gegen das koloniale Establishment konzentrieren. Im Feld ‘Wirtschaft’ wird die koloniale Wirtschaftsordnung und ihre Rückwirkungen auf die Sozialstruktur und interne Gruppenbildungsprozesse im Vordergrund stehen. In Hinsicht auf die ‘soziale Ungleichheit’ wird vor allem Wert auf die Entstehung sozialer Konfliktpotentiale und ihre koloniale Überformung gelegt. Hier werden Agrarkonflikte von der Pauperisierung der ländlichen Unterschichten bis zur Landflucht als Ausdruck einer kolonialen Fragmentierung der ländlichen Gesellschaft, die politisierenden Effekte der Migrationsströme vom Land in die Städte und vice versa, die Entstehung des Bürgertums (insbesondere der neuen katholischen Mittelschicht) und das spannungsgeladene, ebenfalls kolonial fundierte Verhältnis zwischen der überwiegend anglikanischen Großgrundbesitzerschicht und dem konfessionell heterogen zusammengesetzten kommerziellen Sektor aus Kaufleuten, Produzenten und Unternehmern diskutiert. In der Domäne ‘Kultur’ werden schließlich Themen aufgegriffen, die auf den ersten Blick einen disparaten Eindruck vermitteln, aber ebenfalls durch die koloniale Zentralperspektive miteinander verbunden sind. In diesem Teil geht es um die Alphabetisierung und Schulbildung der breiten Bevölkerung (als Voraussetzung für ihre etwaige Politisierung), den Einfluß der Kirchen, die Hochkultur als Manifestation des Herrschaftsanspruches der Kolonialelite, sowie die friktionsreiche Koexistenz verschiedener Kulturtraditionen, die 1789-1815, Dublin 1989; H. Gough/D. Dickson (Hgg.), Ireland and the French Revolution, Dublin 1990. 42 ihrerseits für die Teilhabe an nationalpolitischen Debatten und für die Schwierigkeiten einer nationalen Mobilisierung von Bedeutung waren. Mithin wird im kulturellen Feld auf zwei Ebenen – jener der staatlich-institutionalisierten Kultur (Kirchen, Schulbildung) und jener der Kultur der ‚kleinen Leute’30 – argumentiert. Auch die Untersuchung exogener Einflüsse wird auf die allgemeine Fragestellung der Arbeit zugeschnitten. So wird etwa mit Bezug auf die Amerikanische und Französische Revolution danach gefragt, welche kulturellen und politischen Impulse von diesen internationalen Großereignissen für die irische Gesellschaft ausgingen, wie etwa Ideen der beiden Revolutionen politische Debatten in Irland beeinflußten. Zugleich ist nach den nationalpolitischen Handlungsmöglichkeiten und -barrieren zu fragen, die sich in Irland wegen der gesetzlichen und politi- schen Rahmenbedingungen ergaben, die von der englischen Kolonialpolitik gesetzt wurden. Gemäß der gängigen Formel „Englands Schwierigkeit ist Irlands Chance“ muß nicht zuletzt auch nach den Einflüssen internationaler und innerenglischer Konstellationen auf die nationalpolitischen Handlungsmöglichkeiten in Irland gefragt werden: Wie wirkten sich etwa die wiederholten militärischen Konflikte zwischen England und Frankreich oder der Kolonialkrieg in Amerika auf den politischen Handlungsspielraum in Irland aus, wie die Konflikte zwischen der englischen Regierung und der englischen Reformbewegung? Welche Rolle spielten die Auseinandersetzungen zwischen der englischen Regierung und den englischen Katholiken? Anhand dieser Fragen verdeutlicht sich noch einmal, daß dem englischen Einfluß auf die irischen Verhältnisse ein Sonderstatus innerhalb der exogenen Einflußfaktoren zugestanden werden muß, der die geographische Nähe der beiden Länder, ihre jahrhundertealten politischen, ökonomischen und kulturellen Beziehungen, vor allem aber ihre faktisch spätestens seit 1691 existierende Kolonialverbindung reflektiert. Es ist also a priori davon auszugehen, daß amerikanische und französische Einflüsse in Irland während des 18. Jahrhunderts – 30 ‚Kultur der kleinen Leute’ ist eine etwas holprige Übersetzung des angelsächsischen Terminus ‚popular culture’. Dennoch ist diesem Begriff vor der Alternative ‚Volkskultur’ wegen dessen Nähe zur Lingua Tertii Imperii der Vorzug zu geben. Gemeint ist damit in Anlehnung an P. Burke „the culture of the non-elite“, wobei Kultur als ein „system of shared meanings, attitudes, and values, and the symbolic forms (performances, artefacts) in which they are expressed or embodied“ definiert wird. P. Burke, Popular Culture in Early Modern Europe, London 1978, S. ix.; vgl. auch J.R.R. Adams, The Printed Word and the Common Man: Popular Culture in Ulster 17001900, Belfast 1987, S. 1-7 u. J.S. Donnelly Jr./K. A. Miller (Hgg.), Irish Popular Culture, 1650- 43 gesamtgesellschaftlich betrachtet – dem englischen Einfluß erkennbar nachgeordnet waren. 1850, Dublin 1998, S. xi-xxxi, wo unter direktem Rekurs auf Burke sein Konzept am irischen Beispiel konkretisiert wird. 44 II. Die innerirische Dimension 1. Konfliktstrukturen englischer Kolonialherrschaft in Irland (1691-1782) Während des 18. Jahrhunderts wurde der politische Bereich von zwei zentralen Themenkomplexen beherrscht: der konfessionellen und der konstitutionellen Frage. Erstere drehte sich um die politische Monopolstellung der anglo-irischen Kolonialelite (Ascendancy)31 in Irland. Ihre Alleinherrschaft setzte die Ascendancy mit Hilfe einer konfessionell gestaffelten Marginalisierung der anderen Bevölkerungsteile – der presbyterianischen Iren schottischer Herkunft und der katholischen Iren gälischer und normanno-irischer Herkunft – um, die zwar äußerlich konfessionell legitimiert wurde, unterschwellig aber durch koloniale, machtpolitische Interessen geprägt war. Hinter der Etablierung und Absicherung der politischen Monopolstellung der Ascendancy, welche die Machtverteilung in der irischen Gesellschaft determinierte und somit entscheidend zur Genese einer gesellschaftliche Hierarchie zwischen den drei großen kolonialen Bevölkerungsgruppen 31 Der Begriff ‘Ascendancy’ ist ein zeitgenössischer anglikanisscher Kampfbegriff, der im Jahr 1792 vom Dubliner Stadtrat (Dublin Corporation) in einer Adresse an die Protestanten Irlands erstmals verwendet wurde. Er bezeichnete ursprünglich eine Staatsauffassung, die von einem anglikanischen Machtmonopol im irischen Staat und einer staatlichen Verbindung zwischen Irland und Großbritannien ausgeht. Im Beschluß der Dublin Corporation von 1792 heißt es: "Resolved, That we consider the Protestant Ascendancy to consist in A PROTESTANT KING OF IRELAND, A PROTESTANT PARLIAMENT, A PROTESTANT HIERARCHY, PROTESTANT ELECTORS AND GOVERNMENT, THE BENCHES OF JUSTICE, THE ARMY AND THE REVENUE, Through all their Branches and Details, PROTESTANT; And this system supported by a Connection with the PROTESTANT REALM OF BRITAIN." Zitiert nach Catholics of Dublin, Proceedings at the Catholic Meeting of Dublin, duly convened on Wednesday, Oct. 31, 1792, at the Exhibition Room, Exchequer Str. With the letter of the corporation of Dublin, to the Protestants of Ireland. Annexed is the Declaration Adopted by the General Committee, March 17, 1792, and subscribed by the Catholics of Ireland. Also the Letter and Plan of the Sub-committee for the Appointment of delegates. Dublin (H. Fitzpatrick) 1792, S. 5. In der irischen Geschichtsschreibung hat sich überdies eingebürgert, den Begriff ‚Ascendancy’ auch retrospektiv und avant la lettre als Bezeichnung für die Trägerschicht dieser Staatsauffassung zu verwenden. Vgl. J.C. Beckett, Literature in English, 1691-1800, in: Moody/Vaughan, History of Ireland 4, S. 424-470, S. 459; J.L. McCracken, Protestant Ascendancy and the Rise of Colonial Nationalism, 1714-60, in: ebd., S. 105-122, S. 105-108; A. Helle, Ulster: Die blockierte Nation, Nordirlands Protestanten zwischen britischer Identität und irischem Regionalismus (1868-1922), Frankfurt/M. 1999, S. 19; J.G. Simms, Protestant Ascendancy, 1691-1714, in: Moody/Vaughan, History of Ireland 4, S. 1-30, passim. In diesem Sinn stellt ‚Ascendancy’ sowohl ein Synonym für den Begriff „Protestant Nation“ dar (verstanden als ‚politische Nation’, d.h. als die anglo-irische, anglikanische Bevölkerungsgruppe mit politischen Partizipationsrechten) oder – sozial exklusiver aufgefaßt – für ‚anglo-irische Kolonialelite’ (d.h. die anglo-irischen, anglikanischen Aristokraten, Latifundienbesitzer, Parlamentarier und anderen Amts- und Würdenträger des anglo-irisch dominierten Staatsapparats und der anglikanischen Church of Ireland). Nachfolgend wird der Begriff analytisch als Bezeichnung für die anglo-irische Kolonialelite verwendet. 45 in Irland beitrug, stand daher ein grundlegender Konfessionalisierungsprozeß der politischen Herrschaft. Im Gegensatz dazu ging es bei der konstitutionellen Frage um die Machtverteilung zwischen der Ascendancy und der britischen Kolonialmacht. Hier drehte sich alles um die Frage, wem es von Rechts wegen zustand, welchen Teil der Souveränität in Irland auszuüben. Die Spannbreite dieses Konfliktfeldes erstreckte sich von der verfassungstheoretischen Frage, ob Irland als eine dem britischen Reich untergeordnete Kolonie oder als unabhängiges Königreich anzusehen sei, das lediglich vom englischen König in Personalunion mitregiert wurde, bis in die kleinsten Verästelungen des Kolonialregimes, wo die Ascendancy mit den Repräsentanten der englischen Krone hartnäckig um die Kontrolle über Herrschaftsrechte und -aufgaben in Irland stritt. Die anglo-irische Kolonialelite befand sich also – soviel kann jetzt schon festgehalten werden – in einer doppelten Frontstellung: Einerseits gegen die anderen Bevölkerungsgruppen in Irland selbst, die mit der Ascendancy konkurrierten, und andererseits gegen das koloniale Mutterland, gegen dessen Interventionen sich die Ascendancy zur Wehr setzen mußte, um ihr Machtmonopol in Irland tatsächlich ausüben zu können. Diese beiden Themenkomplexe waren unmittelbar miteinander und mit der endgültigen Durchsetzung der britischen Kolonialherrschaft in Irland am Ende des 17. Jahrhunderts verschränkt. Um sie verstehen zu können, muß man daher mindestens bis zum Frieden von Limerick (3.10.1691) zurückgreifen, der das Ende des Stuart-Erbfolgekriegs (1689-1691) markierte.32 Dieser Krieg hatte eine europäische, eine englische und eine irische Bedeutungsdimension. Von europäischer Warte lediglich ein Nebenschauplatz der Auseinandersetzung zwischen Ludwig XIV. und der Großen Allianz um die Hegemonie in Kontinentaleuropa, bestätigte der Ausgang des Krieges im britischen Bedeutungszusammenhang das Resultat der „Glorious Revolution“ von 1688.33 Im irischen 32 Zum Stuart-Erbfolgekrieg vgl. J.G. Simms, The Restoration and the Jacobite War (1660-1691), in: T.W. Moody/F.X. Martin (Hgg.), The Course of Irish History, Cork 19872, S. 209-216. Älter, aber dafür sehr viel ausführlicher: J.G. Simms, Jacobite Ireland, 1685-91, London 1969. 33 Vgl. Beckett, Making, S. 146; M. Maurer, Kleine Geschichte Irlands, Stuttgart 1998, S. 133f. Bemerkung zum Begriff „Glorious Revolution“: Diese überhöhende Bezeichnung der Ereignisse von 1688 stammt aus der Whig-Tradition, die in dem Arrangement von 1688 einen Fortschritt der politischen und religiösen Freiheit zu erblicken glaubte. Vgl. M. Maurer, Kleine Geschichte Englands, Stuttgart 1997, S. 227f. Da es sich um einen zeitgenössischen Kampfbegriff handelt, dessen faktischer Wahrheitsgehalt zweifelhaft ist, wird der Begriff nur verwendet, weil er sich allgemein durchgesetzt hat. Zur Distanzierung werden Anführungszeichen verwendet. 46 Kontext – der hier ausschlaggebend ist – handelte es sich bei dem Krieg um eine Auseinandersetzung zwischen den katholischen Gaelic-Irish und Old English auf der einen und den protestantischen New English und Scotch-Irish, die mit einem Sieg der protestantischen Partei endete.34 Die irischen Katholiken hatten gehofft, daß eine Wiedereinsetzung Jakob Stuarts ihnen eine katholische Restauration bescheren würde, welche die Cromwell’schen Landenteignungen von 1652/53 revidieren würde.35 Nach ihrer Niederlage trat jedoch das Gegenteil ein: Die protestantischen Seite konnte nun – ohne Widerstand erwarten zu müssen – daran gehen, ihre neue Vormachtposition in Irland abzusichern und auf Dauer zu stellen. a) Die Konfessionalisierung der politischen Herrschaft Als Resultat des Stuarterbfolgekrieges standen sich in Irland zunächst zwei Gruppen gegenüber: Sieger und Besiegte. Hinter dem Begriff ‚Sieger’ verbarg sich eine Allianz aus anglo-irischen Anglikanern und schottisch-irischen Presbyterianern, die sich erst im Laufe des 17. Jahrhunderts in Irland angesiedelt hatten. Die ‚Besiegten’ dagegen rekrutierten sich aus gälisch-irischen und normanno-irischen Katholiken (Old English), die aber vom kolonialen Mutterland und den englischen und schottischen Neuankömmlingen des 17. Jahrhunderts zunehmend als Einheit wahrgenommen und behandelt wurden, weil beide Bevölkerungsgruppen katholisch waren und sich zusammen gegen die Ansiedlungsprogramme des 17. Jahrhunderts zur Wehr gesetzt hatten.36 Zu dieser Verschmelzung von gälischen Iren und Old English in der Wahrnehmung der Sieger des Erbfolgekrieges gehörte auch, daß sie die militärischen Auseinandersetzungen zwischen 1689 und 1691 nicht so sehr als Folgewirkung der „Glorious Revolution“ in Irland, sondern als eine weitere katholische Rebellion interpretierten und eine Kontinuität zwischen 34 Bemerkung zur Terminologie: Hinter dem Begriff ‘Gaelic-Irish’ verbirgt sich die indigene Bevölkerung Irlands, ‘Old English’ bezeichnet die katholischen, normanno-englischen Siedler, die sich in Irland vor der englischen Reformation – dem Erlaß des Suprematsgesetzes von 1534 – niederließen, mit ‘New English’ sind die anglikanischen Anglo-Iren gemeint, die während der Ulster Plantation von 1608-10 nach Irland kamen, mit ‘Scotch-Irish’ alle Iren schottischer Herkunft und insbesondere die presbyterianischen Schotten, die sich ebenfalls im Zuge der Ulster Plantation in Irland ansiedelten. 35 Kee, Most Distressful Country, S. 17. 36 Vgl. Boyce, Nationalism, S. 89f. 47 dem katholischen Aufstand von 1641 und dem Erbfolgekrieg sahen.37 Entscheidend ist, daß sich aus dieser Kontinuitätsannahme eine katholische Bedrohung für die protestantische Bevölkerung Irlands konstruieren ließ,38 die zur Legitimation sehr weitreichender, präventiver Gegenmaßnahmen ins Feld geführt werden konnte. Faktisch tat das anglo-irisch beherrschte Parlament jedoch mehr als zum Schutz der protestantischen Bevölkerung notwendig gewesen wäre: Es nutzte die Gunst der Stunde, um unter dem Deckmantel des Selbstschutzes ein konfessionelles Apartheidsystem zu installieren, das in der Folgezeit primär dazu diente, das politische Machtmonopol der anglikanischen Minderheit zu zementieren. Daß das Schutzargument zumindest teilweise vorgeschoben war ist bereits daran erkennbar, daß sich die Maßnahmen nicht allein gegen die katholische Bevölkerungsgruppe, sondern – allerdings in abgeschwächter Form – auch gegen die ehemaligen Verbündeten der Anglikaner im Erbfolgekrieg, die schottisch-irischen Presbyterianer, richteten.39 Außerdem ist es bezeichnend, daß sich die praktische Vollstreckung der Strafgesetze weniger auf die religiösen, als auf die politischen, ökonomischen und besitzrechtlichen Regelungen konzentrierte.40 Proselytische Absichten, wie sie einige Würdenträger der Church of Ireland anfangs verfolgten, 37 Bezeichnend sind hierfür die Gerüchte um einen ‚popish plot‘, die in Krisenzeiten regelmäßig in der protestantischen Bevölkerung kursierten. Vgl. J. Lydon, The Making of Ireland, From Ancient Times to the Present, London 1998, S. 208. 38 Der faktische Gehalt der anglikanischen Bedrohungsthese ist mehr als zweifelhaft: Die überzeugten Jakobiten waren nach dem Frieden von Limerick in einem Massenexodus Jakob II. nach Frankreich ins Exil gefolgt. Vgl. S. Scott, The French Revolution and the Irish Regiments in France, in: Gough/Dickson, Ireland, S. 14-27, S. 14. Allein 12.000 jakobitische Soldaten verließen Irland unmittelbar nach dem Friedensschluß von Limerick. Vgl. J.G. Simms, The Irish on the Continent, 1691-1800, in: Moody/Vaughan, History of Ireland 4, S. 629-656, hier S. 630f. Lecky spricht sogar von 14.000 und zitiert Abbé MacGeoghegan mit der Bemerkung, daß zwischen 1691 und 1745 allein 450.000 Iren in französischen Diensten gefallen seien. Lecky beeilt sich hinzuzufügen, daß diese Zahl vollkommen unglaublich sei, gibt aber andere Quellen an, welche die Zahl sogar noch höher ansetzen. Vgl. W.E.H. Lecky, A History of Ireland in the 18th Century 1, London 1892 (Nachdr. New York 1969), S. 248f. und Anm. 3, S. 248. Es darf also als gesichert gelten, daß deutlich mehr als Zehntausend Jakobiten emigrierten. Überdies verhielten sich die irischen Katholiken während der jakobitischen Aufstände in Schottland (1715 und 1745) geradezu demonstrativ ruhig. Vgl. Lecky, ebd., S. 142-144. Vgl. auch Lydon, ebd., S. 219, der die Gesamtzahl der irischen Katholiken, die in der franzöischen Armee dienten, mit bis zu 20.000 Mann beziffert und für die 1720er und 1730er Jahre noch jährliche Rekrutierungsraten von ca. 1.000 Mann angibt. 39 M. Wall, The Penal Laws 1691-1760, in: G. O'Brien/T. Dunne (Hgg.), Catholic Ireland in the 18th Century: Collected Essays of Maureen Wall, Dublin 1989, S. 1-60, S. 5. 40 Vgl. ebd., S. 6, 18-20. 48 traten deutlich hinter das primäre Motiv der anglikanischen Herrschaftsabsicherung zurück.41 Die Marginalisierung der katholischen Bevölkerungsmehrheit. Als ‚Besiegte’ und als von den Anglikanern als ‚Erzfeind’ wahrgenommene Bevölkerungsgruppe, bekamen die irischen Katholiken die ganze Unerbittlichkeit der Kolonialelite zu spüren. Durch die drakonischen Strafgesetze (Penal Laws) – ein Konglomerat verschiedener anti-katholischer Gesetze, die nach englischen Vorbild42 zwischen 1695 und 1728 erlassen wurden – wurde die katholische Bevölkerungsmehrheit politisch, ökonomisch, sozial und kulturell unterdrückt. W.E.H. LECKY (18381903), der Doyen der irischen Geschichtsschreibung über das 18. Jahrhundert,43 der als Anglo-Ire eines katholischen Bias unverdächtig ist, hat die Penal Laws als Ausdruck einer „religiösen Klassentyrannei“44 bezeichnet und die Funktion der Strafgesetze wie folgt umrissen: So wie er tatsächlich ausgeführt wurde, wurde der Penal Code weniger durch Fanatismus inspiriert als durch Habgier, er war weniger gegen die katholische Religion gerichtet als gegen den Besitz und den Fleiß der Katholiken. Er sollte sie arm machen und arm halten, in ihnen jede Regung des Unternehmungsgeistes zerstören, sie zu einer servilen Kaste degradieren, die niemals hoffen konnte, ihren Unterdrückern wieder ebenbürtig zu werden.“45 Da die Strafgesetze alle Lebensbereiche der katholischen Bevölkerung betrafen, ist es an dieser Stelle nicht angebracht, einen Aufriß aller Regelungen zu geben. Sie werden uns im weiteren Verlauf der Arbeit noch häufiger begegnen. Hier 41 Dezidiert anderer Meinung ist in diesem Gesichtspunkt T. Bartlett, The Fall and Rise of the Irish Nation, The Catholic Question, 1690-1830, Dublin 1992, S. 17-29, der diese Interpretation als zu „oberflächlich“ und „simplizistisch“ bezeichnet und dafür plädiert, den anglikanischen Missionierungswillen ernstzunehmen. Allerdings muß selbst er widerwillig einräumen, daß die anglikanische Oberschicht kein Interesse an der massenhaften katholischen Konversion hatte (S. 27) und seine These, daß die Strafgesetze nicht durch eine zielgerichtete, anti-katholischen Absicht entstanden seien, sondern durch die Interaktion diverser Parteien, die zur Eskalation der Strafgesetzgebung geführt hätte (S. 20), ist wenig überzeugend, denn die anti-katholische Strafgesetzgebung in Irland orientierte sich in der Tat am englischen Modell. Vgl. J.G. Simms, The Establishment of Protestant Ascendancy, 1691-1714, in: Moody/Vaughan, History of Ireland 4, S. 130, S. 16. Selbst wenn es also keine planmäßige Implementation der Strafgesetzgebung gab, die angesichts der konstitutionellen Zustände in Irland in der Tat zweifelhaft ist, so ist sicher, daß es einen breiten anti-katholischen Konsens gab, der von Anglo-Iren und Engländern gleichermaßen getragen wurde. 42 Vgl. Wall, Penal Laws, S. 8; Simms, ebd. 43 Zu einem konzisen Überblick über Lecky als Historiker vgl. B. Stuchtey, Die Irische Historiographie im 19. Jahrhundert und Leckys Geschichtskonzeption, in: Comparativ 3 (1995), S. 83-98, sowie ausführlicher in ders., W.E.H. Lecky (1838-1903), Historisches Denken und politisches Urteilen eines anglo-irischen Gelehrten (Veröffentlichungen des DHI London, 41), Göttingen 1997. 44 Lecky, History of Ireland 1, S. 147. 49 werden jetzt nur diejenigen Passagen der Strafgesetze diskutiert, welche die politische Marginalisierung der Katholiken zur Folge hatten. Die politisch relevanten Strafgesetze. Die Implementation anti-katholischer Gesetze begann bereits mit dem Zusammentritt des irischen Parlaments im Oktober 1692. In diesem Parlament saß bereits kein einziger katholischer Ire mehr, weil die Abgeordneten des Ober- und Unterhauses seit Ende 1691 durch ein in England erlassenes, aber auch in Irland gültiges Gesetz dazu verpflichtet waren, einen Eid abzulegen, in dem die weltliche Autorität des Papstes, die Transsubstantiationslehre und andere spezifisch katholische Doktrinen negiert wurden.46 Landenteignungen und politisches Gewicht. Das Parlament von 1692 ging umgehend daran, die Regelungen des Friedensvertrages von Limerick zu unterlaufen, die in den Augen der anglikanischen Abgeordnetenschaft viel zu mild waren. Die Delegierten insistierten, Enteignungsmaßnahmen gegen katholische Jakobiten auszudehnen und die von Wilhelm III. bereits zugesicherte freie Religionsausübung für Katholiken rückgängig zu machen.47 Mit beiden Anliegen konnten sie sich 1697 durchsetzen, aber für den politischen Bereich ist nur die Ausweitung der Land-enteignungen wichtig: Infolge der ‚Williamite confiscations‘ ging der Anteil des katholischen Landbesitzes von 22 % (im Jahr 1688) auf 14 % (im Jahr 1703) zurück.48 Da das aktive Wahlrecht an Landbesitzqualifikationen gebunden war,49 wurde mit diesen Enteignungen der politische Einfluß der Katholiken fast halbiert und die numerische Mehrheit der Katholiken endgültig in eine unbedeutende Besitzminderheit überführt. Die anglikanische „Rachsucht“ – wie die Lordrichter in Dublin die Stimmung des Parlaments 1692 beschrieben50 – war damit jedoch noch nicht befriedigt. Durch die Einführung geeigneter Erbgesetze in den „Popery Acts“ von 1704 und 1709 gelang es der Ascendancy sicherzustellen, daß 45 Ebd., S. 152. (meine Übersetzung) Vgl. Maurer, Geschichte Irlands, S. 141; Beckett, Making, S. 151; Lydon, Making, S. 219; Dickson, New Foundations, S. 40. 47 Vgl. Beckett, ebd., S. 151, J.I. McGuire, The Irish Parliament of 1692, in: T. Bartlett/D.W. Hayton (Hgg.), Penal Era and Golden Age, Essays in Irish History, 1690-1800, Belfast 1979, S. 131, S. 3, 6, 15-17. 48 Vgl. Simms, Establishment, S. 12; M. Wall, The Age of the Penal Laws (1691-1778), in: Moody/Martin, Course, S. 217-231, S. 219f., Lydon, Making, S. 223. 49 S.J. Connolly, The Oxford Companion to Irish History, Oxford 1998, S. 205. 50 McGuire, Irish Parliament, S. 3. 46 50 sich 1778 nur noch 5 % des Landbesitzes in katholischen Händen befand – mit entsprechenden Konsequenzen für das politisches Gewicht der Katholiken.51 Ausschluß der Katholiken aus öffentlichen und politischen Ämtern. Der nächste Schritt der Ascendancy zielte darauf ab, Katholiken aus allen öffentlichen und politischen Ämtern sowie aus dem Militär fernzuhalten. Hierzu diente die Einführung des Sacramental Test von 1704, der vorsah, daß nur diejenigen Personen ein öffentliches Amt bekleiden durften, die zuvor einen Treueschwur auf die Krone geleistet und das Abendmahl nach anglikanischem Ritus gefeiert hatten. Dadurch wurde zum einen gewährleistet, daß Katholiken nicht in den Stadträten (Corporations) sitzen konnten – was insofern auch direkte Auswirkung auf die politische Partizipation hatte, als die Stadträte in 55 der 117 Wahlbezirke (den Corporation Boroughs) bestimmten, wer das aktive Wahlrecht erhielt.52 Mit diesem Schritt wurden die Katholiken also nicht nur aus der kommunalen Selbstverwaltung ausgeschlossen, sondern überdies auch von der Wahl von mehr als einem Drittel der Abgeordneten des irischen Unterhauses.53 Zum anderen wurde so sichergestellt, daß Katholiken in der Verwaltung, der Judikative und Exekutive keinen Einfluß nehmen konnten. Die Entfernung aus dem Militär erreichte die Ascendancy schließlich dadurch, daß sie Katholiken verbot, Waffen zu besitzen.54 Das Haus eines Katholiken konnte jederzeit auf Anweisung eines Sheriffs, Richters oder Bürgermeisters nach Waffen durchsucht werden und wenn auch nur eine verrostete alte Vogelflinte entdeckt wurde, bekam der betreffende Katholik eine Geldoder Gefängnisstrafe, wurde ausgepeitscht oder mußte an den Pranger.55 Wahlverbot für Katholiken. Zur Abrundung der politischen Marginalisierung der katholischen Bevölkerung fehlte jetzt nur noch ein generelles Wahlverbot, denn unter günstigen Bedingungen gelang es immer noch einigen wenigen katholischen Adeligen und Großgrundbesitzern, in einzelnen Grafschaften die Wahler- 51 Vgl. Wall, Age, S. 220. Connolly, Companion, S. 205. 53 Im irischen Unterhaus saßen 300 Abgeordnete, von denen jeweils zwei von den 32 Grafschaften, den 117 Wahlbezirken und vom Trinity College gewählt wurden. Durch den Ausschluß vom aktiven Wahlrecht in den Corporation Boroughs waren die Katholiken von der Wahl von 110 Abgeordneten (= 36, 67 % der gesamten Abgeordnetenschaft) ausgeschlossen. Vgl. Connolly, Companion, S. 205. 54 Lecky, History of Ireland 1, S, 146. 55 Ebd. 52 51 gebnisse mit Hilfe der Wahlberechtigten ihrer Güter zu beeinflußen.56 Per Gesetz vom 6.5. 1728, das den Katholiken nun auch das aktive Wahlrecht entzog, wurde hier ein Riegel vorgeschoben.57 Damit war die umfassende politische Marginalisierung der katholischen Bevölkerung abgeschlossen: Alle Bereiche des öffentlichen Lebens – Legislative, Exekutive, Judikative, Administration, Militär – waren „katholikenfrei“ und befanden sich fest in der Hand der anglikanischen Kolonialoligarchie. Das auffälligste Merkmal dieses Prozesses besteht darin, daß die Kolonialelite die Marginalisierung der Katholiken weniger durch direkte Verbote als vielmehr über einen Umweg – durch die Errichtung konfessioneller Barrieren – ins Werk setzte. Einerseits ließ dieses Vorgehen den irischen Katholiken prinzipiell immer den Ausweg offen, sich der Strafgesetzgebung durch Konversion entziehen, andererseits machte aber just dieser Gesichtspunkt die Perfidie des konfessionellen Apartheidsystems aus: Es setzte gläubige Katholiken der ständigen Versuchung aus, ihr Seelenheil gegen weltliches Vorankommen einzutauschen. Die grundsätzliche Hypokrisie der Ascendancy bestand darin, die katholische Bevölkerung erst politisch zu marginalisieren – in der Hoffnung, daß sie größtenteils bei ihrem Glauben bleiben würden, weil eine katholische Massenkonversion das koloniale Machtmonopol der Ascendancy zum Einsturz gebracht hätte – und ihnen anschließend achselzuckend zu erklären, daß sie an ihrer Situation letztlich selbst schuld seien, da sie doch die Möglichkeit zur Konversion hätten. Die politische Degradierung der Dissenter58. Im Anschluß an den StuartErbfolgekrieg differenzierte sich der duale Antagonismus zwischen ‚Siegern’ und ‚Besiegten’ bald zu einer dreifachen Frontstellung aus, da die Ascendancy ihre presbyterianischen Verbündeten in Ulster, die Dissenter, Schritt für Schritt zu Kolonisten zweiter Klasse degradierte.59 Der Konflikt zwischen Presbyterianern und Anglikanern hatte – im Gegensatz zum katholisch-protestantischen Gegensatz 56 J.L. McCracken, The Political Structure, 1714-60, in: Moody/Vaughan, History of Ireland 4, S. 57-83, S. 77. 57 J.E. Dogherty/D.J. Hickey, A Chronology of Irish History since 1500, Dublin 1989, S. 74; Dickson, New Foundations, S. 73. 58 ‘Dissenter’ (wörtlich: „Abweichler“) ist ein anglikanischer Sammelbegriff für alle protestantischen Glaubensgemeinschaften, die nicht mit den Doktrinen der anglikanischen Staatskirche übereinstimmten. In Irland stellt der Begriff gegen Ende des 18. Jahrhunderts schlicht ein Synonym für ‚schottisch-irischer Presbyterianer’ dar. Vgl. Connolly, Companion, S. 149f. 52 – nichts mit dem Krieg von 1686-1691 zu tun: Hier handelte es sich um eine Auseinandersetzung zwischen zwei Kolonistengruppen um die koloniale Hegemonie. Der Hintergrund dafür war folgender: Wegen einer ökonomischen Krise in Schottland wanderten in der letzten Dekade des 17. Jahrhunderts mehr als 50.000 schottische Familien ins benachbarte Ulster aus, wo durch die Enteignung katholischer Jakobiten Farmland zu günstigen Konditionen zu haben war. Durch diesen Immigrationsschub entwickelte sich Ulster zu einem Bollwerk der schottischirischen Bevölkerung, die überwiegend presbyterianisch war. Durch die Einwanderung näherte sich die presbyterianische der anglo-irischen Bevölkerung numerisch immer weiter an und begann daher der anglo-irischen Vormachtstellung gefährlich zu werden. 60 Erschwerend kam hinzu, daß die presbyterianische Kirche der anglikanischen institutionell überlegen war, daß der regionale Zusammenhalt der Presbyterianer größer war als derjenige der Anglikaner, die – vom zentralen Siedlungsgebiet in der Pale61 abgesehen – über das ganze Land verstreut waren, und daß die Presbyterianer wegen ihrer Kontakte nach Schottland und zu den englischen Whigs auch als politische Gegner nicht zu unterschätzen waren.62 Da sie überdies die Forderung erhoben, daß – dem schottischen Beispiel folgend – die anglikanische Kirche zugunsten einer prinzipiellen Gleichstellung mit der presbyterianischen Kirche vom Staat getrennt werden sollte,63 stellten sie in zweifacher Hinsicht eine Gefahr für das anglikanische Kolonialregime dar: Zum einen bedrohte ihre numerische Stärke unmittelbar die Machtbasis der Ascendancy, zum anderen attackierte ihre Forderung nach Gleichstellung die legitimativen Grundfesten des „Ascendancy interest“, die axiomatisch von einer untrennbaren Einheit vom irischen Staat und der anglikanischen Kirche ausging.64 59 Wall, Penal Laws, S. 5. Simms, Establishment, S. 23; J.L. McCracken, The Social Structure and Social Life, 1714-60, in: Moody/Vaughan, History of Ireland 4, S. 31-56, S. 39f. 61 ‘The Pale’: Gebiet zwischen Dublin und den Wicklow Mountains im Süden, dem Lough Owel im Westen und Dundalk im Norden, etwa deckungsgleich mit dem unter Geographen geläufigen Begriff des „östlichen Dreiecks“ (eastern triangle), einer weniger regenreichen, fruchtbaren Gegend ohne Moore und Gebirge, die Ausgangspunkt für alle Eroberungsversuche in Irland – von den Kelten über die Wikinger und Normannen bis zu den Engländern – war. Vgl. J.H. Andrews, A Geographer’s View of Irish History, in: Moody/Martin, Course, S. 17-29, S. 19-21; Connolly, Companion, S. 424f. 62 McCracken, Social Structure, S. 39-41; Zwischen 1707 und 1716 stieg parallel die Anzahl der presbyterianischen Gemeinden um 30 Prozent. Vgl. Dickson, New Foundations, S. 57. 63 Simms, Establishment, S. 22. 64 Dabei rückte die anglikanische Propaganda die Dissenter in die Nähe der Katholiken: Beide Konfessionen verträten die Doktrin, daß es ein Gott gegebenes Recht gebe, häretische Herrscher 60 53 Entsprechend schnell einigten sich die anglikanischen Kirchenfürsten und Großgrundbesitzer, die beiden Säulen der Ascendancy, daß den presbyterianischen Wünschen nach mehr Autonomie ein Riegel vorgeschoben werden müsse.65 In der Regierungszeit Königin Annes (1702-1714), die dem Dissent ebenfalls nicht wohlgesonnen war,66 kam ihnen dabei zugute, daß auch Großbritannien nicht zugunsten der Presbyterianer intervenierte. Der Sacramental Test. Analog zur Marginalisierung der Katholiken griff die Ascendancy zunächst die politische Partizipationsrechte der Presbyterianer an und versuchte, ihnen jeden Weg zur aktiven öffentlichen Einflußnahme zu versperren. Durch die Einführung des Sacramental Test von 1704 gelang ihnen das umfassend: Niemand durfte fürderhin ein politisches Amt bekleiden, ohne zuvor das Abendmahl nach anglikanischem Ritus empfangen zu haben und beim Treueeid die Bibel geküßt zu haben. Beides war mit presbyterianischen Vorstellungen nicht zu vereinbaren67 und so waren die Presbyterianer – wie die Katholiken – von allen öffentlichen Ämtern automatisch ausgeschlossen. Nach demselben Muster erfolgte der Ausschluß aus den Stadträten (und damit – wie bereits bekannt – von der Wahl von mehr als einem Drittel der Abgeordneten des Unterhauses).68 Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, daß die Petition, auf die hin das irische Unterhaus entschied, daß die Sacramental Tests auch für die Ämter im Stadtrat gelten sollten, von Anglikanern aus Belfast, dem Zentrum des presbyterianischen Siedlungsgebiets, eingereicht wurde. Hier ging es also ganz offensichtlich darum, den Presbyterianern in ihrem ureigensten Gebiet eine rein anglikanische Stadtverwaltung vor die Nase zu setzen. Zu allem Überfluß minimierten auch die auf Landbesitz beruhenden Wahlqualifikationen den Einfluß der Presbyterianer, die vorwiegend Pächter und Kaufleute waren.69 Obwohl sie also – im Gegensatz zu abzusetzen. Vgl. T.C. Barnard, Identities, Ethnicity and Tradition among Irish Dissenters c. 16501750, in: K. Herlihy (Hg.), The Irish Dissenting Tradition, 1650-1750, Dublin 1995, S. 29-48, S. 32. 65 Bartlett, Fall, S. 31. 66 Vgl. J.G. Simms, The Making of a Penal Law (2 Anne, c. 6), in: IHS 12, 46 (1960), S. 105-118; P. Brooke, Ulster Presbyterianism, The Historical Perspective, 1610-1970, Dublin 1987, S. 66f. 67 Vgl. P. Tesch, Presbyterian Radicalism, in: Dickson, United Irishmen, S. 33-48, S. 44. Der Sacramental Test wurde erst im Zuge von Grattan’s Revolution im Jahr 1782 wieder aufgehoben. 68 McCracken, Social Structure, S. 40. 69 In den Grafschaften Antrim, Down und Tyrone (den presbyterianischen Kernsiedlungsgebieten) gab es nach einer pro-presbyterianischen Quelle von 1751 nicht mehr als 60 Landbesitzer, deren Einkommen sich per capita zwischen 200 und 1.400 £ bewegte. Und selbst wenn es sich dabei nicht um eine Übertreibung handelt, so waren die Einkommen im Vergleich alles andere als be- 54 den Katholiken – weder vom aktiven noch vom passiven Wahlrecht per se ausgeschlossen wurden, gelang es der Ascendancy, auf dem Umweg über die Tests sicherzustellen, daß die Dissenter im öffentlichen Leben keine zentrale Rolle spielten. Maßnahmen gegen die presbyterianische Kirche. Zweitens richteten sich die Attacken der Ascendancy gegen die presbyterianische Kirche und Konfession. Wie die Katholiken wurden auch die Dissenter gezwungen, durch die Zahlung von Tithes (Zehntabgaben) an die anglikanische Kirche ein aus ihrer Perspektive heterodoxes Kirchenregiment zu finanzieren.70 Gleichzeitig blockierten die anglikanischen Kirchenfürsten im irischen Oberhaus wiederholt Versuche, ein Tolerierungsgesetz für die Dissenter durchzusetzen, das sich im Rahmen des englischen Toleration Act von 1689 bewegte. Erst unter britischem Druck – Georg I. verfolgte gegenüber den Dissentern eine deutlich mildere Politik als seine Amtsvorgängerin Anne – wurde im irischen Parlament 1719 ein Tolerierungsgesetz verabschiedet, das den Dissentern das Recht auf freie Religionsausübung prinzipiell zugestand.71 Wie widerwillig dieses Recht jedoch gewährt wurde, läßt sich deutlich daran ablesen, daß religiöse Restriktionen bezüglich des presbyterianischen Heirats- und Bestattungsritus trotz dieses Gesetzes bis in die 1730er Jahre fortbestanden.72 Auch sonst ließ die Ascendancy keine Gelegenheit aus, um die presbyterianische Religionsausübung zu behindern. So war es etwa Usus in Pachtverträgen zwischen presbyterianischen Pächtern und anglikanischen Landbesitzern expressis verbis festzuhalten, daß auf dem gepachteten Land keine Bethäuser errichtet werden durften.73 Regium Donum. Darüber hinaus versuchte die Ascendancy auch, das Regium Donum, einen bescheidenen jährlichen Beitrag der Krone zur Bezahlung presbyterianischer Prediger, der 1672 von Karl II. eingeführt worden war, abzuschaffen.74 Seit es von Wilhelm III. – gegen den Widerstand der Ascendancy – auf 1.200 £ eindruckend. Vgl. ebd., S. 40. Ähnlich niedrige Zahlen finden sich für die 1720er Jahre auch bei Barnard, Identities, S. 35. 70 J.L. McCracken, The Ecclesiastical Structure, 1714-60, in: Moody/Vaughan, History of Ireland 4, S. 84-104, S. 101; Wall, Penal Laws, S. 5. 71 Dickson, New Foundations, S. 74f. 72 R. Foster, Modern Ireland, 1600-1972, Harmondsworth 1988, S. 157; McCracken, Ecclesiastical Structure, S. 101. 73 McCracken, ebd., S. 101. 74 Connolly, Companion, S. 477. Der Betrag des Regium Donum belief sich ursprünglich auf 600 £ p.a. Vgl. Beckett, Making, S. 132. 55 p.a. aufgestockt worden war,75 stand es fortwährend im Kreuzfeuer der Kritik. Anglikanische Kirchenfürsten beschuldigten die Presbyterianer, sie mißbrauchten das Geld zum Aufbau neuer Gemeinden, machten also mit anglikanischem Geld der anglikanischen Kirche Konkurrenz. Das irische Unterhaus beschloß 1703, es handele sich beim Regium Donum um eine „entbehrliche“ Leistung des Staates.76 1714 gelang es der Ascendancy sogar, für kurze Zeit die Abschaffung des Regium Donum durchzusetzen.77 Dieser Schritt war weniger von finanzieller, als vielmehr von politischer Bedeutung: Im Schnitt entfielen vom Regium Donum auf jeden presbyterianischen Prediger in Ulster 11 £ p.a., aber zugleich war es das Symbol der Legitimität des Dissent in Irland.78 Daher kam die zwischenzeitliche Abschaffung einem enormen Affront der presbyterianischen Bevölkerung gleich, den die Ascendancy sich gleichwohl glaubte leisten zu können, weil sie davon ausging, daß die presbyterianische Bevölkerung im Fall einer Auseinandersetzung mit der katholischen Bevölkerung aus Furcht vor einer katholischen Restauration dennoch fest an ihrer Seite stehen würde, so daß sich strategische Rücksichtnahmen erübrigten.79 Nach dem Regierungsantritt Georgs I. wollte man sich in Großbritannien auf dieses gewagte Spiel offensichtlich nicht einlassen: Das Regium Donum wurde jedenfalls umgehend wieder eingeführt, 1718 sogar auf 2.000 £ p.a. aufgestockt und 1719 das bereits erwähnte Tolerierungsgesetz gegen den Widerstand der Ascendancy durchgedrückt.80 Diese Vorgehensweise ist als deutliches Indiz dafür zu werten, daß die britische Seite eine Schwächung der protestantischen Bevölkerung in Irland durch interne Konflikte nach Möglichkeit vermeiden wollte.81 Mit diesem Einlenken waren die anglikanisch-presbyterianischen Beziehungen jedoch nicht mehr zu kitten – zu deutlich erkennbar war der Widerwille, mit dem die Anglikaner – erst auf britischen Druck hin – Zugeständnisse gemacht hatten, zu 75 Beckett, ebd., S. 160. Simms, Establishment, S. 25, McCracken, Ecclesiastical Structure, S. 84, 86, 101. 77 Dickson, New Foundations, S. 59. 78 McCracken, Ecclesiastical Structure, S. 100, A.T.Q. Stewart, The Narrow Ground, Aspects of Ulster, London 1977, S. 93. 79 Bartlett, Fall, S. 32; Foster, Modern Ireland, S. 158. 80 Das Regium Donum blieb auch im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts ein Appeasementinstrument des Kolonialregimes. Es war kein Zufall, daß es ausgerechnet nach „Grattan’s Revolution“ 1784 auf insgesamt 3.100 £ p.a. und 1792, als der Reformkongreß in Dungannon tagte, nochmals auf 5.000 £ p.a. aufgestockt wurde. Dahinter stand ganz eindeutig der Versuch, das Wohlwollen und die Loyalität der Dissenter zu gewinnen. Stewart, Narrow Ground, S. 92f. 76 56 groß die Enttäuschung der Presbyterianer über das Verhalten der ehemaligen Bundesgenossen (zumal die Gesetze, welche die politische Marginalisierung der Dissenter zur Folge hatten, weiterhin Gültigkeit behielten). Die politische Entfremdung zwischen der anglikanischen und der presbyterianischen Bevölkerung wurde somit zum fait accompli, zu einer festen Größe im politischen Tagesgeschäft. Katholische Reaktionen auf die Marginalisierung. Die irischen Katholiken waren nach ihrer Niederlage zunächst nicht in der Lage, Widerstand gegen die Strafgesetze zu leisten. Zum einen war der politisch aktive Teil der katholischen Bevölkerung überwiegend aufs europäische Festland geflohen, zum anderen verbot sich offener Widerstand auch aus Furcht vor weiteren Repressionsmaßnahmen. Die Rapparees – katholische Jakobiten, die eine Brigantenexistenz in Irland einer Flucht nach Frankreich vorgezogen hatten – stellten Magistrate und Landbesitzer zwar vor allem im Westen und Südwesten Irlands punktuell vor Probleme, verursachten aber aufs Ganze gesehen wenig Schaden.82 Ernsthafter, prinzipieller Widerstand gegen die Strafgesetze war von dieser Seite jedenfalls nicht zu gewärtigen. Lediglich in einem Punkt läßt sich feststellen, daß Katholiken auch zur Hochzeit der Strafgesetzgebung kurz nach der Wende zum 18. Jahrhundert Widerstand leisteten: Gegen die Verfolgung des katholischen Klerus. Ungeachtet der Gefahr, die dies mit sich brachte, wurden katholische Bischöfe und Priester vor dem Zugriff der Behörden geschützt, mit Kost, Logis und Geld versorgt.83 Gelegentlich nahm der Schutz des katholischen Klerus auch gewaltsame Formen an: Ein katholischer Bischof wurde 1703 von fast 300 bewaffneten Katholiken aus dem Gefängnis befreit und die ‚Priesterjäger’ – von der Ascendancy gedungene Denunzianten (u.a. auch exkommunizierte katholische Priester), die untergetauchte Kleriker aufspürten und gegen Prämien an die Behörden verrieten – konnten sich ihres Lebens nicht mehr sicher sein, wenn sie von Katholiken erkannt wurden.84 81 Foster, Modern Ireland, S. 157. Simms, Establishment, S. 9; Beckett, Making, S. 150, 176. 83 P.J. Corish, The Catholic Community in the 17th and 18th Centuries, Dublin 1981, S. 77, 83; Wall, Penal Laws, S. 24f. 84 Wall, Penal Laws, S. 11, 25-27, 33; Dickson, New Foundations, S. 57. 82 57 Abgesehen von diesen wenigen Ausnahmen bemühte sich die katholische Bevölkerung jedoch durch alle sozialen Schichten hindurch darum, sich entweder mit den Regelungen der Strafgesetzgebung zu arrangieren – oder sie zu unterlaufen, wenn sich dies bewerkstelligen ließ, ohne Aufsehen zu erregen. Die religiösen Regelungen der Strafgesetzgebung wurden stillschweigend ignoriert (was sich etwa deutlich am Wallfahrtswesen ablesen läßt)85, die Religion wurde – übrigens von den Behörden, die sich damit zufrieden gaben, daß die Katholiken öffentlich nicht in Erscheinung traten, weitgehend toleriert – insgeheim weiter ausgeübt.86 Erleichtert wurde diese Strategie dadurch, daß die Ascendancy an der Umsetzung der religiösen Teile der Strafgesetzgebung wenig interessiert war bzw. sie administrativ nicht bewältigen konnte.87 Jenseits von Glaubensfragen machten die katholischen Bischöfe und Adeligen jedoch ihren ganzen Einfluß geltend, um die katholischen Unterschichten ungeachtet ihrer jakobitischen Sympathien zu ostentativem Wohlverhalten zu bewegen und ließen keine Gelegenheit aus, um ihre Kooperationsbereitschaft gegenüber dem Kolonialregime zu demonstrieren und so wieder an politischem Handlungsspielraum zu gewinnen.88 Um die Jahrhundertmitte war die katholische Kirchenhierarchie wieder vollständig intakt89 und die enteigneten, von Landbesitz– und Berufsverboten geplagte katholische Mittelund Oberschicht hatte sich andere Einkommensquellen erschlossen, indem sie auf dem Land als Verwalter und Agenten der ‚neuen’, anglikanischen Landbesitzer fungierten oder sich im Handel etablierten.90 Aufgeklärter Katholizismus. Parallel dazu machte sich um die Jahrhundertmitte auch in der katholischen Intelligenz sachte eine Aufbruchstimmung breit. Vor allem zwei katholische Autoren – Charles O’Conor von Belanagare und Dr. John Curry – begannen, gegen die anglikanischen Wahrnehmung der katholischen Be- 85 Wall, ebd., S. 52f. Corish, Catholic Community, S. 83-85. 87 Wall, Penal Laws, S. 18-25, Stewart, Narrow Ground, S. 103f. 88 M. Wall, Catholic Loyalty to King and Pope in 18th Century Ireland, in: O'Brien/Dunne (Hgg.), Catholic Ireland in the 18th Century: Collected Essays of Maureen Wall, Dublin 1989, S. 107-114., S. 109; Corish, Catholic Community, S. 122; Boyce, Nationalism, S. 124. 89 Wall, Penal Laws, S. 29f. 90 M Wall, The Rise of a Catholic Middle Class in 18th Century Ireland, in: O'Brien/Dunne, (Hgg.), Catholic Ireland in the 18th Century: Collected Essays of Maureen Wall, Dublin 1989, S. 73-84; M. Wall, Catholics in Economic Life, in: O'Brien/Dunne, (Hgg.), Catholic Ireland in the 18th Century: Collected Essays of Maureen Wall, Dublin 1989, S. 85-92; K. Whelan, An Underground Gentry? Catholic Middlemen in 18th Century Ireland, in: ders., Tree, S. 3-56; L.M. Cullen, The Emergence of Modern Ireland, 1600-1900, New York 1981, S. 99f. 86 58 völkerung anzuschreiben. Das Ziel ihres geschichtsrevisionistischen Projekts war, den Stillstand in den katholisch-anglikanischen Beziehungen zu durchbrechen, indem sie versuchten, die katholische Bevölkerung vom Revanchismusverdacht zu entlasten und glaubhaft zu machen, daß Katholizismus und Loyalität zu einem protestantischen Herrscherhaus sich nicht gegenseitig ausschlossen.91 Es war kein Zufall, daß diese Schriften, die einer Distanzierung vom Jakobitismus und einer katholischen Anerkennung der „Glorreichen Revolution“ gleichkamen, erst nach dem gescheiterten Stuart-Aufstand von 1745/46 erschienen, als Cumberlands Greueltaten die letzte Hoffnung auf eine Stuart-Restauration endgültig zunichte machten.92 Dem anglikanischen Vorurteil, Katholiken seien per se incapax libertatis, setzten O’Conor und Curry in ihren historischen Studien die These entgegen, daß irische Katholiken entscheidende Beiträge zur Entwicklung der zivilen Freiheiten Großbritannien und Irlands geleistet hätten und entwarfen ein Bild der vorkolonial-gälischen Gesellschaft, welches diese als Hort konstitutioneller Freiheiten erscheinen ließ.93 Obendrein distanzierten sich diese aufgeklärten Katholiken von der weltlichen Autorität des Papstes.94 Gerade in diesem Gesichtspunkt läßt sich der Unterschied des aufgeklärten Katholizismus zur Haltung der katholischen Oberschicht aus Adel und Klerus ermessen, die zwar immer ihre politische Loyalität betonten, sich aber weigerten, öffentlich von Glaubenssätzen abzugehen. O’Conor drängte in seinen Schriften nun darauf, daß den Katholiken durch Ablegen eines Eides die Gelegenheit gegeben würde, sich von solchen Doktrinen zu distanzieren, die von anglikanischer Seite als Legitimation für die Exklusion der katholischen Bevölkerung verwendet wurden.95 Das Ergebnis war, daß 1775 60 katholische Kaufleute und Händler aus Dublin in King’s Bench diesen Eid – gegen den Widerstand der katholischen Würdenträger – freiwillig ablegten, worauf sich der politisch aktive Teil der katholischen Bevölkerung in Juroren und NonJuroren aufspaltete. Auf der Seite der Non-Juroren standen die katholischen Kir91 M. Wall, The Position of Catholics in Mid-Eighteenth Century Ireland, in: O'Brien/Dunne, (Hgg.), Catholic Ireland in the 18th Century: Collected Essays of Maureen Wall, Dublin 1989, S. 93-101, S. 94. 92 Zu den Veröffentlichungsdaten der in diesem Zusammenhang relevanten Schriften O’Conors und Curry vgl. J.R. Hill, Popery, Civil and Religious Liberty: The Disputed Lessons of Irish History, 1690-1812, in: P & P 118 (1988), S. 96-129, Anm. 45-47; zu Cumberlands ‘Wirken’ vgl. M. Lynch, Scotland – A New History, London 19922, S. 338f. 93 Hill, ebd., S. 105. 94 Ebd., S. 104. 95 Wall, Loyalty, S. 101-111. 59 chenfürsten und der Großteil des eng mit der Kirche kooperierenden katholischen Adels, auf der Seite der Juroren aufgeklärte Katholiken aus Wirtschaftsbürgertum und Intelligenz sowie ein paar adelige und klerikale Dissidenten.96 Das Catholic Committee. Die zweite Neuentwicklung, die der aufgeklärte Katholizismus brachte, war die politische Organisation der irischen Mittelstandsund Oberschichtskatholiken. Auch hier waren O’Conor und Curry mit der Hilfe Thomas Wyse’ aus Waterford federführend tätig: 1760 gründeten sie das Catholic Committee, das für sich in Anspruch nahm, die Interessen ‚aller‘ irischen Katholiken (d.h. de facto des katholischen Bürgertums, Adels und Klerus) zu vertreten.97 Ursprünglich eine Hilfsorganisation und Koordinationsinstanz für lokale Versuche der Katholiken neue Rechte zu erkämpfen bzw. alte Rechte zu verteidigen, entwickelte sich das Komitee bis Mitte der 1780er Jahre zu einem veritablen katholischen Gegenparlament,98 das die Ascendancy mit zunehmendem Argwohn und mit Sorge betrachtete, weil es ihren politischen Alleinvertretungsanspruch in Frage stellte. Analog zur Spaltung in Juroren und Non-Juroren lassen sich auch im Catholic Committee zwei Lager ausmachen: Auf der einen Seite die ,alte‘ katholische Elite aus Adel und Klerus um Lord Kenmare und den Erzbischof von Dublin, Dr. Troy, die eine geduldige Petitions- und Loyalitätspolitik verfolgten (in der Hoffnung, daß ihr Wohlverhalten mit der Wiederzulassung in die politische Elite belohnt würde) und auf der anderen Seite der relativ ,junge‘ katholische Mittelstand um O’Conor und Curry, der auf eine entschlossenere Gangart drang und eine prinzipielle Emanzipation der katholischen Bevölkerung, die Beseitigung britischer Handelsinterventionen sowie die Ausweitung der politischen Partizipation auf den Mittelstand forderte. Dadurch ergaben sich zwar einerseits Berührungspunkte zwischen dieser letztgenannten Fraktion und anderskonfessionellen, reformorientierten Gruppierungen, anderseits setzte diese Entwicklung einen Fragmentierungsprozeß in der politisch aktiven katholischen Bevölkerung in Gang. Dadurch daß aufgeklärte Katholiken durch ihre Distanzierung von Rom neue, offensivere Handlungsmöglichkeiten erschlossen, zerbrach gleichzeitig die 96 Ebd., S. 113. M. Wall, Government Policy Towards Catholics During the Viceroyalty of the Duke of Bedford, 1757-61, in: O'Brien/ Dunne (Hgg.), Catholic Ireland in the 18th Century: Collected Essays of Maureen Wall, Dublin 1989, S. 103-106., S. 104; M. Wall, John Keogh and the Catholic Committee, in: ebd., S. 163-170., S. 164-167. 98 Vgl. R. D. Edwards (Hg.), The Minute Book of the Catholic Committee, 1773-92, in: Archvium Hibernicum 9 (1942), S. 3-172, passim. (Fortan zitiert als MBCC) 97 60 Geschlossenheit in der katholischen Bevölkerung, die durch den repressiven Druck entstanden war, der von der Strafgesetzgebung ausging. Mit einem Mal kamen schichtspezifische Partikularinteressen zum Vorschein, die sich in Strategiekontroversen und Ausbruchsversuchen einzelner Lager aus der von der Ascendancy kreierten katholischen ‚Zwangsgemeinschaft’ niederschlugen.99 Die Formen des katholischen Widerstands gegen die Unterdrückung der Ascendancy diversifizierten sich in der zweiten Jahrhunderthälfte ebenso wie sich die katholische Bevölkerung intern differenzierte. Am Ende dieses Prozesses standen sich drei distinkte katholische Gruppen gegenüber: die alte katholische Elite, der neue katholische Mittelstand – und die katholischen Unterschichten auf dem Land, die von diesen Neuorientierungen abgekoppelt weiter ihre jakobitische Loyalität pflegten und in den politischen Überlegungen der beiden ersten Gruppen bestenfalls eine strategische Rolle spielten, sonst aber komplett abgehängt wurden. Presbyterianische Reaktionen auf die Marginalisierung. Die Reaktionen der Dissenter auf die Marginalierung durch die Ascendancy weisen eine größere Variationsbreite auf als die katholische. Dafür gibt es mehre Gründe. Erstens waren die Dissenter in einer besseren Ausgangsposition als die Katholiken: Die Animosität der Ascendancy gegenüber den Dissentern war weniger ausgeprägt,100 die anglikanischen Repressionsmaßnahmen – wie wir bereits gesehen haben – weniger umfassend und ihr politischer Handlungsspielraum entsprechend größer. Sie konnten zumindest öffentlich für ihre Rechte eintreten, ohne damit neue Repressionen zu provozieren. Zweitens bildeten die Dissenter in Ulster eine distinkte, regional verankerte Sondereinheit in der irischen Gesellschaft: Ulster war – mit Ausnahme Dublins – die am stärksten prosperierende Region Irlands, die Sozialstruktur war egalitärer als sonstwo in Irland, die Bildungsstandards höher und die presbyterianische Kirche hatte laut PETER BROOKE in Ulster gleichsam den Charakter einer ‚Nationalkirche‘.101 Dieser spezielle Status muß nicht notwendiger- 99 Vgl. vor allem die Kenmare-Troy Affäre von 1791 in: Wall, Keogh, S. 166f; verkürzt dagegen bei Boyce, Nationalism, S. 123f. 100 T.C. Barnard, The Government and Irish Dissent, 1704-1780, in: K. Herlihy (Hg.), The Politics of Irish Dissent, 1650-1800, Dublin 1997, S. 9-27, S. 12f., 17f. 101 J.C. Beckett, Introduction, 18th Century Ireland, in: Moody/Vaughan, History of Ireland 4, S. x-lxiv, S. lx; Brooke, Ulster Presbyterianism, S. 112; McCracken, Social Structure, S. 39f.; Tesch, Radicalism, S. 37, 40f. 61 weise zur Ausbildung einer regionalen Identität geführt haben,102 aber er erleichterte zumindest die Abkapselung der Dissenter von der restlichen irischen Gesellschaft und die Entstehung einer kritischen, z.T. radikal-oppositionellen Haltung gegenüber der Ascendancy, die gleichwohl nicht von der gesamten presbyterianische Bevölkerung geteilt wurde.103 Das hing wiederum damit zusammen, daß drittens durch die anglikanische Religionspolitik, welche die Etablierung der anglikanischen Kirche als Staatskirche zum Ziel hatte, in den presbyterianischen Kongregationen eine Grundsatzdiskussion über das Verhältnis von Staat und Kirche und über die Frage ausgelöst wurde, inwieweit die Staatsgewalt überhaupt berechtigt sei, in die religiösen Angelegenheiten der Bevölkerung einzugreifen.104 Das Ergebnis dieser Debatten, die eine deutliche Tendenz zur Verselbständigung und politischen Radikalisierung aufwiesen, waren mehrere Schismen, die einerseits Debatten, die in der schottischen Kirk und der presbyterianischen Kirche Englands geführt wurden, und andererseits spezifische Vorbehalte der nordirischen Dissenter gegenüber der Ascendancy reflektierten. Zunächst argumentierten die Dissenter jedoch politisch: In einer Adresse an Königin Anne protestierten presbyterianische Prediger gegen den Test Act von 1704 und beriefen sich dabei auf ihre stets unter Beweis gestellte Loyalität gegenüber der Krone.105 Das war der Auslöser für eine polemische Auseinandersetzung zwischen einem anglikanischen und zwei presbyterianischen Autoren in Ulster, die im presbyterianischen Teil der Öffentlichkeit von Anfang an hohe Wellen schlug: 1709 und 1712 veröffentlichte der anglikanische Vikar William Tisdall aus Belfast zwei Flugschriften, in denen er den Presbyterianern vorwarf, sie seien dezidierte Gegner der Monarchie und hätten sich nach 1688 illoyal verhalten.106 Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: 1713 publizierten zwei presbyterianische Prediger – John McBride und James Kirkpatrick – Flugschriften, in denen sie 102 So die Annahme von Brooke, ebd., 63f., 112; Tesch, ebd., S. 37. In geradezu grotesker Weise als ‚Volkscharakter’ überzeichnet auch bei Stewart, Narrow Ground, S. 83. 103 Foster, Modern Ireland, S. 157. 104 Tesch, Radicalism, S. 37-39. 105 Die Substanz dieser Behauptung ist höchst zweifelhaft, denn schließlich hatten der Großteil der Presbyterianer im Erbfolgekrieg nicht die Seite des rechtmäßigen Stuartkönigs ergriffen. Selbst wenn man Jakob II. nach der „Glorreichen Revolution“ und seiner Flucht nicht mehr als englischen König anerkennen mochte, war er dennoch verfassungsgemäß der irische Souverän. Vgl. Stewart, Narrow Ground, S. 63. 106 Brooke, Ulster Presbyterianism, S. 68 u. wörtlich wie Brooke (aber ohne Zitat!) Tesch, Radicalism, S. 34f. 62 den Dissent gegen Tisdalls Vorwürfe verteidigten.107 Beide wiesen die These weit von sich, daß die Kirk Autorität über die weltlichen Magistrate beanspruche, sprachen sich aber gleichzeitig dafür aus, das individuelle Gewissen zur letzten Instanz in Glaubensfragen und Fragen der Zugehörigkeit zur anglikanischen oder presbyterianischen Kirche zu machen.108 Obendrein reklamierten sie ein Widerstandsrecht des gemeinen Mannes gegenüber der staatlichen Autorität, sofern diese gegen den „erklärten Willen der Obersten Göttlichen Gewalt“ („declared will of the Supreme Divine Power“) verstoße, ließen aber offen, wer diesen „erklärten Willen“ autoritativ festlegen könne.109 Der Sprache und dem Inhalt nach lagen diese Thesen sehr nahe an kontraktheoretischen Überlegungen, wie sie John Locke angestellt hatte. Die politische Botschaft, die implizit hinter diesen Ideen stand, ohne explizit formuliert zu werden, war, daß es an Willkürherrschaft grenze, wenn eine Bevölkerungsgruppe aufgrund ihrer nur vor Gott zu verantwortenden Gewissensentscheidung für den Dissent von der politischen Partizipation ausgeschlossen wird. Obwohl beide immer dafür plädierten, daß jedermann der weltlichen Obrigkeit – ungeachtet seiner religiösen Überzeugungen – stets Gehorsam und Respekt zu zollen habe, konnte zumindest McBride seine eigene Mißachtung vor den Repräsentanten dieser Obrigkeit nur schwer verbergen: „Bevor man uns wegen der Zurückweisung des Eides auf gekrönte Häupter der mangelnden Loyalität verdächtigt – obwohl sie tot und verrottet sind –, soll ihnen lieber aller angebrachte Respekt zuteil werden.“110 Kirkpatrick ging sogar noch weiter, indem er für die Presbyterianer ein besonders ausgeprägtes Freiheitsbewußtsein reklamierte: „Die kirchliche Konstitution des Presbyteriums stellt so effektive Gegenmittel gegen die Usurpation und Ambition des Klerus zur Verfügung und legt eine solche Grundlage für die Freiheit des Individuums in Kirchenfragen, daß in den Menschen auch ganz natürlich eine Aversion gegen alle Tyrannei und Unterdrückung im Staat entsteht.“111 Hier wird augenfällig, daß es unter den Presbyterianern in Ulster keineswegs an Selbstbewußtsein mangelte, um der Ascendancy entgegenzutreten. Davon abgesehen ist die Bedeutung der Flugschriften McBrides und Kirkpatricks auch sonst schwerlich zu hoch zu veranschlagen: Sie sind perfekte Beispiele dafür, wie Reli107 Zum Verlauf und Inhalt der Tisdall-McBride/Kirkpatrick-Kontroverse vgl. Brooke, Ulster Presbyterianism, S. 68-72. 108 Ebd., S. 69; Tesch, Radicalism, S. 35. 109 Brooke, ebd., S. 68, Zitat ebd. 110 Zitiert nach ebd., S. 70. (meine Übersetzung) 63 gion und Politik in der presbyterianischen Tradition als zwei Seiten einer Medaille wahrgenommen wurden, wie man von Kirchenfragen in Kürze bei Grundproblemen der politischen Philosophie wie der Frage des Widerstandsrechts landete, wie nahe sich Presbyterianismus und die Whig-Ideologie standen.112 Im Kontext der vorliegenden Arbeit ist aber von noch größerer Bedeutung, daß die von Kirkpatrick und McBride ausgebreiteten Argumente ab den 1780er Jahren in den Schriften oppositioneller Presbyterianer eine Renaissance erlebten.113 Diese Autoren bereiteten den Weg für radikale presbyterianische Geistliche wie Samuel Barber oder William Steel Dickson, die in den 1790er Jahren im Umfeld der United Irishmen aktiv waren.114 Die Schismen innerhalb der presbyterianischen Kirche sind aus mehreren Gründen bemerkenswert. Einerseits zeigen sie die kulturellen Einflüsse des englischen und schottischen Dissent auf die presbyterianische Bevölkerung in Nordirland, andererseits hatte jede dieser Abspaltungen irlandspezifische Konsequenzen, die vor allem darin bestanden, daß eine zunehmend feindliche Haltung gegenüber dem Staat eingenommen wurde – und zwar ungeachtet der Tatsache, ob es sich um fundamentalistisch-puristische oder liberale Abspaltungen handelte. Die erste Abspaltung von der Synode von Ulster erfolgte durch den liberalen Flügel des Dissent. Die Synode verlangte von ihren Gläubigen zusätzlich zur Befolgung des Gebots ‚sola scriptura’ die Anerkennung der Westminster Confession of Faith.115 Einige presbyterianische Prediger verwahrten sich dagegen: Es sei ein Übergriff der Synode auf die Glaubensfreiheit des Individuums. 1719 veröffentlichte Reverend John Abernethy aus Antrim eine Predigt mit dem Titel „Religious Obedience Founded on Personal Perusasion“, in der diese Position ausführlich dargelegt ist.116 Die heftigen Auseinandersetzungen in England um diese Frage 111 Zitiert nach Tesch, Radicalism, S. 35. (meine Übersetzung) Vgl. hierzu auch A.T.Q. Stewarts Polemik zum Nexus zwischen religiöser Überzeugung und politischen Orientierungen in der presbyterianischen Gemeinschaft. Stewart, Narrow Ground, S. 83. 113 Brooke, Ulster Presbyterianism, S. 71; Tesch, Radicalism, S. 36. 114 Vgl. exemplarisch B. Clifford (Hg.), Scripture Politics, Selections from the Writings of William Steel Dickson, the Most Influential United Irishman of the North, Selected and Introduced by B.C., Belfast 1991; Tesch, Radical Presbyterianism, S. 46ff. 115 Die Westminster Confession wurde 1647 von der Synode von Westminster als dogmatische Grundlage für alle presbyterianischen Gruppierungen formuliert. 116 Zur Abernethy-Kontroverse vgl. Brooke, Ulster Presbyterianism, S. 81-83. 112 64 vor Augen, vermied es die Synode, einen Konfrontationskurs einzuschlagen.117 Der Streit konnte dennoch erst nach vielem Hin und Her 1725/26 dadurch beigelegt wurden, daß die sogenannten „Nicht-Subskribenten“ institutionell von der Synode getrennt wurden und im Presbyterium von Antrim zusammengefaßt wurden.118 Hier setzten sich die Diskussionen fort, die bereits 1705 mit der Gründung der Belfast Society, eines Debattierklubs liberal-presbyterianischer Prediger, begonnen hatten.119 In der Gruppe der Nicht-Subskribenten oder Anhänger des ‚New Light’, wie sie auch genannt wurden, waren die Vorbehalte gegenüber staatlichen Eingriffen in Glaubensfragen und konfessionell fundierter Diskriminierung besonders ausgeprägt, in ihren Kreisen machte sich der Einfluß der schottischen Aufklärung besonders stark bemerkbar.120 Insbesondere der irisch-schottische Moralphilosoph Francis Hutcheson (ein Lehrer Adam Smiths), der politische und soziale Angelegenheiten als moralische Fragen auffaßte und die Errichtung einer gerechten politischen Ordnung als vorrangiges gesellschaftliches Ziel begriff, wurde hier rezipiert.121 Hutcheson war zugleich auch ein dezidierter Verfechter des Widerstandsrechts gegen eine ungerechte Regierung.122 Es überrascht daher nicht, daß gerade Prediger des New Light eine prominente Rolle in der regimekritischen Opposition der 1780er und 1790er Jahre spielten. Auf der anderen, fundamentalistischen Seite spalteten sich um die Jahrhundertmitte – ebenfalls dem schottischen Modell folgend – die sogenannten Sezessionisten (Seceders) von der Synode ab. In Schottland war die Sezession eine Art „Zurück-zum-religiösen-Ursprung“-Bewegung gewesen, in Irland richtete sie sich zusätzlich auch gegen die Synode von Ulster, deren Kirchenpolitik als zu lax kritisiert wurde.123 Gemäß der anti-episkopalen Tradition des Dissent betrachteten die Sezessionisten überdies die anglikanische Kirche als ‚unprotestantisch’ und rückten sie wegen ihrer prälatischen Struktur in die Nähe der katholischen Kir117 Ebd., S. 83. Tesch, Radicalism, S. 38. 119 Brooke, Ulster Presbyterianism, S. 81. 120 Ebd., S. 82; I. McBride, William Drennan and the Dissenting Tradition, in: Dickson, United Irishmen, S. 49-61., S. 53. 121 McBride, ebd., S. 57-60; Tesch, Radicalism, S. 38. 122 „Wenn die gemeinsamen Rechte der Gemeinschaft in den Staub getreten werden ... dann hat der Regierende, da er das in ihn gesetzte Vertrauen offensichtlich verrät, sich aller Macht begeben, mit der er ausgestattet wurde. In jedem Regierungssystem haben die Menschen das Recht, sich selbst gegen Machtmißbrauch zur Wehr zu setzen.“ Zitiert nach Tesch, ebd., S. 38. (meine Übersetzung) 118 65 che.124 Die politische Weiterung dieser Position bestand darin, daß sie auch dem Staat, der eine solche Kirche förderte, ablehnend gegenüberstanden. Der Staat nahm das zur Kenntnis und reagierte: Bis 1784 waren sezessionistische Prediger ausdrücklich vom Regium Donum ausgenommen.125 Die fundamentalistische Opposition der Sezessionisten wurde jedoch noch einmal von den sich in den 1760er Jahren abspaltenden Reformierten Presbyterianern (Covenanters) übertroffen, welche die Kritik an der episkopalen Struktur der anglikanischen Kirche zum Ausgangspunkt dafür nahmen, nicht nur den Staat, sondern sogar die „Glorreichen Revolution“ nicht anzuerkennen, weil dadurch in England und Irland episkopale Staatskirchen entstanden waren.126 Folgende Aspekte sind zusammenfassend festzuhalten: Die presbyterianische Bevölkerung legte aufgrund der Marginalisierung durch die Ascendancy und der Eigenheiten ihrer Konfession eine gewisse Tendenz zur Abkapselung gegenüber der Kolonialgesellschaft an den Tag.127 Insbesondere von den Rändern des Dissent – weniger von der Synode von Ulster – wurde aus diametral entgegengesetzten Motive scharfe Kritik am anglikanisch dominierten Staat laut. Die Themen der sehr kontrovers geführten Debatten innerhalb der presbyterianischen Gemeinschaft bereiteten den Boden für die Auseinandersetzungen ab der zweiten Hälfte der 1770er Jahre. Dank der vorsichtigen Politik der Synode schlugen die internen presbyterianischen Gegensätze nicht in einen offenen Konflikt zwischen den einzelnen Lagern um: Man stritt sich, spaltete sich auch, aber es floß kein Blut. Die radikale und die moderate Opposition gegen die Ascendancy äußerte sich lebhaft in Pamphleten und Predigten, es wurde jedoch keine institutionelle Basis für konzertiertes Handeln geschaffen (wie bei den Katholiken). Daher darf man sich von der regimekritischen Rhetorik presbyterianischer Autoren auch nicht täuschen lassen: Der Tonfall war deutlich schärfer als bei den Katholiken, aber in den Kernfragen – Abschaffung des Sacramental Test, vollständige Anerkennung der presbyterianischen Kirche, politische Teilhabe – erzielten sie ebenfalls keine Erfolge. Insofern hatte der regionalistische Affekt – diese nordirische Variante des „Mir san mir“ – auch durchaus kompensatorischen Charakter: Bis zum letzten 123 Connolly, Companion, S. 504. Tesch, Radicalism, S. 39. 125 Ebd. 126 Ebd., S. 40. 127 Brooke, Ulster Presbyterianism, S. 106. 124 66 Drittel des 18. Jahrhunderts konzentrierten sich die presbyterianischen Aktivitäten viel mehr darauf die Provinz Ulster zum ‚Musterländle’ zu machen als auf aktiven Widerstand gegen die Ascendancy. Der Unmut über und die Entfremdung von der Kolonialelite waren durchaus vorhanden, aber die Gelegenheit und praktikable Wege zum Erfolg fehlten ebenso wie eine organisatorische Plattform. Gründe für die Konfessionalisierung der Politik. Vergleicht man die politische Marginalisierung der Katholiken und der Dissenter miteinander, dann legen die Gemeinsamkeiten – die Parallelität der Maßnahmen, die von der Ascendancy gegen die anderen, potentiell oder tatsächlich konkurrierenden Bevölkerungsgruppen eingeleitet wurden, aber auch das grundlegende Motiv für diese Maßnahmen, nämlich die Absicherung des anglikanischen Machtmonopols – nahe, beide als komplementäre Teile desselben Konfessionalisierungsprozesses der politischen Sphäre aufzufassen. Demgegenüber tritt der wesentliche Unterschied, die konfessionelle Staffelung der Marginalisierungsmaßnahmen, die von einer relativen (Dissenter) bis zu einer totalen Marginalisierung (Katholiken) reichte, deutlich zurück, zumal diese aus dem von der Ascendancy antizipierten, spezifischen Bedrohungspotential der anderen Bevölkerungsgruppe plausibel zu erklären sind. Dafür daß von den Katholiken die größere Gefahr ausging, sprach aus anglikanischer Perspektive nicht nur deren numerische Stärke, sondern auch die Erfahrungen des Aufstands von 1641 und des Erbfolgekrieges von 1689-91. Entsprechend rigoros griff die Ascendancy durch, während sie sich mit Sicht auf die Dissenter damit zufriedengab sicherzustellen, daß diese keine unmittelbare Bedrohung für das ‚Protestant Establishment’ (also das anglikanische Machtmonopol und die Verbindung zwischen dem Staat und der anglikanischen Staatskirche) darstellten – ohne ihnen dafür summarisch alle politischen Partizipationsrechte zu entziehen. Damit ist jedoch noch nicht erklärt, warum die Ascendancy ausgerechnet die Konfession als Distinktionskriterium heranzog, um ihre Position abzusichern. Wie folgende Übersicht potentieller Distinktionskriterien zeigt, war die Religionszugehörigkeit als Differenzbestimmung keineswegs alternativlos: 67 Bezeich- Konfession: Sprache: Ethnisch:128 Regional: Politisch: Kolonial: römisch- Gälisch Irisch Connacht, Tory Alte & neue Kolo- Munster (Jakobiten) nisierte Munster, Tory Alte Kolonisten & Leinster (Jakobiten) neue Kolonisierte Leinster Whig Neue nung: “Irish” katholisch “Old römisch- English” katholisch “New anglikanisch Yola Englisch Normannisch Englisch English” “Scotch- presbyteria- Lowland Irish” nisch Scots Schottisch Kolonisten (The Pale) (Oranier) (1. Klasse) Ulster Whig Neue (Oranier) (2. Klasse) Kolonisten Wie deutlich zu sehen ist, wäre auch eine Klassifikation entlang ethnischer, linguistischer, regionaler, politischer oder – ganz offen – entlang kolonialer Grenzlinien möglich gewesen. Um so erstaunlicher ist, daß andere Klassifikationskriterien vielfach stillschweigend mitgedacht worden sein mögen, aber nicht einmal flankierend zu Abgrenzungszwecken Verwendung fanden. Zur Begründung könnte man nun allgemeine, pragmatische Argumente anführen, etwa daß die Konfession eine stabilere Markierung und leichter zu handhaben gewesen sei als andere Klassifikationsmerkmale, und daß überhaupt die ethnische Herkunft und die Sprache erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, während des Voranschreitens des inneren Nationsbildungsprozesses, zu wichtigen Unterscheidungskriterien avancierten, während – unter Verweis auf konfessionelle Diskriminierung in Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden, dem Heiligen Römischen Reich und anderen europäischen Ländern – im 18. Jahrhundert die Konfession offenbar ein allgemein anerkanntes, auch politisches Exklusionskriterium darstellte.129 Das ist alles richtig, erklärt aber immer noch nicht die Ausschließlichkeit, mit der die Konfession in Irland von der Ascendancy zur Klassifikationsbasis erhoben wurde. Zusätzlich zu den pragmatischen Gründen für diese Wahl müssen zwei weitere Gesichtspunkte ins Feld geführt werden, um die Hervorhebung der Konfession verstehen zu können. Der eine Aspekt ist die enorme historische und emotiona128 An dieser Stelle ist es sinnvoll, den Hinweis T.C. Barnards aufzugreifen, daß man ethnische Kategorien in diesem Zusammenhang nicht als strikt getrennte „Rassen“ im biologischen Sinn auffassen darf, sondern nur als ethnische Selbst- und Fremdbezeichnungen: „In Ireland, ethnicity hardly reflects unpolluted gene pools of Gaels, English, Welsh and Scots, but comprehends mongrel populations.“ Vgl. Barnard, Identities, S. 29. 129 J.C. Beckett, The Anglo-Irish Tradition, Belfast 1976, S. 37; Boyce, Nationalism, S. 97. 68 le Aufladung der Konfessionszugehörigkeit in Irland. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts hatten sich die katholische und die protestantische130 Bevölkerung Irlands dreimal in blutigen Aufständen und Bürgerkriegen feindlich gegenübergestanden: 1595-1603, 1641-1650 und 1689-1691. Konfessionelle Massaker, Greueltaten, umfangreiche Enteignungen und massive Vertreibungsmaßnahmen waren stets Begleiterscheinungen dieser Auseinandersetzungen. Vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen nimmt es nicht wunder, daß weder die anglikanische noch die katholische Seite die Konfession als bloße Glaubensangelegenheit betrachten konnten. Mit Verweis auf unterschiedliche historische Referenzpunkte – auf anglikanischer Seite die Massaker von 1641/42 und auf katholischer die Greueltaten Cromwells in Drogheda und Wexford 1649/50 – waren beide Seiten zu Beginn des 18. Jahrhunderts von den exterminatorischen Zielen der Gegenseite überzeugt.131 Daher rührte die Tendenz zur Dämonisierung der gegnerischen Partei. Das hilft zu verstehen, warum die Ascendancy nicht nur einfach ihr Machtmonopol verteidigte, sondern so unnachgiebig auf der anglikanischen Legitimationsbasis des Kolonialregimes beharrte. Diese kompromißlose Haltung reflektierte sowohl ihren Durchhaltewillen wie ihre fundamentale Unsicherheit als koloniale Minderheit gegenüber einer erdrückenden, als feindlich wahrgenommenen katholischen Übermacht. In der Tat ist das retrospektiv oft paranoid anmutende Verhalten der Ascendancy besser nachzuvollziehen, wenn man es als Folge einer ‚Belagerungsmentalität‘ betrachtet, welche die Kehrseite zu LECKYs Diktum von der „Klassentyrannei“ darstellt: Das Apartheidsystem der Ascendancy beruhte nicht ausschließlich auf machiavellistischem Machtkalkül, sondern zumindest in zweiter Linie auch schlicht auf Furcht. Diese Feststellung darf allerdings nicht als Rechtfertigung der Ascendancy mißverstanden werden, denn die Furcht wurde in der anglikanischen Gemeinschaft gezielt wachgehalten, ritualisiert und von der Ascendancy zur Absicherung ihrer Position auch instrumentalisiert, um zu ihrem Vorteil einen gesamtprotestantischen Konsens herbeizuführen bzw. sogar zu erzwingen.132 130 Der Begriff ‚protestantisch’ umfaßt den anglikanischen und den presbyterianischen Bevölkerungsteil. 131 Vgl. Stewart, Narrow Ground, S. 64-66; Smyth, Men, S. 49. 132 Vgl. hierzu J.R. Hill, National Festivals, the State and 'Protestant Ascendancy' in Ireland, 1790-1829, in: IHS 93 (1984), S. 30-51, S. 31-35. 69 Darüber hinaus muß die konfessionelle Fundierung politischer oder (mit Bezug auf die irischen Katholiken) gesellschaftlicher Exklusion im Kontext der Entstehung eines nationalen Gemeinsamkeitsglaubens in England betrachtet werden, der für die anglo-irische Gemeinschaft in Irland aus naheliegenden Gründen Modellcharakter hatte. Hier geht es um die politische Aufladung der Konfession. Dieser Prozeß begann schon in der Regierungszeit Elisabeths I. während der Auseinandersetzungen zwischen England und Spanien. Bereits 1598 identifizierte so Sir Francis Hastings in einem Pamphlet den Protestantismus mit englischem Nationalismus und behauptete, daß nur englische Protestanten „wahre Engländer“ seien, während Katholiken lediglich in „England geborene Subjekte“ darstellten, deren Loyalität gegenüber einem katholischen Gegner wie Spanien höchst zweifelhaft sei.133 Auf die gleiche Auffassung rekurrierten die Anglo-Iren, wenn sie sich selbst als „true-born Englishmen“134 bezeichneten und ihre Konfession als ultimativen Beleg ihrer ‚Englischheit’ vor sich her trugen, während sie die irischen Katholiken summarisch als incapax libertatis und als ,Papisten‘ (vulgo: als fünfte Kolonne des Vatikans) ansahen.135 Die Konfessionalisierung der Politik in Irland reflektierte somit den englischen Präzedenzfall, wo die Aufwertung der Konfession zu einem zentralen Erklärungsmoment für Frontstellungen in der Restaurationszeit – diesmal aber mit einem innergesellschaftlichen Schwerpunkt – erneut an Aktualität gewann und wo auch die Verteidigungsmetaphorik, die für die angloirische Rhetorik ebenfalls charakteristisch ist, in Erscheinung trat.136 Durch eine Art kolonial-insularen Ideentransfers wurde also der Konfessionalisierung der Politik in Irland zusätzlich Vorschub geleistet. 133 H. Scherneck, Außenpolitik, Konfession und nationale Identitätsbildung in der Pamphletistik des elisabethanischen England, in: H. Berding (Hg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2, Frankfurt/M. 19962, S. 282-300, passim, Zitat S. 298. 134 R.B. McDowell, Irish Public Opinion, 1750-1800, London 1944, S. 21f. 135 K. Whelan, The Republic in the Village: The United Irishmen, the Enlightenment and Popular Culture, in: ders., Tree, S. 59-96, S. 60; vgl. auch L. Colley, Britishness and Otherness: An Argument, in: M. O'Dea/K. Whelan (Hgg.): Nations and Nationalisms: France, Britain, Ireland and the 18th Century Context, Oxford 1995, S. 61-77. 136 F. Wieselhuber, Entwürfe englischer nationaler Identität in Pamphleten der Restaurationszeit, in: H. Berding (Hg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2, Frankfurt/M. 19962, S. 301-322, S. 314-318. 70 b) Konstitutionelle Theorie und Praxis in Irland 1691-1782: Anglo-irischer Souveränitätsanspruch und britisches Kolonialmanagement Nachdem die Untersuchung der Konfessionalisierung der politischen Sphäre über die Machtverteilung und die Antagonismen zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen in Irland Aufschluß gegeben hat, können wir uns nun der Rivalität zwischen der Kolonialmacht Großbritannien und der Ascendancy, zuwenden. Am zielsichersten läßt sich dieser Aspekt behandeln, wenn man sich auf die Verfassungs-theorie und -wirklichkeit konzentriert, denn dieser Bereich kann mit Fug und Recht als Kristallisationspunkt der britisch-irischen kolonialen Herrschaftsund Machtbeziehungen bezeichnet werden, so daß sich an dieser Stelle die Auseinandersetzungen zwischen der Ascendancy und dem britischen Kolonialapparat in Irland besonders gut verfolgen lassen. Darin ging es im Kern um die Frage, welche britischen Interventionen in Irland legitim waren, wie groß die britische Kontrolle über Irland sein durfte. Der britische Kolonialapparat verfolgte dabei das Interesse, eine möglichst große Kontrolle über das als Kolonie betrachtete Irland auszuüben, während die Ascendancy eine möglichst umfassende Souveränität für das verfassungstheoretisch unabhängige Königreich Irland forderte. Bevor wir jedoch damit beginnen können, gestaffelt nach den drei Verfassungsgewalten, nach der konkreten Machtverteilung zwischen der Ascendancy und dem britischen Kolonialapparat sowie ihren Verschiebungen und Fluktuationen im Verlauf des 18. Jahrhunderts zu fragen, muß einleitend noch kurz auf den Hybridcharakter des irischen Staates eingegangen werden, um beim Leser ein Problembewußtsein für die spezifischen Tücken der irischen Verfassung zu wecken. Dabei ist es hilfreich, ab und zu einen Blick auf die englische Verfassung zu werfen, die der irischen aus naheliegenden Gründen zwar oftmals sehr ähnlich sieht, sich aber gleichzeitig in wesentlichen Aspekten grundlegend von ihr unterscheidet. Der Hybridcharakter des irischen Staats. Theoretisch und aus anglo-irischer Sicht war Irland im 18. Jahrhundert ein unabhängiges Königreich, das mit Großbritannien nur dynastisch verbunden war, weil es in Personalunion vom britischen Monarchen regiert wurde. Praktisch und aus britischer Perspektive stellte es jedoch wenig mehr als eine Kronkolonie dar, der einige Sonderrechte eingeräumt worden waren. Aus diesem Hiatus zwischen Verfassungstheorie und Regierungsund Verwaltungspraxis ergaben sich eine Reihe von konstitutionellen Schwierig71 keiten, die im Laufe des 18. Jahrhunderts immer wieder für Konfliktstoff sorgten. An vorderster Stelle ist hier zu nennen, daß Irland – als ‚unabhängiges‘ Königreich – zwar über ein eigenes Parlament verfügte, welches aber dem britischen Parlament in Westminster untergeordnet war, worin sich der koloniale Status Irlands widerspiegelt. Im irischen Oberhaus saßen englische Adelige, die zugleich irische Adelstitel trugen, im irischen Unterhaus Abgeordnete englischer Herkunft, selbst die Bischöfe der Church of Ireland waren mehrheitlich Engländer. Außerdem verfügte Irland zwar über eine eigene Exekutive, Administration und Judikative, aber die höchsten Staatsämter waren durch die Bank fest in britischer Hand. Die Folge war ein strukturell angelegter Interessen- und Loyalitätskonflikt: Wie konnte man hoffen, irische gegenüber britischen Interessen durchzusetzen, wenn die Reihen der Repräsentanten „irischer“ (im Klartext also: Ascendancy-) Interessen von Briten mit britischen Loyalitäten und Interessen durchsetzt waren? An Gelegenheiten, bei denen irische und britische Interessen in Widerspruch zueinander standen, mangelte es nicht – in der Steuerpolitik, der Wirtschafts- und Handelspolitik, der Außen- und Militärpolitik. Erschwerend kam hinzu, daß die beiden Königreiche nicht auf der gleichen konstitutionellen Entwicklungsstufe standen, weil in Irland die „Glorreiche Revolution“ folgenlos blieb: In Irland gab es keine Bill of Rights,137 keinen Habeas Corpus Act. Das bedeutet nicht nur, daß es um die Individualrechte in Irland deutlich schlechter bestellt war als in Großbritannien, sondern auf der staatlichen Ebene auch, daß das irische Parlament nicht seine Zustimmung für ein stehendes Heer geben mußte, daß der Monarch in Irland ohne parlamentarische Zustimmung gewisse Steuern erheben konnte und daß er die Rechtskraft von Gesetzen eigenmächtig aussetzen konnte.138 Auch die Regelungen des englischen Triennial Act von 1694 und des Act of Settlement von 1701 kamen in Irland nicht zum Tragen: Irische Richter bekleideten ihre Ämter so lange wie sie das Wohlgefallen des Königs besaßen („durante bene placito regis“, nicht: „quam diu se bene gesserint“) und die Legislaturperiode des Parlaments blieb in Irland noch bis 1768 an die Re- 137 Der Versuch des irischen Parlaments, die Bill of Rights 1695 in Irland einzuführen, scheiterte am Widerstand der Krone. Vgl. E. M. Johnston, Great Britain and Ireland 1760-1800, A Study in Political Administration, Westport (Ct.) 1963, S. 12. 138 Der Monarch verfügte in Irland über erbliche Einkünfte, die sich der Kontrolle durch das Parlament entzogen und die Anfang des 18. Jahrhunderts ungefähr zwei Drittel der gesamten Steuereinkünfte ausmachten. Ebd., S. 10, 13. 72 gierungszeit des Monarchen gebunden.139 Bis 1793 mußten irische Abgeordnete darüber hinaus – wie es der Act of Settlement von 1701 vorsah – ihre Parlamentssitze nicht aufgeben, wenn sie von der Krone auf Posten in der Verwaltung, der Exekutive oder Judikative befördert wurden. Das alles zeigt, daß die monarchische Prärogative in Irland ungleich mächtiger war als in Großbritannien: In Irland konnte der Monarch relativ frei schalten und walten, während in Großbritannien der Einfluß des Parlaments entscheidend war. Die Folge dieses konstitutionellen Ungleichgewichts zwischen Irland und Großbritannien war, daß der latente Konflikt zwischen britischer Krone und britischem Parlament seinen langen Schatten auch über Irland warf: Aus Furcht, die Krone werde ihren größeren irischen Handlungsspielraum zum Nachteil des britischen Parlaments geltend machen, verfolgte Westminster die politischen Vorgänge in Irland äußerst mißtrauisch. Das erklärt auch, warum gerade Westminster Souveränitätszugeständnissen an das irische Parlament in der Regel dezidiert ablehnend gegenüberstand: Jede Lockerung der Kontrolle des britischen Parlaments über die irische Schwesterinstitution wurde automatisch als gefährlicher Machtzuwachs des irischen (und damit: britischen) Monarchen interpretiert. α) Die irische Exekutive. Da der Monarch nicht in Irland residierte, wurde das Land von einem Statthalter, dem Lord Lieutenant, regiert. Dieses Amt, das im 18. Jahrhundert von einer Reihe prominenter englischer Adeliger bekleidet wurde, war von zentraler Bedeutung: Es beinhaltete nicht nur die Kontrolle über die gesamte Exekutive des irischen Staates, sondern auch die Wahrung der britischen Interessen im irischen Parlament (also vor allem die Bewilligung von zusätzlichen Steuern sowie die Unterdrückung unliebsamer bzw. die sichere Verabschiedung erwünschter Gesetzentwürfe) – und zwar in einem solchen Umfang, daß der Lord Lieutenant von Zeitgenossen eher als Teil der Legislative, denn als Kopf der Exekutive wahrgenommen wurde.140 Von einer Trennung der Gewalten kann hier also gar nicht die Rede sein: Der Lord Lieutenant war nicht nur der Chef des britischen 139 1768 erlangte in Irland der Octennial Act Gültigkeit, der vorsah, daß mindestens alle acht Jahre Parlamentswahlen stattfinden mußten. In Großbritannien war man mit dem Triennial Act von 1694, der alle drei Jahre Parlamentswahlen vorsah, sechzig Jahre früher bereits fortschrittlicher gewesen. Für England vgl. Maurer, Geschichte Englands, S. 232f. Für Irland vgl. Dogherty, Chronology, S. 81. 140 McCracken, Political Structure, S. 60. 73 Kolonialapparats in Dublin Castle, er war auch der Hauptrepräsentant britischer Interessen in der irischen Legislative. Trotzdem war das Amt alles andere als attraktiv: Die Berufung in diese Position galt – salopp formuliert – als politischer ‘Trostpreis’.141 Ein Statusgewinn war damit jedenfalls nicht verbunden. Außerdem war die Stellung unsicher: Der Lord Lieutenant hing unmittelbar vom Wohlwollen des britischen Kabinetts ab, so daß politische Fluktuationen dort in der Regel zu seiner Ablösung führten. Aus diesen Gründen kümmerten sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Amtsinhaber so wenig wie möglich um ihre Obliegenheiten und beriefen das Parlament lediglich sechs bis acht Monate alle zwei Jahre ein. Nur während dieser kurzen Legislaturperioden hielten sich die Lord Lieutenants überhaupt in Dublin auf. Das „Undertaker“-System. Zwischen diesen vizeköniglichen ‘Stippvisiten’ ruhte die Kontrolle der Amtsgeschäfte in den Händen der Lords Justices. Ursprünglich waren diese Lordrichter dem Lord Lieutenant direkt verantwortlich, erhielten aber nach 1725 mehr politischen Handlungsspielraum. Allmählich bürgerte sich die Praxis ein, den Primas der Church of Ireland, den Lordkanzler und den Präsidenten des irischen Unterhauses zu Lordrichtern zu ernennen. Der Primas und der Lordkanzler – bis 1760 wurden diese beiden Ämter nur von Engländern bekleidet142 – vertraten die britischen, der Präsident als einflußreichste Figur im irischen Unterhaus die anglo-irischen Interessen. Dank ihrer Kenntnisse der politischen Verhältnisse vor Ort, ihrer hervorragenden Verbindungen zur Ascendancy und ihrer Patronagemöglichkeiten avancierte dieses Triumvirat bald zum tatsächlichen Herrschaftszentrum in Irland: Es begann, dem Lord Lieutenant die Entscheidungen zu diktieren.143 Gleichzeitig konkurrierten sie miteinander um die einflußreichste Position im Parlament und um die größte Klientel – auf Kosten königlicher Patronagegelder, die sie vom Lord Lieutenant im Gegenzug für die Verabschiedung gewünschter Gesetze erpreßten, um sie dann an ihre Gefolgsleute zu verteilen. Bereits in den 1750er Jahren wurde dagegen von britischer Seite Widerspruch laut. 1765 riet der britische Kronrat dem König schließlich, auf eine Residenzpflicht des Lord Lieutenant in Irland zu insistieren, um das Undertaker141 Foster, Modern Ireland, S. 227. McCracken, Political Structure, S. 66. 143 Beckett, Making, S 191. Insbesondere der Primas Hugh Boulter und sein Nachfolger George Stone, die beide fast 20 Jahre im Amt waren, und der Präsident Henry Boyle, der über 30 Jahre 142 74 System zu beseitigen und die britische Kontrolle wiederherzustellen.144 Eine Änderung trat jedoch erst im August 1767 mit der Ernennung Lord Townshends zum Lord Lieutenant ein. Townshend, der den Auftrag hatte, die Aufstockung der irischen Armee von 12.000 auf 15.000 Mann durchzusetzen, geriet sofort mit den neuen starken Männern – Präsident Ponsonby, Lord Shannon und John HelyHutchinson – aneinander: Die Undertaker versuchten, weitere Zugeständnisse auszuhandeln und neue Protegés in hochdotierte Positionen zu hieven. Die britische Regierung lehnte dies jedoch ab. Townshend mußte deshalb im irischen Parlament 1768 und 1769 empfindliche Abstimmungsniederlagen hinnehmen, weil die Undertaker mit ihrer Stimmenmehrheit in die Opposition gingen. Diese Erfahrung überzeugte ihn von der Notwendigkeit, sich ständig in Irland aufzuhalten, um eine tragfähige Regierungsmehrheit im irischen Parlament aufzubauen. Ende 1769 überspannten Ponsonby und Shannon den Bogen und boten so Townshend eine Gelegenheit zurückzuschlagen: Prompt wurden sie ihre Ämter enthoben, zusammen mit einem halben Dutzend der Oppositionsführer aus dem irischen Kronrat (Privy Council) entlassen und ihre Gefolgschaft büßte ihre Stellen und Pensionen ein, die an regierungstreue Parlamentarier neu verteilt wurden.145 Folgen der Beseitigung des Undertaker-Systems. Die permanenten Residenz des Lord Lieutenant in Irland zog eine Reform des Verwaltungsstabs nach sich. Die Position des Chief Secretary, des wichtigsten Zuarbeiters des Lord Lieutenant, wurde erheblich aufgewertet, weil dieser nun Aufgaben übernahm, die vorher von den Sekretären der Lordrichter wahrgenommen wurden, und weil er für die Kommunikation mit dem Kabinett in London zuständig war, die mit der Residenzpflicht des Lord Lieutenant drastisch an Bedeutung gewann. Da diese Aufgabe wegen ihres Umfangs und der langen Kommunikationswege jedoch zuviel Zeit in Anspruch nahm und den Chief Secretary von seinen anderen Amtsgeschäften abzulenken drohte, wurde ihm ein „Resident Secretary“ zur Seite gestellt, der in London angesiedelt sein mußte und dessen Aufgabe darin bestand, dafür zu sorgen, daß die Kommunikation zwischen dem Kabinett und dem Lord Lieutenant reibungslos funktionierte. das Amt des Lordrichters ausübte, bauten ihre Machtposition bis weit über die Schmerzgrenze der Lord Lieutenants aus. Vgl. Beckett., Making, S. 192-194; McCracken, ebd., S. 62-63. 144 McCracken, ebd., S. 63. 145 Vgl. Beckett, Making, S. 200-202. Ponsonbys Position war derart untergraben, daß er 1771 aus freien Stücken vom Amt des Parlamentspräsidenten zurücktrat. 75 In London nahm man die wachsende Bedeutung des Chief Secretary sehr genau wahr. In dem Maße wie die Position zu einer Erprobungsstelle für höhere diplomatische Ämter avancierte, versuchte London die Stellenbesetzung zu kontrollieren. War der Chief Secretary am Anfang des Jahrhunderts allein vom Lord Lieutenant ausgewählt worden – in der Regel handelte es sich um einen Intimus oder sogar Verwandten des Lord Lieutenant, dem er absolutes Vertrauen schenken konnte –, so schlug im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts das britische Kabinett dem Lord Lieutenant geeignete Personen vor. Allerdings war es nicht möglich, ganz auf das Plazet des Lord Lieutenant zu verzichten, denn wenn die Chemie zwischen dem britischen Statthalter und seinem Adlatus nicht stimmte, war die Kontrolle über das irische Parlament gefährdet. Darüber hinaus bedeutete die Residenz des Lord Lieutenant in Irland eine Zunahme der Repräsentativ- und Hofhaltungspflichten. Entsprechend wurde Dublin Castle zu einem Königshof en miniature umgewandelt – mit einschneidenen Konsequenzen für die finanzielle Attraktivität des Statthalteramtes: Die Hofhaltung in Dublin verursachte solche Kosten, daß das zuletzt mit 20.000 £ dotierte Amt zu einem Zusatzgeschäft wurde.146 Andererseits eröffnete die Hofhaltung in Irland dem Statthalter neue Patronagemöglichkeiten, so daß er weitere Personen an sich binden konnte.147 Fazit. Während des gesamten 18. Jahrhunderts stellte die irische Exekutive also die britische Bastion in Irland dar. Ihr Chef war das Oberhaupt des britischen Kolonialapparats, der als Hauptrepräsentant britischer Interessen auch deutlich in die irische Legislative eingriff. Die britischen Bestrebungen, ihre Kontrolle über Irland mit Hilfe der Exekutive auszuweiten, läßt sich in drei Phasen unterteilen. Der Zeitraum zwischen 1691 und der Krise der frühen 1720er Jahre, als das irische Parlament vorübergehend gänzlich der britischen Kontrolle entglitt,148 war von einer gewissen Nachlässigkeit bei der Vertretung britischer Interessen in Irland gekennzeichnet: Der Lord Lieutenant war in der Regel absent, seine Stellvertreter, 146 Lord Temple, der das Amt zwischen September 1782 und Juni 1783 innehatte, schrieb an seinen Nachfolger, den Duke of Rutland, daß er mindestens 15.000 £ p. a. zusätzlich zu seinem Gehalt benötigt hätte und daß man diese Summe als privates Opfer einkalkulieren müsse. Vgl. Johnston, GB & Ireland, S. 19f. 147 Das erklärt auch, warum viele Haushaltsmitglieder entweder selbst Abgeordnete des irischen Unterhauses waren oder aus der nächsten Verwandtschaft von Abgeordneten stammten. Vgl. ebd., S. 21f. 76 die Lord Justices, mit zu wenig Kompetenzen ausgestattet, um an seiner Stelle die Regierungsgeschäfte auch in Krisenzeiten effizient führen zu können. Durch die Erfahrungen der 1720er Jahre eines Besseren belehrt, wurde zwischen 1725 und 1767 darauf geachtet, daß die Lord Justices nur aus dem Kreis solcher Personen rekrutiert wurde, die auch ohne dieses Amt bereits über beträchtliches politisches Gewicht (Macht, Beziehungen und Einfluß) verfügten. Durch diese Verstetigung und Ausrichtung der Ernennungspraxis wurde zwar die Machtbasis der Lord Justices deutlich vergrößert, aber damit konnte sichergestellt werden, daß die delegierte Macht auch tatsächlich im britischen Interesse zum Einsatz kam. Das Undertaker-System zeigte vielmehr deutliche Tendenzen zur Verselbständigung, die Lord Justices handelten zunehmend eher als eigenständige ‚Powerbroker‘, denn als Sachwalter britischer Interessen. Das Ergebnis war, daß die Umsetzung britischer Interessen immer wieder und immer teurer erkauft werden mußte. Erst mit den von Townshend ab 1768/9 durchgesetzten Veränderungen wurde dieser Mißstand abgestellt: Der Kolonialapparat wurde reformiert, die Ascendancy verlor den Einfluß auf die Exekutive und Administration, den sie mittels der Undertaker ausgeübt hatte. Die britische Autorität war damit nicht nur wiederhergestellt, sondern tatsächlich ausgebaut worden. Hierin ist auch der Grund dafür zu suchen, daß die legislative Unabhängigkeit des irischen Parlaments, die in „Grattan’s Revolution“ von 1782 erkämpft wurde, keine dramatischen Folgen für die Herrschaft in Irland nach sich zog: Die britische Exekutive in Irland war stark genug, um durch ihr koloniales Machtmanagement den Kontrollverlust aufzufangen, der aus der Abschaffung von Poynings’ Law und vom Declaratory Act resultierte. Gleichzeitig wurde damit das Amt des Lord Lieutenant aus britischer Sicht noch einmal aufgewertet: Ab 1782 hing der Erfolg der Kolonialherrschaft unmittelbar vom politischen Geschick des Lord Lieutenant und seines Stabes ab. β) Die irische Judikative. Wie in der Exekutive lassen sich auch in der Judikative aktive Bestrebungen der britischen Seite erkennen, ihre Kontrolle auszubauen. Dabei ist signifikant, daß die Kolonialmacht nicht die komplette Macht über den Ju-stizapparat an sich zu ziehen versuchte, sondern sich darauf beschränkte, durch die jurisdiktionelle Entmachtung des irischen Oberhauses und ihre Stellenbeset148 Damit ist Wood’s Halfpence Crisis (1722-1725) gemeint, die im weiteren Verlauf der Arbeit noch detaillierter behandelt wird. Zum Verlauf der Affäre vgl. Beckett, Making, S. 165f. 77 zungspolitik strategisch wichtige Punkte des Justizapparats auf der staatlichen Ebene zu besetzen. Auf diese Weise blieb der britischen Seite in wichtigen Rechtsfragen immer die Möglichkeit der Einflußnahme, ohne daß sie diese in jedem Fall ausübte oder ausüben mußte. Die niedrigere Rechtsprechung auf der lokalen und munizipalen Ebene blieb in der Hand der Ascendancy. Auf der regionalen Ebene, wo die Assizengerichtsbarkeit als eine Art Scharnier zwischen staatlicher Rechtsprechung von oben und lokaler Rechtsprechung von unten fungierte, trafen beide Seiten aufeinander, wobei die rechtliche Entscheidungsfällung der britischen Seite vorbehalten blieb, während die Ascendancy bestimmte, welche Fälle überhaupt in den Assizen verhandelt wurden. Das Terrain war also fein säuberlich zwischen der anglo-irischen Kolonialelite und der Kolonialmacht aufgeteilt. Dieses Arrangement war zum beiderseitigen Vorteil: Lokale Rechtstreitigkeiten konnte die Ascendancy unter sich regeln, ohne daß sich die Kolonialmacht einmischte, während die britische Seite sich das letzte Wort in Rechtsangelegenheiten von staatlicher oder konstitutioneller Tragweite vorbehielt. Die jurisdiktionelle Entmachtung des irischen Oberhauses. Das irische Rechtsprechungssystem war dem englischen Modell nachempfunden. Auf staatlicher Ebene gab es fünf übergeordnete Gerichtshöfe, die in Dublin angesiedelt waren: Chancery, King’s Bench, Common Pleas, Court of the Exchequer und das Prärogativgericht. Drei der fünf Gerichtshöfe – nämlich King’s Bench, Common Pleas und der Court of Exchequer – waren Common-Law-Gerichte, die sich mit straf-, zivil- und steuerrechtlichen Angelegenheiten befaßten. Für die Common-LawGerichte und den Court of Chancery bildete der Court of the Exchequer Chamber die erste Berufungsinstanz, der sich aus den Obersten Richtern der untergeordneten Instanzen sowie dem Obersten Schatzmeister und dem Vizeschatzmeister des Exchequer zusammensetzte. Das Prärogativgericht, daß sich mit rechtlichen Fragen außerhalb des vom Common Law definierten Rechtsraums auseinandersetzte, hatte seine eigene Berufungsinstanz im Court of Delegates in Chancery. Die oberste Appellationsinstanz war schließlich bis 1720 das irische Oberhaus. Über diese juristische Funktion des irischen Oberhauses entstand 1719 ein Verfassungskonflikt zwischen dem irischen und dem britischen Parlament: Unter Berufung auf Poynings’ Law von 1494 reklamierte Westminster für sich das Recht, in irischen Rechtsstreitigkeiten als oberste Berufungsinstanz zu fungieren. Der Hintergrund dieser Forderung war, daß das britische Parlament nach einer Gele78 genheit für eine Machtdemonstration suchte, die zwei Adressaten galt: Einerseits dem irischen Parlament, dem gegenüber noch einmal der Suprematsanspruch Westminsters deutlich gemacht werden sollte, und andererseits dem Monarchen, dem die Kontroll- und Einflußmöglichkeiten des britischen Parlaments in Irland warnend vor Augen gehalten werden sollten. Der Rechststreit Sherlock vs. Amnesley von 1719 bot eine passende Gelegenheit diesen Streit auszufechten: Das britische Oberhaus hob eine zuvor getroffene Entscheidung der irischen Schwesterinstitution auf, gab der unterlegenen Partei recht und wies den irischen Court of Exchequer an, sein Urteil auszuführen. Die irischen Lords protestierten gegen diesen Affront, weigerten sich das Urteil des britischen Oberhauses anzuerkennen und petitionierten beim König um Intervention gegen diesen Übergriff.149 Dadurch bekam die Affäre zusätzlich den Anstrich eines Konflikts zwischen dem britischen Parlament und der Krone und das verhärtete die Position des britischen Parlaments zusätzlich. Westminster ließ sich auf keine Diskussionen ein, sondern goß seine Ansprüche in Gesetzesform: 1720 verabschiedete es ein Gesetz „for the better securing the dependency of the kingdom of Ireland on the crown of Great Britain”, welches besagte, daß das britische Parlament berechtigt sei, Gesetze zu verabschieden, die auch für Irland Gültigkeit haben sollten und daß das britische Oberhaus die oberste juristische Instanz Irlands sei.150 Dieser sogenannten Declaratory Act (6 Geo. I) räumte alle Zweifel am Status des irischen Parlaments, die nach Poynings’ Law noch bestanden, ein für allemal aus. Erst nach der Abschaffung dieses Gesetzes, das bis zu „Grattan’s Revolution“ von 1782 Gültigkeit behielt, kehrte die jurisdiktionelle Souveränität nach Irland zurück (nur um mit dem Act of Union von 1800 wieder an das Oberhaus des Vereinigten Königreichs von England, Schottland und Irland delegiert zu werden). Die Besetzungspolitik der obersten Richterstellen. Hatte das britische Parlament mit der Entmachtung des irischen Oberhauses seinen Einfluß über die iri149 Für eine ausführliche Darstellung der Sherlock vs. Amnesley-Affäre vgl. Lecky, History of Ireland 1, S. 447f. 150 Beckett, Making, S. 164. Zum Wortlaut des Declaratory Act vgl. E. Curtis/R.B. McDowell (Hgg.), Irish Historical Documents, 1172-1922, London 1943, S. 186: ”And be it further declared and enacted … that the house of lords of Ireland have not, nor of right ought to have, any jurisdiction to judge of, affirm or reverse any judgement, sentence or decree, given or made in any court within the said kingdom [Irland – MR], and that all proceedings before the said house of lords, upon any such judgement, sentence or decree, are, and are hereby declared to be utterly null and void to all intents and purposes whatsoever.” 79 sche Judikative ausgedehnt, so wurde die zweite Art britischer Einflußnahme auf den irischen Justizapparat, die Besetzung der obersten Richterstellen, vom Monarchen und seinem Statthalter in Irland kontrolliert. Um zu verstehen, was bei der Besetzung dieser Richterstellen auf dem Spiel stand, lohnt es sich, kurz die Aufgabenbereiche der obersten Richter, die an den fünf Gerichtshöfen des irischen Supreme Court tätig waren, Revue passieren zu lassen. Neben ihrer juristischen Kerntätigkeit in den Common-Law-Gerichtshöfen und dem Court of Exchequer waren sie unmittelbar an der Gesetzgebung beteiligt: Zum Teil hatten sie Sitze im irischen Parlament und dem irischen Kronrat, wo sie direkt und aktiv in politische Entscheidungsprozesse involviert waren.151 Durch die Ausarbeitung juristischer Gutachten und Gesetzesvorlagen spielten sie auch indirekt eine große Rolle in der Legislative. Von einer Trennung der Gewalten kann also auch hier keine Rede sein. Zusätzlich waren sie für die zivil- und strafrechtliche Rechtsprechung auf der Grafschaftsebene zuständig. Zweimal pro Jahr bereisten sie die fünf Gerichtsbezirke Irlands, um in den Hauptstädten der 32 Grafschaften die Assizen abzuhalten. Während der Assizen fungierten die Richter jedoch nicht nur als Juristen, sondern auch als Verwaltungsbeamte der Krone, denn bevor die eigentlichen Gerichtsverhandlungen begannen, wurden sogenannte „Sessions of presentment“ abgehalten, in denen die Grand County Juries den Richtern ihre Vorschläge zu öffentlichen Bauvorhaben vorlegten, um sie von ihnen absegnen zu lassen. Die Richter verfaßten anschließend umfangreiche Berichte über die Sessions of Presentment und den allgemeinen Zustand der Grafschaften, die sie an das Sekretariat des Lord Lieutenant in Dublin Castle weiterreichten.152 Angesichts einer solchen Aufgabenvielfalt erschließt sich die fundamentale Bedeutung, die der Besetzung dieser Posten zukam, von selbst. Daß die Richter überdies keinerlei parlamentarischer Kontrolle unterlagen, machte diese Posten politisch doppelt wertvoll. Entsprechend bemühte sich die Krone insbesondere in den ersten zwei Dritteln des 18. Jahrhunderts erfolgreich darum, diese strategisch außerordentlich wichtigen Ämter soweit wie möglich mit Engländern zu besetzen: Von 1725 bis 1760 waren alle Lordkanzler, drei Chief Justices des Court of 151 Die Chief Justices von King’s Bench und Common Pleas, sowie der Lordkanzler des Court of Chancery hatten Sitze im Privy Council. Vgl. McCracken, Political Structure, S. 69. Richter mit Adelstiteln saßen im irischen Oberhaus, die anderen konnten Sitze im Unterhaus innehaben. 152 Ebd., S. 79. 80 Common Pleas und drei Chief Barons des Court of Exchequer Engländer.153 Die Feststellung, daß die oberste Rechtsprechung fest in britischer Hand war, ist also nicht übertrieben. Die niedere Rechtsprechung als Residuum der Ascendancy. Anders dagegen präsentiert sich die Situation in der niederen Rechtsprechung bis zur Baronieebene. Die vierteljährlich unter dem Vorsitz eines Friedensrichters stattfindenen Quarter Sessions und die lokalen Gerichtshöfe der Städte, Gutshöfe oder Kirchspiele wurden allesamt durch lokale Honoratioren kontrolliert. Der High Sheriff, der die Grand County Juries aus der Gruppe der Grafschaftshonoratioren nach Proporzüberlegungen eigenständig zusammenstellte, wurde zwar de jure vom Lord Lieutenant, de facto aber von den lokalen Magnaten gewählt, die Friedensrichter waren ebenfalls Repräsentanten dieser Oberschicht. Pikanterweise waren es aber just diese Grand Juries, die darüber entschieden, welche Fälle überhaupt vor die Assizen und damit vor die höhere (britisch dominierte) Gerichtsbarkeit bzw. vor die (anglo-irisch dominierten) Quarter Sessions gelangten. Damit verfügte die anglo-irische Ascendancy über einen wirksamen jurisdiktionellen Filter und einen überaus effektiven Zugang zu Rechtsmitteln, der sich zum Nachteil derjenigen auswirkte, die aus konfessionellen (oder sozialen) Gründen in diesem System über keine Lobby verfügten.154 γ) Die irische Legislative. Die Legislative war der sensibelste Bereich der irischen Verfassung im 18. Jahrhundert, in dem die Kluft zwischen konstitutionellem Anspruch und Verfassungswirklichkeit am deutlichsten zutage trat. Obwohl Irland über ein eigenes Parlament verfügte, war dessen Souveränität im Vergleich zur britischen Schwesterinstitution deutlich eingeschränkt, so daß es sich im Prinzip um ein nachgeordnetes Legislativorgan handelte. Um die spezifischen Machtund Interessenkonstellationen in der irischen Legislative verstehen zu können, ist es zunächst notwendig, die Charakteristika des irischen Parlaments herauszuarbeiten und einen Überblick über seine komplexe Funktionsweise zu geben. Erst im 153 Ebd., S. 66. Vgl. Lecky, History of Ireland 1, S. 147: “(…)The law gave the Protestant the power of inflicting on the Catholic intolerable annoyance. (…) even under the most extreme wrong it was hopeless for him [den Katholiken – MR] to look for legal redress. All the influence of property and office was against him, and every tribunal to which he could appeal was occupied by his enemies.” 154 81 Anschluß daran kann damit begonnen werden, Konfliktlinien und Interessenkonstellationen zu rekonstruieren. Das irische Oberhaus. Wie die britische Schwesterinstitution bestand das irische Parlament aus zwei Kammern, dem House of Lords (Oberhaus) und dem House of Commons (Unterhaus). Im Oberhaus saßen 22 geistliche Herren155 und eine variierende Anzahl weltlicher Lords. Die Fluktuation in der Anzahl der Lords ist im wesentlichen auf zwei Gründe zu rückzuführen: Den Absentismus156 zahlreicher Aristokraten, der insbesondere während der ersten Jahrhunderthälfte stark ausgeprägt war, und eine auffällige Welle neuer Erhebungen in den Adelsstand seit den 1750er Jahren.157 Aufgrund des Absentismus weltlicher Lords wurde das Oberhaus während der ersten Jahrhunderthälfte über weite Strecken von der kleinen, aber einträchtigen Gruppe der anglikanischen Bischöfe kontrolliert. Da der Stuhl des Primas der Church of Ireland und ungefähr zwei Drittel der anglikanischen Bischofsstühle während des 18. Jahrhunderts von Engländern besetzt wurden, war das Oberhaus während der ersten Jahrhunderthälfte also nicht nur eine Bastion der Interessen der anglikanischen Kirche, sondern auch der englischen Interessen.158 Die Erhebungen in den Adelsstand verstärkten die anglophile Tendenz des Oberhauses: Die neuen Lords erhielten ihre Adelstitel allesamt entweder weil sie sich 155 Die Gruppe der geistlichen Lords setzte sich aus den vier Erzbischöfen und 18 Bischöfen der Church of Ireland zusammen. Das galt solange, bis durch den Church Temporalities Act (Ireland) von 1833 die Anzahl der Erzbischofs- und Bischofsstühle um die Hälfte reduziert wurde. Vgl. Connolly, Companion, S. 93. 156 Vor allem in der ersten Jahrhunderthälfte gab es eine Reihe von sogenannten Absentee Lords, die ihren Wohnsitz in England hatten, weil sie dort entweder einen Großteil ihrer Besitzungen hatten oder weil sie es vorzogen, sich in den südenglischen Bädern oder in London aufzuhalten. Zwischen 1727 und 1760 verzichteten deshalb allein 66 Adelige darauf, ihren angestammten Platz im Oberhaus einzunehmen. Vgl. McCracken, Political Structure, S. 72. In der öffentlichen Meinung standen Absentee Lords als eine parasitäre Klasse da, die der irischen Gesellschaft Kapital entzogen und ihre Güter vernachlässigten. Diese Kritik erhielt 1729 durch Thomas Priors A List of the Absentees of Ireland, and the Yearly Value of Their Estates and Incomes Spent Abroad neue Nahrung. Vgl. Connolly, Companion, S. 3 157 Allein zwischen 1767 und 1785 wurde 50 neue Adelstitel vergeben. Vgl. Johnston, GB & Ireland, S. 257. Bei den Empfängern handelte es sich in der Regel um Abgeordnete des irischen Unterhauses, die sich durch ihr ‚kooperatives’ Abstimmungsverhalten einen Adelstitel ‚verdient’ hatten, um britische Unterhausabgeordnete mit irischen Verbindungen oder um einflußreiche Magnaten, die von der Krone mit einem Adeltitel dazu ‚bewegt’ werden sollten, ihren Einfluß zugunsten der Kolonialregierung geltend zu machen. Vgl. McCracken, ebd., S. 72. Nach Johnston, ebd., S. 257, gingen von den 50 neuen Adelstiteln, die zwischen 1767 und 1785 geschaffen wurden, 32 an irische Unterhausabgeordnete, 14 an britische Unterhausabgeordnete sowie zwei an den Primas der Church of Ireland und den Lordkanzler. 158 Im 18. Jahrhundert wurden 239 Engländer, aber nur 101 Anglo-Iren als anglikanische Bischöfe eingesetzt. Vgl. E. M. Johnston, Problems Common to Both Protestant and Catholic Churches in 18th Century Ireland, in: O. MacDonagh u.a. (Hgg.), Irish Culture and Nationalism, 1750-1950, London 1983, S. 14-39, S. 15. 82 im Unterhaus um die Krone verdient gemacht hatten oder weil die Krone ihre Kooperation erkaufen wollte. Die inflationäre Vergabe neuer Adelstitel dient also im Prinzip nur dazu, die Kontrolle des Kolonialapparats über das irische Parlament zu gewährleisten. Entsprechend dieser Zusammensetzung war das irische House of Lords bloß ein blasses Abbild seines britischen Gegenstücks:159 Da seine Mitglieder entweder Engländer waren, auf der Pensionsliste der Krone standen oder ihre Ämter britischer Protektion verdankten, hatte der Lord Lieutenant von dieser Seite wenig Opposition zu befürchten. Seiner jurisdiktionellen Funktion durch den Declaratory Act von 1720 beraubt, beschränkte sich die tatsächliche Bedeutung des Oberhauses auf den Einfluß, den seine Mitglieder über die Zusammensetzung des Unterhauses ausübten.160 Dieser aber war beachtlich: Von den 234 BoroughAbgeordneten des Unterhauses stammte etwa die Hälfte aus Wahlbezirken, die von den geistlichen und weltlichen Herren kontrolliert wurden.161 Das irische Unterhaus bestand aus 300 Abgeordneten, von denen jeweils zwei die Wählerschaft einer der 32 irischen Grafschaften, der 117 Boroughs (Wahlbezirke, die in der Regel einem Grundbesitzer oder einer Stadtkorporation gehörten) sowie des Trinity College in Dublin repräsentierten. Das aktive Wahlrecht war in den einzelnen Wahlbezirken höchst unterschiedlich geregelt.162 Zum Teil repräsentierten die Abgeordneten daher effektiv nur eine Handvoll Wähler. Insgesamt ging die Tendenz im 18. Jahrhundert dazu, gerade in den Boroughs die Anzahl der Wähler durch eine restriktive Praxis bei der Ernennung von Freisassen und durch die Aufstellung neuer Besitzqualifikationen weiter zu reduzieren.163 Dahinter stand das Bestreben der Grundbesitzer und kommunalen Honoratioren, den Wahlausgang in einem Borough bestimmen zu können: Je geringer die Zahl der Wähler 159 Johnston, GB & Ireland, S. 206. McCracken, Political Structure, S. 72. 161 Ebd. 162 In den Grafschaften bildeten die sogenannten Freeholder mit einem Einkommen aus eigenem Grund und Boden von mindestens 40 Shilling p.a. den Kern der Wählerschaft. Hierbei dürfte es sich vor 1793 um etwa 60.000 Menschen gehandelt haben (bei einer Gesamtbevölkerung, die 1767 bereits bei etwa 3,5 Mio. Menschen lag und in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts rasant weiter stieg). Vgl. ebd., S. 74 u. McCracken, Social Structure, S. 31. In den Städten waren in der Regel nur die 12 oder 13 Mitglieder des Stadtrats (Corporation) wahlberechtigt. In den sogenannten Freemen Boroughs durften die Mitglieder der Corporation und die Freemen wählen, die der Grundbesitzer unter seinen Pächtern nach Belieben aussuchte. Andernorts durften alle drei Gruppen wählen, während in den Manor Boroughs (Gutshofwahlbezirke) nur der Gutsbesitzer und seine Freeholder wählen durften. Vgl. McCracken, Political Structure, S. 74. 160 83 war, um so leichter waren sie zu kontrollieren und um so mehr Gewicht erhielten die Stimmen der Latifundienbesitzer. Der Wahlmanipulation durch die Großgrundbesitzer waren ohnehin wenig Grenzen gesetzt. Weil die Wahlen öffentlich waren, hatten sie von der Bestechung bis zur Einschüchterung der von ihnen ökonomisch abhängigen Pächter jede Möglichkeit zur Wahlbeeinflussung. Die Großgrundbesitzer wählten zudem auch die Sheriffs und Constables, die bei Wahlen als Wahlhelfer und Stimmenauszähler fungierten. Wenn alle Stricke rissen, konnten die Grundbesitzer schließlich durch die Schaffung fiktiver Freeholds die Anzahl der Wähler kurzfristig so erhöhen, daß ihr Wunschkandidat das Rennen machte.164 Gegen den Einfluß zweier großer Landbesitzer war daher in einer Grafschaft kaum eine Wahl zu gewinnen und in den kleinen Boroughs wurde der Wahlausgang schlicht von einem Großgrundbesitzer festgelegt. Diese Wahlpraxis schlug sich in niedrigen Fluktuationen in der Abgeordnetenschaft nieder. Bis 1768 waren Neuwahlen ohnehin nur fällig, wenn ein neuer Monarch den Thron bestieg – so daß ein Parlament unverändert die 33jährige Regierungszeit Georgs II. begleitete –, aber selbst nach der Einführung des Octennial Act von 1768, der zumindest alle acht Jahre Neuwahlen vorsah, hielten sich die Veränderungen in engen Grenzen: Die Parlamentswahlen von 1768, 1776 und 1783 zeigen, daß in der Regel zwei Drittel der alten Abgeordneten auch wieder im neu gewählten Parlament saßen.165 Diese Wahlergebnisse sind als Indiz dafür zu werten, wie umfassend die Großgrundbesitzer die Wahlen kontrollierten, wie sicher sie ihre Kandidaten durchsetzen konnten. Die Zusammensetzung der Abgeordnetenschaft wurde zu allem Überfluß auch noch dadurch zementiert, daß ein Abgeordnetensitz im Parlament bis 1793 nur durch den Tod des bisherigen Amtsinhabers, seinen Ausschluß aus dem Parlament, seine Beförderung in den Adelsstand oder seinen Eintritt in ein Kloster vakant wurde. Der offenkundige Interessenkonflikt eines Abgeordneten, der gleichzeitig von der Krone eine Pension erhielt, war ebensowenig ein Grund für Nach- 163 Vgl. McCracken, Political Structure, S. 74. Für eine erschöpfende Behandlung der Wahlmanipulationen vgl. J.L. McCracken, Irish Parliamentary Elections, 1727-1768, in: IHS 5, 19 (1947), S. 209-230. 165 1768 kehrten 67% der alten Abgeordneten ins Parlament zurück, 1776 64% und 1783 66%. Vgl. Johnston, GB & Ireland, S. 212. 164 84 wahlen wie die ständige Absenz des Abgeordneten. Damit waren der Ämterhäufung166 und der Parteilichkeit Tor und Tür geöffnet. Die personelle Zusammensetzung der Abgeordnetenschaft. Die personelle Beschaffenheit der Abgeordnetenschaft im Unterhaus reflektierte die Wahlpraxis und damit die Hegemonie der Ascendancy. Das Gros der Abgeordneten bestand aus Großgrundbesitzern, wobei zwischen der Verwandtschaft anglo-irischer Hochadeliger, die selbst im Oberhaus saßen, und den „independent country gentlemen“ unterschieden werden muß. Der Hochadel versuchte aus Versorgungsgründen oder um deren Weg für die Erhebung in die Position eines Peers zu ebnen seine Verwandtschaft im Unterhaus zu plazieren.167 Angesichts solcher Zustände verwundert es nicht weiter, daß die großen anglo-irischen Familien wie die Fitzgeralds, Boyles, Ponsonbys, Skeffingtons oder Beresfords untereinander sofort politische Grüppchen bildeten, die auf Familienbeziehungen und abneigungen zumindest ebenso beruhten wie auf ihren politischen Interessen.168 Unterhalb des Hochadels waren die „independent country gentlemen“ angesiedelt. Dabei handelte es sich um die anglo-irische Junkerschaft, die allesamt vehemente Verfechter der ‚protestant Ascendancy’ (also der Dominanz der angloirischen Kolonialelite) waren und alles daran setzten, den politischen Status quo und die Verbindung zu Großbritannien aufrechtzuerhalten. Da beides untrennbar mit der Thronfolge der Hannoveraner zusammenhing, bezeichneten sie sich selbst als Whigs, aber das bedeutete in diesem Kontext nicht viel: Hinter einer solchen Bezeichnung verbarg sich im irischen Parlament während des 18. Jahrhunderts bestenfalls eine gewisse Loyalität, selten ein politisches Programm.169 166 Ein herausragendes Exempel für eine solche Ämterhäufung bietet John Hely-Hutchinson (1724-94), der von 1761 bis 1794 ununterbrochen einen Parlamentssitz hatte. Seit 1774 war er Provost des Trinity College (2.000 £ p.a.) und versuchte den universitären Wahlbezirk in einen Familienwahlbezirk umzuwandeln. Außerdem war er irischer Staatssekretär (1.800 £ p.a.). Mit seinen drei Söhnen zusammen hatte er das Amt eines Customer of Strangford inne (noch einmal 1.000 £ p.a.). Einen seiner Söhne hiefte er auf die Stelle eines Kornets, der zweite erhielt eine Pfründe, die 800 £ p.a. wert war. Auch die weitere Familie wurde versorgt: Ein Schwager war Kontrollbeamter beim Board of Public Works (300 £ p.a.), ein anderer Hafenaufseher in Dublin (500 £ p.a.). Hely-Hutchinson war sicherlich ein außergewöhnlich umtriebiger ‚Postenakkumulateur’, aber beileibe nicht der einzige. Vgl. ebd., S. 227. 167 In der Wahl von 1768 beispielsweise gelang es dem Duke von Leinster, den Earls von Carrick, Hertford, Arran, Antrim, Altamont und Lord Belvidere ihre Erben ins Unterhaus zu bringen. Den Vogel schoß aber wohl der Earl von Tyrone ab, der in der gleichen Wahl einen Bruder, fünf Schwäger und nicht weniger als 14 Vettern im Unterhaus unterbrachte. Vgl. ebd., S. 217. 168 Ebd., S. 216f. 169 “[T]he reasons why men went into parliament represented a world of visceral interestes rather than ideological principles.” Vgl. Foster, Modern Ireland, S. 226; Dickson, New Foundations. S. 85 Die dritte große Gruppe im Unterhaus bestand schließlich aus den wichtigsten Amtsinhabern der Administration und Exekutive sowie deren Gefolge aus Pensionären170 der Krone. Die vierte Abgeordnetengruppe bestand aus Juristen, von denen einige berechtigte Hoffnungen hegen konnten, auf diesem Weg eine Karriere in der Judikative oder Administration machen zu können, da auch Richterstellen aufgrund parlamentarischer ‚Meriten’ vergeben wurden.171 Für die Mehrheit der Juristen im Parlament gilt das jedoch nicht, sie fungierten eher als minder wichtige Placemen (Pensionäre und Stimmenbeschaffer) der Krone.172 Abgerundet wurde das Bild durch einige Offiziere, die in der Regel gleichzeitig zu den independent gentlemen zählten und die ihr Interesse vor allem darauf richteten, Gouverneursposten in den großen Städten wie Cork oder Galway für sich an Land zu ziehen.173 Auffällig ist die Unterrepräsentation des kommerziellen Sektors, welche die untergeordnete Bedeutung dieses Bereichs in einer vorwiegend agrarischen Gesellschaft widerspiegelt: Von den irischen Bankiers war nur die La Touche Familie174 kontinuierlich im Unterhaus präsent und insgesamt – so schätzt EDITH M. JOHNSTON – hat es zwischen 1760 und 1800 nicht mehr als 30 Abgeordnete mit einem kommerziellen Hintergrund im irischen Unterhaus gegeben.175 Zusammenfassend läßt sich also festhalten, daß das irische Parlament – selbst nach zeitgenössischen Maßstäben – kein repräsentatives Legislativorgan, sondern 56. Zu dieser Gruppe gehörten etwa die O’Neills aus Antrim, die Ogles aus Wexford, die O’Briens aus Clare oder die Stewarts aus Tyrone, um nur einige der wichtigsten Namen aus dieser Gruppe zu nennen – alles Familien mit großem Einfluß in einzelnen Grafschaften, die in der Regel entweder diese Grafschaften, den Grafschaftswahlbezirk (county borough) oder aber zumindest einen Wahlbezirk innerhalb ihrer Grafschaft repräsentierten. Vgl. Johnston, ebd., S. 217-226. 170 Man schätzt, daß im 18. Jahrhundert etwa ein Drittel der Abgeordneten des Unterhauses finanzielle Leistungen von der Krone bezog. Vgl. Kee, Most Distressful Country, S. 31. 171 John Toler (1745-1831) z.B. brachte es auf diese Weise erst zum zweiten, dann zum ersten Kronanwalt und schließlich zum Obersten Richter der Common Pleas, bevor ihm sein willfähriges Verhalten bei den Verhandlungen um die Union im Jahr 1800 den Titel eines Barons von Norbury eintrug. Vgl. H. Boylan, A Dictionary of Irish Biography, Dublin 1988, S. 383. 172 Johnston, GB & Ireland, S. 240. 173 Ebd., S. 240f. 174 Der Stammvater der hugenottischen La Touche Bankiersdynastie, David Digges La Touche, war in den 1690er Jahren nach Dublin gekommen, wo er 1716 die erste Dubliner Bank eröffnete. Die Bank blieb über fünf Generationen und 154 Jahre ein Familienbetrieb, bevor sie 1870 von der Bank of Munster absorbiert wurde. Sein Sohn David Jr. verwendete die Gewinne der Bank zu umfangreichen Landkäufen, bevor sich sein Enkel, David III., 1761 den Parlamentssitz von Dundalk und schließlich den Wahlbezirk von Newcastle (Grafschaft Dublin) kaufte. David III. war auch maßgeblich an der Gründung der Bank of Ireland 1783 beteiligt. Vgl. D. Dickson/R. English, The La Touche Dynasty, in: D. Dickson (Hg.), The Gorgeous Mask, Dublin 1700-1850, Dublin 1987, S. 17-30, hier: S. 13, 21-23. 86 eine Interessenvertretung der anglikanischen, anglo-irischen Oligarchie war, die es als Aushandlungsforum für ihre eigenen Interessen, die Interessen der Sippe und ihrer Klientel bzw. ihres Patrons verwendete. Zugleich bildeten die Mitglieder des Unterhauses eine sozial relativ und konfessionell vollständig homogene Gruppe, die eindeutig von den anglikanischen Großgrundbesitzern dominiert wurde. Die Lobbies im Parlament. Angesichts dieser personellen Zusammensetzung überrascht es nicht, daß im Parlament für grundsätzliche ideologische Auseinandersetzungen kaum Raum vorhanden war: Alle Parlamentarier saßen – salopp formuliert – im selben Boot. Daher blieb auch die Bildung stabiler politischer Lager, Flügel oder Parteien aus. Die Mehrheitsverhältnisse formierten sich buchstäblich in jeder politischen Frage neu, Partikular- und Individualinteressen fanden sich zu neuen Bündnissen zusammen, nur um schon beim nächsten Tagesordnungspunkt wieder zu zerfallen und sich neu anzuordnen. Das ganze Arrangement verweigert sich klassischen Kategorisierungen wie man sie aus der Geschichte des britischen Parlamentarismus des gleichen Zeitraums kennt: Weder die Unterscheidung zwischen Tories und Whigs, noch die Dichotomie von Country und Court greift im irischen Kontext richtig.176 ROY FOSTER hat diese Sackgasse elegant überwunden, indem er die Regierungsfraktion und die Opposition im Parlament – in ihrer Relation zum britischen Machtzentrum in Irland – als die ‚Parteien’ der „Ins“ und „Outs“ bezeichnet hat.177 Nur mit so einem flexiblen Modell, das die jeweilige Mehrheit im Unterhaus einer kurzlebigen, flatterhaften Mode gleich als „Ins“ charakterisiert, kann man hoffen, der beträchtliche politischen Fluktuationen im Parlament Herr werden. Fehlten prinzipielle politische Ausrichtungen, so sind andererseits Schwerpunkte partikularer Interessenorientierung, die sich in konkreten Einzelfällen immer wieder gegenseitig überlagern konnten, durchaus zu entdecken. Die Bündnisbildung und Mehrheitsbeschaffung im Unterhaus war also auch nicht vollkommen beliebig, sondern folgte einer losen, situativen Logik, die auf der Ausbildung von Lobbies („interests“) beruhte. Die episkopale Gruppe im Oberhaus und die von ihr abhängigen Abgeordneten im Unterhaus konstitutierten zusammen ein „church 175 Johnston, GB & Ireland, S. 246. Beckett, Making, S. 163; Dickson, New Foundations, S. 56. 177 Foster, Modern Ireland, S. 226. 176 87 interest“, das stets gegen potentielle Eingriffe in das anglikanische Kirchenregiment (insbesondere gegen Veränderungen bei den Tithes, den Zehntzahlungen) Widerstand leistete. Die Grundbesitzer von den Erben des schwerreichen Hochadels bis zum letzten „half-mounted gentleman“178 kooperierten immer, wenn es galt, steuerliche Belastungen vom Grundbesitz fernzuhalten und statt dessen dem Handel aufzubürden. Sie bildeten das „landed interest“. Ihre gleichsam natürlichen Gegner, die wenigen Repräsentanten des Handels- und des Finanzkapitals, machten entsprechend das „commercial interest“ aus. Die Castle-Fraktion um den Lord Lieutenant (bzw. im Parlament: um den Chief Secretary) konstituierte das Rückgrat des „English interest“, die nach Bedarf mit Pensionären und anderen Protegés zahlenmäßig aufgestockt werden konnte. Diese Lobby kann zugleich auch am ehesten als eine irische Adaption der Court-Fraktion britischen Vorbilds verstanden werden.179 Dem „English interest“ stand das „Irish interest“ (im Klartext: ‚Ascendancy interest‘) gegenüber, dessen Zentrum von den „independent country gentlemen“ gebildet wurde, die mißtrauisch darüber wachten, daß die britische Seite die Privilegien der Kolonialelite nicht anrührte, zugleich aber eisern an der Verbindung zu Großbritannien festhielten, die ihnen die Ausübung dieser Vorrechte überhaupt erst ermöglichte. Gegen katholische oder presbyterianische Forderungen nach politischer Partizipation oder gegen republikanische Ansprüche auf eine ‚angemessene’ oder – um Edmund Burkes berühmten Ausdruck zu verwenden – zumindest „virtuelle“ Repräsentation180 schlossen sich „church interest“, „landed interest“ und „commercial interest“ zur „Ascendancy interest“ zusammen, die das Machtmonopol der anglo-irischen, anglikanischen Kolonialelite verteidigte. Die Entstehung einer ähnlichen Koalition läßt sich bei Übergriffen des britischen auf das irische Parlament beobachten – wie etwa den Declaratory Act von 1720 oder während der Regentschaftskrise von 1788/89 – 178 Der Begriff ist zeitgenössisch und stammt aus der Feder Sir Jonah Barringtons (1760-1834). Bezeichnet wurde damit in etwa das irische Pendant des ostelbischen ‚Krautjunkers’. Vgl. J. Carty, (Hg.), Ireland From Grattan's Parliament to the Great Famine (1783-1850) – A Documentary Record, Dublin 1952, S. 123. 179 Foster, Modern Ireland, S. 227. 180 „Virtual representation is that in which there is a communion of interest and a sympathy in feeling and desire between those who act in the name of any description of people and the people in whose name they act, though the trustees are not actually chosen by them” Vgl. E. Burke an Sir Hercules Langrishe, 1792, in: M. Arnold (Hg.), Irish Affairs, Edmund Burke, With a new introduction by Conor Cruise O’Brien, London 1988, S. 206-278, S. 263 (Neuauflage von Ed. Burke – Letters, Speeches and Tracts on Irish Affairs von 1881). 88 nur, daß die Allianz dann wahlweise unter den Bezeichnungen „Irish“, „national“ oder „Patriot interest“ auftrat.181 Das allgemeine Muster der Lobbybildung läßt sich aus diesen Beispielen leicht herausdestillieren: Es ist ein defensives Bündnisbildungsmuster, das dann griff, wenn der politische Status quo und die Verwirklichung der eigenen Interessen gefährdet war. Die Außengrenzen der Bündnisfähigkeit jeder Lobby wurde durch die konfligierenden Interessen anderer Lobbies abgesteckt. Dieser Politikstil verfolgte ein einfaches Ziel: Im eigenen Beritt nach Möglichkeit alle Veränderungen abzublocken und in anderen Bereichen zum eigenen Nutzen Wandel herbeizuführen. Kumulativ führt eine solche Strategie zu wechselseitiger Blockade und Stagnation – und genau das war in Irland während des 18. Jahrhunderts der Fall. Keine wichtige politische Veränderung konnte herbeigeführt werden, ohne daß sie zuvor von außen durch eine außergewöhnliche Krisen- oder Konfliktsituation induziert wurde. Die eingeschränkte legislative Funktion des irischen Parlaments. Daß die Ascendancy einen solchen Aufwand betrieb, um das Parlament zu majorisieren, steht auf den ersten Blick in krassem Gegensatz zu dem Befund, daß der Handlungsspielraum dieser Institution durch Poynings’ Law von 1494 und der bereits erwähnt Declaratory Act von 1720 erheblich eingeschränkt wurde. Poynings’ Law besagte in nuce, daß der englische Statthalter und der irische Kronrat den Monarchen von den Gesetzesvorhaben, mit denen sich das irische Parlament beschäftigen sollte, unterrichtet und seine Genehmigung – in Absprache mit dem englischen Kronrat – erhalten haben mußten, bevor das irische Parlament einberufen werden konnte.182 Praktisch bedeutete dies, daß der Lord Lieu181 Hierbei ist zu beachten, daß sich der „Patriotismus“ bzw. „Nationalismus“ nur auf die ‚politische Nation’ der im Parlament repräsentierten irischen Bevölkerung bezog (also de facto auf die Ascendancy). Dieses sozial und konfessionell höchst exklusive Modell eines kolonial-angloirischen „Nationalismus“ kann sich also nicht als Nationalismus in der modernen Bedeutung des Wortes qualifizieren, denn dazu bedürfte es einer Massenbasis in der Bevölkerung, worüber der sogenannte „koloniale Nationalismus“ nie verfügt hat. Autoritativ hierzu Langewiesche, Nation/Forschungsstand, S. 200-204. Nationalismustheoretisch betrachtet stellt dieser Begriff also lediglich eine irreführende Chimäre dar. J.G. Simms, der den Begriff prägte, hat in seinem Werk Colonial Nationalism 1698-1776, Molyneux's "The Case of Ireland ... Stated", Cork 1976, S. 9 den konzeptionellen Gehalt des Begriffs mit folgenden Worten umrissen: „Colonial nationalism is a convenient term for the demand of domestic self-government within an imperial framework.“ Zur Kritik an diesem Begriff vgl. Boyce, Nationalism, S. 107. 182 Zum genauen Wortlaut von Poynings’ Law vgl. Curtis, Irish Hist. Documents, S. 83: „(...) no parliament be holden hereafter in the said land [Irland – MR], but at such season as the king’s lieutenant and council there first do certify the king, under the great seal of that land, the causes and considerations, and all such acts as them seemeth should pass in the same parliament, and 89 tenant zusammen mit dem irischen Kronrat darüber entschied, wann es opportun war, ein Parlament einzuberufen, denn es lag allein in ihren Händen, beim Monarchen in dieser Angelegenheit vorstellig zu werden. Dieser Umstand erklärt, warum das irische Parlament alle zwei Jahre im Schnitt bloß sechs bis acht Monate tagte – der britische Kolonialapparat hat an einer größeren parlamentarischen Aktivität gar kein Interesse. Darüber hinaus hatte das von Poynings’ Law vorgesehene Verfahren aber auch erhebliche Nachteile für den legislativen Handlungsspielraum des irischen Parlaments. Anstatt den üblichen Weg der Gesetzgebung beschreiten zu können,183 konnte das Parlament dem irischen Kronrat lediglich Gesetzvorschläge (Heads of Bills) präsentieren. Der irische Kronrat konnte solche Vorschläge einkassieren oder nach Belieben umformulieren und reichte ihn anschließend an den britischen Kronrat weiter, der noch einmal die gleichen Interventionsrechte hatte. Der von beiden Kronräten beratene und u.U. veränderte Gesetzesvorschlag kehrte dann unter dem großen Siegel Englands als Gesetzentwurf ins irische Parlament zurück, wo die Abgeordneten nur eine Wahl hatten: Entweder lehnten sie den (englischen) Entwurf komplett ab oder sie nahmen ihn vollständig an. Realiter besaß das irische Parlament also eher eine Art legislatives Vetorecht als eine genuin gesetzgebende Souveränität. Damit nicht genug, interpretierte Westminster Poynings’ Law dahingehend, daß die irische Schwesterinstitution ihm untergeordnet sei und daß dementsprechend das britische Parlament Gesetze verabschieden dürfe, die auch für Irland bindend waren. Da es in dieser Frage wiederholt zu anglo-irischen Protesten gekommen war, schrieb Westminster im Declaratory Act von 1720, der Poynings’ Law im Prinzip nur ergänzte, den untergeordneten Status des irischen Parlaments endgültig fest.184 Durch den Declaratory Act verminderten sich die legislativen Kompe- such causes, considerations, and acts, affirmed by the king and his council to be good and expedient for that land, and his licence thereupon, as well in affirmation of the said causes and acts, as to summon the said parliament, under his great seal of England had and obtained; that done, a parliament to be had and holden after the form and effect afore rehearsed: and if any parliament be holden in that land [Irland – MR] hereafter, contrary to the form and provision aforesaid, it be deemed void and of none effect in law.” 183 Das will heißen: erste Lesung, zweite Lesung, ggf. Vermittlungsausschuß und dritte Lesung. Vgl. Beckett, Making, S. 154. 184 Für den Wortlaut der entscheidenden Passagen des Declaratory Act vgl. Curtis, Irish Hist. Documents, S. 188: “(…) be it declared ... that the said kingdom of Ireland hath been, is and of right ought to be, subordinate unto and dependent upon the imperial crown of Great Britain, as being inseparably united and annexed thereunto, and that the king’s majesty, by and with the ad- 90 tenzen des irischen Parlaments noch einmal beträchtlich: Gegen die Gesetze, die in Westminster für Irland als bindend erklärt wurden, verfügte das irische Parlament nicht einmal über ein Vetorecht. Das Parlament als Distributionsmaschinerie. Obwohl auch das Budgetrecht des irischen Parlaments durch die erblichen Steuereinkünfte der Krone beschnitten wurde, war es die Bewilligung von Steuergeldern, die dem irischen Parlament seine Daseinsberechtigung und den Sitzen im Parlament ihre große Attraktivität verlieh. Die erblichen Einkünfte der Krone reichten nämlich bereits ab 1715 nicht mehr zur Kostendeckung aus, so daß die Regierung gezwungen war, Kredite aufzunehmen. Während des 18. Jahrhunderts stieg die irische Staatsverschuldung so auf die enorme Summe von knapp 9,5 Mio. £ im Jahr 1797 an.185 Mit der Verschuldung wuchs der Druck, durch zusätzliche Steuern neue Finanzmittel zu akquirieren. Diese Abgaben mußten jedoch alle zwei Jahre vom Parlament erneut genehmigt werden und exakt darin lag – aus britischer Sicht – die Raison d’être der Institution. Die Bewilligung zusätzlicher Steuern war zugleich jedoch auch Teil des Finanzproblems, denn die Zustimmung zu den von Lord Lieutenant vorgelegten Steuergesetzvorlagen (Money Bills) ließen sich die Abgeordneten teuer vergüten – mit Adelstiteln, Pensionen und Ämtern. Genau deshalb unternahm die Ascendancy solche Anstrengungen, um Sitze im Parlament zu ergattern. Es ging um beträchtliche Summen: Lord Lieutenant Townshend schätzte 1769, daß die Undertaker alle zwei Jahre mindestens 100.000 £ in Form von Posten und Pensionen unter ihren Anhängern verteilten.186 1776 errechnete Chief Secretary Blaquiere, daß die parlamentarische Bewilligung des Abzugs von 4.000 Soldaten aus Irland, die in den amerikanischen Kolonien benötigt wurden, die Regierung etwa 10.000 £ in Pensionen und mehr als 20 Adelstitel kosten würde.187 Ebenfalls bezeichnend ist, daß 1793 die langsame Reduzierung der Pensionsliste auf einen Umfang von 80.000 £ p.a. als großer Erfolg gefeiert wurde, der Einsparungen von ca. 30.000 £ vice and consent of the lords spiritual and temporal, and commons of Great Britain in parliament assembled, had, hath, and of right ought to have full power and authority to make laws and statutes of sufficient force and validity to bind the kingdom and the people of Ireland.” 185 Zum Vergleich: Das irische Steueraufkommen lag 1797 bloß bei 1,9 Mio. £. Im selben Jahr betrugen allein die fälligen Zinsen knapp 50.000 £ mehr als die erblichen Einkünften der Krone, die sich auf 650.000 £ beliefen! Vgl. Johnston, GB & Ireland, S. 98. 186 Ebd., S. 211. 187 Beckett, Making, S. 209. 91 erzielen sollte.188 Vor dem Hintergrund solcher Zahlen ist schwerlich zu bestreiten, daß das irische Parlament zunächst eine finanzielle Alimentations- und Distributionsmaschinerie für die Parlamentarier und die Krone war. Wie auf einem Bazar feilschten im Parlament die Ascendancy und Dublin Castle um ihre jeweiligen Anteile am Staatskuchen. Das rief nicht selten die Empörung der Kolonialbeamten hervor: Voller Verachtung bezeichnete Lord Lieutenant Rutland 1785 die Abgeordneten als eine „Rasse von Harpyien und Plünderern“ und Lord Lieutenant Cornwallis, der 1799 mit den Vorverhandlungen für die staatliche Union zwischen Irland und Großbritannien befaßt war, notierte in einem Brief, seine Beschäftigung sei zur Zeit höchst unangenehm, da er mit dem „korruptesten Menschenschlag unter der Sonne“ zu verhandeln habe.189 Die Entrüstung der britischen Statthalter über den Nepotismus der irischen Parlamentarier ist einerseits nachvollziehbar, entbehrt andererseits aber nicht einer gewissen Ironie. Schließlich hatte der britische Kolonialapparat die Korruption des Parlaments zu einem integralen Bestandteil kolonialer Herrschaftsausübung in Irland und zu seinem wichtigsten Steuerungsinstrument bei der Kontrolle und Lenkung des Parlaments gemacht. Darüber hinaus stand die Korruption aber auch in unmittelbarem Zusammenhang mit der konstitutionellen Entmachtung des irischen durch das britische Parlament. Seine ureigenste Funktion – die Gesetzgebung – konnte das irische Parlament unter den dargelegten Bedingungen nur sehr eingeschränkt wahrnehmen.190 Dieser Zustand begünstigte zumindest, daß die Institution zu einem Ort des Pfründeschachers verkam. Insofern war die Korruption, über die sich diverse Lord Lieutenants bitter beklagten, ebenso hausgemacht wie das koloniale Herrschaftssystem, das dieser Korruption notwendig bedurfte. δ) Die doppelte Opposition gegen das Kolonialregime. Die eben beschriebene Machtverteilung zwischen der Ascendancy und der britischen Kolonialmacht zog von zwei Seiten Kritik auf sich. Auf der einen Seite von der Ascendancy selbst, die mit den britischen Konditionen unzufrieden war und auf der anderen Seite von der anglikanischen Peripherie – den ‚Outs’ inner- und außerhalb des Parlaments, 188 Lecky, History of Ireland 3, S. 182. Vgl. auch Johnston, GB & Ireland, S. 97. Vgl. Johnston, ebd., S. 232; J. Killen (Hg.), The Decade of the United Irishmen, Contemporary Accounts, 1791-1801, Belfast 1997, S. 175. 189 92 die von den Fleischtöpfen ausgeschlossen waren und ohnmächtig zusehen mußten, wie sich die Ascendancy die Taschen füllte. Die defensive Opposition innerhalb der Ascendancy. Die Opposition innerhalb der Ascendancy war so begrenzt wie ihr Handlungsspielraum: Da sie zur Bewahrung ihrer Stellung in Irland auf die Unterstützung der Kolonialmacht angewiesen waren, stellten sie nie die enge konstitutionelle Verbindung zwischen Irland und Großbritannien, sehr wohl aber die von britischer Seite diktierten Konditionen dieser Verbindung in Frage, die sie als Übergriff auf ihre althergebrachten Rechte als den Briten rechtlich prinzipiell gleichgestellte Subjekte der Krone betrachteten. In ihrer Opposition kam das Grunddilemma anglo-irischer Existenz in Irland zum Ausdruck – zwischen der Scylla irisch-katholischer Bedrohung und der Charybdis britischer Bevormundung gefangen zu sein. Vor allem gegenüber der britischen Bevormundung war der Handlungsspielraum der Ascendancy jedoch beschränkt: Soweit wie möglich obstruierte die Ascendancy zwar gegen den britischen Einfluß in Irland, hütete sich aber eine Eskalation zu provozieren. Nur anläßlich neuer britischer Übergriffe wie dem Declaratory Act von 1720 oder Wood’s Halfpence Crisis von 1722-25 schlugen das latente Konkurrenzverhältnis und die Spannungen zwischen Ascendancy und britischer Kolonialmacht in einen offenen Schlagabtausch um. Vordenker der Opposition innerhalb der Ascendancy: Molyneux und Swift. Britische Exportverbote bzw. Einfuhrzölle auf irische Wollfabrikate, die 1699 zum Schutz der englischen Wollstoffproduzenten eingeführt wurden, bildeten den Hintergrund der ersten Auseinandersetzung zwischen der Ascendancy und Großbritannien nach dem Stuart-Erbfolgekrieg.191 Im Kern handelte es sich bei dieser Kontroverse jedoch nicht um einen ökonomischen, sondern um einen politischen Konflikt.192 Die Empörung der Ascendancy entzündete sich zum einen daran, daß von dieser protektionistischen Maßnahme vor allem Anglo-Iren in den anglikani- 190 „It is utterly impossible that Office in Ireland can confer the Power of doing Good, no office with us being in any Degree Ministerial.” Lord Charlemont an Henry Flood, 13.4.1775. Zitiert nach Johnston, ebd., S. 226. 191 Connolly, Companion, S. 600. 192 Die wirtschaftlichen Folgewirkungen des britischen Verbots waren marginal: Zwar emigrierten unmittelbar nach dem Exportverbot etwa 800 Wollweberfamilien aus Südmunster, dem Kerngebiet der Wolltuchproduktion, aber die betroffenen Regionen erholten sich rasch von dem Schlag und kompensierten die Einbußen, indem sie sich auf die Herstellung von Wollgarn für den Export und die Produktion von Tuchstoffen für den irischen Markt verlegten. Vgl. Dickson, New Foundations, S. 48f. 93 schen Städten der Grafschaften Cork, Waterford und Dublin betroffen waren, so daß sich die Intervention aus anglo-irischer Sicht wie ein Schlag der kolonialen Schutzmacht gegen die englische Kolonie in Irland ausnahm.193 Ausschlaggebend für das Ausmaß des Protestes war jedoch, daß der von Westminster erlassene Woolen Act die Frage nach dem konstitutionellen Status Irlands eindeutig mit einer Unterordnung Irlands unter die legislative Autorität des britischen Parlaments beantwortete. Einen zentralem Stellenwert in der Kontroverse, die sich daraufhin zwischen britischen und anglo-irischen Pamphletschreibern entspann, nahm eine Veröffentlichung des anglikanischen Philosophen William Molyneux194 aus dem Jahr 1698 ein, die den Titel „The Case of Ireland’s Being Bound by Acts of Parliament in England, Stated“ trug. Das Werk fand reißenden Absatz: Schon vor der Jahrhundertmitte hatte es mindestens sechs Auflagen und bei passender Gelegenheit – wie etwa der Verabschiedung des Declaratory Act im Jahr 1720 – wurde es sofort wieder neu aufgelegt.195 Molyneux vertrat darin die These, daß das englische Parlament nicht für Irland legislativ tätig werden könne, weil Irland keine englische Kolonie, sondern ein unabhängiges Königreich sei.196 Diese These begründete er mit historischen, verfassungsrechtlichen und naturrechtlichen Argumenten. Historisch argumentierte er, daß Irland niemals von England erobert worden sei und daß Irland von Heinrich II. im 12. Jahrhundert ein unabhängiges Parlament gewährt worden sei.197 Unter Rückgriff auf den 1692 neu veröffentlichten Modus tenendi parliamentum in Hibernia beschwor er außerdem die Tradition der legislativen Unabhängigkeit Irlands.198 Verfassungsrechtlich argumentierte er, daß es „seit 500 Jahren“ Usus sei, daß nur diejenigen in England verabschiedeten Gesetze in Irland Gültigkeit erlangten, die zuvor von einem irischen Parlament 193 Vgl. ebd., S. 48; auch Beckett, Making, S. 156. William Molyneux (1656-1698): Anglikanischer Philosoph und Naturwissenschaftler, in Dublin geboren, studierte Jura am Trinity College in Dublin, praktische Ausbildung am Middle Temple in London; verfügte über ausreichende Mittel, um nicht praktizieren zu müssen, beschäftigte sich stattdessen mit philosophischen, optischen und astronomischen Studien; erster Sekretär der 1684 gegründeten Dublin Philosophical Society, der Vorläuferin der Royal Irish Academy; während des Erbfolgekrieges 1689-91 verließ er aus Furcht vor anti-protestantischen Ausschreitungen Irland und hielt sich in Chester auf, wo er sich mit John Locke anfreundete; nach seiner Rückkehr zum Abgeordneten des Trinity College im irischen Unterhaus gewählt, wo er von 169295 und 1697/8 saß; publizierte 1698 das Traktat „The Case of Ireland ..., Stated“; erkrankte auf der Rückkehr von einem Besuch bei Locke und verstarb am 11.10.1698. 195 J.R. Hill, Popery, S. 101; McCracken, Protestant Ascendancy, S. 111. 196 Foster, Modern Ireland, S. 161. 197 Simms, Colonial Nationalism, S. 29f. 198 Ebd., S. 30; ders., Establishment, S. 5. 194 94 bestätigt worden seien. 199 Im naturrechtlichen Teil seiner Argumentation berief er sich schließlich direkt auf Lockes Two Treatises on Government von 1690. Es sei unangemessen, von Irlands Bevölkerung die Unterordnung unter Gesetze zu verlangen, zu denen sie nicht ihre Zustimmung gegeben habe: „Ich habe keine andere Vorstellung von Sklaverei als die, an ein Gesetz gebunden zu sein, dem ich nicht zugestimmt habe.“200 Diese Vorstellung entspricht Lockes Konzept des „government by consent“.201 Wenn englische Gesetze für Irland Gültigkeit haben sollten, so fuhr er fort, müßte die irische Bevölkerung im englischen Parlament repräsentiert sein – „aber dies ist ein Glück, das wir kaum erhoffen dürfen.“202 Aufgegriffen und ausgebaut wurden die Molyneux’schen Gedanken von Jonathan Swift Mitte der 1720er Jahre in den Drapier’s Letters. Swift verfaßte diese anonymen Fortsetzungsbriefe vor dem Hintergrund des Declaratory Act und der sogenannten Wood-Affäre. Dazu muß man wissen, daß 1722 ein Unternehmer aus Wolverhampton namens William Wood ein königliches Patent erwarb, daß ihm gestattete, im Wert von 100.000 £ Kupfermünzen für Irland auszuprägen.203 Die Vergabe des Patents wurde von außerordentlich dubiosen Umständen begleitet – unter anderem kursierte das Gerücht, Wood habe das Patent nur erhalten, weil er eine Mätresse des britischen Monarchen mit 10.000 £ bestochen hatte – und verursachte heftige Proteste in Irland. Obwohl die von höchsten irischen Stellen vorgebrachten Bedenken gegen das neue Geld – der intrinsische Wert der neuen Münze sei zu gering, Woods Profite aus dem Patent exzessiv204 – zwar an sich schon schwerwiegend genug waren, war der Hintergrund der irischen Proteste eigentlich kein fiskalisch-monetärer, sondern ein politischer. Die Gereiztheit, welche die Debatte um Wood’s Halfpence erfaßte, rührte daher, daß das irische Parlament bei der Entscheidung über die Vergabe des Patents übergangen worden war.205 Woods Münze bot daher einen willkommenen Anlaß für eine politische 199 Simms, Colonial Nationalism, S. 32-34; Dickson, New Foundations, S. 47. Präzedenzfälle, die dieser These diametral entgegenstanden, wie das englische Gesetz von 1691, mit dessen Hilfe die Katholiken aus dem irischen Parlament entfernt wurden, unterschlug er allerdings geflissentlich. 200 Simms, ebd., S. 35. 201 Ebd., S. 31; J. Locke, Über die Regierung (Reclam Ausg. d. Second Treatise on Government) Stuttgart 1983, S. 73-76; H.T. Dickinson, Liberty and Property, Political Ideology in 18th Century Britain, London 1977, S. 60f. 202 Simms, Colonial Nationalism, S. 35. 203 Zur Wood Affäre vgl. Connolly, Companion, S. 598. 204 McCracken, Protestant Ascendancy, S. 111. 205 Beckett, Making, S. 165, Dickson, New Foundations, S. 66. 95 Kraftprobe zwischen der Ascendancy und dem britischen Parlament um den Declaratory Act von 1720. Entsprechend harsch waren die Reaktionen in Irland: Während die verunsicherte Bevölkerung sich weigerte, die Münze als Zahlungsmittel zu akzeptieren und es in Dublin zu Demonstrationen kam, legten die Steuerkommissare formalen Protest ein, weigerten sich die Finanzbehörden die Münze in ihrer Rechnungsführung zu berücksichtigen. 206 Beide Häuser des Parlaments petitionierten beim König und erwiesen sich den üblichen Kompensationsmechanismen gegenüber als resistent.207 In dieser Situation erschienen 1724-25 Swifts Drapier’s Letters und brachten das Faß zum Überlaufen. Vordergründig nahm Swift in diesen Pamphleten ebenfalls die Wood-Affäre aufs Korn.208 Tatsächlich benutzte er diese Affäre jedoch lediglich als Aufhänger, um die Grundlagen der irisch-britischen Beziehungen zu diskutieren und die Legitimationsbasis für britische Interventionen in Irland zu kritisieren. Mit direkter Bezugnahme auf den „berühmten Mr. Molineux“ gelangte Swift zu dem Schluß, daß es keine Statuten gebe, in denen Irland seine konstitutionelle Unabhängigkeit aufgegeben hätte.209 Aggressiv geißelte er den Charakter der britischen Interventionen in Irland, schalt sie eine einzig auf Waffengewalt und Bestechung beruhende Versklavung und proklamierte auf der Basis Locke’scher Theoreme die Gleichstellung der Anglo-Iren mit den Briten: „Tatsächlich ist alle Regierung ohne die Zustimmung der Regierten die wahre Definition von Sklaverei. (...) Nach dem Gesetz Gottes, der Natur, der Nationen und Eures eigenen Landes seid ihr und sollt ihr genau so ein freies Volk sein wie eure Brüder in England.“210 Swifts Fortsetzungsbriefe fanden ebenso reißenden Absatz wie vor ihm Molyneuxs Schrift: Allein vom ersten Drapier’s Letter wurde innerhalb eines Monats nach der Publikation 2.000 Exemplare abgesetzt, die anderen erreichten ebenfalls in kurzer Zeit mehrere Auflagen.211 Auch die Dubliner Presse erhielt durch die Wood-Affäre Auftrieb.212 206 McCracken, Protestant Ascendancy, S. 113; Beckett, ebd., S. 165. Connolly, Companion, S. 598. 208 Beckett, Making, S. 165f. 209 J. Swift, The Drapier’s Letters and Other Works 1724-1725, Hrsg. v. H. Davis, Oxford 1966, S. 63. 210 Ebd. 211 Dickson, New Foundations, S. 68. 212 Foster, Modern Ireland, S. 183. 207 96 Britische Gegenmaßnahmen – etwa den Drucker der Drapier’s Letters juristisch zur Verantwortung zu ziehen213 – blieben bereits im Ansatz stecken. Das Parlament geriet vorübergehend komplett außer Kontrolle, selbst die Lordrichter versagten ihre Unterstützung.214 Der Aufruhr legte sich erst nachdem 1725 Wood das Patent entzogen worden war. Zur Besorgnis der britischen Statthalter hatte sich jedoch in der Wood-Affäre herausgestellt, daß es Situationen gab, die weit genug von konfessionellen Antagonismen entfernt waren und die Allgemeinheit so direkt betrafen, daß eine anti-britische Opposition in Irland zustande kommen konnte, die sich durch alle Schichten und Lager zog. Molyneuxs und Swifts Beitrag zur Oppositionsbildung. Molyneuxs Bedeutung lag vor allem in der Kompilation historischer, verfassungsrechtlicher und naturrechtlicher Argumente für die konstitutionelle Souveränität Irlands, die – wie Swifts Beispiel schon angedeutet hat – genug Munition für nachfolgende Regimekritiker boten. Darüber hinaus ist signifikant, daß seine Argumente allgemein genug waren, um Ansatzpunkte für die Legitimation einer anti-britischen oder einer anti-Ascendancy Opposition, für eine moderat-konstitutionelle bis hin zu einer radikal-separatistischen Opposition zu bieten. Obwohl Molyneux selbst primär die Verteidigung der konstitutionellen „Geburtsrechte“ der englischstämmigen Subjekte in Irland beabsichtigte:215 Gerade seine historischen Exkurse nahmen eine neue, distinktiv irische Couleur an. Er reklamierte nicht nur als Engländer die angestammten Rechte, die für alle ‚true-born Englishmen’ diesseits und jenseits der Irischen See gelten sollten, sondern legitimierte als Ire anglo-irische Ansprüche mit der Geschichte des irischen Parlaments. Auf dieser Basis ließ sich jedoch potentiell auch die Beseitigung von Poynings’ Law und sogar die Sezession Irlands von Großbritannien rechtfertigen. Das erklärt seine Beliebtheit als Referenzpunkt so unterschiedliche Ziele verfolgender Oppositioneller wie Charles Lucas, Henry Grattan oder Theobald Wolfe Tone. Swifts Bedeutung dagegen lag eher darin, daß er Molyneuxs Ideenhaushalt popularisierte und polemisch zuspitzte. Nimmt man die Verkaufszahlen und die besorgte Reaktion des Kolonialapparats auf seine Schriften als Indikatorgrößen, dann war dieses Unterfangen offensichtlich erfolgreich. Ungeachtet der schärferen 213 Swift selbst konnte nicht belangt werden, weil ihm nicht nachzuweisen war, daß er hinter den Veröffentlichungen und dem Pseudonym „Drapier“ steckte. Dickson, New Foundations, S. 69. 214 McCracken, Protestant Ascendancy, S. 112-114; Beckett, Making, S. 187. 97 Rhetorik ist aber auch Swifts Kritik als defensiv und begrenzt einzustufen, denn er richtete sich nicht – wie der Titel seines dritten Drapier’s Letter „To the whole people of Ireland“ zunächst anzudeuten scheint – an die gesamte irische Bevölkerung, sondern nur an den anglo-irischen Bevölkerungsteil, den er – wie vor ihm schon Molyneux – als „das irische Volk“ auffaßte. An dieser Stelle deutet sich die strukturelle Rechtfertigungsproblematik an, die für jede anglo-irische Opposition gegen die britische Kolonialmacht im 18. Jahrhundert charakteristisch war. Zwei Fragen mußten plausibel beantwortet werden: 1. Wie konnte der koloniale Status Irlands zum Zweck einer Machterweiterung der Ascendancy in Zweifel gezogen werden, ohne damit gleichzeitig die Legitimation für die herausragende Stellung der Kolonialelite innerhalb der irischen Gesellschaft zu gefährden? 2. Wie konnte man auf der Basis des Naturrechts und der Locke’schen Kontrakttheorie die Gleichstellung der anglo-irischen mit den englischen Subjekten der Krone einfordern, ohne den politisch marginalisierten Presbyterianern und Katholiken die selben Chancen zur Gleichstellung mit der anglikanischen Bevölkerungsgruppe einräumen zu müssen? Molyneux selbst versuchte diesen unangenehmen Fragen mit der unverfrorenen Behauptung zu begegnen, daß die irische Bevölkerung mehrheitlich aus den Abkömmlingen von Engländern und Britanniern bestehe, während die authochthonen Iren nicht mehr als ein Promille der irischen Bevölkerung repräsentierten.216 Mit diesem Kunstgriff, der die katholische Bevölkerung gleichsam forteskamotierte, läutete Molyneux die Geburtsstunde der „Protestant Nation“217 ein: Um die Legitimität der anglo-irischen Ansprüche glaubhaft zu machen, stilisierte er den mit politischen Partizipationsrechten ausgestatteten Teil der anglo-irischen Bevölkerung zum ‚irischen Volk’ hoch. Swift schloß sich hierin – wie wir bereits gesehen 215 Dickson, New Foundations, S. 47; Hill, Popery, S. 101f. Foster, Modern Ireland, S. 161; Boyce, Nationalism, S. 105. 217 Unter der Voraussetzung, daß man die ‚Protestant Nation’ lediglich als dezeptive Legitimationskonstruktion auffaßt, stellt der Begriff nichts anderes dar als ein Synonym für den Begriff ‚Ascendancy’. Diese Lesart ist jedoch nicht alternativlos. D.G. Boyce etwa nimmt die Vorstellung, daß die Anglo-Iren die irische Nation bildeten als kollektive, aber subjektive anglo-irische Überzeugung ernst und entwickelt Zugehörigkeitskriterien für diese ‚Nation’: Erstens muß man in Irland geboren sein und sich zweitens zur anglikanischen Konfession bekennen, um der „Protestant Nation“ anzugehören. Boyce, Nationalism, S. 105-107. Sein Argument, daß die Ausblendung der katholischen Bevölkerungsmehrheit aus dem anglo-irischen Denkhorizont gelingen konnte, weil sie durch die Strafgesetze effektiv von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen worden seien (S. 105), mangelt es jedoch an Überzeugungskraft, denn beides wurde gezielt von der Ascendancy ins Werk gesetzt. Daher wird hier die „Protestant Nation“ als legitimativer Vorwand 216 98 haben – Molyneuxs Position vollständig an.218 Aber selbst mit der Hilfskonstruktion der „Protestantischen Nation“ konnte man keine radikale anti-britische Opposition rechtfertigen, ohne die anglo-irische Sonderstellung in Irland zu gefährden. Daher bedeutete ‚Unabhängigkeit’ – von anglo-irischer Warte – auch nie etwas anderes als legislative und judikative Autonomie. Ascendancy-Opposition im Parlament: Die „Patrioten“. Nach dem Declaratory Act von 1720 fand sich im irischen Parlament eine lose miteinander verbundene Gruppe von Delegierten zusammen, welche fortan die Opposition gegen das koloniale Mutterland bildeten: die sogenannten „Patrioten“. Diese waren beständig in der Minderheit und verfügten selbst für die damaligen Verhältnisse über ausgesprochen wenig personelle Kontinuität. Da sie überdies kein ausformuliertes politisches Programm verfolgten, paßten sie sich nahtlos in das Bild der fluktuierenden Lobbies ein.219 Beschreibt man die „Patrioten“, deren Mitglieder sich mehrheitlich aus den ‚independent country gentlemen’ rekrutierten, mit Hilfe der FOSTER’schen Kategorien, dann handelte es sich bei ihnen um den harten Kern der ‚Outs’, die durch plötzliche politische Wendungen in dem Mittelpunkt der aktuellen politischen ‚Vogue’ rückten, weil sie mit ihrer Haltung in Einzelfragen ansehnliche Unterstützung im Unterhaus mobilisieren konnten und so gewissermaßen den natürlichen Kristallisationskern für punktuell entstehende Opposition bildeten. Ab den 1750er Jahren nahm der Einfluß der „Patrioten“ allmählich zu, weil sie eine lose Allianz mit der lauter werdenden außerparlamentarischen Kritik von der Peripherie der Ascendancy bildeten. Mit der Verstetigung des britischen Einflusses nach Townshends Reformen Ende der 1760er Jahre stieg außerdem die Be- begriffen, was jedoch weder ausschließen soll noch kann, daß die Anglo-Iren – als Kollektiv oder als Individuen – subjektiv von der Richtigkeit dieser Vorstellung überzeugt waren. 218 Daher unterlagen Swifts Popularisierungsprojekt auch gewissen Grenzen: Seine Schriften überwanden zwar die sozialen Grenzen innerhalb des anglikanischen Bevölkerungsteils, aber nicht die konfessionellen Grenzen in der irischen Gesamtbevölkerung. Vgl. Beckett, Literature, S. 458f. 219 Beckett, Making, S. 192. Vgl. auch die konzise Definition der ‚Patrioten‘ bei M. Elliott, Ireland, in: O. Dann/J. Dinwiddy (Hgg.), Nationalism in the Age of the French Revolution, London 1988, S. 71-86, Anm. 2, S. 71: „The Irish ‚Patriots‘ of the mid to late 18th century closely resembled ‚patriots‘ elsewhere. They worked within existing constitutional, social and political confines to achieve gradual improvement. They did not seek any dramatic overhaul of the system and did not identify the people as a whole with the political nation. J.C. Beckett disputes the term ‚colonial nationalism‘ with some justification, pointing out that the ‚patriots‘ saw themselves as speaking on behalf of an ancient nation rather than founding a new one. They did so, however, only by a peculiar form of mental hypnosis which prevented them seeing the absurdity of such claims when two thirds of that ‚nation‘ were effectively excluded by their own legislation.“ 99 deutung der „Patrioten“ als gleichsam natürliches Gegengewicht gegen die britische Seite.220 Die außerparlamentarische Opposition an der Peripherie der Ascendancy. Jenseits der defensiven Opposition innerhalb der Ascendancy, bildete sich überdies bereits ab den 1720er Jahren ansatzweise eine semi-offizielle bzw. informelle politische Gegenöffentlichkeit heraus, die sich gegen die Korruption der Ascendancy verwahrte. Angesichts der extremen Exklusivität des kolonialen Herrschaftssystems stellte diese Gegenöffentlichkeit aus freigeistigen Debattierklubs, Lesezirkeln, regimekritischen Zeitungen und Journalen, aber auch Geheimbünden und der in Dublin konzentrierten, sich in Demonstrationen und Unruhen äußernden Volksmeinung das einzige Ventil einer radikal-regimekritischen Opposition gegen die Ascendancy dar. Darum muß nun zur Abrundung der Entwicklungsprozesse politischer Herrschaft in Irland während des 18. Jahrhunderts ein Blick auf die Entstehung und allmähliche politische Etablierung der peripheren Opposition gegen das Kolonialregime geworfen werden. Die periphere Opposition: Charles Lucas. Die periphere Kritik an der Ascendancy äußerte sich erstmals in der Lucas-Affäre Ende der 1740er Jahre. Ihren Ausgang nahm sie im Widerstand der Dubliner Freemen221 gegen das Monopol der Aldermen222 bei der Vergabe von Posten in der Dubliner Stadtverwaltung. Die Gruppe, die sich gegen das Übergewicht der Aldermen zur Wehr setzte, wurde von einem Dubliner Apotheker namens Charles Lucas223 geführt. Als 1748 beide Dubliner Abgeordneten im Unterhaus verstarben, ergab sich für Lucas und seine 220 Vgl. Beckett, ebd. ‘Freeman’ (Freisasse) ist eine Bezeichnung für die wahlberechtigten Bürger eines Wahlbezirks. Wie in allen ‚Corporation boroughs’ wurde das Wahlrecht in Dublin vom Stadtrat verliehen. 222 ‘Aldermen’ wurden die 24 auf Lebenszeit gewählten Mitglieder des Exekutivausschuß des Dubliner Stadtrats genannt, der zusammen mit den 144 Mitgliedern des Gemeinen Rats, der aus Vertretern der Gilden und den ehemaligen Amtinhabern des Sheriffsamt bestand, die Stadtregierung Dublins bildeten. Der Ausschuß der Aldermen wurde von einem kleinen, aber mächtigen Netzwerk anglikanischer Kaufleute und Bankiers dominiert. Vgl. McCracken, Political Structure, S. 81; Dickson, New Foundations, S. 87. 223 Charles Lucas (1713-1771): “Patriot”; 1713 in Co. Clare geboren; ließ sich als Apotheker in Dublin nieder; veröffentlichte 1735 ein Pamphlet gegen Mißbräuche im Medikamentenverkauf, das zur Verabschiedung eines Medikamentenkontrollgesetzes führte; Mitglied des Stadtrats, führte Kampagne gegen Korruption der Aldermen und befürwortete parlamentarische Unabhängigkeit; floh 1749 vor seiner Verhaftung auf das europäische Festland, 1752 in Leiden zum Doktor der Medizin promoviert, praktizierte erfolgreich als Arzt in London 1753-1761; kehrte 1761 nach Dublin zurück, wurde ins Unterhaus gewählt und behielt seinen Sitz bis zu seinem Tod 1771. Einer der Anführer der „Patrioten“ in den 1760er Jahren, vertrat die Interessen des Dubliner Handelsmittelstands gegen die Grundbesitzer, versuchte die Konkurrenz katholischer Kaufleute auszuschalten. 221 100 Gefolgsleute eine günstige Gelegenheit, die arrivierte Dubliner Oberschicht herauszufordern.224 Im Wahlkampf für die Nachwahlen der beiden Abgeordneten, der 14 Monate dauerte, zog er alle Register, um die etwa 4.000 Dubliner Wähler davon zu überzeugen, die Kandidaten der Aldermen abzulehnen.225 Über 150 Pamphlete wurden von beiden Seiten während dieser Kampagne veröffentlicht, allein Lucas bombadierte die Dubliner Freemen mit über 30 Flugschriften.226 Bereits 1747 hatte er mit der Publikation eines Wochenblatts – The Citizen’s Journal – begonnen, im Wahlkampf gründete er zusätzlich die erste radikale Dubliner Zeitung, The Censor.227 In seinen Veröffentlichungen schlug seine Kritik immer weitere Kreise: Ausgehend von der kommunalen Korruption beschäftigte er sich alsbald auch mit den britischen Eingriffen in die Kommunalpolitik Dublins, griff englische Handelsrestriktionen in Irland an und machte schließlich auch vor der konstitutionellen Frage nicht mehr Halt.228 Unter Berufung auf Molyneux und Swift brachte er deren Argumente erneut vor – allerdings mit veränderter Stoßrichtung: Zum ersten Mal war die defensive Opposition von der Peripherie der Ascendancy gegen ihr Zentrum, den harten Kern der Kolonialelite, gerichtet. Durch diesen Angriff machte sich Lucas zum politischen Paria; das Parlament erklärte ihn noch vor der Wahl zum Staatsfeind und ordnete seine Verhaftung an, der er sich nur durch die Flucht aus europäische Festland entziehen konnte.229 Bei der Dubliner Bevölkerung, den Gilden und auch bei den Wahlberechtigten war er jedoch ungeheuer beliebt: ‚Seine’ Kandidaten erhielten in der Wahl ungefähr die Hälfte der Stimmen aller Dubliner Wahlberechtigten230 – ein enormer Erfolg, wenn man die Möglichkeiten der Ascendancy zur Wahlbeeinflußung einkalkuliert. In der Sache selbst brachte Lucas zwar keine neuen Argumente vor, aber er war ein Meister der Mobilisierung, dem es fast im Alleingang gelang, in Dublin eine politische Gegenöffentlichkeit zu installieren. Darüber hinaus bot er durch die neue Stoßrichtung, die er den alten Argumenten Molyneuxs und Swifts verlieh, potentiellen Nachfolgern Ansatzpunkte für eine Ausdehnung der Opposition. 224 Dickson, New Foundations, S. 87. Ebd., S. 88. 226 Ebd. 227 Beckett, Making, S. 192; Dickson, ebd. 228 Beckett, ebd.; Dickson, ebd.; McCracken, Rise of Colonial Nationalism, S. 118. 229 Dickson, ebd., S. 89, Foster, Modern Ireland, S. 239. 230 Dickson, ebd. 225 101 Dank seiner Beliebtheit in Dublin gelang Lucas ein bemerkenswertes politisches Comeback: Amnestiert kehrte er 1761 nach Dublin zurück, als in Irland wegen des Amtsantritts Georgs III. Parlamentswahlen anstanden und zog prompt als einer der beiden Dubliner Abgeordneten ins irische Unterhaus ein.231 1763 war er an der Gründung des Freeman’s Journal beteiligt, das in der nächsten Dekade das Sprachrohr des „independent interest“ darstellen sollte und für das er regelmäßig Beiträge lieferte.232 Mit seinem Einzug ins Parlament, wo er zusammen mit Henry Flood233 im Unterhaus und Lord Charlemont234 im Oberhaus während der 1760er Jahre den Führungszirkel der „Patrioten“ bildete, vollzog Lucas die Zusammenführung der außerparlamentarischen mit der „Patrioten“-Opposition.235 Die regimekritische Gegenöffentlichkeit verfügte fürderhin über eine Bastion im Parlament, während die „Patrioten“-Fraktion dank der Unterstützung durch die informelle politische Gegenöffentlichkeit politischen Einfluß gewann, der deutlich über ihrem numerischen Abstimmungsgewicht im Unterhaus lag. Triumph und Scheitern der Allianz aus außerparlamentarischer und „Patrioten“-Opposition (1782-1783). Ihren größten Erfolg feierte die Allianz aus außerparlamentarischer und „Patrioten“-Opposition in „Grattan’s Revolution“ von 1782, in welcher der Kolonialmacht Großbritannien die – nominelle! – legislative Unabhängigkeit des irischen Parlaments abgerungen wurde. Tatsächlich bildeten die oppositionellen Aktivitäten in Irland jedoch lediglich das sprichwörtliche I231 Ebd., S. 128; Foster, Modern Ireland, S. 239. Lydon, Making, S. 240. 233 Henry Flood (1732-1791): Staatsmann und Redner; unehelicher Sohn Warden Floods, eines Chief Justice von King’s Bench; genoß juristische Ausbildung in Trinity College Dublin, Oxford und am Inner Temple in London; kehrte 1759 nach Irland zurück; wurde im gleichen Jahr Abgeordneter für Co. Kilkenny; wurde Redeführer der „Patrioten“, stellte 1768 die Verabschiedung des Octennial Act sicher; wurde 1775 zum Vizeschatzmeister ernannt, was ihm viel Kritik eintrug; sprach sich 1779 für Freihandel aus und wurde Oberst bei den Volunteers; wurde 1781 des Amtes enthoben und kehrte in die Opposition zurück, wo Grattan mittlerweile seine Rolle übernommen hatte, zieht den kürzeren im Konflikt mit Grattan; kaufte sich daraufhin 1783 ins englische Unterhaus ein, wo er keinen Fuß fassen konnte; wurde 1790 nicht wiedergewählt und zog sich aus der Politik auf seinen irischen Landsitz zurück, wo er 1791 starb; Gegner der katholischen Emanzipation; Befürworter von Parlamentsreformen. 234 Lord Charlemont (1728-1799): „Patriot”; geboren in Dublin, genoß Privatunterricht; bereiste zwischen 1746 und 1754 Europa; zeichnete sich 1760 gegen die Franzosen bei Carrickfergus aus; 1763 zum Earl ernannt; residierte zwischen 1764 und 1773 in London; kehrte nach Dublin zurück, weil er es für seine patriotische Pflicht hielt, in Irland zu leben; Förderer der Künste; 1780 zum Oberkommandierenden der Volunteers bestimmt; 1785 Mitbegründer der Royal Irish Academy; unterstützte Grattan in der Regentschaftskrise, 1780 Mitbegründer des Whig Club; gegen katholische Emanzipation und die Union. 235 Beckett, Making, S. 198. 232 102 Tüpfelchen in einer einmaligen Konstellation, die von den britischen Niederlagen während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges und parteipolitischen Auseinandersetzungen in Großbritannien herbeigeführt wurde und die der angeschlagenen britischen Kolonialmacht nicht mehr erlaubte, die vollständige Kontrolle in Irland zu bewahren. Der ungünstige Verlauf des Krieges gegen die ehemaligen amerikanischen Kolonien, in den sich 1778/9 auch Frankreich und Spanien auf amerikanischer Seite einmischten, zwang Großbritannien dazu, Truppen aus Irland abzuziehen, um sie in den Kampf in den transatlantischen Kolonien zu werfen.236 Aus Furcht vor einer französischen Invasion in Irland gründete die protestantische Bevölkerung ab 1778 Freiwilligenverbände – die sogenannten Volunteers –, die ursprünglich die Aufgabe übernehmen sollten, die irischen Grenzen zu schützen und im Inneren für Ruhe und Ordnung zu sorgen.237 In der Freiwilligenbewegung spielten von Anfang an regimekritische Presbyterianer eine prominente Rolle: Die erste Freiwilligenkompanie wurde am 17.3.1778 in Belfast ins Leben gerufen.238 Die Volunteers füllten das relative Machtvakuum, das der Abzug der britischen Regierungstruppen hinterlassen hatte: Die militärische Gewalt wurde nun nicht mehr vom Kolonialapparat kontrolliert, sondern lag in den Händen einer kritischen Öffentlichkeit.239 Diese Situation eskalierte rasch, weil die öffentliche Meinung in Irland dem Feldzug gegen die amerikanischen Kolonisten von Anfang an sehr kritisch gegenüberstand.240 Insbesondere im presbyterianischen Norden regte sich Unmut, dort wurde der Krieg für einen Akt des „sträflichsten, nicht provozierten Despotismus“ gehalten.241 Britische Versuche, die Versorgung der Armee mit Lebensmitteln zu sichern, indem sie irische Exportrechte beschnitten, sorgten dafür, daß sich die Kritik verschärfte und ausdehnte. Nun protestierten auch Händler und Kaufleute aller Konfessionen, weil sie sich um das gewinnträchtige Geschäft mit kriegswichtigen Gütern geprellt sahen. Die Volunteers griffen diese Proteste wiederum auf und lancierten am 4.11.1779 (also am symbolträchtigen Datum des Geburtstag Wilhelms III.) in Dublin eine große Kundge236 Dickson, New Foundations, S. 142; McDowell, Protestant Nation, S. 232. Connolly, Companion, S. 581. 238 Beckett, Making, S. 211. 239 R.B. McDowell, The Protestant Nation (1775-1800), in: Moody/Martin, Course, S. 232-247, S. 233: „Armed force – the ultimate arbitrator – was no longer controlled by the government, but by the politically-minded public.” Vgl. auch Lydon, Making, S. 247. 240 Dickson, New Foundations, S. 142-144. 241 Tesch, Radicalism, S. 43f., Zitat S. 43. 237 103 bung gegen britische Handelsrestriktionen.242 Als die britische Seite nach langem Zögern im Februar 1780 endlich zurückruderte und unter dem Druck der öffentlichen Meinung Irland freien Handel mit den britischen Kolonien einräumte, war es bereits zu spät, um die Proteste einzudämmen.243 Im irischen Parlament forderte Henry Grattan,244 der Redeführer der „Patrioten“, am 19.4.1780 die legislative Unabhängigkeit Irlands.245 Mit Hilfe ihrer gekauften Placemen gelang es Dublin Castle zwar, diese Forderung vorläufig zu stoppen, aber selbst die Ascendancy favorisierte die legislative Unabhängigkeit, weil sie ihren Einfluß vergrößerte. Um einen Keil in die Oppositionsfront zu treiben, machte das Kolonialregime gezielt Zugeständnisse: Am 2. Mai 1780 wurde der Sacramental Test für Dissenter aufgehoben.246 Das beeindruckte das radikale Element in der presbyterianischen Bevölkerung angesichts der britischen Niederlage bei Yorktown indes wenig: Im Februar 1782 traten in Dungannon etwa 250 Delegierte der presbyterianischen Freiwilligenverbände Ulsters zusammen, um über Parlamentsreformen zu beraten.247 Damit wuchs die Gefahr, daß dem irischen Parlament die legislative Autorität entglitt.248 Gleichzeitig führte ein Kabinettswechsel in Großbritannien dazu, daß der britische Widerstand gegen die legislative Unabhängigkeit Irlands abnahm: Der konservative Premier North mußte seinen Hut nehmen, sein liberaler 242 Beckett, Making, S. 216f; Dickson, New Foundations, S. 151; Lydon, Making, S. 246f. Beckett, ebd., S. 218; Maurer, Geschichte Irlands, S. 168. 244 Henry Grattan (1746-1820): berühmter irischer „Patriot“, Sohn eines Dubliner Juristen und Unterhausabgeordneten für Dublin City; am Trinity College ausgebildet, Zulassung als Anwalt 1772, ab 1775 Unterhausabgeordneter zunächst für das Borough Lord Charlemonts, ab 1790 für Dublin City. Redeführer der „Patrioten“ und berühmter politischer Redner, nutzte die Freiwilligenbewegung und Freihandelskampagne dafür, im irischen Parlament die legislative Unabhängigkeit Irlands durchzusetzen („Grattan’s Revolution“ von 1782). Whig und gemäßigter Befürworter der katholischen Emanzipation, lehnte alle politischen Ämter ab, um den Anschein der Kooptation durch das Kolonialregime zu vermeiden; unterstützte nach 1782 als unabhängiger Abgeordneter die Politik der Regierung, ging aber bereits 1785 wieder in die Opposition, trat 1797 aus Protest gegen die politische Linie der Regierung zwischenzeitlich aus dem Parlament aus, kehrte 1799 aber zurück, um gegen die staatliche Vereinigung Irlands mit Großbritannien (Act of Union) Widerstand zu leisten; startete im britischen Parlament eine zweite Karriere (1805-1820), wo er weiterhin für die gemäßigte katholische Emanzipation kämpfte und Whig-Positionen vertrat. 245 Beckett, Making, S. 219. 246 Tesch, Radicalism, S. 44. 247 Beckett, Making, S. 222; Dickson, New Foundations, S. 153f.; Lydon, Making, S. 247. 248 Die Volunteer-Delegierten in Dungannon ließen keinen Zweifel daran, daß sie bereit waren, Reformen notfalls auch unter Umgehung des Parlaments herbeizuführen. Mit ca. 80.000 Mann unter Waffen (Vgl. Dickson, ebd., S. 153) konnten die Volunteers nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Der Schlußteil ihrer Adresse an das Parlament enthielt eine unverhohlene Drohung: „We know our duty to our sovereign, and are loyal. We know our duty to ourselves, and are resolved to be free. We seek for our rights, and no more than our rights, and, in so just a pursuit, we should doubt the being of a Providence, if we doubted of success.” Zitiert nach Beckett, Making, S. 222. 243 104 Nachfolger Rockingham stand irischen Autonomiebestrebungen aufgeschlossener gegenüber – auch weil er vermeiden wollte, daß Irland sich in ein zweites Amerika und damit in ein weiteres britisches Fiasko verwandelte.249 Rockingham setzte sofort ein Zeichen, indem er einen ausgewiesenen Liberalen, den Herzog von Portland, zum neuen Lord Lieutenant ernennen ließ.250 In dieser Situation ging alles plötzlich sehr schnell: Als das Parlament nach der Osterpause wieder zusammentrat wurde Grattans dritte Vorlage zur legislativen Unabhängigkeit am 16.4.1782 von beiden Häusern des irischen Parlaments sofort einstimmig angenommen.251 Im Juni widerrief das britische Parlament den Declaratory Act und im Juli wurde Poynings’ Law vom irischen Parlament durch Yelverton’s Act modifiziert: Der Krone blieb lediglich ein Vetorecht vorbehalten und die beiden Kronräte verloren ihr legislatives Interventionsrecht.252 Die Ascendancy, die natürlich weiterhin das irische Parlament dominierte, war damit auf dem Höhepunkt ihrer Macht angelangt.253 Genau das aber war den Volunteers, die durch ihre Rolle in den politischen Ereignissen mittlerweile zur Speerspitze der außerparlamentarischen Opposition avanciert waren, ein Dorn im Auge: Man hatte nicht der Kolonialmacht die legislative Autonomie Irlands abgetrotzt, bloß um der Ascendancy eine noch hemmungslosere Selbstbedienung zu gestatten. Die Volunteers betrachteten die legislative Autonomie lediglich als Sprungbrett für weitere Reformen. Moderate Volunteers wie Lord Charlemont plädierten dafür, den „Patrioten“ im Parlament diese Aufgabe zu überlassen. Radikalere Köpfe wie Henry Flood vertraten eine skeptischere Linie: Notfalls müsse man das Parlament zu Reformen zwingen. Die Radikalen setzten sich durch: Im November 1783 wurde in der Rotunda in Dublin ein nationaler Volunteerkongreß abgehalten, auf dem Wahlrechtsreformen und Parlamentsreformen debattiert und ein Reformkonzept ausgearbeitet wurde, das in der Hauptsache auf Floods Ideen beruhte.254 Nachdem die Versammlung nach dreiwöchiger Beratung am 29. November endlich einen Reformplan verabschiedet hatte, marschierte Flood, der auch einen Sitz im Unterhaus hatte, damit stante pede ins nur 249 McDowell, Protestant Nation, S. 234f. Außerdem hatte Rockingham bereits seit langem mit der irischen Opposition kooperiert. Vgl. Maurer, Geschichte Irlands, S. 169. 250 Beckett, Making, S. 223. 251 Ebd.; Dickson, New Foundations, S. 154. 252 Dickson, ebd., S. 154f.; Maurer, Geschichte Irlands, S. 169f. 253 Maurer, Geschichte Englands, S. 307; ders., Geschichte Irlands, S. 169f. 105 eine halbe Meile entfernte irische Parlament.255 Noch in seiner Volunteeruniform präsentierte er dort den Reformplan als Gesetzeseingabe „für eine ausgewogenere (more equal) Repräsentation des Volkes im Parlament“.256 Barry Yelverton, selbst ein profilierter „Patriot“, legte sofort Widerspruch gegen Floods Vorgehensweise ein: „Wir sitzen hier nicht, um die Edikte einer anderen Versammlung zur Kenntnis zu nehmen oder um Vorschläge auf der Spitze eines Bajonetts entgegenzunehmen.“257 Die Repräsentanten der Ascendancy äußerten sich gleichfalls empört: John Fitzgibbon fuhr Flood in die Parade, das Leben sei es nicht wert vom Willen eines bewaffneten Demagogen abzuhängen.258 Die furiose Debatte, die nun ausbrach, endete nachts um drei Uhr mit einem deutlichen Abstimmungsergebnis: Mit 157 zu 77 Stimmen lehnte das Unterhaus ab, Floods Gesetzesentwurf zu akzeptieren.259 Im Anschluß daran verabschiedete das Unterhaus noch zwei Resolutionen, in der die „perfekte Befriedigung“ mit dem konstitutionellen Status quo und die Verwahrung gegen jegliche äußere Einmischung in die Amtsgeschäfte des Parlaments zum Ausdruck gebracht wurde.260 Selbst Grattan, der Floods Gesetzentwurf unterstützt hatte, stimmte für diese beiden Resolutionen.261 Damit war die oppositionelle Allianz gescheitert: Die Volunteers waren zwar über die Reaktion des Parlaments empört, konnten sich aber unter der Führung des moderaten Charlemont auf keine aggressive Linie verständigen und lösten die Versammlung in der Rotunda sine die auf.262 Die Gründe für dieses Scheitern liegen in der Position der „Patrioten“: Die „Patrioten“-Opposition war zwar an einer Eindämmung des britischen Einflusses interessiert, die ihre Machtposition im Parlament verstärkte, nicht aber an grundlegenden Reformen, die den politischen Stellenwert des irischen Parlaments reduzierten. Darum waren sie nach der Abschaffung von Poynings‘ Law auch saturiert und schwenkten sofort ein, um mit der Ascendancy gemeinsame Sache für die Verteidigung des irischen Parlaments gegen die politi- 254 Beckett, Making, S. 231; McDowell, Protestant Nation, S. 235. Beckett, ebd. 256 Ebd. 257 Zitiert nach ebd. (meine Übersetzung) 258 Lydon, Making, S. 249. 259 Beckett, Making, S. 232; Lydon, ebd., S. 249. 260 Beckett, ebd. 261 Ebd. 262 Ebd.; Lydon, Making, S. 249. 255 106 schen Forderungen der von den Volunteers vertretenen bürgerlichen Öffentlichkeit zu machen. 107 2. Ökonomische und soziale Konfliktstrukturen in Irland (1691-1782) Einleitung. Die ökonomische und soziale Sphäre der irischen Gesellschaft war während des 18. Jahrhunderts nicht minder kolonial überformt als die politische. Darum wird in diesem Kapitel zunächst danach gefragt, welchen spezifischen Beitrag koloniale Wirtschaftsbedingungen zur Entstehung gesellschaftlicher Konfliktpotentiale beisteuerten, indem die Genese und Entwicklung zentraler ökonomischen Gegensätze in der irischen Gesellschaft rekonstruiert wird. Erst im zweiten Schritt erfolgt dann die Annäherung an den Bereich der sozialen Ungleichheit.263 Die Sozialstruktur264 der irischen Gesellschaft im 18. Jahrhundert ist als Resultat anderer gesellschaftlicher Entwicklungsfaktoren zu betrachten, unter denen im vorliegenden Fall besonders koloniale und wirtschaftliche Faktoren hervorstechen. Daher bietet es sich an, erst die ökonomischen Entwicklungen zu analysieren,265 bevor man die daraus resultierenden sozialen Konsequenzen – vor allem soziale Friktionen zwischen kolonial oder ökonomisch fundierten Bevölkerungsgruppen – erörtert. Die Voraussetzung hierfür ist allerdings, daß man sich eingangs einen Überblick über die grundsätzlichen Wirtschaftsparameter der irischen Gesellschaft verschafft. Diese Aufgabe ist aufgrund der Quellenlage und historiographischer Umstände jedoch nicht einfach zu lösen. Zentrale wirtschaftsgeschichtliche Quellen über das 18. Jahrhundert wurden der Öffentlichkeit überhaupt erst im Zuge der Öffnung des Public Record Office of Ireland im Jahr 1867 zugänglich gemacht.266 Nur wenige irische Historiker wagten sich an diesen ungeordneten Bestand und nur einer – JAMES ANTHONY FROUDE – mit dem Ziel, eine umfassende Analyse gesellschaftlicher (also auch wirtschaftsgeschichtlicher und sozialer) Entwicklun263 In Anlehnung an H.-U. Wehler wird ‚soziale Ungleichheit’ definiert als das „Ergebnis des Zusammenwirkens von ungleicher Macht- und Herrschaftsverteilung, ökonomischer Lage und kulturellen Entwürfen der Weltdeutung.“ Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1, S. 11. 264 Definiert als „Gesamtheit der relativ dauerhaften Grundlagen und Wirkungszusammenhänge sozialer Beziehungen und der sozialen Gebilde (Gruppen, [Schichten – MR], Institutionen und Organisationen) in einer Gesellschaft“, wobei die Gesellschaft als Gesamtheit eines gegebenen oder vorgestellten Beziehungsgefüges von einzelnen, aber in interaktivem Austauschverhältnis stehenden Komponenten begriffen wird. Vgl. Schäfers, Grundbegriffe, S. 330-332, Zitat S. 330. 265 Wobei ‚Wirtschaft’ kurz und bündig als Strukturen und Prozesse der Produktion, Distribution und Konsumption ‚knapper’ gesellschaftlicher Ressourcen (Waren und Dienstleistungen) definiert wird. Vgl. Schäfers, Grundbegriffe, S. 438. 108 gen vorzulegen.267 Nachfolgende Historiker am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts – darunter auch der bedeutendste irische Historiker des 19. Jahrhunderts, W.E.H. Lecky – orientierten sich an seinen Thesen, so daß bis zur Zerstörung des Public Record Office of Ireland im irischen Bürgerkrieg 1922, in der wichtige Quellen für immer verloren gingen, kein substantieller theoretischer oder methodischer Fortschritt der irischen Wirtschaftsgeschichte zu verzeichnen ist.268 Durch die Aktenvernichtung wurde FROUDES Monopolstellung weiter zementiert: Seine Thesen, die bis 1922 nicht grundlegend kritisch überprüft worden waren, entzogen sich nun scheinbar aus quellentechnischen Gründen der Kontrolle.269 Erst in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre gingen revisionistische irische Wirtschafts- und Sozialhistoriker daran, FROUDES Thesen auf den Prüfstand zu stellen, zu modifizieren und sukzessive zu neuen Interpretationen vorzustoßen.270 FROUDES Kernthese war, daß britisches Mißmanagement und mangelnde britische Unterstützung für die anglo-irischen Kolonisten den Hauptgrund für die wirtschaftliche Zurückgebliebenheit der irischen Gesellschaft darstellten.271 Er zeichnete das düstere Bild einer anarchischen, korrupten und gesetzlosen Gesellschaft, in der die anglikanische Kolonie zusehends verfiel, der Absentismus der Landbesitzer stieg, der Schmuggel florierte und alle anglo-irischen Bemühungen, in Irland eine florierende Wirtschaft aufzubauen, ‚englischem Neid’ zum Opfer fielen.272 Außerdem sei durch die absichtliche Nichteinhaltung der Strafgesetze gegen die Katholiken der Präsenz der protestantischen Anglo-Iren jede zivilisatorische Qualität genommen worden.273 Spätestens bei dieser letzten These horcht der Leser auf: FROUDE war ein Ascendancy-Hardliner, ein anti-katholischer Falke. 266 L.M. Cullen, Economic Development, 1691-1750, in Moody/Vaughan, History of Ireland 4, S. 123-158, S. 123. (Fortan zitiert als: Cullen, ED I) 267 Vgl. J.A. Froude, The English in Ireland in the 18th Century, 3 Bde, London 1872-74. 268 So zumindest das Urteil von L.M. Cullen, der als einer der profiliertesten Kenner der irischen Wirtschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts gilt. Vgl. Cullen, ED I, S. 127-129. Ähnlich auch S.J. Connolly, 18th Century Ireland – Colony or Ancien Régime, in: Boyce/O'Day, Making, S. 15-33, S. 17f. Zu Cullens Standing in der Debatte vgl. Connolly, ebd., S. 20-22. 269 Cullen, ebd., S. 123-130. 270 Connolly, 18th Century Ireland, S. 20-23. 271 Connolly, Companion, S. 210; Cullen, ED I, S. 124. 272 Froude, English in Ireland. Zum Absentismus vgl. Bd. 1 S. 277, Bd. 2, S. 22; zum Schmuggel vgl. Bd. 1, S. 446-498; zum zivilisatorischen Einfluß der englischen Kolonie in Irland und ihrem Verfall vgl. Bd. 1, S. 499f.; zu englischen Handelsrestriktionen vgl. Bd. 1, S. 263-268, 395, 398401; zur Gesetzlosigkeit vgl. Bd. 1, S. 408-445. 273 Froude, Bd. 1, S. 378. Antikatholische Bemerkungen sind in Froudes Werk so zahlreich, daß kein Seitennachweis möglich ist. Man nehme einfach einen der drei Bände zur Hand, öffne ihn an beliebiger Stelle und sobald die Sprache auf Katholiken kommt, hagelt es Invektiven. 109 Um so erstaunlicher ist es, daß seine Interpretationen zumindest partiell auch noch nach der Unabhängigkeit Irlands salonfähig waren. Die republikanisch-irische Nationalgeschichtsschreibung übernahm natürlich nicht den anti-katholischen, sehr wohl aber den anti-englischen Argumentationsstrang. Als Paradebeispiel dieser nationalistischen Wirtschaftsgeschichtsschreibung kann GEORGE O’BRIENs Economic History of Ireland in the 18th Century von 1918 gelten.274 O’BRIEN konstruierte einen scharfen Kontrast zwischen der Zeit vor und nach „Grattan’s Revolution“: Seiner Interpretation zufolge wurde die irische Wirtschaft bis 1782 durch britische Interventionen vollständig ruiniert, während ab 1782 – angeblich aufgrund der Befreiung vom britischen Protektionismus – in Irland ein Wirtschaftsboom einsetzte.275 Leider ignoriert diese These vollständig das ökonomische Langzeitwachstum, das sich in signifikanten Änderungen in der irischen Infrastruktur, der Landbewirtschaftung und dem enormen Wachstum der Leinenproduktion niederschlug.276 Aus dieser ideologischen Belastung der irischen Wirtschaftsgeschichte, deren tatsächlicher Umfang hier nur angedeutet werden konnte, ergibt sich zwingend die Notwendigkeit, zunächst die grundlegenden wirtschaftlichen Entwicklungslinien und Faktoren zu identifizieren und zu gewichten. a) Grundlegende Entwicklungslinien der irischen Wirtschaft (1691-1782) Vier Faktoren waren für die Entwicklung der irischen Wirtschaft während des 18. Jahrhunderts von zentraler Bedeutung: Irlands agronomische Wirtschaftsbasis, das Bevölkerungswachstum, der Aufstieg der Textilproduktion zur Leitbranche der irischen Volkswirtschaft sowie die kolonialen Rahmenbedingungen, unter denen Wirtschaft betrieben wurde. Alle anderen ökonomischen Entwicklungen sind daraus entweder direkt ableitbar oder aber aus dem Wechsel zwischen diesen vier Faktoren erklärbar. Hier werden zunächst nur die ersten drei Faktoren abgehandelt, die kolonialen Wirtschaftsbedingungen, die im Zentrum des Interesses stehen, werden separat diskutiert. 274 Connolly, 18th Century Ireland, S. 17. G. O’Brien, The Economic History of Ireland in the 18th Century, Philadelphia 1977 (Reprint der Originalausg. 1918), S. 173-289. 276 Cullen, ED I, S. 130. 275 110 Die agronomische Wirtschaftsbasis. Durch Irlands Mangel an ausreichend großen Kohle- und Eisenerzvorkommen – den conditiones sine quibus non für die Industrialisierung im Nachbarland Großbritannien – war die irische Volkswirtschaft primär auf die Landwirtschaft angewiesen. Durch diese Abhängigkeit, die nicht nur die Ernährung der Bevölkerung, sondern auch das irischen Manufakturwesen betraf, das zum überwiegenden Teil von der Weiterverarbeitung landwirtschaftlicher Produkte lebte, entstand ein klassisches „Bottleneck“-Dilemma: Wegen der relativen Inelastizität der Ressource Land ging die Expansion industriell verwendeter Anbauflächen (für Flachs, Hopfen, Hanf etc.) stets zulasten der für die Subsistenz benötigten Ackerfläche. Da der Landamelioration aufgrund der Feuchtigkeit und Qualität der Böden enge Grenzen gesetzt waren, ließ sich die Gesamtproduktivität der Landwirtschaft schließlich nur noch auf zwei Arten steigern: Entweder durch Erhöhung des Arbeitseinsatzes (wobei eine sinkende Produktivitätsrate pro Kopf in Kauf genommen werden mußte) oder durch die Subsitution des variablen durch konstantes Kapital (d.h. durch Maschinen oder effizienzsteigernde technische Neuerungen). Insgesamt bedeutete die landwirtschaftliche Fundierung der irischen Wirtschaft daher, daß eine finite Wachstumsgrenze vorgegeben war: Wirtschaft und Bevölkerung konnten nur in dem Maß wachsen wie es die Erträge des Bodens erlaubten – eine malthusianische Banalität mit beträchtlichen Konsequenzen, wie sich während der Hungerkrisen des 18. Jahrhunderts immer wieder zeigte. Die zweite Folge der agronomischen Wirtschaftsbasis war eine regionale Differenzierung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und Performanz nach klimatischen Voraussetzungen und der Qualität der Böden. Grob vereinfacht verfügten der Osten und Südosten Irlands – also Leinster und Ostmunster – über fruchtbareren Boden und weniger Niederschlag, während der Boden vor allem im Westen, in Connacht, weniger fruchtbar ist und das Klima deutlich feuchter.277 Diese Unterschiede hatten Folgen für die Bewirtschaftungsformen: Die kommerzielle, marktorientierte Landwirtschaft konzentrierte sich im Osten und Südosten, während die Subsistenzlandwirtschaft ihren Schwerpunkt im Westen hatte.278 277 Andrews, Geographer’s View, S. 19. Dickson, New Foundations, S. 99f; L. J. Proudfoot, Urban Patronage and Social Authority, The Management of the Duke of Devonshire’s Towns in Ireland, 1764-1891, S. 28f. 278 111 Das wiederum hatte Auswirkungen auf die sozialen Strukturen: Im Osten orientierten sich die Großgrundbesitzer an dem Ziel, möglichst hohe Marktprofite aus dem Ernten zu erzielen. Diese Marktorientierung galt auch für den Einsatz von Arbeitskräften: Durch langfristige Pachtverträge und die Verhinderung zu starker Unterteilung der Ackerfläche in zu kleine Parzellen wurde das Bevölkerungswachstum in dieser Region unter Kontrolle gehalten. So entstand eine Schicht kommerziell orientierter Groß- und Mittelpächter, die das Land mit ihrer Familie und während der Erntezeit mit der Hilfe von ein paar Spalpeens (SaisonLandarbeiter) bearbeiteten. Aufgrund der wachsenden Konkurrenz um Pachtverträge stieg auch das durchschnittliche Heiratsalter, weil zukünftige Pächter ihre Familienplanung hintanstellen mußten, bis es ihnen gelang, eine Pacht zu erwerben.279 Ganz anders dagegen stellt sich die Situation im Westen dar: Hier konnten die Großgrundbesitzer wegen der schlechteren Böden größere Profite aus einer extremeren Unterteilung des Landes ziehen als aus Ernteerträgen. Deshalb ging es in dieser Region vor allem darum, durch immer stärkere Parzellierung und kurze Laufzeiten der Pachtverträge die Pachteinkünfte zu maximieren.280 Langfristig resultierte diese Entwicklung jedoch zwangsläufig in sinkenden Pro-KopfEinkommen und drückte so große Teile der Landbevölkerung immer näher an das Existenzminimum – und in Zeiten schlechter Ernten auch deutlich darunter. Bevölkerungswachstum. Im Zeitraum von 1750-1845 war das irische Bevölkerungswachstum nach dem englischen und finnischen das dritthöchste in ganz Europa.281 Vor dem Hintergrund der Großen Hungersnot (1846-1850) ist dieser Entwicklung viel historiographische Beachtung zuteil geworden. Dennoch liegen das exakte Ausmaß, ja, selbst der zeitliche Beginn dieses Bevölkerungswachstums nach wie vor im Dunkeln, da vor dem irischen Zensus von 1821 keine verläßlichen Daten vorliegen. Alle Zahlen in der Literatur beziehen sich daher auf mehr oder weniger zuverlässige Kalkulationen auf der Basis von Haussteuerlisten. Nur soviel scheint sicher: In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wuchs die irische Bevölkerung nur langsam, stagnierte – besonders während der Rezession der 279 Proudfoot, Patronage, S. 28f.; kritisch gegenüber dem Konzept der ‘dual economy’ dagegen Smyth, Men, S. 24. 280 M. Beames, Peasants and Power, The Whiteboy Movements and Their Control in Pre-Famine Ireland, New York 1983, S. 3; Proudfoot, Patronage, S. 27. 281 C. Ó Grada, The Great Irish Famine, London 1989, S. 12. 112 1720er Jahre – oder war womöglich sogar leicht rückläufig (während der Hungerkrise der frühen 1740er Jahre), während sie in der zweiten Jahrhunderthälfte sehr dynamisch wuchs. Um eine ungefähre Vorstellung von der Größenordnung des Bevölkerungswachstums zu bekommen: Vom späten 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wuchs die Bevölkerung von etwa zwei auf rund fünf Millionen Menschen an, wobei diese beiden Zahlen lediglich als ungefähre Richtwerte aufgefaßt werden sollten. 282 Die Ursachen des Bevölkerungswachstums sind ebenfalls bis auf den heutigen Tag nicht abschließend geklärt. Darum muß es an dieser Stelle genügen, kurz einige Faktoren zu benennen, die eine Rolle in dem Prozeß spielten, ohne daß es möglich ist, das relative Gewicht der einzelnen Faktoren zueinander zu bestimmen.283 Überhaupt erst ermöglicht wurde das starke Bevölkerungswachstum 282 Kenneth Hugh Connell, der Pionier der irischen Demographiegeschichte, schätzt, daß die irische Bevölkerung zwischen 1687 und 1791 von 2,16 auf 4,75 Millionen anstieg. Hierbei ist von Bedeutung, daß wegen der Rezession der späten 1720er Jahre und der verheerenden Hungersnöte der 1740er Jahre das Bevölkerungswachstum stagnierte: zwischen 1725 und 1754 blieb die Bevölkerung bei etwa drei Millionen Menschen stehen. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zog das Bevölkerungswachstum dann an. Diese Zahlen Connells korrigierten traditionelle Schätzungen, die im gleichen Zeitraum von einem Bevölkerungswachstum von 1,3 auf 3,85 Millionen Menschen ausgingen Vgl. K.H. Connell, The Population of Ireland 1750-1845. Oxford 1950, S. 25. Durch nachfolgende Studien wurden Connells Zahlen aufgrund neuerer Erkenntnisse über die Quellen und ausgefeiltere Kalkulationsmethoden wieder nach unten korrigiert. Daltrey, Dickson und Ó Gráda nehmen in den kritischen 1740er Jahren eine effektive Bevölkerungsregression von 2,5 auf 1,9 Millionen Menschen an und siedeln das Bevölkerungsniveau in der ersten Jahrhunderthälfte bei deutlich unter drei Millionen an. Vgl. S. Daltrey u.a., 18th-Century Irish Population: New Perspectives from Old Sources, in: Journal of Economic History 41 (1981), S. 601-628, S. 624. Clarkson wiederum nahm keine Bevölkerungsregression an, während sich aber ansonsten seine Zahlen mit denen Daltreys und seiner Kollegen im wesentlichen decken. Vgl. L.A. Clarkson, Irish Population Revisited, 1687-1821, in: J.M. Goldstrom u. ders. (Hgg.), Irish Population, Economy, and Society. Oxford 1981, S. 13-35, S. 26. 283 Für das vor allem in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts einsetzende Bevölkerungswachstum hat man die unterschiedlichsten Gründe verantwortlich gemacht: das frühe Heiratsalter der vorwiegend katholischen Unterschichten, ihren Kinderreichtum, der durch die Umstellung der Ernährung auf eine billige, aber nahrhafte Kartoffel- und Milch-Diät ermöglicht wurde, eine konservative Sexualmoral, die keine Geburtenkontrolle in der Familie zuließ, ein Absicherungsbedürfnis der Eltern, für die Kinderreichtum eine Versicherungs- und Altersvorsorgefunktion gehabt haben kann, und fallende Mortalitätsraten. Fast alle diese möglichen Ursachen für das Bevölkerungswachstum sind aber mehr oder weniger heftig angezweifelt worden. Ó Gráda z.B. hält für die Zeit vor dem Großen Hunger fest, daß das AAM (average age at marriage) für Irland nicht besonders niedrig gewesen sei: 30 Jahre für Männer und 25,5 für Frauen. Vgl. C. Ó Gráda, The Great Irish Famine. London 1989, S. 12ff. Drake hält die Bedeutung des Heiratsalters ebenfalls für übertrieben, gibt das AAM aber niedriger als Ó Gráda mit 25 Jahren für Männer und 22 Jahren für Frauen an. Vgl. M. Drake, Population Growth and the Irish Economy, in: Cullen (Hg.), Formation of Irish Economy, Cork 1968, S. 65-76, S. 67, 75. Cullen wiederum hat der Nahrungsumstellung als alleinige Ursache für das Bevölkerungswachstum widersprochen und deutlich gemacht, daß eine Nahrungsumstellung auch auf die ökonomische Entwicklung der unteren Strata der Landbevölkerung zurückgeführt werden kann. Vgl. Cullen, Emergence, S. 140-171. Die Debatte zeigt, daß man in Bezug auf die Wirkung einzelner Ursachen des Bevölkerungswachstums über Spekulationen kaum hinauskommt. Mokyr und Ó Gráda zogen denn auch 1984 die insgesamt enttäuschende 113 durch die Umstellung der Ernährung der Landbevölkerung auf die Kartoffel. Die Substitution des Haferbreis, der Haferkuchen oder – in anderen Regionen – der Erbsen und Bohnen durch die Kartoffel hatte diverse Vorteile, die alle das Bevölkerungswachstum anheizten: Erstens ermöglichte es die Bewirtschaftung schlechterer Böden, weil die Kartoffel eine weniger anspruchsvolle Pflanze ist, zweitens konnte die gleiche Anbaufläche deutlich mehr Menschen ernähren, wenn Kartoffeln anstatt Hafer angebaut wurden, drittens bedurfte die Kartoffel nach der Ernte keiner weiteren Bearbeitung (sie mußte weder gedroschen noch gemahlen werden) und außerdem war die Ernährung aus Kartoffeln und Buttermilch außerordentlich gesund.284 Die Genügsamkeit der Kartoffel stimulierte die Nutzung feuchter und steiniger Böden, vergrößerte also zumindest vorübergehend leicht die Elastizität der Ressource Land. Gleichzeitig begünstigte der Ertragreichtum der Pflanze aber auch die Parzellierung des Landes – mit dem Ergebnis, daß die Bevölkerung weiter wuchs.285 Fallende Sterblichkeitsraten stellten den zweiten zentralen Faktor dar, der das Bevölkerungswachstum beeinflußte. Zum Teil mögen diese auch durch die gesunde Ernährung mitherbeigeführt worden sein, wichtiger scheint jedoch gewesen zu sein, daß Ernteausfälle seit den 1750er Jahren nicht mehr zu Hunger und Epidemien führten.286 Das wiederum hängt mit der Expansion der Leinenproduktion und den steigenden Einkünften vieler irischer Familien aus dem Verlagswesen – dem Spinnen und Weben von Leinenstoffen, das von den Frauen und Kindern besorgt wurde – zusammen: Dadurch entstand eine zusätzliche EinkommensquelBilanz: „As for the period surveyed here [das 18. Jahrhundert - MR], three decades of debate have not exhausted the questions raised by Connell. Many of the most interesting issues - the regional dimension, the role of rural industry, the importance of religious factors, the extent of pre-Famine adjustment to population pressure, the economic and social determinants of fertility and nuptiality - remain controversial.“ J. Mokyr u. C. Ó Gráda, New Developments in Irish Population History, 1700-1850, in: Economic History Review 37, 4 (1984), S. 473-488, S. 488. 284 Zur Gesundheit der Ernährung vgl. Beams, Peasants, S. 2; Ó Gráda, Irish Famine, Tabelle 1.3, S. 27, zum Unterschied im Ertrag vgl. Beames, ebd., der eine Kalkulation der Poor Inquiry Commissioners von 1830 vorlegt, wonach ein Acre (=ca 4050 qm) Anbaufläche mit Kartoffeln 1.920 Personen einen Tag ernähren kann, während die gleiche Anbaufläche Hafer nur 392 Personen ernährt. Nicht unterschlagen werden sollen auch die Nachteile des Kartoffelanbaus. Kartoffeln sind schlecht lagerbar und sie verursachen bei Beförderung höhere Transportkosten (vgl. Beames, Peasants, S. 3), so daß die Kartoffelbebauung notgedrungen lokalen Charakters war: Es war daher bei lokalen Engpässen unter den Transportbedingungen des 18. Jahrhunderts nicht möglich, schnell Entsatz zu schaffen. 285 Entsprechend war die Bevölkerungsdichte im Westen, der Kernregion der Subsistenzlandwirtschaft, ungefähr doppelt so hoch wie im Osten und Südosten, wo die kommerzielle Landwirtschaft dominierte. Vgl. Proudfoot, Patronage, S. 25f. 114 le, die Verluste aus der Subsistenzlandwirtschaft kompensieren konnte.287 Auch die Einkünfte aus der Leinenproduktion stimulierten jedoch die Parzellierung, weil nun weniger Land notwendig war, um eine Familie zu unterhalten. Das führte wiederum zu höherem Bevölkerungswachstum. Im Gegensatz zu den Ursachen sind die Folgen der demographischen Expansion mehr als deutlich: Unter den gegebenen Umständen bedeutete dynamisches Bevölkerungswachstum eine Verknappung der Ressource Land, entsprechend eine größere Konkurrenz zwischen den Kleinpächtern, die sich wiederum in schlechteren Pachtbedingungen, höheren Pachten, kleineren Parzellen und sinkenden Einkommen der Kleinpächter niederschlug.288 Das Zusammenspiel von agronomischer Wirtschaftsbasis und Bevölkerungswachstum setzte so eine Pauperisierungsspirale in Gang, die zwar im 18. Jahrhundert noch nicht zu einem Crash in der Größenordnung des Großen Hungers von 1846-50, aber gegen Ende des Jahrhunderts zu erheblichen sozialen Spannungen in der ländlichen Bevölkerung führte.289 Darüber hinaus senkte das Bevölkerungswachstum den Anreiz zur Technisierung der Landwirtschaft und verschlechterte das Investitionsverhalten der Großgrundbesitzer. Da Arbeitskräfte zahlreich vorhanden und dementsprechend billig waren, mußte zur Produktivitätssteigerung kaum in konstantes Kapital investiert werden.290 Darüber hinaus erklärt das Bevölkerungswachstum zusammen mit dem dynamischen Wirtschaftswachstum in der zweiten Jahrhunderthälfte auch das rasante Anwachsen der Städte: Je größer der Pauperisierungsdruck desto größer war auch die Anziehungskraft der Städte. Allein Dublins Bevölkerung wuchs 286 M.E. Daly, Social and Economic History of Ireland Since 1800, Dublin 1981, S. 5; Cullen, ED I, S. 149f. 287 Cullen, ebd., S. 148f. 288 Beckett, Making, S. 173. Die Landpresie stiegen zwischen den 1660er und 1790er Jahren um den Faktor 10. Vgl. Dickson New Foundations, S. 106 289 Wie groß die Armut war läßt sich anhand folgenden Zahlen exemplarisch ermessen: 1791/92 hatten 11 % der irischen Bevölkerung ein Bruttoeinkommen pro Kopf, das höher als 20 £ lag, 30 % ein Einkommen zwischen 20 und 5 £ und 59 % ein Einkommen von unter 5 £ pro Kopf. Vgl. Dickson, New Foundations, S. 98. 290 Es gab sicher Verbesserungen – den Einsatz von Düngemitteln, die Einfuhr ertragreicherer Rinder- und Pferderassen, ausgeklügeltere Formen der Anbaupflanzenrotation (vgl. Daly, History, S. 3; Proudfoot, Patronage, S.46-48) –, aber der technische Fortschritt blieb – insbesondere im Westen – unter seinen Möglichkeiten. Zu Verbesserungen, die von den Großgrundbesitzern durchgeführt wurden, vgl. auch ebd., S. 107f. 115 zwischen 1685 und 1800 von ca. 65.000 auf knapp 200.000 Einwohner um mehr als das Dreifache an.291 Textilproduktion als wirtschaftlicher Leitsektor. Das zentrale Problem der irischen Landwirtschaft in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war die mangelnde Nachfrage nach irischen Agrarprodukten im Ausland. Aufgrund fehlender Exportchancen und begrenzter Absatzmöglichkeiten auf dem relativ kleinen irischen Binnenmarkt, der um 1700 nur ca. zwei Millionen Verbraucher umfaßte, führten gute Ernten daher eher zu fallenden Preisen für Agrarprodukte als zu einer Profitsteigerung.292 Nur wenn in Irland die Ernten gut waren, während in angrenzenden Ländern die Ernten ausfielen oder Seuchen die Viehbestände dezimierten, ließen sich kurzfristig substantielle Gewinne realisieren. So sorgten z.B. Ernteausfälle in Schottland 1698 in Irland dank des gestiegenen Exportaufkommens für die schnelle Erholung von den Folgen des Stuart-Erbfolgekriegs.293 Analog dazu verursachte eine Rinderpest und schlechte Ernten auf dem Kontinent zwischen 1711 und 1714 einen Exportboom für Getreide, Rindfleisch und Butter, der kurzfristig die Preise scharf ansteigen ließ.294 Sobald sich die Lage auf dem Kontinent jedoch wieder beruhigt hatte, sank die Nachfrage nach irischen Agrarprodukten wieder.295 Rücklagen für schlechte Zeiten waren auf diese Weise kaum anzuhäufen. Das Zusammenwirken von ungünstiger Exportnachfrage, schlechten Ernten und kurzfristigen, aber extremen Preisfluktuationen machte die irische Volkswirtschaft in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts anhaltend anfällig gegenüber monetären und Versorgungskrisen. Obendrein wirkten sich Krisen im landwirtschaftlichen Bereich sofort wachstumshemmend auf die anderen ökonomischen Bereiche aus: Ernteausfälle sorgten wegen der inelastischen Lebensmittelnachfrage bei höheren Preisen für die Grundversorgung in anderen Bereichen für Konsumrückgänge, umfangreiche Lebensmittelimporte in Krisenzeiten resultierten überdies in 291 Vgl. Proudfoot, Patronage, S. 31. Andere irische Handelszentren – vor allem Hafen- und Marktstädte wie Cork, Limerick, Waterford oder Kilkenny – legten ebenfalls beträchtlich zu. Vgl. M.L. Cullen, Economic Development, 1750-1800, in: Moody/Vaughan, History of Ireland 4, S. 156-195, S. 182 (fortan zitiert als Cullen, ED II); Foster, Modern Ireland, S. 203; für die Darstellung eines zeitgenössischen Beobachters vgl. Carty, Ireland, S. 129-131. Zusätzlich zur Migration zwischen Stadt und Land stieg auch die saisonale Migration zwischen einzelnen Grafschaften, etwa wenn Ernten, Jahrmärkte oder Bauvorhaben anstanden. 292 Cullen, ED I, S. 134, 142f. 293 Ebd., S. 133-135. 294 Ebd., S. 143. 295 Ebd., S. 144. 116 einer negativen Außenhandelsbilanz und schlechteren Wechselkursen.296 In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es deshalb wiederholt zur Katastrophe: 1709/10 führte die Koinzidenz von schlechten Ernten und einem Einbruch der Exportnachfrage zur Hungerkrise, 1726-28 zogen schlechte Ernten eine Hungernot und allgemeine Rezession nach sich.297 Am schlimmsten war jedoch die Hungerkrise von 1740/41: Schlechte Getreide- und Kartoffelernten im Jahr 1739 zehrten die Bevölkerung aus und als der scharfe Frost im Winter 1739/1740 zu einem kompletten Ernteausfall führte, wurden die Menschen erst vom Hunger und dann vom einer Fieberepidemie dahingerafft.298 Die Zahl der Todesopfer ist nicht exakt zu bestimmen, muß aber sehr hoch gewesen sein: Zeitgenössische Zahlen schwanken zwischen 80.000 und 400.000 Toten.299 Die potentiellen Folgen dieser strukturelle Schwäche der irischen Volkswirtschaft wurden erst durch die Expansion der Leinenproduktion beseitigt, die bereits am Anfang des Jahrhunderts allmählich begann, aber erst um die Jahrhundertmitte ihre ganze Dynamik entfaltete.300 Gleichzeitig war die Leinenproduktion auch der Motor der Kommerzialisierung der irischen Landwirtschaft und ein zentraler Stimulus für infrastrukturelle Verbesserungen301 und technische Innovationen. Insofern kann die Leinenproduktion zumindest in der zweiten Jahrhunderthälfte mit Fug und Recht als Leitsektor und Schrittmacher der irischen Volkswirtschaft bezeichnet werden. Für das beeindruckende Wachstum der Leinenproduktion302 gab es eine Reihe von Gründen. Zum einen befreite die britische Regierung irische Leinenstoffe (als Kompensation für den Exportverbot auf irische Wollstoffe) vollständig von Importzöllen, so daß die irischen Leinenstoffe auf dem britischen Markt (ab 1696) 296 Ebd., S. 145, 150. Ebd., S. 145. 298 Ebd., S. 146, Beckett, Making, S. 174. 299 Beckett, ebd. 300 Cullen, ED I, S. 148f. 301 Der Straßenbau wurde vor allem in zwei Phasen während der 1730er und der 1760er Jahre vorangetrieben, der Kanalbau begann bereits während der frühen 1730er Jahre, erreichte aber seine Höhepunkte in den 1750er, frühen 1770er und 1780er Jahren. Vgl. Cullen, ED II, S. 183f. 302 1700 lag der Leinenexport noch bei 300.000 Yards p.a., 1730 schon bei über 4 Mio. Yards, 1750 wurde zum ersten Mal die 10.-Mio.-Yards-Schallmauer durchbrochen, aber der zweiten Hälfte der 1760er Jahre oszillierte er um die 20-Mio.Yards-Marke, 1800 lag allein der Export bei 35,6 Mio. Yards in einem Gesamtwert von über 5 Mio. Pfund. Vgl. O’Brien, Economic History, S. 202f; Proudfoot, Patronage, S. 27. Punktuell wurde sogar die 40-Mio.-Yards-Marke weit überschritten: 1796 lagen die Leinenexporte bei über 47 Mio. Yards. Vgl. Connelly, Companion, S. 317. 297 117 und in den britischen Kolonien (ab 1705) relativ billig abgesetzt werden und die deutsche und niederländische Konkurrenz ausstechen konnten.303 Zum anderen wurde die Branche in Irland mit der Gründung des Linen Board (1711) unterstützt, das seinen Einfluß auf das irische Parlament geltend machte, um günstige rechtliche und fiskalische Rahmenbedingungen für die Leinenproduktion und den Leinenhandel herzustellen. Außerdem stellte das Linen Board finanzielle Mittel für die Erprobung und Verbreitung neuer Herstellungsmethoden und -techniken bereit.304 Auch die Grundbesitzer vor Ort erkannten das wirtschaftliche Potential der Branche: Sie begannen lokale Märkte einzurichten, um den Leinenhandel zu fördern und bemühten sich, Weber auf ihrem Land anzusiedeln.305 Zusätzlich wurde 1721 mit der Linen Hall in Dublin ein großer Umschlagsort für den Leinenhandel eingerichtet, der bis 1785 unangefochten den irischen Leinenexport dominierte.306 Der zweite Grund für die rasante Expansion der Leinenherstellung war die schottische und hugenottische Einwanderung nach Ulster am Ende des 17. Jahrhunderts. Beide Immigrantengruppen verfügten über Expertise und Erfahrung mit der Textilherstellung, insbesondere die hugenottischen Flüchtlinge aus Frankreich auch über beträchtliches Kapital, das sie in die Leinenproduktion investierten.307 Entsprechend machte die Leinenherstellung in Ulster die rasantesten Fortschritte, hier war auch die Technisierung am ausgeprägtesten.308 Auf diese Weise trug die Leinenindustrie auch zur regionalen wirtschaftlichen Differenzierung bei: Das 303 Connelly, ebd. W.H. Crawford, Domestic Industry in Ireland, The Experience of the Linen Industry, Dublin 1972, S. 3-6. 305 Crawford, ebd., S. 7, weist darauf hin, daß am Anfang des 18. Jahrhunderts Leinen zusammen mit Vieh und Getreide auf den normalen Märkten verkauft wurde, bevor spezifische Märkte für den Leinenhandel eingerichtet wurden. Diese konzentrierten sich ebenso in Ulster wie die Produktion des Leinenstoffs. Ebd., S. 15, werden die Namen der wichtigsten Marktorte für Leinen genannt: Belfast, Lisburn, Lurgan, Newry, Loughbrickland, Rahfriland, Banbridge, Dromore, Hillsborough, Richhill, Armagh, Tandragee, Loughgall, Dungannon, Caledon, Monaghan. Cullen, ED II, S. 180f. gibt zusätzlich die Viehmärkte in Mullingar, Ballinasloe, Banagher und Athlone und die Wollmärkte in Clonmel, Mullingar und Ballinasloe, auf denen Weber ihren Bedarf an Wollgarn für ihre Webarbeit decken konnten, als wichtige Komponenten des inneririschen Handels an. Zu anderen Fördermaßnahmen lokaler Großgrundbesitzer für die Leinenproduktion vgl. Dickson, New Foundations, S. 125. 306 O’Brien, Economic History, S. 200; Connelly, Companion, S. 318. 307 Vgl. Crawford, Domestic Industry, S. 1; Connelly, Companion, S. 317; E. O’Malley, Industry and Economic Development, The Challenge of the Latecomer, Dublin 1989, S. 35; besonders deutlich aber bei O’Brien, ebd., S. 199f., kritisch dazu Dickson, New Foundations, S. 125. 304 118 Zentrum der Leinenproduktion befand sich im sogenannten „Leinendreieck“ zwischen Belfast, Dungannon und Armagh, die Leinengarnspinnerei hatte ihren Schwerpunkt in dem an das „Leinendreieck“ angrenzenden Gebiet in Westulster, Nordconnacht und Nordleinster.309 Der Leinenexport konzentrierte sich auf Dublin.310 Lediglich das Hinterland Corks im Süden konnte sonst noch in bescheidenem Umfang an dem Leinenboom partizipieren, weil der Hafen von Cork und die Corker Bankhäuser die zum Export notwendigen Transport- und Kapitalkapazitäten besaßen.311 Der entscheidende Faktor für die Expansion des Textilgewerbes war jedoch eine stetig wachsende englische Nachfrage nach irischem Leinen und später auch Baumwolle. Großbritannien verfügte zwar über eine eigene Leinenproduktion, war aber schon im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts auf Importe angewiesen, um seinen Leinenbedarf zu stillen.312 Im Laufe des 18. Jahrhunderts stieg diese Nachfrage weiter und dehnte sich auf groben Leinen, Garne und später Baumwollstoffe313 aus, während gleichzeitig aus fiskalischen Gründen die Einfuhrzölle auf Leinen vom europäischen Festland immer weiter angehoben wurden.314 Dadurch wurde der Export schottischen und irischen Leinens nach England begünstigt, so daß Irland und Schottland sich in diesem expandierenden und durch britischen Protektionismus geschützten Markt hervorragende Absatzmöglichkeiten 308 O’Brien führt hier die Einführung von Wasserkraft ab 1725, Verbesserungen am Spinnrad (1764) und neue Bleichmethoden an. Vgl. O’Brien, ebd., S. 201; vgl. auch Dickson, ebd., S 126; J. Bardon, A History of Ulster, Belfast 1992, S. 186. 309 Um den steigenden Bedarf nach Flachsgarn für die Leinenproduktion zu stillen, mußte die Bebauungsfläche in diese Gebiete ausgeweitet werden. Zusätzlich mußte aber auch Flachs importiert werden, da die einheimische Flachsproduktion hinter dem Wachstum der Leinenproduktion allmählich zurückblieb. 310 Erst am Ende des 18. Jahrhunderts konnte die Monopolstellung Dublins in diesem Exporthandel durch Belfast, Newry und Armagh fühlbar in Frage gestellt werden. Vgl. G. Ó’Tuathaigh, Ireland Before the Famine, 1798-1848, Dublin 1972, S. 3. 311 Zur regionalen Verteilung und Spezialisierung in der Leinenproduktion vgl. Crawford, Domestic Industry, S. 5 (Karte), zum „Leinendreieck“ (linen triangle) vgl. Connelly, Companion, S. 317 u. Bardon, History, S. 185; zur Leinenproduktion im Süden vgl. Crawford, ebd. (Karte); O’Brien, Economic History, S. 204; Daly, History, S. 11. O’Malley, Industry, S. 36 veranschlagt den Anteil der südlichen an der gesamten Leinenproduktion relativ konstant mit 16-19% im Zeitraum 1770-1821. 312 Dickson, New Foundations, S. 126. 313 Die Baumwollproduktion in Irland wuchs deutlich langsamer als ihre schottische und englische Konkurrenz, was vermutlich damit zusammenhing, daß für die Baumwollspinnerei sehr viel mehr technisches Know-how und größere Investitionen notwendig waren. Vgl. O’Malley, Industry, S. 36. 314 Dickson, New Foundations, S. 126. 119 sichern konnten.315 Großbritannien avancierte dadurch zum Fokus irischer Exporte: Hatten 1720 die Exporte nach Großbritannien nur 44 % des gesamten irischen Exportvolumens ausgemacht, so lag diese Zahl im Jahr 1800 mit 85% fast doppelt so hoch. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts lag der Anteil des Leinens an den irischen Exporten nach Großbritannien stets deutlich über 50%.316 Das hatte zur Folge, daß sich der Konjunkturzyklus der irischen Volkswirtschaft ab den 1760er Jahren immer mehr dem der britischen Volkswirtschaft anglich.317 Diese Tatsache reflektiert sowohl die Abhängigkeit von der britischen Nachfrage für irische Produkte wie die Schwäche des irischen Binnenmarktes, der allein von der Anzahl der Verbraucher und der zum Konsum zur Verfügung stehenden Kapitalmasse nicht in der Lage war, Exportkrisen aufzufangen oder zumindest abzufedern. Abschließend müssen noch die sozialen Folgewirkungen der Leinenproduktion kurz Erwähnung finden, die sich insbesondere auf Ulster, die an Ulster angrenzenden Regionen und die urbanen Zentren bezogen. Wo sich die Leinenproduktion durchsetzte, stieg die Bevölkerungsdichte, und damit nicht nur der Pachtspiegel, sondern auch das Ausmaß der Parzellierung. Ende des 18. Jahrhunderts war die Grafschaften Armagh und Derry, die im Leinendreieck angesiedelt sind, die dichtbesiedelsten Regionen Irlands.318 Gleichzeitig war die Bevölkerung in der Leinenregion durch die Einkünfte aus dem Gewerbe gegen Versorgungskrisen besser geschützt als anderswo und die soziale Struktur war deutlich egalitärer als im Rest Irlands. Obendrein machte sich der Wohlstand aus der Leinenproduktion auch allgemein positiv bemerkbar: Zeitgenössische Reiseberichte betonen immer wieder, daß die Straßen und die Häuser der kleinen Leute in Ulster in einem deutlich besseren Zustand waren als im restlichen Irland, daß die Bevölkerung besser ernährt und der Bildungsstandard höher war.319 Selbst die Emigration aus Irland, die sich ab den 1760er Jahren auf einem relativ hohen Niveau einpendelte, spiegeln den Wohlstand in Ulster wieder: Rund drei Fünftel der 250.000 irischen Auswanderer, die während des 18. Jahrhunderts emigrierten, stammten aus Uls315 Vgl. ebd. Ó Tuathaigh, Ireland, S. 2f. Der Rest der Exporte bestand vorwiegend aus Getreide und Lebensmitteln. Vgl. O’Malley, Industry, S. 34. Noch 1773 wurden 90 % des in Irland produzierten Leinentuchs nach Großbritannien exportiert. Vgl. W.H. Crawford, The Rise of the Linen Industry, in: L.M. Cullen (Hg.), The Formation of the Irish Economy, Cork 1968, S. 23-35, S. 26. 317 Cullen, ED I, S. 151. 318 Crawford, Rise, S. 31. 316 120 ter.320 Da man für die Emigration gewisser Geldmittel für Überfahrt und Unterhalt bedurfte, kann man diese Zahlen u.a. auch als Indikator für einen relativen Wohlstand im Norden betrachten. Als Resümee läßt sich festhalten, daß die irische Wirtschaft nach einigen temporären Einbrüchen in der zweiten Jahrhunderthälfte stetig und dynamisch wuchs. Dieses Wirtschaftswachstum ging Hand in Hand mit einem beträchtlichen Bevölkerungswachstum, infrastrukturellen Verbesserungen, technischen Neuerungen, der Kommerzialisierung der Landwirtschaft, dem Aufstieg der Leinenproduktion und einer gewissen, regional differenzierten Prosperität der Bevölkerung. Dennoch standen die Zeichen der ökonomischen Großwetterlage beileibe nicht auf eitel Sonnenschein. Insbesondere die Abhängigkeit von zwei Produktsparten (Agrarprodukten und Leinen) und von der externen (vor allem britischen) Nachfrage nach irischen Produkten sowie der steigende Druck auf die Ressource Land, der durch Emigration und industrielle Einkunftsquellen nur marginal abgefedert werden konnte, waren bedenklich. Mit Ausnahme des Nordens war die Verteilung des neuen Wohlstands in einem so hohen Maß ungleich, daß daraus potentiell Gefahr für den sozialen Frieden entstand. Während die landbesitzende Ascendancy durch die ständig steigenden Pachteinkünfte kontinuierlich wohlhabender wurde, krebste die Landbevölkerung, die vor allem im Westen und Südwesten in einer Pauperisierungsspirale aus höheren Pachten und sinkendem pro-Kopf-Einkommen gefangen war, weiterhin am Existenzminimum herum. Da dieser soziale Antagonismus potentiell auch kolonial als Konflikt zwischen protestantischen Landbesitzern und katholischen Kleinpächtern gedeutet werden konnte, lag in dieser Konstellation erhebliche soziale und politische Sprengkraft. 319 Zu egalitären Sozialstruktur und der relativen Prosperität in Ulster vgl. Beckett, Making, S. 179-181. 320 Foster, Modern Ireland, S. 216. 121 b) Koloniale Strukturbedingungen des irischen Wirtschaftslebens (16911782) Da nun ausreichend Informationen über die irische Wirtschaftsentwicklung vorliegen, kann die Frage nach dem kolonialen Faktor in Angriff genommen werden. Wie zuvor schon im Kapitel über die politische Herrschaft wird auch hier der koloniale Einfluß auf die Wirtschaft in zwei Schritten diskutiert, indem zwischen der Rivalität zwischen Großbritannien und Irland auf der einen und dem Antagonismus zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen in Irland auf der anderen Seite unterschieden wird. Abweichend vom letzten Kapitel wird hier jedoch mit der Rivalität zwischen Großbritannien und Irland begonnen, weil dieses Themenfeld am umstrittensten ist. Zunächst gilt es also zu identifizieren, welche Einflüsse Großbritannien auf die wirtschaftliche Entwicklung Irlands nahm, bevor im zweiten Schritt die heikle Frage zu beantworten ist, wie diese Einflüsse insgesamt zu bewerten sind. Im Anschluß daran wird die innerirische Wirtschaftsrivalität zwischen den einzelnen kolonialen Bevölkerungsgruppen unter die Lupe genommen. Da sich – soviel sei an dieser Stelle schon verraten – in Irland während des 18. Jahrhunderts analog zur Konfessionalisierung der Politik auch eine Konfessionalisierung der Wirtschaft vollzog, wird hier das bewährte Muster aufgegriffen, von der Spitze der Machtpyramide aus nach Marginalisierungstendenzen zu schauen, bevor im zweiten Schritt die Perspektive umgekehrt und auf die Reaktionen gegen diese Marginalisierungsversuche abgehoben wird. Das koloniale Mutterland Großbritannien und die irische Wirtschaft. Im Prinzip gab es zwei Wege, mittels derer die britische Kolonialmacht die irische Wirtschaft beeinflussen konnte: Einerseits durch eine protektionistische Wirtschaftspolitik und andererseits vermittels ihrer schieren fiskalischen und ökonomischen Macht. Seit den 1660er Jahren gab es eine Vielzahl von Gelegenheiten, bei denen Großbritannien durch protektionistische Gesetze in die Entwicklung der irischen Wirtschaft eingriff. Es würde zu weit führen, diese Maßnahmen alle einzeln vorzustellen. Darum mag die folgende tabellarische Übersicht für eine allgemeine Orientierung des Lesers genügen: 122 Jahr Titel 1663 1666 15 Car. II, c. 8 20 Car. II, c. 7 22 & 23 Car. II, c. 2 1671 6 Geo II, c. 13 12 Geo. II, c. 55 1699 10 &11 Will. III, c. 10 1705 12 Car. II, c. 4 3&4 Anne, c. 8 betroffene Branchen321 Restriktion des irischen Handels mit - Alle Exportbranden britischen Kolonien in Übersee. chen (vor allem Lebensmittel) Einfuhrverbot für irische Rinder - Viehzüchter nach GB, sukzessive auf Schafe, - Milchbauern Schweine, Pökelfleisch, Käse, Butter etc. ausgeweitet Tendenz Nachteil Verbot des Direktimports von Waren aus den Kolonien nach Irland; Zwischenhandel über GB erforderlich Exportverbot für Wollstoffe; irische Wollstoffe dürfen nur nach GB ausgeführt werden, wo sie seit 1660 hohen Importzöllen unterliegen Irischer Leinen darf direkt nach Amerika exportiert werden Kaufleute Nachteil - Wollstoffproduzenten - Wollweber Nachteil Inhalt der Regelungen Nachteil - LeinenproduzenVorten teil - Leinenbleicher, weber und -spinner 7 Geo. I, c. 7 In GB wird das Tragen von impor- BaumwollproduNach1721 tiertem Baumwolltuch verboten zenten teil 4 Geo. II, c. 15 Hopfenimporte dürfen fürderhin nur - Brauereigewerbe Nach1731 aus GB bezogen werden teil 13 Geo II, c. 3 Importzölle auf die Einfuhr irischen - Wollproduzenten Vor1740 Wollgarns nach GB werden abge- Wollspinner teil schafft 19&20 Geo. II, c. Exportverbot für Glasprodukte aus - Glas- und Kristall- Nach1746 12 Irland, Glas darf nur aus GB nach glasproduzenten teil Irland importiert werden 22 Geo. II, c. 33 Brit. Einfuhrzölle auf irisches Segel- - Produzenten groNach1750 tuch ben Leinens teil Leinenweber und – spinner 32 Geo. II, c. 12 Restriktion des Rinderimports nach - Viehzüchter Vor1759 GB werden aufgehoben; Einfuhrer- - Milchbauern teil laubnis für Pökelfleisch und Butter nach GB 10 Geo. III, c. 8 Einfuhr von irischen Rohhäuten und Vor1770 Leder nach GB wird freigegeben teil 20 Geo. III, c. 6, Gleichstellung Irlands mit GB im - Alle ExportbranVor1780 10, 18 Handel mit den Kolonien chen (v.a. Lebensteil mittel- und Textilgewerbe) Foster’s Corn Law Exportregelungen für irisches Ge- Kornproduzenten Vor1784 treide (Zölle, Gebühren, Subventioteil nen etc.) G 1: Britischer Protektionismus in Irland (1663-1784) (Quelle: O'Brien, Economic History)322 321 Diese Kategorie bezieht sich nur auf die primär von der Maßnahme betroffene(n) Branche(n). Daß fast jede dieser protektionistischen Regelungen den Handel (und damit Kaufleute, Fuhrunternehmer, Reeder, Schiffsbauer, Faßmacher etc.) positiv oder negativ beeinflußte, versteht sich von selbst. 123 Diese Liste britischer Handelsinterventionen belegt, daß Großbritannien von seinen protektionistischen Möglichkeiten durchaus Gebrauch machte. Die Frage ist nun, wie diese Eingriffe zu bewerten sind. Seit FROUDE lautet die klassische Antwort, daß der britische Protektionismus die irische Volkswirtschaft komplett ruinierte, den Zugang zu allen Märkten nach Belieben abschnitt und den irischen Markt mit britischen und britisch-kolonialen Waren überschwemmte. Geradezu paradigmatisch hat GEORGE O’BRIEN 1918 diesen Standpunkt zusammengefaßt: „Das Resultat der englischen Handelsrestriktionen war deshalb nicht nur, daß Irland der englische Außenhandel und der Handel mit den Kolonien vorenthalten wurde, sondern auch daß es selbst daran gehindert wurde, den irischen Verbraucher zu versorgen.“323 650000 600000 550000 500000 Exportmenge 450000 400000 350000 300000 250000 200000 150000 100000 50000 0 1 11 21 31 41 51 61 71 81 91 101 Jahr (von 1=1700 bis 101=1800) einfacher Leinen in 100 Yards (gerundet) Hafer in 100 Stones (gerundet) Rindfleisch in Barrels Starkbier in Barrels Butter in Hundredweights G 2: Irische Exporte im 18. Jahrhundert (Quelle: O'Brien, Economic History)324 322 Erläuterung zur Tabelle: Die Übersicht gibt nur die großen Maßnahmen wieder. Außerdem liegt ihr Fokus auf den irischen Exportchancen, britische Versuche, ihren Export nach Irland zu steigern wurden weitgehend ausgeblendet, weil hierzu keine verläßlichen Zahlen vorliegen und O’Briens diesbezügliche Aussagen primär von verletztem Nationalstolz beeinflußt zu sein scheinen. Vgl. O’Brien, Economic History, S. 173-222 passim. Die Daten der Tabelle stützen sich vor allem auf O’Brien, ebd.; flankierend wurde Moody/Martin, Course, S. 419-425 herangezogen. 323 O’Brien, ebd., S. 180. 324 Für die Datengrundlage des Diagramms vgl. ebd., S. 122f. (Haferexporte), 202f. u. 275 (Leinenexporte), S. 211 u. 279 (Starkbier), S. 222 u. 289 (Rindfleisch und Butter). Bemerkung zur statistischen Validität des Diagramms. Fehlende Werte wurden interpoliert, Rundungen auf 1000er Einheiten sind in der Legende ausgewiesen, die alten Maße wurden beibehalten, weil O’Brien für die Maßeinheit ‚Barrel’ keine Angaben gemacht hat, welche die Umrechnung in metrische Maße ermöglicht hätte. 124 Dieses Muster habe sich bis 1780 fortgezeichnet und darum, so O’BRIEN weiter, müsse man zwischen zwei Wirtschaftsphasen unterscheiden: Einer „Restriktionsphase“ (1700-1780) und einer „Freiheitsphase“ (nach 1780).325 Die Sache hat nur einen Schönheitsfehler: Wie die obige graphische Darstellung seiner Exportzahlen demonstriert, stützen O’BRIENS eigene Daten seine ZäsurThese nicht: Exportzuwächse lassen sich nach 1780 nur bei Leinen, Hafer und Butter erkennen, die Bier- und Rindfleischexporte dagegen sanken jenseits seiner Wendemarke zum Teil beträchtlich. Bei den Gütern, bei denen eine Zunahme des Exports erkennbar ist, lassen sich außerdem auch schon vor 1780 deutliche Exportwachstumsschübe identifizieren: Bei den Butter- und Rindfleischexporten bereits ab etwa 1710 und dann wieder ab der Jahrhundertmitte, bei Leinen – abgesehen von Einbrüchen Mitte der 1760er und in den frühen 1770er Jahren – sogar ein relativ kontinuierlich steigendes Exportaufkommen ab der zweiten Hälfte der 1740er Jahre. Die Kontraktion der Rindfleisch- und Expansion der Getreideexporte (im Diagramm durch den Hafer vertreten) hingen miteinander zusammen und indizieren einen Schwenk von Viehzucht auf Ackerbau ab den frühen 1780er Jahren.326 Das Fazit ist klar: O’Briens These ist Makulatur. Kein Wunder also, daß die klassische Interpretation der ökonomischen Entwicklung Irlands von revisionistischen Historikern – vor allem von LOUIS MICHAEL CULLEN – seit Mitte der 1960er Jahre zunehmend unter Beschuß genommen wurde.327 Nach revisionistischer Einschätzung war der Einfluß des britischen Protektionismus auf die Entwicklung der irischen Volkswirtschaft marginal, er habe die irische Wirtschaft nicht substantiell beschädigt, sondern lediglich in andere Bahnen gelenkt.328 Für diese These spricht, daß sich bei näherer Betrachtung ein typisches Reaktionsmuster auf britische Wirtschaftsinterventionen herauskristallisiert: Sobald der Zugang zu einem spezifischen Markt verstellt und der Export eines bestimmten Produkts verboten worden war, orientierte sich die irische Wirtschaft 325 Ebd. Foster, Modern Ireland, S. 199f. 327 Zu einer Darstellung von Cullens Einwänden gegen die klassische Interpretation vgl. Connelly, 18th Century Ireland, S. 20-22 u. ebd., S. 196f. 328 Connelly, 18th Century Ireland, S. 22. Vgl. auch L.M. Cullen, The Irish Economy in the 18th Century, in: ders. (Hg.) The Formation of the Irish Economy, Cork 1968, S. 9-21; ders., Irish Economic History: Fact and Myth, in: ebd., S. 113-124 sowie ders., ED II, S. 187, 192f. 326 125 kurzfristig auf neue Märkte und Produktsorten um.329 Auch die generelle Entwicklung der Exportzahlen spricht zumindest gegen eine langfristige Beeinträchtigung der irischen Wirtschaft durch den britischen Protektionismus.330 Im übrigen ist der Nachweis, daß hinter dem britischen Protektionismus die Intention stand, die irische Volkswirtschaft zu ruinieren, nicht zu erbringen, da lediglich zwei Regelungen des gesamten Maßnahmenkatalogs einer totalen Prohibition gleichkamen (der Verbot der Wollstoffexporte und der Glasexporte).331 Obendrein wurden die Restriktionen nicht dogmatisch, sondern pragmatisch gehandhabt: Sofern die britische Nachfrage von der eigenen Wirtschaft nicht gestillt werden konnte, wurden Restriktionen durchaus zurückgenommen, so daß die irische Wirtschaft immer wieder auch in den Genuß wachstumsfördernder britischer Einflüsse kam.332 Ergo wurde der protektionistische Kurs Großbritanniens nicht von der Frage bestimmt, was der irischen Wirtschaft schade, sondern davon, was der britischen nützte. Abschließend darf auch nicht vergessen werden, daß sich Irland durch die Partizipation am Handel mit den transatlantischen britischen Kolonien erhebliche Wachstumschancen eröffneten. Laut THOMAS TRUXES ist es jedoch schwer vorstellbar, daß Irland außerhalb der Strukturen des britischen Empire zu einem signifikanten Faktor im transatlantischen Handel avanciert wäre, dazu habe es zu sehr an einem effizienten eigenen Handels- und Finanzsystem gemangelt. In diesem Aspekt sei die irische Wirtschaft stets von britischen Vermittlungsinstanzen abhängig gewesen.333 Insofern war selbst ein eingeschränkter Zugang zu den transatlantischen Märkten enorm wertvoll und half dem irischen Wirtschaftswachstum in der zweiten Jahrhunderthälfte deutlich auf die Sprünge. Auch die Impulse, die von dem ausgedehnten irisch-britischen Handel für das irische 329 So führte etwa der Exportverbot für Rinder zu einem Wachstum des Exports von Rindfleisch, Häuten und Talg oder der Verbot von Wollstoffexport zu einer Konzentration auf die Leinenproduktion oder auf die Produktion von Wollgarn. 330 Kurzfristige Beeinträchtigungen wurden darüber hinaus durch Schmuggelhandel gemildert, wobei das Ausmaß dieses Schmuggels zwischen konservativen und revisionistischen Historikern höchst umstritten ist. Vgl. wiederum O’Brien, Economic History, S. 186-188 und natürlich Froude, The English in Ireland. 1, S. 446-498, der das Thema in epischer Breite und im Stil eines Abenteuerromans abhandelt sowie auf der revisionistischen Gegenseite Cullen, ED II, S. 187-193. 331 Cullen, ebd., S. 192. 332 Vgl. G. 1, Eintrag von 1759. 333 Vgl. Thomas M. Truxes, Irish-American Trade 1660-1783, Cambridge 1988, S. 252f. 126 Wachstum ausgingen, dürfen nicht aus den Augen verloren werden wie ein Blick auf die Entwicklung des irischen Bankwesens zeigt.334 Resümierend läßt sich also festhalten, daß die britische Kolonialmacht ganz offensichtlich ihre Macht auch ökonomisch nutzte, indem sie zum Vorteil der britischen Volkswirtschaft regulativ in ökonomische Prozesse in Irland eingriff. In langfristiger Perspektive führte das jedoch nicht zu einer substantiellen Schädigung der irischen Wirtschaft. Pointiert formuliert, schränkten die britischen Interventionen lediglich die beträchtlichen wirtschaftlichen Chancen der irischen Wirtschaft ein, die diese ohne ihre Einbindung in die Wirtschaftsstruktur des britischen Empire überhaupt nicht gehabt hätte. Obwohl die Abwägung aufgrund der komplexen Interaktion vieler verschiedener Wirtschaftsfaktoren schwierig ist, erscheint die revisionistische Interpretation, welche den Einfluß des britischen Protektionismus auf die ökonomische Entwicklung Irlands skeptisch beurteilt, überzeugender als das klassische Erklärungsmodell. Dessen ungeachtet war die ökonomische Kosten-Nutzen-Rechnung nicht ausschlaggebend für die zeitgenössische Wahrnehmung der britischen Wirtschaftsinterventionen in Irland. Insbesondere in den 1720er und 1770er Jahren – also in Verbindung mit heftigen konstitutionellen Kontroversen – wurde immer wieder auf das Gravamen des britischen Protektionismus abgehoben. Die irische Kritik an britischen Eingriffen blieb dabei keineswegs auf exklusive Debattierzirkel oder die Organe der Medienöffentlichkeit beschränkt: Die Dublin Society förderte ab 1731 irische Produkte; während der 1750er Jahre kam es wiederholt zu Boykottaufrufen, in den späten 1770er Jahren schlug die Freihandelsdebatte weite Kreise und trug erheblich zu „Grattan’s Revolution“ bei. Auch während der 1780er Jahre fanden „Buy-Irish“-Kampagnen statt, warben Geschäftsleute damit, daß sie ausschließlich irische (zumindest aber keine britischen!) Produkte im Angebot hatten, waren „Patrioten“ darauf stolz, daß sie nur irische Stoffe (ab 1782 vorzugsweise in der irischen Nationalfarbe Grün) trugen. Geschäftsleute, die sich dem ‚freiwilligen’ „Non-Importation-Agreement“ von 1784 nicht anschlossen, mußten mit empfindlichen Verkaufseinbußen rechnen.335 Das alles zeigt, daß wirtschaftliches Handeln zunehmend als politischer Akt wahrgenommen und behandelt wurde. 334 P. McGowan, Money and Banking in Ireland, Origins, Development and Future, Dublin 1990, S. 5-16; Cullen, ED I, S. 151-158. 127 Diese Verquickung von Anti-Protektionismus und irischem Konstitutionalismus war dafür verantwortlich, daß britischen Wirtschaftsinterventionen in Irland soviel kritische Beachtung geschenkt wurde, nicht ihre ökonomische Wirksamkeit. Die Empörung der öffentlichen Meinung in Irland über die britischen Maßnahmen war also eher politisch als ökonomisch begründet. Die Konfessionalisierung der Wirtschaft. Wendet man sich nun der Frage zu, welche wirtschaftlichen Auswirkungen das Kolonialsystem in Irland selbst hatte, stößt man umgehend auf alte Bekannte: die Strafgesetze. Auf die gleiche Weise wie sich die Ascendancy das politische Machtmonopol sicherte, versuchte sie auch auf wirtschaftlichem Gebiet, eine unangreifbare Vormachtstellung zu erlangen. Der einzige wesentliche Unterschied bestand darin, daß die ökonomische Exklusion sich allein gegen die irischen Katholiken richtete, während die Dissenter zumindest auf diesem Gebiet von der Verfolgung durch die Ascendancy verschont blieben. In Irland war die Haupteinkommensquelle das Land. Darum ist es auch nicht verwunderlich, daß die Ascendancy vor allem darauf bedacht war, den katholischen Landbesitz zu zerstören und das Land in ihren Besitz zu bringen. Der erste Schritt dahin wurde während der Wilheminischen Landkonfiszierungen zwischen 1691 und 1703 unternommen. Durch die Enteignung der irischen Jakobiten, der vornehmlich katholischen Parteigänger Jakobs II., sank der katholische Anteil des Grundbesitzes von 22 % auf 14%.336 Auf dem eingezogenen Land wurden teils anglikanische und presbyterianische Immigranten angesiedelt, teils wurde es an anglikanische Magnaten verkauft. Damit nicht genug wurde zwischen 1704 und 1709 durch die Strafgesetze ein System installiert, daß katholische Landbesitzer derart unter Druck setzte, daß 1778 nur noch knapp fünf Prozent des Landes in katholischen Händen waren.337 Wenn man sich vor Augen führt, daß 1641 noch fast 60% des Landes Katholiken gehörte,338 dann wird die Größenordnung dieses Wandels vollends deutlich: Innerhalb von nur 140 Jahren wechselte die Insel praktisch ihren Besitzer. 335 Vgl. S. Foster, Buying Irish: Consumer Nationalism in 18th Century Dublin, in: History Today 47 (1997), S. 44-51. 336 Lydon, Making, S. 223. 337 Wall, Penal Laws, S. 220. 338 A. Clarke, The Colonisation of Ulster and the Rebellion of 1641, in: Moody/Martin, Course, S. 189-203, S. 201. 128 Die den Landbesitz betreffenden Passagen der Strafgesetze lassen sich grob in zwei Bereiche – nämlich einerseits einen eigentums- und pachtrechtlichen und andererseits einen erbrechtlichen – unterteilen. Beide dienten jedoch den gleichen Zielen: Erstens den Status Quo der Landbesitzverteilung, der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstanden war, auf Dauer festzuschreiben und zweitens das Landmonopol der Ascendancy nach Möglichkeit noch weiter auszudehnen. Die wichtigsten Neuregelungen, die durch die ‚Popery Laws’ eingeführt wurden, waren, daß Katholiken keinerlei Land käuflich erwerben durften, daß sie nur Pachtverträge mit einer Laufzeit von nicht mehr als 31 Jahren abschließen durften und daß der aus gepachtetem Land erzielte Profit zwei Drittel der Pachtsumme nicht überschreiten durfte.339 Diese Regelungen zielten also ganz offensichtlich darauf ab, daß der Anteil des katholischen Landbesitzes nicht wieder steigen sollte – auch nicht in der Form von Pachtverträgen mit Laufzeiten über mehrere Generationen – die Profitgrenze sollte den Wohlstand katholischer Großpächter mindern. An diesen Maßnahmen läßt sich deutlich die Angst der neu etablierten, noch ungefestigten kolonialen Oberschicht vor einer katholischen Renaissance ablesen. Selbst am Ende des 18. Jahrhunderts kursierten in protestantischen Kreisen immer noch Gerüchte, die Katholiken verfügten über Landkarten, auf denen exakt die alten Landbesitzverhältnisse von vor 1641 dokumentiert seien, und die wahlweise nach einem katholischen Aufstand oder der politischen Emanzipation der Katholiken gegen die protestantischen Landbesitzer eingesetzt werden sollten.340 Die erbrechtlichen Passagen der Strafgesetze zielten schließlich auf die Atomisierung der Rudimente der alten katholischen Landbesitzerschicht ab. Indem für katholischen Landbesitz das Prinzip der Primogenitur suspendiert wurde, sollte dessen etwaiger Konsolidierung ein Riegel vorgeschoben werden. Das Kalkül war, daß selbst die größten Güter nach ein paar Generationen zu kläglichen Flächen zusammengeschmolzen sein würden, wenn sie zu gleichen Teilen unter der zahlreichen Nachkommenschaft katholischer Großgrundbesitzer aufgeteilt würden. Der ökonomische Abstieg – aber auch die politische Bedeutungslosigkeit – dieser Schicht war demzufolge nur eine Frage der Zeit. Noch tiefgreifender waren jedoch die Implikationen der erbrechtlichen Ausnahmeregelungen für katholische Konvertiten (Umgehung direkter Verwandter in der Erbfolge, Alleinerbschaft, 339 340 Curtis/McDowell, Documents, S. 190. Whelan, Gentry, S. 10f. 129 Degradierung des katholischen Landbesitzers zum Pächter eines konvertierten Sohnes, partielle Eigentumsüberschreibung an konvertierte Ehefrauen usw.).341 Es ist nicht verwunderlich, daß diese Gesetze besondere Erbitterung hervorriefen. Sie wurden von katholischer Seite zurecht nicht nur als wirtschaftlicher Anreiz zur Assimilation interpretiert. Die Tatsache, daß die Strafgesetze den katholischen Landbesitzer – wie LECKY drastisch formulierte – dem „rebellischen Sohn“ oder der „treulosen Ehefrau“ hilflos auslieferten,342 bedeutete auch eine enorme Belastung für die Stabilität katholischer Familiensolidarität. Neben den Regelungen zum Landbesitz ist die ellenlange Liste effektiver Berufsverbote von Bedeutung. Da die meisten Regelungen politisch relevante Ämter betrafen, sind sie größtenteils bereits diskutiert worden, so daß an dieser Stelle einige Ergänzungen genügen. Aufgrund des Sacramental Test konnten weder Katholiken noch Dissenter in Irland Juristen werden, Katholiken waren überdies auch – vom Dorfschullehrer bis zum Professor – von allen Lehrberufen ausgeschlossen. Außerdem blieben beiden Bevölkerungsgruppen die Tore des Trinity College fest verschlossen, so daß sie in Irland keinen Zugang zu akademischer Bildung besaßen.343 Zusammenfassend läßt sich also festhalten, daß die Strafgesetze umfassend festlegten, welche ökonomischen Möglichkeiten welchem Bevölkerungsteil nicht zustanden. Die Grundbesitzrestriktionen für Katholiken erwiesen sich insgesamt als der wirksamste Teil der wirtschaftlich relevanten Strafgesetze. Die Berufsangaben der Unterzeichner der Catholic Qualification Rolls von 1775-1776 zeigen zwar, daß Grundbesitzer und Pächter innerhalb der katholischen Besitzschicht immer noch eine prominente Stellung einnahmen – 256 Personen bezeichneten sich selbst als ‘Gentlemen’ und weitere 148 Unterzeichner gaben ihren Beruf mit ‘Farmer’ an, demgegenüber stehen 213 Einträge von Kaufleuten –, aber eine einschneidende Reduktion katholischen Landbesitzes durch die Strafgesetze ist nicht 341 Zu den erbrechtlichen Regelungen vgl. Curtis/McDowell, Documents, S. 191-193. Lecky, History of Ireland 1, S. 153. 343 In Parenthese ist hierzu jedoch anzumerken, daß diese Maßnahme ihre Wirkung fast vollständig verfehlte: Die Dissenter wichen an schottische Universitäten (vor allem nach Glasgow und Edinburgh) aus; katholische Iren studierten im 18. Jahrhundert vorwiegend an Hochschulen auf dem europäischen Festland – im katholischen Frankreich und Spanien, vereinzelt sogar in Österreich und Italien. Katholische Ärzte und Apotheker waren gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Irland beileibe keine Seltenheit – wenn man die Mitgliedschaft des Katholischen Komitees als Maßstab zugrunde legt. 342 130 von der Hand zu weisen.344 Selbst bei Berücksichtigung der ca. 4.000 zwischen 1704 und 1771 registrierten Konversionen, die vorwiegend von katholischen Großgrundbesitzern durchgeführt wurden, um ihren Besitz zu erhalten, ist diese These nicht grundlegend zu modifizieren.345 Vom Grundbesitz in beträchtlichem Maße, von allen öffentlichen Ämtern und vielen statuserhöhenden Professionen generell ausgeschlossen, stellte sich die ökonomische Situation der irischen Katholiken am Jahrhundertanfang zunächst so dar, daß sie langfristig dem sozialen Abstieg preisgegeben waren. Katholische Wirtschaftsrenaissance. Trotzdem mißlang die ökonomische Marginalisierung der Katholiken auf lange Sicht: Im Laufe des 18. Jahrhunderts erlebten die irischen Katholiken eine eindrucksvolle ökonomische Renaissance. Auf dem Land gelang es den Mitgliedern der alten katholischen Oberschicht trotz der prohibitiven Regelungen der Strafgesetze, zu neuem Wohlstand zu kommen. Viele ehemalige katholische Landbesitzer verfügten auch nach ihrer Enteignung noch über genügend Kapital, um bei den neuen Herren große Landflächen zu pachten,346 die sie dann teils selbst bewirtschafteten und teils gegen Gewinn unterverpachteten. Der verbreitete Absentismus protestantischer Großgrundbesitzer 344 Vgl. K. Whelan, The Regional Impact of Irish Catholicism, 1700-1850, in: ders./W.J. Smyth (Hgg.), Common Ground. Essays on the Historical Geography of Ireland. Presented to T. Jones Hughes. Cork 1988, S. 253-277, S. 263. Die Reduktion katholischen Landbesitzes vollzog sich nicht über Nacht, sondern nur sehr langsam – ein Sachverhalt, der dadurch zu erklären ist, daß vor allem die Erbregelungen der Strafgesetze nur über den Zeitraum von Generationen ihre volle Durchschlagskraft entwickeln konnten. Darüber hinaus zeigt aber das Beispiel der Butlers of Ormonde in Kilkenny und Tipperary, der Plunketts und Taafes in Louth, der Devereuxs in Wexford oder der Burkes in Galway, daß vereinzelte katholische Großgrundbesitzer trotz der Strafgesetze in der Lage waren, ihre Latifundien zusammenzuhalten. Vgl. ebd., S. 258. 345 Vgl. Kee, Most Distressful Country, S. 28; Dickson, New Foundations, S. 74. Die These der republikanischen Geschichtsschreibung, daß die konvertierten Katholiken sich automatisch der anglikanischen Oberschicht anschließen mußten, weil sie von ihrer alten Peer-group nach dem ‘Verrat’ sozial geächtet wurden, ist von der neueren Forschung stichhaltig angezweifelt worden. Konvertiten machten aus den pragmatischen Gründen für ihren Übertritt kein Hehl: Der frisch konvertierte Besitzer von Oranmore soll z.B. auf die Frage des Predigers nach den Gründen für seinen Übertritt zum anglikanischen Glauben nur trocken geantwortetet haben: „Oranmore“. Die katholischen Zeitgenossen scheinen für solche Beweggründe mehr Verständnis aufgebracht zu haben, als traditionell angenommen. Vgl. Foster, Modern Ireland, S. 206. Deshalb ist auch die Zahl über den katholischen Anteil am Landbesitz von 1778 (nur 5%) mit Vorsicht zu genießen: Rechnet man die pro-forma konvertierten Großgrundbesitzer hinzu, die weiterhin gute Kontakte zur katholischen Gemeinschaft pflegten, dürfte die Zahl deutlich höher gelegen haben. Kevin Whelan spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem katholischen Landbesitzanteil von 20 %. Vgl. Whelan, Gentry, S. 6. 346 Cullen, Emergence, S. 33; Lydon, Making, S. 225. 131 zu Beginn des 18. Jahrhunderts, das daraus resultierende „Middlemen-System“347 und ein Mangel an protestantischen Head Tenants (Hauptpächtern) resultierte darin, daß vor allem im Süden und Westen Irlands viele ehemalige Besitzer in situ blieben und als Middlemen zusammen mit ihren alten Pächtern ihr ehemaliges Eigentum bewirtschafteten, das sich nun in den Händen anglikanischer Großgrundbesitzer befand.348 Die überkommene ländliche Sozialstruktur mit ihren gälisch-katholischen Familienbeziehungen und -loyalitäten blieb also zumindest regional intakt – mit der Einschränkung, daß ihr eine numerisch schwache Suprastruktur aus protestantischen Großgrundbesitzern übergestülpt wurde. Unter diesen Bedingungen gelang es der katholischen Landbevölkerung viele Strukturen aus der vorkolonialen in die Kolonialzeit herüberzuretten. Vor allem in Cork, Kerry und Clare konnten katholische Middlemen viel von ihrem Einfluß bewahren. Sie hielten alte Clanloyalitäten durch Anschubfinanzierungen für Viehkäufe ihrer katholischen Kleinpächter oder durch die bevorzugte Unterverpachtung an Katholiken wach.349 Das soziale Ansehen katholischer Middlemen basierte daher in der Landbevölkerung nicht allein auf Besitz, sondern auch auf ihrem Engagement für ihre katholischen Kleinpächter und auf ihrer familiäre Herkunft. Entsprechend groß konnte auch die soziale Autorität der katholischen Middlemen sein: Sie fungierten oft als informelle Schlichtungsinstanz und hatten viel weniger Probleme bei der Eintreibung der Pachtzinsen als anglo-irische Großgrundbesitzer und Head Tenants.350 Daher setzten im Westen und Süden protestantische Großgrundbesitzer Katholiken vermehrt als Agenten und Verwalter ein, um sich Schwierigkeiten mit ihren Kleinpächtern vom Leib zu halten. 347 Das Middlemen-System bestand darin, daß ein sogenannter Head Tenant (Hauptpächter) von einem Großgrundbesitzer eine Pacht zu relativ langer Laufzeit und moderatem Pachtzins erwarb, um das Land in kleineren Teilen bei geringeren Laufzeiten und höheren Pachtzinsen weiterzuverpachten. Bei den langen Laufzeiten der Pachtverträge der Middlemen ließ sich aus dem Anstieg der Pachten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein beachtlicher Profit herausschlagen. In der zweiten Jahrhunderthälfte ließ die Bedeutung des Middlemen-Systems kontinuierlich nach, weil die Besitzer immer mehr darauf achteten, ihre Einkommensverluste, die aus der Unterverpachtung entstanden, zu minimieren. Die Laufzeiten der Pachtverträge nahmen daher allgemein ab. Vgl. Connolly, Companion, S. 359. 348 Weil Katholiken ihre Pacht weder verlängern noch vererben konnten, sahen sie zu, daß sie vor allem in bewegliche Werte und nicht in Gebäude oder Ameliorationsmaßnahmen investierten. Der klassische katholische Pächter des 18. Jahrhunderts war Viehzüchter - ein Satz, der durch steigende Rinder- und Butterpreise ab den 1720er Jahren weiter an Gültigkeit gewann. 349 Cullen, Emergence, S. 120. 350 Whelan, Gentry, S. 16-18. 132 Auch durch geschickte Familienpolitik und zähe Sparsamkeit gelang es katholischen Bauern in der Expansionsphase der kommerziellen Landwirtschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, den sozialen Aufstieg zu bewerkstelligen. Mit der Kooperation protestantischer Großgrundbesitzer (die oftmals selbst erst vor kurzem zum Anglikanismus konvertiert waren) gelang es ihnen stellenweise, die Erbbestimmungen der Strafgesetze durch informelle Absprachen zu unterlaufen, so daß inoffizielle katholische Erbpachten entstanden.351 Auch katholische Landkäufe durch protestantische Strohmänner kamen vor. Eine geschickte, regional endogame Heiratspolitik sorgte zusätzlich für die notwendige soziale Vernetzung, um den Landbesitz zu erhalten und auszubauen.352 Insgesamt läßt sich festhalten, daß es den Rudimenten der alten gälischen Elite gelang, trotz der Strafgesetze in der Landwirtschaft weiter eine wichtige Rolle zu spielen. Zwei Faktoren waren hierfür ausschlaggebend: Das strukturelle Defizit der kolonialen Überformung der ländlichen Gesellschaft in manchen Regionen Irlands in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts – die numerische Schwäche der Ascendancy und der Absentismus vieler Großgrundbesitzer – und der eiserne Zusammenhalt der überwiegend katholischen Landbevölkerung. Dieser konfessionelle Korporationsgeist, der Klassenantagonismen und -grenzen in der katholischen Landbevölkerung zumindest partiell nivellierte, resultierte tendenziell in einer räumlichen Segregation: In den Regionen mit besonders hohem Absentismus konzentrierten sich katholische Middlemen, die wiederum Land an katholische Kleinpächter unterverpachteten. Alte Loyalitäten, gegenseitige Gefälligkeiten und nicht zuletzt die Bekräftigung sozialer Beziehungsachsen durch Heiraten förderten die soziale Vernetzung und die Stabilität des katholischen Solidarverbands. Das zweite Schlupfloch, das einen ökonomischen Wiederaufstieg der irischen Katholiken zuließ, war der Handel, der von den Regelungen der Strafgesetze weitgehend unberührt blieb und daher einen weißen Fleck bildete, in dem Katholiken ökonomische Entfaltungsmöglichkeiten fanden. Der Grund dafür, daß poten351 Ebd., S. 6 (collusive discoveries), 29 (Kooperation der Großgrundbesitzer); Foster, Modern Ireland, S. 205 (collusive discoveries). Ein prominentes Beispiel für derlei unvorgesehene Kooperation findet sich auch bei Maurer, Geschichte Irlands, S. 143: Die Familie Daniel O’Connells, des katholischen „Befreiers“ der 1820er und 1830er Jahre, schützte ihren Besitz vor dem Zugriff des Regimes ebenfalls auf diese Weise. 352 Whelan führt hier insbesondere Heiraten zwischen Cousins und eheliche Verbingungen zwischen zwei Familien über mehrere Generationen an. Vgl. Whelan, Gentry, S. 30. 133 tielle katholische Handelsaktivitäten der Aufmerksamkeit des anglikanischen Parlaments entkamen, ist simpel: Das von Großgrundbesitzern dominierte irische Parlament setzte die statusheckende Bedeutung des Handels viel zu gering an.353 Das Gros der Katholiken, die über ausreichend Kapital verfügten, nutzte diese Lücke prompt und stiegen in den Handel ein. Bereits 1718 notierte der anglikanische Erzbischof William King alarmiert: „Ich muß weiterhin feststellen, daß die Papisten sich dem Handel zugewendet haben, nachdem man es ihnen unmöglich gemacht hat, Land zu kaufen, und sie haben schon beinahe den gesamten Handel des Königreichs unter ihre Kontrolle gebracht.“354 King übertrieb gewiß hinsichtlich des Umfangs der katholischen Handelsdominanz, aber in der Tendenz hatte er nicht unrecht: Die Katholiken waren auf dem Vormarsch.355 Mehr noch: Sie waren nicht zu stoppen. Nach ersten katholischen Erfolgen im Handel versuchten anglikanische Kaufleute zusammen mit den von ihnen dominierten Stadträten, sich der lästigen Konkurrenz zu entledigen. Das Privileg, Kaufleute zum lokalen Handel in einer Stadt zuzulassen, lag bei den Kaufmannsgilden, die katholischen Kaufleuten diese Erlaubnis nach Möglichkeit verweigerten. Letztere mußten so (theoretisch) darauf gefaßt sein, daß ihre Waren aufgrund fehlender Handelserlaubnis konfisziert wurden.356 Das erwies sich jedoch bald als kaum durchführbar, während der katholischen Gegenstrategie, die auch hier auf Korporationsgeist basierte, ein durchschlagender Erfolg war. Katholische Händler und Kaufleute etablierten sich vor allem dort, wo sie die Mehrheit der Bevölkerung und damit auch der potentiellen Käufer stellten, also im Süden und Westen Irlands (der Handel in Dublin, Belfast und Londonderry war und blieb fest in anglikanischer bzw. presbyterianischer Hand).357 Da es kein Gesetz gab, das Katholiken vorschrieb, bei Protestanten zu kaufen, sie anzustellen oder mit ihnen Handel 353 Vgl. Wall, Rise, S. 75f. Zitiert nach Wall, Rise, S. 76. (meine Übersetzung) 355 Lydon, Making, S. 224. 356 Vgl. Wall, Catholics, S. 87. 357 An dieser Stelle muß der Umstand Erwähnung finden, daß sich das numerische Verhältnis von Katholiken und Anglikanern v.a. in Cork, Waterford, Limerick und Galway durch die Zuwanderung von katholischer Landbevölkerung immer weiter zuungunsten der Anglikaner verschob. Versuche der anglikanisch dominierten Stadträte, diese bedrohliche Entwicklung zu stoppen oder wenigstens zu kanalisieren, scheiterten wie etwa 1704 in Limerick und Galway. 1762 waren z.B. von den 14.000 Einwohnern Galways gerade noch 350 protestantisch. Vgl. Wall, Catholics, S. 86; Lydon, Making, S. 224 (dort auch zum steigenden katholischen Einfluß in den westirischen Städten). 354 134 zu treiben, konnte in diesen Gegenden der Spieß problemlos umgedreht und die protestantische Minderheit marginalisiert werden.358 Protestanten hatten kaum eine Chance, ihren Fuß zwischen Tür und Angel zu schieben. Ein zeitgenössischer anglikanischer Pamphletschreiber faßte die Situation mit den verbitterten Worten zusammen: „Aus der gegenseitigen Solidarität aller Menschen, die unter Unterdrückung leiden, und aus einem gemeinsamen Haß auf ihre Unterdrücker, treiben sie nur miteinander Handel und stellen sich stets gegenseitig an. Wenn ein Papist unter dem Galgen eine Unze Hanf [für den Strick – MR] bräuchte, er würde die protestantischen Läden links liegen lassen und nach Mallow Lane rennen, 359 um sie dort zu kaufen.“ Auch im Fernhandel erwies sich der katholische Korporationsgeist als tragfähig. Ende des 17. Jahrhunderts war eine Reihe vermögender Katholiken nach Frankreich und Spanien ausgewandert, wo sie – von Nantes bis Cadiz – zum Teil sehr erfolgreich Handelshäuser gründeten.360 Durch konfessionelle und auch familiäre Verbindungen zu diesen irischen Exilanten auf dem europäischen Festland verfügten katholische Kaufleute über wertvolle Handelskontakte, so daß es ihnen allmählich gelang, auch den Fernhandel mit Südfrüchten, Portwein und anderen Waren aus Südeuropa unter ihre Kontrolle zu bringen.361 Schließlich gab es auch noch die Option, die Restriktionen der Gilden gezielt dadurch zu unterlaufen, daß der Handel vor die Stadttore verlegt wurde, wo er sich außerhalb des Kontrollbereichs von Gilden und Stadträten befand.362 Bedenkt man die Kaufkraft der katholischen Bevölkerungsmehrheit, dann liegt auf der Hand, daß eine solche Taktik die Gilden und Stadträte sehr schnell zum Einlenken zwang. Da eine protestantische Dominanz des Handels unter diesen Umständen bereits in den 1720er Jahren völlig illusorisch war, beschränkten sich die Anglikaner zunehmend auf Versuche, wenigstens den Umfang des katholischen Handels zu kontrollieren: Katholiken wurden von den Gilden als sogenannte ‘Quartalsbrüder’ 358 Die Grafschaften Cork und Kerry bilden hierfür wiederum ein schönes Beispiel: Die Produkte katholischer Viehzüchter wurden von katholischen Viehhändlern aufgekauft und nach Cork City gebracht, wo sie von Katholiken weiterverarbeitet und danach von katholischen Kaufleuten exportiert wurden. 359 Zitiert nach Wall, Rise, S. 83. Mallow Lane war eine Straße in Cork, in der die katholischen Krämer und Händler ihre Läden hatten. 360 Vgl. Wall, Rise, S. 79, 83f. Laut Lydon, Making, S. 225, reichten die katholischen Handelsbeziehungen bis in die Karibik – nach Antigua, St. Kitts und Montserrat. 361 Vgl. Wall, Rise, S. 77. 362 Vgl. Wall, Catholics, S. 88. 135 zwar zum Handel zugelassen, aber wegen des Sacramental Test nicht in die von Gildenmitgliedern dominierten Stadträte selbst.363 Das bedeutete im Klartext, daß die katholischen Kaufleute zwar Abgaben zu entrichten hatten, aber kein politisches Mitspracherecht dafür erhielten. Dieses Kontrollinstrument stellte sich jedoch ebenfalls schnell aus zweischneidiges Schwert heraus, weil es gleichermaßen Angriffspunkte für katholischen Widerstand und Ansatzpunkte für die Organisation dieses Widerstands bot. Bereits 1717 begannen katholische Kaufleute sich dem „Quarterage-System“ zu widersetzen, und 1758 wurde die Quarterage schließlich von Katholiken vor Gericht erfolgreich angefochten.364 Diese ersten Erfolge sorgten schnell für eine Ausdehnung des Widerstands gegen das „Quarterage-System“, so daß die Städte in den 1760er und 1770er Jahren mehrmals versuchten, die Quartalsbruderschaft für Katholiken vom Parlament gesetzlich verankern zu lassen. Im irischen Unterhaus stießen sie mit diesem Anliegen auf offenen Ohren: 1765, 1767, 1771, 1773 und 1778 wurden dort Gesetzesentwürfe verabschiedet, welche die Quarterage-Praxis gesetzlich absichern sollten365 Diese Entwürfe wurden jedoch regelmäßig vom irischen Kronrat einkassiert, um das katholische Investitionsverhalten nicht negativ zu beeinflußen und damit die Steuereinkünfte des Staates zu reduzieren. Nach 1778 wurde schließlich kein Versuch mehr unternommen, die Handelsfreiheit der Katholiken einzuschränken. 366 Die letzte Möglichkeit, die katholische Handelstätigkeit einzudämmen – die Einführung prohibitiver Sondersteuern für katholische Kaufleute und Händler – hatte nicht einmal im irischen Parlament Aussicht auf Erfolg. Zwischen 1692 und 1800 mußte im irischen Parlament mehrfach über Steuererhöhungen abgestimmt werden, um Budgetdefizite auszugleichen und das Gros dieser Steuererhöhungen betraf den Handel. Mit Sondersteuern hätte man das Handelsvolumen reduziert und damit auch zwangsläufig die staatlichen Einkünfte geschmälert. Das durch diesen Vorgang entstandene Budgetungleichgewicht hätte man entweder durch Einsparungen oder durch neue Steuern kompensieren müssen. Die Einsparungen hätten direkt die Pfründen der Parlamentarier betroffen und neue Steuern hätten nach 363 M. Wall, The Catholics of the Towns and the Quarterage Dispute in Eighteenth Century Ireland, in: O'Brien/Dunne (Hgg.), Catholic Ireland in the 18th Century: Collected Essays of Maureen Wall, Dublin 1987, S. 61-72., S. 63-65. 364 Vgl. ebd., S. 65f.; Dickson, New Foundations, S. 136. 365 Wall, ebd., S. 66-71. 366 Vgl. Wall, Catholics, S. 88; dies., Quarterage, S. 72. 136 Lage der Dinge nur auf Grundbesitz erhoben werden können – in einem Parlament, das vorwiegend aus Großgrundbesitzern bestand, eine gänzlich indiskutable Option. Auf diese Weise setzte sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts allmählich unter den Anglikanern aus wirtschaftlichen Gründen – und auf Druck Englands bzw. der sich langsam organisierenden katholischen Mittelschicht – allmählich die Ansicht durch, daß man im Interesse des allgemeinen Wohlstands nicht versuchen dürfe, katholische Handelsaktivitäten einzuschränken.367 Auch in puncto Landbesitz stand die Ascendancy letztlich auf verlorenem Posten: Nachdem zwischen 1746 und 1774 mehrere Gesetzesvorlagen, in denen den Katholiken längere Pachtverträge zugestanden werden sollten, an der konservativen Mehrheit im Parlament gescheitert waren, wurde den Katholiken 1778 zugestanden, Pachtverträge über den Zeitraum von 999 statt 31 Jahren abzuschließen. Die entscheidende Wende aber brachte auch hier „Grattan‘s Revolution“: 1782 wurde den Katholiken wieder erlaubt, Land regulär zu kaufen, 1792 und 1793 wurden auch die meisten Berufsverbote aufgehoben.368 Die katholische Mittelschicht hatte sich also wirtschaftlich nicht nur wieder fest etablieren können, es gelang ihr à la longue überdies, die zentralen wirtschaftlichen Regelungen der Strafgesetze zu überwinden. c) Soziale Konfliktpotentiale als Folge der ökonomischen Entwicklung (1691-1797) Die ökonomische Entwicklung Irlands im 18. Jahrhundert – insbesondere das dynamische Wachstum während der zweiten Jahrhunderthälfte – blieb nicht ohne einschneidende soziale Folgewirkungen. Die koloniale Substitution der alten ka367 Wall, Catholics, S. 90f. Diese Gesetze erwiesen sich als geeigneter, die kommerzielle Dominanz der Katholiken einzuschränken, als alle Quarterage Bills. Wegen des höheren gesellschaftlichen Ansehens zogen sich viele Katholiken aus dem kommerziellen Leben zurück, wenn sie genug verdient hatten, um sich als ‘landed gentlemen’ niederlassen zu können. Vgl. A. W. Hutton, Arthur Young’s Tour in Ireland. London 1892, Bd. 2, S. 247f. Joe Lee gibt neben dem Sozialprestige auch handfeste ökonomische Gründe als Erklärung für dieses Phänomen an :„(...) it is nonetheless true that many business families viewed business as a halfway house on the way to a higher and better way of life among the professional or landed classes. Business was felt to be all very well for a man on the make, but not for a made man. And apart altogether from the question of social prestige, there were sometimes sound economic reasons for preferring a professional or landed income to a business one - it was often higher, and usually more certain.“ J. Lee, Capital in the Irish Economy, in: L.M. Cullen (Hg.), Formation of the Irish Economy, S. 53-63, S.56. 368 137 tholischen Landbesitzerelite durch die anglikanische Ascendancy, die Entstehung eines neuen katholischen Mittelstands aus Kaufleuten und Middlemen (bzw. Großpächtern), die Kommerzialisierung der Landwirtschaft, die Pauperisierung der ländlichen Unterschichten, das rasante Bevölkerungswachstum und die Migration zwischen Stadt und Land (mit einem eindeutigen Überhang der Wanderung vom Land in die Stadt, der sich in einer explosionsartigen Expansion der urbanen Zentren niederschlug) – all diese Indizien für einen tiefgreifenden sozialen Wandel der irischen Gesellschaft im 18. Jahrhundert haben bereits Erwähnung gefunden. Abschließend gilt es nun zu klären, wie dieser soziale Wandel die Genese und Entwicklung innergesellschaftliche Konfliktpotentiale beeinflußte. Hinter dieser Frage steht schließlich das Erkenntnisinteresse, diejenigen Reservoirs sozialer Unruhe zu identifizieren, die bei entsprechenden Politisierungsbemühungen von interessierten Kreisen potentiell auch für nationalpolitische Ziele mobilisiert und nutzbar gemacht werden konnten. Unterschwellig geht diese Fragestellung von der Hypothese aus, daß sich ein so einschneidender sozialer Wandel nicht ohne krisenhafte Verwerfungen in der Sozialstruktur, nicht ohne einen zumindest temporären oder partiellen Zusammenbruch der althergebrachten Ordnung vollziehen konnte. Der Übersichtlichkeit halber werden Resistenzen gegen den Wandel zunächst auf dem Land und dann in der Stadt untersucht, wobei diese Anordnung expressis verbis auch als Aussage über die relative Bedeutung der Resistenzresiduen verstanden werden will. Soziale Konflikte auf dem Land. Zu Konflikten kam es im sozialen Wandlungsprozeß nicht nur zwischen Großgrundbesitzern und Pächtern über die Höhe der Pachten und die Pachtkonditionen, sondern auch zwischen den Großgrundbesitzern, Behörden und Kirchen auf der einen und den Pächtern auf der anderen Seite über die Art, Höhe und Verteilung der steuerlichen Belastungen. Außerdem sind Kommerzialisierungs- und Konkurrenzkonflikte zwischen verschiedenen Sparten der Landwirtschaft (insbesondere zwischen Viehzüchtern und Ackerbauern) sowie zwischen verschiedenen Pächtergruppen um die Ressource Land feststellbar.369 Zum Teil lassen sich diese Konflikte auch als Antagonismus zwischen 369 Zur Art sozialer Unruhe auf dem Lande vgl. summarisch A. Zeller, Irische Argrarbewegungen, 1760-1880, Frankfurt/M. 1989, S. 119f.; Beames, Peasants, S. 27-31. 138 Modernisierungsbefürwortern und -gegnern interpretieren.370 Diese an und für sich schon konfliktreiche Gesamtsituation wurde zusätzlich durch konfessionellkoloniale Wahrnehmungsmuster überschattet, die einem friedlichen Konfliktmanagement alles andere als dienlich waren. Das Resultat war eine Vielzahl miteinander verzahnter, strukturell begründeter, schwelender Konflikte, die nur geringfügiger Anlässe bedurften, um zum Ausbruch sozialer Unruhen und gewaltsamen Protests zu führen. Die Träger dieser Unruhe stammten primär aus den Reihen der ländlichen Unterschichten vom Kleinpächter und Subsistenzfarmer zum Landarbeiter und Tagelöhner, denn diese sozialen Gruppen hatten – salopp formuliert – am wenigsten zu verlieren.371 Dennoch ist damit die soziale Zusammensetzung des ruralen Konfliktpotentials nicht ganz korrekt beschrieben: Bei Interessenkonvergenz tolerierten auch wohlhabendere Landwirte und Großpächter partiell und punktuell den gewaltsamen Protest der deprivierten Unterschichten. Teilweise zogen Mitglieder der ländlichen Mittelschicht sogar im Hintergrund die Fäden und partizipierten in Führungspositionen an den Aktionen ländlicher Geheimbünde und Agrarbewegungen.372 Formen sozialer Unruhe auf dem Land. Soziale Unruhe auf dem Land äußerte sich in Irland im 18. Jahrhundert auf zwei Weisen: Erstens als spontaner, räumlich begrenzter agrarischer Protest, der sich ebenso rasch wieder verlief wie er entstand. Weil viele der oben erwähnten Konflikte strukturell in der irischen Agrarkonstitution angelegt waren, gab es eigentlich ständig Grund für Protestäußerungen. Dennoch gefährdete diese Form der sozialen Unruhe – ungeachtet ihres tendenziell ubiquitären Charakters – die Stabilität der ländlichen Gesellschaft nicht nachhaltig, da sie lediglich ein Ventil für hochgradig individuellen und spezifischen Protest bot.373 370 S. Clark u. J.S. Donnelly Jr. (Hgg.), Irish Peasants, Violence and Political Unrest, 1780-1914, Madison (Wisconsin) 1983, S. 4-12. 371 Clark/Donnelly, Peasants, S. 17f., zur Diskussion abweichender Ansätze, die den agrarischen Mittelstand als den Kern ruralen Widerstands betrachten vgl. ebd., S. 16f.; Zeller, Agrarbewegungen, S. 130. 372 Zeller, Agrarbewegungen, S. 130. 373 ‚Individuell‘ und ‚spezifisch‘ bedeutet, daß der Protest nur gegen die Person eines bestimmten Verpächters gerichtet war, nur von einer Handvoll Leute ausgeübt wurde, bestenfalls lokal für Aufsehen sorgte und nicht über einen langen Zeitraum aufrecht erhalten wurde. Hierzu zählt also etwa die Rache eines vertriebenen Pächters an seinem Grundherren oder die Bedrohung eines Zehntgeldeintreibers, der als besonders korrupt galt. 139 Die zweite Form sozialer Unruhe wurde der gesellschaftlichen Stabilität dagegen wesentlich gefährlicher. Sie wurde von agrarischen Untergrundorganisationen getragen, die lose organisiert über die Grenzen mehrerer Baronien oder sogar Grafschaften hinaus aktiv waren, gewisse Gemeinsamkeiten aufwiesen374 und die Behörden über Monate und Jahre in einem solchen Ausmaß beschäftigten, daß Ausnahmezustände verhängt, zusätzliche Truppen in den betroffenen Gebieten stationiert und Sondergerichte einberufen wurden.375 Nicht nur die Organisation dieses Protests war ausgefeilter als bei dem spontanen, räumlich begrenzten Protest: Die Agenda dieser Untergrundorganisationen wies in der Regel expansive Tendenzen auf, konzentrierte sich anfangs auf ein spezifisches agrarisches Gravamen bevor sie sukzessive andere Konfliktpunkte aufgriff.376 Generell blieben die Ziele dieser Organisationen darauf beschränkt, regulativ auf Seiten der Kleinpächter und Landarbeiter in agrarische Konflikte einzugreifen, obwohl gelegentlich – etwa bei den Defenders – auch weiterreichende politische Ziele feststellbar sind. „Faction fighting“. Insbesondere in den unzugänglichen Gebirgs- und Moorregionen im Westen und Südwesten Irlands, wo die Magistrate nur mühsam den äußeren Anschein von Gesetzmäßigkeit gegen Schwarzbrenner, Schmuggler und Briganten aufrecht erhalten konnten, gedieh der gewaltsame agrarische Protest besonders gut. Ein weiterer gewaltfördernder Faktor in diesem Szenario war das sogenannte „Faction-fighting“, das auf Jahrmärkten, bei Pferderennen und Festen regelmäßig darin Ausdruck fand, daß Gruppen junger Männer aus verfeindeten Dörfern oder Familien Anlässe suchten, um ritualisierte Handgemenge auszutragen, in denen es oft Verletzte und nicht selten auch Tote gab.377 Diese Gewaltbereitschaft junger Männer fand auch Eingang in die Agrarbewegungen und trug hier offenbar zur Eskalation der Gewalt bei.378 Jedenfalls fällt die räumliche Koinzidenz zwischen „Faction-fighting“ und Agrarbewegungen auf: Das „Faction- 374 Hierzu zählen gleiche Initiationsriten mit elaborierten Eidformeln, äußere Erkennungszeichen wie Kleidungsstücke oder Abzeichen, aber auch die „Handschrift“ ihres Vorgehens. Vgl. Zeller, Agrarbewegungen, S. 131. 375 Ebd., S. 128-131. 376 Das klassische Beispiel hierfür bilden die Whiteboys. Vgl. M. Wall, The Whiteboys, in: T.D. Williams (Hg.), Secret Societies in Ireland, Dublin 1973, S. 13-25., S. 23f.; Smyth, Men, S. 34. 377 Zeller, Agrarbewegungen, S. 108-109. 378 Ebd., S. 114-117. 140 fighting“ konzentrierte sich im Westen und Südwesten Irlands, wo sich ab den 1760er Jahren auch die Hochburgen agrarischen Protests befanden.379 Phasen ländlicher Unruhe. In Hinsicht auf die zeitliche Verteilung der Äußerungen sozialer Unruhe auf dem Land läßt sich das 18. Jahrhundert in drei Phasen unterteilen: Eine Phase jakobitisch-sozialökonomisch motivierten Protests zwischen 1691 und 1713/14, eine Phase relativer Ruhe zwischen 1715 und 1760,380 in der nur wenig und lokal begrenzter Protest zu verzeichnen ist, und einer Phase heftiger sozialer und konfessioneller Auseinandersetzungen, die bis zum Ende des Jahrhunderts anhielten. Hier waren diverse Agrarbewegungen regional und überregional in Intervallen von mehreren Jahren aktiv und sorgten für erhebliche Störungen in der ländlichen Gesellschaft. Rapparees. Die erste Phase wurde zunächst vom Treiben der bereits erwähnten Rapparees geprägt. Obwohl sich ihre Überfälle kaum von denen hergelaufener Straßenräuber unterschieden, genossen sie gerade in den katholischen Unterschichten auf dem Land hohes Ansehen: In Balladen wurden sie als Beschützer der kleinen Leute vor der Willkür der anglo-irischen Großgrundbesitzer gefeiert. Selten fehlte das sozialromantische Umverteilungs-Topos à la Robin Hood, daß die Rapparees Reiche bestahlen und ihre Beute mit den „armen Leuten“ teilten.381 Die Bedeutung der Rapparees liegt zum einen darin, daß sie eine VolksheldenTradition begründeten, in die sich am Ende des 18. Jahrhunderts einige United Irishmen – vor allem Joseph Holt und Michael Dwyer – nahtlos einreihen konnten, als sie sich nach der Niederschlagung der Rebellion von 1798 in die Wicklow Mountains zurückzogen, um von dort aus ihren Kampf fortzusetzen.382 Zum anderen äußerten Zeitgenossen die Befürchtung, daß die Rapparees agrarische Unruhen in den Augen der ländlichen Unterschichten salonfähig gemacht und so die Hemmschwelle für den Ausbruch ländlicher Gewalt gesenkt hätten.383 Drittens legten die Rapparees schließlich die Basis für die konfessionelle Wahrnehmung 379 Ebd., S. 112-114. Auch in dieser Zeit gab es jedoch punktuell Unruhen wie etwa während der Hungersnöte von 1741 und 1756, um den Export von Getreide zu verhindern. Vgl. Wall, Whiteboys, S. 13. 381 Beames, Peasants, S. 22. 382 Vgl. T. Bartlett, 'Masters of the Mountains': The Insurgent Careers of Joseph Holt and Michael Dwyer, County Wicklow, 1798-1803, in: K. Hannigan/W. Nolan (Hgg.), Wicklow – History & Society. Interdisciplinary Essays on the History of an Irish County, Dublin 1994, S. 379-410. Michael Dwyer blieb bis 1803 aktiv, ergab sich dann, wurde nach Australien ins Exil gebracht, wo er es 1815 zum High Constable von Sydney brachte. 383 Beames, Peasants, S. 22. 380 141 der nachfolgenden Agrarkonflikte durch die Großgrundbesitzer. Wegen der Erfahrungen mit den Rapparees konnte daher selbst bei eindeutig sozialökonomisch motivierten Agrarprotesten in protestantischen Kreisen immer wieder der Verdacht laut werden, es handele sich bei den Unruhen eigentlich um „katholische Verschwörungen“. Die Houghers. 1711-1713 kam es im Westen Irlands zu den ersten Ausbrüchen klassischen „Sozialbanditentums“ (ERIC HOBSBAWM). Die mysteriösen Houghers überfielen nachts Rinder- und Schafherden wohlhabender Viehzüchter in der Provinz Connacht und verstümmelten oder schlachteten die Tiere. Hinter diesen Überfällen verbargen sich primär zwei Motive. Zum einen herrschte durch die Ernteausfälle von 1710 gerade Lebensmittelknappheit. Da Märktestädte im relativ dünn besiedelten Connacht in der Regel zu weit entfernt waren, um das über Nacht geschlachtete Vieh dort zu verkaufen, mußten die Viehzüchter das Fleisch der getöteten oder nutzlos gemachten Tiere zu niedrigen Preisen an die Landbevölkerung in der Nachbarschaft abgeben.384 Davon profitierten besonders die „kleinen Leute“ der Region, die – wie LECKY ausführt – den Houghers entsprechend wohlgesonnen waren.385 Das zweite Motiv für die Anschläge war, daß wegen steigender Rindfleischpreise in Connacht Ackerbau zunehmend durch Viehzucht substituiert wurde, weil damit größere Gewinne und höhere Pachten zu realisieren waren. Da Viehzucht aber weniger arbeitskraftintensiv war, resultierte diese Entwicklung gleichzeitig in einer höheren Arbeitslosigkeit unter den Landarbeitern und in einschneidenden Einkommensverlusten der Kleinpächter durch gestiegene Pachtpreise.386 Daher muß das „Cattle-houghing“ auch als Widerstand gegen diese Kommerzialisierung der Landwirtschaft betrachtet werden.387 Die betroffenen Großgrundbesitzer und Magistrate vermuteten jedoch auch politische Motive hinter dem Treiben der Houghers, weil ihre Vorgehensweise geschickte Planung verriet und sich angeblich „Gentlemen“ unter ihren Anführern befanden.388 Daher kursierten Gerüchte, daß französische Geldgeber hinter den Houghers steckten und daß ein allgemeiner Aufstand – die ominöse „katholische Ver- 384 Lecky, History of Ireland I, S. 362; Froude, English in Ireland I, S. 411. Lecky, ebd., S. 362f. 386 Ebd., S. 362. 387 Ebd. 388 Ebd., S. 363; besonders prominent tritt diese Verschwörungstheorie bei Froude, English in Ireland I, S. 410-413, in Erscheinung. 385 142 schwörung“ – unmittelbar bevorstehe.389 Die Magistrate ergriffen prompt scharfe Gegenmaßnahmen, konnten der Houghers aber nicht recht Herr werden, weil Zeugen eingeschüchtert und Juries bestochen wurden – mit dem Schutzgeld, das Viehzüchter an die Houghers zu bezahlen begannen, um ihre Herden vor Angriffen zu schützen.390 1713 hörte der Spuk schlagartig auf und bis heute weiß niemand genau, warum.391 Es könnte damit zu tun haben, daß die Überfälle sich nicht mehr lohnten, weil die Magistrate Anweisung gaben, das Fleisch der getöteten Rinder zu verbrennen.392 Außerdem wurde das „Cattle-houghing“ durch die intensive Verfolgung seitens der Behörden immer gefährlicher. Auch eine – eher zufällige – Ausschaltung einiger Anführer durch die Behörden ist nicht gänzlich ausgeschlossen. Sicher ist nur, daß dies für die nächsten 50 Jahre der einzige Agrarprotest blieb, der über die Grenzen einer Grafschaft hinausreichte. Die Whiteboys393 griffen den agrarischen Widerstand in den frühen 1760er Jahren wieder auf und weiteten ihn aus. Im Gegensatz zu den Houghers stellten die Whiteboys aber ihre Aktivitäten nicht spontan ein, sondern blieben trotz aller Anstrengungen der Magistrate bis zum Ende des Jahrhunderts aktiv (vor allem während der Jahre 1761-63, 1775ff., 1785ff., 1797/98).394 Das Zentrum dieser Agrarbewegung lag ursprünglich in den Grafschaften Tipperary und Cork, im Süden Irlands. Sukzessive dehnte sich ihr Aktionsradius aber über die ganze Provinz Munster und bis in die Randgebiete Leinsters und Connachts aus. Den Auslöser für die Whiteboy-Unruhen bildete ein weiteres Mal die Expansion der Viehwirtschaft, die zur Einzäunung von Allmenden, zu steigenden Pachten und so zur Zerstörung der sogenannten „villager communities“395 führte. Die Whiteboys setzten sich dagegen mit dem Einreißen der Zäune, dem Umgraben von Weideland und 389 Lecky, History of Ireland I, S. 363-365. Ebd., S. 365. 391 Lecky äußert sich dazu nicht; Froude erklärt, die Sache sei nie wirklich aufgeklärt worden; Beames und Zeller beschränken sich hier darauf, Lecky zu zitieren. Das deutet darauf hin, daß weitere Informationen nicht vorliegen. Vgl. Lecky, ebd., S. 367; Froude, English in Ireland I, S. 412; Beames, Peasants, S. 23, Zeller, Agrarbewegungen, S. 124. 392 Lecky, ebd., S. 465. 393 Der Name leitete sich daraus ab, das die Mitglieder dieses Geheimbundes Hemden und Masken aus grobem weißen Leinen trugen. Protestantische Verschwörungstheoretiker erblickten in der Farbe der Hemden gleich eine Anspielung auf den jakobitischen Hintergrund der Whiteboys, da Weiß die Farbe der Stuarts war. Lokal waren sie auch unter anderen Namen – als Rightboys, Levellers oder Corkboys – bekannt. Vgl. Zeller, Agrarbewegungen, S. 125. 394 Vgl. Aufstellung Beames, Peasants, S. 25. 390 143 dem bereits bekannten „cattle-houghing“ zur Wehr. Peu à peu nahmen sie aber auch alle anderen sozialökonomischen Gravamina der Landbevölkerung in ihre Agenda auf: Ungerechtigkeiten bei den Zehntabgaben an die anglikanische Kirche396, exzessive Pachtpreise, überhöhte Gebühren katholischer Priester für seelsorgerische Dienste etc. Durch Einschüchterung der Zehnteintreiber, Großgrundbesitzer und auch Priester versuchten sie diese Personenkreise zum Einlenken zu bewegen: Drastische Drohbriefe wurden übermittelt, Särge verschickt, im Garten der Zielpersonen Gräber ausgehoben oder Galgen aufgestellt.397 Es kam aber auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, deren Höhepunkt wohl der Überfall mehrerer Hundert Whiteboys auf das Anwesen des katholischen Großgrundbesitzers Robert Butler in Kilkenny darstellte.398 Auch Folterungen und Attentate wurden verübt.399 Wichtig ist, daß diese gewaltsamen Protestäußerungen sich gleichermaßen gegen katholische und anglikanische Landbesitzer richteten, so daß der sozialökonomische Hintergrund dieser Agrarbewegung eigentlich nicht in Zweifel gezogen werden kann. Die Reaktion der katholischen Kirche – Whiteboys wurden wiederholt von katholischen Bischöfen exkommuniziert400 – deutet in die gleiche Richtung, zumal selbst katholische Priester von den Whiteboys gewaltsam ‚ins Gebet genommen’ wurden. Trotz alledem hing über den Whiteboy-Unruhen aber stets der Ruch einer „papistischen Verschwörung“, kursierten in protestantischen Oberschichtkreisen die üblichen Verschwörungstheorien über französische und jakobitische Invasionsabsichten, richteten sich die Gegenmaßnahmen der Magistrate vor allem gegen katholische Priester.401 Das demonstriert wie schnell koloniale Wahrnehmungsmuster und Ängste zur Hand waren, wenn es darum ging, die dezidierte Weigerung der anglo-irischen Oberschicht zu legitimieren, sich mit den 395 Eine Art Subsistenzfarmerkommune, in der ca. 20 Kleinpächterfamilien ihr Kaufkraft zusammenlegten, um ein Stück Land pachteten, daß sie in Parzellen für jede Familie und gemeinsam bewirtschaftetes Land aufteilten. 396 Für besondere Erbitterung sorgte der Umstand, daß Weideflächen ab 1735 zehntabgabenfrei blieben, während der kleinste Kartoffelacker der Kleinpächter Zehntabgaben entrichten mußte. Vgl. M.J. Bric, The Whiteboy Movement in Tipperary, in: W. Nolan/T.G. McGrath (Hgg.), Tipperary: History and Society, Interdisciplinary Essays on the History of an Irish County, Dublin 1985, S. 148-184., S. 152. 397 Ebd., S. 153; Wall, Whiteboys, S. 17. 398 Wall, ebd., S. 19, zu anderen Überfällen vgl. Bric, ebd. 399 Bric, ebd., S. 156. 400 Ebd., S. 157; Wall, Whiteboys, S. 18-20, wonach der katholische Bischof von Cashel – der Bruder Robert Butlers – sogar aus katholischen Pächtern eine Anti-Whiteboy Einheit zusammenstellte. 144 Gravamina der hauptsächlich katholischen ländlichen Unterschichten auseinanderzusetzen. Der sozialökonomisch motivierte agrarische Protest war jedoch nicht nur auf den katholischen Süden Irlands beschränkt. Der Aufruhr, der 1763 von den protestantischen Oakboys in Südulster verursacht wurde, demonstriert das ebenso deutlich wie die Proteste der ebenfalls protestantischen Steelboys in Ostulster in den Jahren 1769 bis 1773.402 Wie bei den Whiteboys ging es auch bei den Oakboys und Steelboys um lokale Mißstände, die in Ulster allerdings nur am Rande mit der Expansion der Viehzucht und der Kommerzialisierung der Landwirtschaft zusammenhingen. Hier richtete sich der Protest vor allem gegen exzessive Steuern und Handdienste, die den Kleinpächtern und Landarbeitern für den Straßenbau und die Instandhaltung der lokalen Infrastruktur abverlangt wurden, und gegen die Praxis einiger Großgrundbesitzer in Antrim und Down, beim Auslaufen eines Pachtvertrages, den Pächter mit hohen Gebühren für die Erneuerung des Pachtvertrages zur Kasse zu bitten.403 Wie bei den Whiteboys zielte auch der Widerstand der Oak- und Steelboys allein auf die Wiederherstellung des Status Quo ante ab.404 Die Mittel, die diese Agrarrebellen verwendeten, waren ebenfalls eng mit denen der Whiteboys verwandt: Die Zerstörung des Eigentums derjenigen Pächter, die sich den neuen Pachtbedingungen unterwarfen und so die Preise in die Höhe trieben, und der Großgrundbesitzer, die sich durch exzessive Pachtforderungen hervortaten, sowie die Bedrohung von Steuereintreibern. Überfälle, Brandanschläge und das allgegenwärtige „cattle-houghing“ rundeten das Bild ab.405 1772 mußten schließlich Truppen eingesetzt werden, um ein weiteres Ausufern der Proteste zu unterbinden. Allerdings gab es auch zwei bemerkenswerte Unterschiede zwischen den Whiteboyunruhen und dem Treiben der Oakboys und Steelboys: Erstens hielten die sozialökonomisch motivierten Unruhen in Ulster nicht so lange an wie im Süden, weil viele der daran beteiligten Personen nach Amerika emig401 Bric, ebd., S. 157-160, behauptet, daß diese Wahrnehmung durch den Tod des Old Pretender, Jakobs III., etwas relativiert wurde, Wall, ebd., S. 25, sieht darin ein durchgängiges Muster. 402 Beames, Peasants, S. 25. 403 Beckett, Making, S. 178. 404 Daß es beiden Organisationen nur um die Beseitigung von Auswüchsen ging, kann man daran erkennen, daß die Proteste der Oakboys umgehend nachließen, als die Straßenbaugesetze modifiziert und die Handdienste reduziert wurden. Vgl. ebd. Die Maßnahmen der Steelboys zielten darauf ab, die Pachten und Lebensmittelpreise – gerade während der schlechten Ernten von 17701772 – stabil zu halten. Vgl. Bardon, History, S. 208. 405 Beckett, Making, S. 178; Bardon, History, S. 206f. 145 rierten als absehbar wurde, daß sich die Zustände kurzfristig nicht bessern würden.406 Das zeigt einmal mehr, daß die Pächter in Ulster – vor allem wegen ihrer Einkommen aus dem Textilgewerbe – über mehr Substanz verfügten als ihre katholischen Standesgenossen im Süden: Während die katholischen Whiteboys mangels Finanzkraft über keine Alternative zum Widerstand verfügten und darum langfristig daran festhielten, hatten die Pächter in Ulster die Möglichkeit, sich dem Druck der Grundbesitzer durch Emigration zu entziehen. Der zweite Unterschied besteht darin, daß konfessionelle Unterschiede und koloniale Deutungsmuster bei der Wahrnehmung der Unruhen keine erkennbare Rolle spielten. Der agrarische Protest in Ulster wurde von Zeitgenossen schlicht als Ausdruck der sozialen Deprivation der Kleinpächter gewertet.407 Die Wirkmächtigkeit kolonialer Wahrnehmungsmuster für die Gestalt ländlicher Sozialkonflikte läßt sich am besten anhand der Konflikte zwischen den Peep o’ Day Boys und den Defenders zwischen 1784 und 1798 nachvollziehen. Das Beispiel der Whiteboys hat bislang lediglich illustriert, wie die Kongruenz kolonialer und sozialer Konfliktlinien Konflikte intensivieren konnte. Das Peep o’ Day/Defender-Exempel zeigt dagegen, wie koloniale Wahrnehmungsmuster zur Umdeutung sozialer Antagonismen beitragen konnten. Da die Defenders wegen ihrer engen Verbindung zu den United Irishmen später noch detailliert diskutiert werden, genügt es an dieser Stelle, die Situation mit ein paar groben Strichen zu skizzieren. Die Leinenproduktion in Ulster und der damit verbundene relative Wohlstand in Ulster übte eine große Anziehungskraft auf katholische Kleinpächter in den angrenzenden Grafschaften Nordconnachts und Nordleinsters aus. Die Folge waren Wanderungsbewegungen nach Ulster, wo Katholiken wegen ihres niedrigeren Lebensstandards höhere Pachten zahlen konnten und so den Verdrängungsdruck auf die protestantische Konkurrenz erhöhten.408 Umgekehrt versuchten anglikanische Landbesitzer in Nordconnacht, am Leinenboom zu partizipieren, indem sie – zulasten der katholischen Kleinpächter – presbyterianische Weber, die einen Ruf als Experten der Leinenproduktion genossen, auf ihrem Land ansiedelten.409 Die Gefahr konfessioneller Spannungen, die wegen der Durchmi406 Beames, Peasants, S. 24. Bardon, History, S. 207 408 J. Smyth, Men, S. 47. 409 D.W. Miller, Peep o' Day Boys and Defenders, Selected Documents on the Disturbances in County Armagh, 1784-96, Belfast 1990, S. 24. 407 146 schung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen ohnehin schon hoch war, wurde durch die in der Grafschaft Armagh fest verankerten „Faction-fights“ zusätzlich forciert. Allmählich entwickelte sich aus der endemischen Gewalt eine Dauerfehde zwischen zwei „Factions“, die sich peu à peu in die protestantischen Peep o’ Day Boys und die katholischen Defenders ausdifferenzierten.410 Unter dem Deckmantel, die Einhaltung der Strafgesetze überwachen zu wollen, begannen die Peep o’ Day Boys, die Cottages katholischer Kleinpächter zu überfallen, nach Waffen zu durchsuchen, zu verwüsten und niederzubrennen. Bei der Gelegenheit wurde gleich auch ein Schlag gegen die Konkurrenz katholischer Weber gelandet: Webstühle und Leinentücher wurden stets zerstört. Darüber hinaus richteten sich die Peep-o’-Day-Überfälle auch gegen protestantische Befürworter einer prinzipiellen Gleichstellung der Katholiken. Die katholische Landbevölkerung reagierte auf die Übergriffe mit der Gründung der Defenders, die sich allerdings nicht – wie der Name vielleicht suggeriert – darauf beschränkten, Katholiken zu beschützen, sondern statt dessen zum Gegenangriff übergingen. Die Gewalt eskalierte immer weiter – auch weil die Magistrate in Armagh zwar gegen die Defenders, nicht aber gegen die Peep o’ Day Boys konsequent durchgriffen.411 Der Höhepunkt dieser Auseinandersetzung wurde schließlich mit der sogenannten „Schlacht am Diamond“ im Dezember 1795 erreicht, wo die Defenders schwere Verluste erlitten. Die Peep o’ Day Boys, die nach ihrem Sieg den Oranierorden (Orange Order) gründeten,412 führten anschließend Massenvertreibungen durch: Bis zu 10.000 katholische Pächter und Weber flohen im Winter 1795 vor den Peep o’ Day Boys aus den Grafschaften Tyrone, Derry und Monaghan. Der größte Teil dieser Flüchtlinge siedelte sich in Nordconnacht an.413 Mit dieser ‚kolonialen Säuberungsaktion’ waren die gewaltsamen Zusammenstöße fürs erste beendet, aber die konfessionelle Aufladung sozialer Konflikte dehnte sich dadurch sogar noch aus, da die Flüchtlingen den Defenderismus nach Connacht ‚exportierten‘.414 Für unsere Fragestellung ist jedoch ausschlaggebend, daß in Ulster in den 1790er Jahren soziale Konflikte zwischen Grundbesitzern und 410 Ebd., S. 11-23. Beames stellt die These auf, daß ehemalige Steelboys ebenfalls in der Peep o’ Day Boy-Bewegung aktiv waren. Vgl. Beames, Peasants, S. 24. 411 Miller, ebd., S. 31-33. 412 Beckett, Making, S. 257. 413 Smyth, Men, S. 111. 414 Ebd.; Kee, Most Distressful Country, S. 44. 147 Pächtern durch koloniale Wahrnehmungen völlig umgedeutet wurden. Nimmt man den Steelboy-Protest der frühen 1770er Jahre als Meßlatte, dann hätte die steigenden Pachtpreise der 1780er und 1790er Jahre zum Widerstand gegen die Grundbesitzer führen müssen. Statt dessen richtete sich der gewaltsame Protest aber gegen eine anderskonfessionelle Gruppe aus exakt der gleichen sozialen Schicht. Das ist ein entscheidendes Argument für die regionale Besonderheit Ulsters: Während im Rest Irlands der Antagonismus in der ländlichen Gesellschaft entlang sozialer Scheidegrenzen verlief (weil soziale und konfessionelle Grenzen praeter propter identisch waren und sich gegenseitig verstärkten), war dieser Konflikt in Ulster zunehmend entlang konfessioneller Grenzen ausgelegt (weil koloniale Wahrnehmungsmuster und regionale Traditionen zusammen mit der kurzfristigen Dynamik der Wanderungsbewegungen im Grenzland von Ulster die Konfessionszugehörigkeit in den Vordergrund und die soziale Dimension des Landkonflikts in den Hintergrund rückten). In Ulster kam es also nicht zu einer gegenseitigen Verstärkung von kolonialen und sozialen Konfliktwahrnehmungen, sondern zu einem Widerspruch: Hier mußte man sich für eine der beiden Lesarten entscheiden. Sowohl das Verhalten der Peep o’ Day Boys selbst als auch das zögerliche Vorgehen lokaler Magistrate gegen protestantische Unruhestifter belegen, daß sich in der nicht-katholischen Bevölkerung ein schichtübergreifender Konsens herauskristallisierte, der kolonialen Deutung Vorrang einzuräumen. Soziale Konflikte in der Stadt. Wendet man sich nun den sozialen Konflikten in den Städten zu, dann muß man deutlich zwischen den Marktstädten im Landesinneren und den Hafenstädten differenzieren. Die Marktstädte waren als urbane Handelsumschlagplätze für die Produkte ihres Hinterlandes fest in die ökonomischen und sozialen Strukturen der ländlichen Gesellschaft integriert, so daß hier keine grundsätzlich neuen Erkenntnisse zu erwarten sind. In den Hafenstädten sah die Lage etwas anders aus, weil der Überseehandel das kaufmännische Element in der städtischen Sozialstruktur prononcierter hervortreten ließ.415 Wie aber etwa die Abhängigkeit Corks, des Zentrums des irischen Rindfleischexports, von seinem von der Viehwirtschaft bestimmten Hinterland belegt, war auch hier die Verbindung zwischen Stadt und Land im 18. Jahrhundert noch sehr eng.416 Darüber hinaus ist die Analyse der Hafenstädte im Westen und Süden von Galway bis 415 416 Cullen, ED II, S. 182 Cullen, ED I, S. 142; ders., ebd., S. 181. 148 Cork auch deshalb nicht besonders interessant, weil sich hier kaum Aufschlüsse über das Zusammenspiel von kolonialen und sozialökonomischen Konfliktherden gewinnen läßt, da die Wirtschaft dieser Städte sich schon in der ersten Jahrhunderthälfte fest in der Hand katholischer Kaufleute und Unternehmer befand.417 Im Vergleich zu Dublin sind diese Städte vollkommen uninteressant, denn dort kann man viele Entwicklungen besonders pointiert beobachten, die dort zudem viel besser dokumentiert sind. Aus diesen Gründen wird sich die Analyse der sozialen Konflikte in der Stadt auf Dublin als das Modell des urbanen Zentrums in Irland im 18. Jahrhundert beschränken. Der Dubliner Schmelztiegel. Dublin war im 18. Jahrhundert nach London die zweitgrößte Stadt des britischen Empire und zugleich das unangefochtene administrative, politische, kulturelle und akademische Zentrum, der größte Finanzplatz und die führende Hafenstadt der gesamten Insel.418 Damit nicht genug war es auch die am schnellsten wachsende Stadt: Im 18. Jahrhundert wuchs die Bevölkerung Dublins um mehr als das Dreifache auf 180.000 bis 200.000 Anwohner an, die bebaute Fläche der Stadt sogar um das 20fache.419 Dieses Bevölkerungswachstum wurde zunächst primär aus Zuwanderungsbewegungen aus den umliegenden Grafschaften gespeist. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts änderte sich dieses Wanderungsmuster jedoch einschneidend: Mehr und mehr Menschen wanderten nicht aus dem Dubliner Hinterland, sondern aus dem irischen Westen nach Dublin.420 Dieser Prozeß hatte drei Folgen. Erstens stellten sich in Dublin die konfessionellen Mehrheitsverhältnisse auf den Kopf: Das koloniale Zentrum verwandelte sich von einer protestantischen Bastion in eine mehrheitlich von Katholiken bewohnte Stadt.421 Zweitens führte die Wanderungsbewegung zu erheblichen sozialen Spannungen: Die billigen, ungelernten Arbeitskräfte vom Lande gaben dem Manufakturwesen Auftrieb, das auf diese Weise dem Handwerk erfolgreich Konkurrenz machen konnte und damit die Existenz der Handwerksmeister und Gesel- 417 Lydon, Making, S. 224. Vgl. Smyth, Men, S. 122; ders., Dublin's Political Underground in the 1790s, in: G. O'Brien (Hg.), Parliament, Politics and People. Essays in 18th Century Irish History, Dublin 1989, S. 129148, S. 129; D. Dickson, Capital and Country: 1600-1800, in: A. Cosgrave (Hg.), Dublin Through the Ages, Dublin 1988, S. 63-76, S. 67. 419 Dickson, ebd., S. 66, Proudfoot, Patronage, S. 31; Dickson, Mask, S. ix. 420 Proudfoot, ebd., S. 31. 421 Dickson, Capital, S. 74. Zum Vergleich: 1659 hatte das Verhältnis von protestantischen zu katholischen Einwohnern noch bei 8:3 gelegen. 418 149 len (vor allem im Textilgewerbe) bedrohte.422 Drittens entwickelte Dublin durch den Ansturm arbeitssuchender Landarbeiter eine neue Sozialgeographie: Das traditionelle Nebeneinander von Arm und Reich wich einer großräumigen Segregation der Unterschicht von der Mittel- und Oberschicht. Vereinfacht gesprochen erlebten die älteren westlichen Stadtteile Dublins einen sozialen Abstieg, während die wohlhabendere Bevölkerung in den Osten der Stadt auswich.423 Die Ghettoisierung der westlichen Stadtteile – der sogenannten „Liberties“ – resultierte in entsetzlichen Lebensbedingungen: Schlecht beleuchtet, fast ohne Kanalisation, extrem überbevölkert und somit ein Brutherd für Armut, Krankheit und Kriminalität war die Gegend am Ende des 18. Jahrhunderts nur noch unter der Bezeichnung „Hölle“ bekannt.424 Soziale Unruhen und ihre politischen Weiterungen in Dublin. Angesichts dieser Umstände überrascht es nicht, daß soziale Proteste, Arbeitskämpfe und Unruhen in Dublin an der Tagesordnung waren.425 Allein zwischen 1728 und 1759 gab es in Dublin mindestens 16 Streiks der Weber, der längste zog sich 1758 über drei Monate hin.426 Diese Streiks wurden von den sogenannten Combinations ins Werk gesetzt, quasi-gewerkschaftlichen Zusammenschlüssen von Gesellen, Lehrlingen, freien Webern und zunehmend auch von Manufakturarbeitern.427 Insbesondere die Weber waren von extremer Militanz, wobei sich gerade in dieser Berufsgruppe sozialökonomische Motive mit konfessionellem Haß und der endemischen Gewalt des „faction-fighting“ paarten. Die Weber in den Liberties fielen ab den 1720er Jahren regelmäßig dadurch auf, daß sie sich zu den protestantischen „Liberty Boys“ zusammenschlossen, die sich kontinuierlich blutige Straßenkämpfe mit den katholischen „Ormond Boys“ von der anderen, nördlichen Seite des Liffey lieferten. Alle Zutaten eines „Faction“-Fehde waren hier vereint: Die Kombattanten kamen aus unterschiedlichen, durch den Fluß deutlich voneinander getrennten Stadtteilen, gehörten zwar der gleichen sozialen Schicht, aber unterschiedlichen Berufsgruppen und außerdem auch noch unterschiedlichen Konfes422 Dickson, Mask, S. viii; S. Murphy, Municipal Politics and Popular Disturbances: 1660-1800, in: Cosgrave, Dublin Through the Ages, S. 77-92, S. 81. 423 Dickson, Mask, S. viii. 424 Dennis Carroll, Dublin in 1798, Three Illustrated Walks, Dublin 1998, S. 19f. 425 Smyth, Men, S. 122. 426 Ebd., S. 124. 427 Ebd., S. 124f. Wiederholt (1729, 1743, 1757, 1763, 1772) versuchte das Parlament der Combinations durch Gesetze Herr zu werden, drang damit allerdings nicht durch. Vgl. ebd., S. 133f. 150 sionen an.428 Zusammen mit den „Trinity Boys“ – der studentischen „Faction“ – bildeten diese Gruppen den gewaltbereiten Kern des sogenannten „Liberty mob“, bei dessen Zusammenstößen ein extrem hohes Gewaltniveau erreicht wurde.429 Zusätzlich begannen die Weber aber auch, ihre ökonomischen Interessen zu schützen: 1734 plünderten sie Dubliner Geschäfte, die englische Waren feilboten, 1745 präsentierten sie eine Petition gegen den Import englischer Textilien.430 Ab den 1750er Jahren wurden zudem Klagen von Manufakturunternehmern laut, katholische Neuankömmlinge würden in der Stadt zunehmend „feindlich“ empfangen.431 Des weiteren schälte sich bei den Unruhen allmählich eine Tendenz zur Verquickung sozialökonomischen und politischen Protests heraus, so daß der ‚Mob’ sich allmählich in eine von Dubliner Mittelschichtsradikalen gesteuerte ‚Menge’ verwandelte:432 1759 sorgten zum Beispiel Gerüchte über eine bevorstehende staatliche Union Irlands mit Großbritannien für heftige Unruhen, weil die Menge befürchtete, daß dann der Handel in Dublin zum Erliegen käme und ihre Produkte keine Abnehmer mehr fänden. Wohlorganisiert versammelten sich mehrere Tausend Demonstranten in den Liberties, zogen anschließend zum Parlamentsgebäude, errichteten vor dem Gebäude einen Galgen als Warnung an alle Abgeordneten, die sich für die Union einsetzen würden, fingen dann einzelne Abgeordnete ab und zwangen sie zu schwören, daß sie einer solchen Vorlage nicht zustimmen würden. Der Lordkanzler wurde von der Menge gewaltsam aus seiner Kutsche gezogen, ein Mitglied des Kronrats die Straße entlang gezogen, der Generalstaatsanwalt beschimpft und mit Dreck beworfen, dem Earl von Inchiquin die Robe und die Perücke vom Leib gerissen. Anschließend brach die ‚Menge’ mit Gewalt ins Oberhaus ein und setzte eine alte Frau auf den Sitz des Parlamentspräsidenten. Sie zogen erst ab, als Truppen aus den naheliegenden Garnisonen anrückten und ihnen der Parlamentspräsident zugesichert hatte, das alles beim 428 Die Liberty Boys bestanden vorwiegend aus anglikanischen und presbyterianischen Webern, die Ormond Boys dagegen mehrheitlich aus katholischen Fleischern. Vgl. Murphy, Municipal Politics, S. 81f. 429 Die Spezialität der Ormond Boys war es offensichtlich, ihren Gegnern mit Messern die Sehnen der Beine durchzuschneiden, um sie zu lähmen, während die Weber zumindest bei einer Gelegenheit ein paar Ormond Boys mit dem Kiefer an ihren eigenen Fleischerhaken aufhängten. Diese Auseinandersetzungen zogen sich bis in die 1790er Jahre hin. Vgl. M.J. Craig, Dublin 1660-1860, London 1992, S. 88f. 430 Vgl. Foster, Buying Irish, S. 44ff. 431 Dickson, Capital, S. 74, Murphy, Municipal Politics, S. 81. 432 Vgl. Smyth, Men, S. 125. 151 Alten bleiben werde.433 Ähnliche Verbindungen zwischen politischem und sozialökonomischem Protest lassen sich auch bei der Freihandelskampagne der Volunteers Ende der 1770er Jahre beobachten. Der Krieg mit den amerikanischen Kolonien rief in Irland eine Rezession hervor, die Arbeitslosigkeit in den Dubliner Unterschichten wuchs in einem solchen Ausmaß, daß die Regierung sich gezwungen sah, einen Hilfsfond einzurichten.434 Entsprechend eifrig unterstützte die Dubliner ‚Menge’ die Vorschläge der „Patrioten“, eine Anti-Import-Kampagne durchzuführen: Arbeitslose Weber – die sogenannten „cutting weavers“ – zogen durch Dublin und plünderten Geschäfte, die importierte Textilwaren führten.435 Geschäftsinhaber wurde drangsaliert und gezwungen, sich der Anti-ImportKampagne anzuschließen. Spannend ist, daß einige Textilgeschäfte von einer zwanzigköpfigen Bande von Fleischern – also von den katholischen „Ormond Boys“ – überfallen wurden. Signifikant ist außerdem, daß die Namen derjenigen Geschäftsleute, die geplündert wurden, weil sie noch mit importierter Ware handelten, zuvor in einer Dubliner Zeitung veröffentlicht worden waren.436 Das sind deutliche Indizien dafür, daß der politische Widerstand soziale und konfessionelle Grenzen überwand.437 Wie 1759 wurden 1779 auch wieder Abgeordnete belästigt und zur Unterstützung der Freihandelsvorlage genötigt und das Parlament wiederum zum Einlenken gezwungen. 1784 wiederholte sich der gleiche Mechanismus noch einmal: Hohe Lebensmittelpreise und Massenarbeitslosigkeit führten zu Forderungen nach protektionistischen Maßnahmen, denen die Menge wiederum durch Demonstrationen und die Stürmung einer Sitzung des Unterhauses Nachdruck verlieh. Diesmal jedoch gab das Parlament nicht nach. Die Unruhen hielten – trotz des Einsatzes von Truppen – über Monate an.438 Die großen Unruhen von 1759, 1779 und 1784 belegen vor allem, daß es müßig ist, allein von sozialen und sozialökonomischen Konflikten in Dublin reden zu wollen. Soziale Konflikte im urbanen Zentrum Irlands waren im 18. Jahrhundert zugleich immer auch Teil politischer Konflikte. Das hängt vor allem mit der zeit433 Ebd., S. 129; Smyth., Political Underground, S. 131. Smyth, Men, S. 129. 435 Murphy, Municipal Politics, S. 81. 436 Smyth, Men, S. 131-133.437 Pointiert bei Smyth, ebd., S. 133: „Students, lawyers and merchants joined forces with shoemakers and weavers.“ 438 Die Unruhen bildeten den Auslöser für die Versuche von 1786, eine bewaffnete, uniformierte Polizeitruppe für Dublin aufzustellen. Zu den Zwischenfällen vgl. summarisch ebd., S. 137-139. 434 152 genössischen Problemwahrnehmung zusammen: JIM SMYTH weist zurecht darauf hin, daß sozialökonomische Gravamina grundsätzlich im kolonialen Kontext als Konsequenz unfairer britischer Wirtschaftsinterventionen betrachtet wurden.439 Ungeachtet der Tatsache, daß diese Wahrnehmung einer kritischen Überprüfung nicht standhält, barg sie dennoch eine Tendenz zur Politisierung der Dubliner Unterschichten. Die Anzeichen für den Erfolg dieser Politisierung kann man ab den späten 1750er Jahren identifizieren, wenn sozialökonomische Konflikte aufgrund ihrer kolonialen Wahrnehmung zur schicht- und konfessionsübergreifenden Partizipation an Unruhen führen, wenn Gruppen, die sich normalerweise spinnefeind waren wie die Ormond und die Liberty Boys plötzlich an einem Strang zogen, wenn Mittelschichtradikale und Manufakturunternehmer mit dem „Liberty Mob“ gemeinsame Sache machten. Resümierend läßt sich festhalten, daß soziale Konfliktpotentiale in Irland im 18. Jahrhundert keinem übergreifenden Muster folgten, sondern sich in ihrer Form, ihrer Qualität und ihrem Umfang an lokalen und regionalen Bedingungskontexten orientierten. Zwei Dinge dürften allerdings deutlich geworden sein: Erstens waren soziale, konfessionell-koloniale und politische Konfliktpotentiale hochgradig kompatibel. Am augenfälligsten war dies in Dublin, wo sozialökonomischer und politischer Protest bis zur Unkenntlichkeit miteinander verschmolzen, und im Süden Irlands, wo das Zusammenspiel von sozialökonomisch motiviertem Agrarprotest und kolonialen Wahrnehmungen soziale Antagonismen verhärtete. Die Sonderentwicklung in Ulster verdeutlicht dagegen zweitens, daß die Kongruenz bzw. Differenz der Stoßrichtung von sozialen und kolonialen Konfliktpotentialen von zentraler Bedeutung ist. Kongruenz führte zur wechselseitigen Verstärkung, Differenz dagegen zu Überlagerung des einen durch das andere Konfliktpotential, wobei in Ulster in der zeitgenössischen Wahrnehmung eine Hegemonie kolonialer über soziale Konflikte feststellbar ist. 439 Smyth, Political Underground, S. 131, ders, Men, S. 125. 153 3. Kulturelle Konfliktstrukturen in Irland (1691-1782) Irlands kulturelle Trias im 18. Jahrhundert. Analog zu den bisherigen Befunden ist auch im kulturellen Bereich eine tiefe Fragmentierung der irischen Gesellschaft feststellbar, die von der Ascendancy ausging. Hierbei sind zwei Stoßrichtungen deutlich voneinander zu trennen: Einerseits die Versuche der Ascendancy durch ostentativ-öffentliche kulturelle Repräsentationen ihre reklamierte hegemoniale Position in der irischen Gesellschaft zu legitimieren und andererseits ihre kulturellen Abgrenzungs- und Distinktionsanstrengungen gegenüber den presbyterianischen und katholischen Kulturtraditionen. Hinter diesen divergierenden kulturellen Vorgehensweisen steckten allerdings im wesentlichen die gleichen Motive, die nur auf unterschiedlichem Wege realisiert werden sollten: Erstens die Absicherung (oder sogar der Ausbau) der hegemonialen gesellschaftlichen Position der Ascendancy und zweitens die Wahrung (oder sogar die Erhöhung) der sozialen Exklusivität der kolonialen Oberschicht. Die These lautet also, daß Kulturäußerungen und -leistungen in Irland im 18. Jahrhundert wegen des kolonialen Kontexts zwar nicht automatisch, aber doch überwiegend als Quelle von Sozialprestige und politischem Kapital aufzufassen sind. Spätestens an dieser Stelle sind einige erläuternde Bemerkungen zum verwendeten Kulturbegriff und seiner spezifischen Bedeutung im kolonialen Kontext notwendig. Angesichts der Pluralität existierender Kulturbegriffe, die in der aktuellen theoretischen Debatte um den – je nach Blickwinkel des Betrachters – ‚postmodernen’, ‚poststrukturalistischen’ oder ‚kulturalistischen’ Revisionismus heiß umstritten sind,440 stellt sich das als ein notwendigerweise eklektisches und reduktionistisches Unterfangen dar, zumal der Begriff ‚Kultur’ in der Debatte eine deutliche Tendenz zur Ausdehnung (und vielleicht sogar zur Überdehnung) an den Tag gelegt hat – von der klassischen Unterscheidung zwischen ‚materieller’ und ‚geistiger Kultur’ hin zu einem Verständnis des Begriffs, das ‚Kultur’ als „Lebensstil, Lebensweise, Alltag, in denen kulturelle Muster gelebt, wiederholt und verändert werden,“441 begreift. Für den Zweck dieser Arbeit reicht es aus, zunächst einen 440 C. Conrad/M. Kessel, Geschichte ohne Zentrum, in: dies. (Hgg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne, Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994, S. 9-36, S.10-15, 23-25. 441 H. Wunder, Kultur-, Mentalitätengeschichte, Historische Anthropologie, in: R. van Dülmen (Hg.), Fischer Lexikon Geschichte, S. 65-86, Zitat S. 67. 154 möglichst umfassenden, additiven Kulturbegriff wie den folgenden zugrunde zu legen: „Heute versteht man unter Kultur die raum-zeitlich eingrenzbare Gesamtheit gemeinsamer materieller und ideeller Hervorbringungen, internalisierter Werte und Sinndeutungen sowie institutionalisierten Lebensformen von Menschen.“442 Ein solches Verständnis taugt zwar wenig zur inhaltlichen Abgrenzung gegenüber den anderen gesellschaftlichen Dimensionen, aber darum geht es hier auch nicht. Die inhaltliche Auswahl und thematische Schwerpunktsetzung sind vom Erkenntnisinteresse der Arbeit her zu schultern. Was das konkret bedeutet, wird unmittelbar deutlich, wenn man die oben zitierte Arbeitsdefinition auf einen kolonialen Kontext appliziert. Die Folge ist schlicht ein Kollaps der Definition. Im kolonialen Kontext ist die ‚raum-zeitliche Eingrenzung’ nicht möglich, weil mehrere, mindestens aber zwei ‚Kulturen’ in der selben Raum-Zeit-Entität wirken. Das Gleiche gilt für die Gemeinsamkeitsthese, die integraler Bestandteil der obigen Definition ist. Schon im Normalfall ist die Vorstellung von einem monolithischen Block ‚Kultur’ eine Chimäre, weil es stets eine Grauzone peripherer „materieller und ideeller Hervorbringungen“ gibt, die nur für bestimmte Gruppen innerhalb einer Gesellschaft Gültigkeit besitzen und die zum Teil in Rivalität, wenn nicht sogar im offenen Widerspruch zum Kulturkanon einer Gesellschaft stehen. In erhöhtem Maße gilt dies jedoch für multiethnische und koloniale Gesellschaften:443 Hier wird die an und für sich schon kontroverse Debatte um die potentiellen Inhalte eines gesellschaftlich verpflichtenden Kulturkanons zu einer Macht- und Konfliktfrage. Gerade im kolonialen Kontext mutieren Kulturfragen sehr schnell zu Zivilisationsfragen, wird die Andersartigkeit der Kulturtraditionen der Kolonisierten aus Sicht der Kolonisten als Minderwertigkeit wahrgenommen. Angesichts des effektiven Machtgefälles zwischen Kolonisten und Kolonisierten und der Kontrolle der Kolonistengruppe über staatliche Institutionen und Machtmittel ist der Ausgang eines solchen Konflikts selten zweifelhaft. Euphemistisch ausgedrückt wird die Kulturtradition der Kolonisten zur gesellschaftlichen ‚Leitkultur’ (v)erklärt und den Kolonisierten aufoktroyiert. Ent- 442 Schäfers, Grundbegriffe, S. 196. Es ist nicht möglich, die innere Fragmentierung der einzelnen Kulturtraditionen immer wieder aufs Neue sprachlich zu markieren. Daher wird der Leser gebeten, die innere Spannung, die in einer beliebigen Kulturtradition zwischen Zentrum und Peripherie sowie zwischen den kulturellen Ausdrucksformen verschiedener sozialer Schichten in einer Kulturgemeinschaft besteht, stets mitzudenken. 443 155 gegen der herkömmlichen kolonialen Legitimationsstrategie, wonach die autochthone Gesellschaft als direkte Folge der Kolonisation beträchtlicher Zivilisationsfortschritte teilhaftig wird, geht es bei diesem Oktroi jedoch keineswegs darum, autochthone Kulturtraditionen durch die Tradition der Kolonisten zu substitutieren. Von der Warte der Kolonisten wäre ein solches Vorgehen geradezu kontraproduktiv, da es den Unterschied zwischen Kolonisten und Kolonisierten langfristig nivellieren und so die Handhabe für die Fortführung kolonialer Unterdrückung und Ausbeutung zerstören würde. Es kommt daher nicht von ungefähr, daß sich in Irland während des 18. Jahrhunderts nachweisen läßt, daß die koloniale Oberschicht weder an einer Anglikanisierung noch an einer Anglizisierung der irisch-katholischen Bevölkerung wirklich interessiert war. Widerwillige und halbherzige Maßnahmen sind zwar auffindbar, aber beileibe keine begeisterte ‚Proselytenmacherei’ und kein unbändiger ‚Zivilisierungsdrang’.444 Ein solcher Befund untermauert noch einmal, daß es den englischen Kolonisten in Irland primär um kulturelle Distinktion zur Absicherung ihrer hegemonialen Position und mithin um die Einrichtung eines antiegalitären Systems ging, das man in Anlehnung an CLAUS LEGGEWIE etwas plakativ, aber dennoch zurecht als „ethnopluralistische Apartheid“ bezeichnen kann.445 Die kulturellen Riegel und Sperrventile, welche die Ascendancy installierte, um die gesellschaftliche Teilhabe der anderen Bevölkerungssegmente auch im kulturellen Sektor zu reduzieren, und die Intentionen, welche die koloniale Oberschicht dabei verfolgte, lassen es zweckmäßig erscheinen, den zugrundegelegten Kulturbegriff interessengeleitet zu fundieren. Diese Festlegung ist sicherlich nicht alternativlos, erscheint aber angesichts des allgemeinen Erkenntnisinteresses, das sich auf die Identifikation kultureller Konfliktstrukturen im kolonialen Kontext richtet, dem Gegenstand angemessen. Kultur wird daher nicht als Größe an und für sich, sondern als spezifischer gesellschaftlicher Bereich des Ausdrucks kolonialer Vergemeinschaftungsformen (und damit im wesentlichen analog zu den anderen gesellschaftlichen Dimensionen, die bereits untersucht wurden) verstanden. Kurzum: Es geht nicht darum, die irische Kultur im 18. Jahrhundert allgemein zu untersuchen, sondern das Verhältnis zwi444 Das Thema der Konversion wird weiter unten detailliert ausgeführt. Wegen bibliographischer Angaben vgl. dort. 445 Vgl. C. Leggewie, Ethnizität, Nationalismus und multikulturelle Gesellschaft, in: H. Berding (Hg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2, Frankfurt/M. 19962, S. 45-81, S. 60f. 156 schen den kolonial voneinander abgegrenzten, rivalisierenden Kulturgemeinschaften in der irischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Mit der Schwerpunktsetzung auf die Trias aus anglikanischer, presbyterianischer und katholischer Kulturgemeinschaft ist die Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands jedoch noch nicht zufriedenstellend beendet. Versteht man in Anlehnung an MAX WEBER unter Kulturgemeinschaft eine „Gruppe von Menschen, welcher kraft ihrer Eigenart bestimmte, als ‚Kulturgüter’ geltende Leistungen in spezifischer Art zugänglich sind“446, dann muß man innerhalb einer Kulturgemeinschaft nach sozialer Lage zwischen verschiedenen ‚spezifischen Arten’ des Zugangs zu ‚Kulturgütern’ – oder vereinfacht und konkreter: zwischen adeliger und bürgerlicher Hochkultur einerseits sowie der Kultur der breiten Bevölkerung andererseits – ebenso differenzieren wie zwischen verschiedenen Kulturräumen (vor allem zwischen Stadt und Land). Außerdem muß man sich der idealtypischen Überspitzung der Vorstellung von drei separaten Kulturgemeinschaften bewußt sein, darf man die Absicht der Ascendancy, eine Trennung der drei Kulturgemeinschaften herzustellen, nicht mit der Verwirklichung dieser Intention verwechseln. Insbesondere am oberen Ende der sozialen Skala kam es trotz gegenteiliger Bemühungen der kolonialen Oberschicht sehr wohl zum Kulturkontakt und auch – in beide Richtungen – zum Kulturtransfer. Da eine solche Sachlage für den Zweck, koloniale Konfliktstrukturen zu rekonstruieren, immer noch zu komplex ist, besteht die Notwendigkeit, den Gegenstand weiter einzugrenzen, um ihn auf ein bearbeitbares Ausmaß zurechtzustutzen. De facto ist es an dieser Stelle also nur möglich, die kolonialen Konfliktstrukturen anhand einiger ausgewählter Themenbereiche schlaglichtartig zu beleuchten. Dazu werden zwei Selektionskriterien verwendet: Erstens beschränkt sich die folgende Analyse auf die gesellschaftlichen Gruppen, deren Schlüsselstellung in der Genese und Entwicklung gesellschaftlicher Konfliktpotentiale bereits als erwiesen gelten kann: Die Ascendancy, das städtische Bürgertum aller Konfessionen (aber nach selbigen getrennt behandelt) und die ländlichen katholischen Unterschichten. Angesichts der oben erläuterten Tendenz zur kolonial-politischen Indienstnahme kultureller Leistungen bietet es sich zweitens an, nur denjenigen kulturellen Bereichen Beachtung zu schenken, die für Macht- und politische Repräsentation sowie für Politisierungsprozesse in der Gesellschaft potentiell relevant waren: 157 Hierzu zählen in Irland im 18. Jahrhundert vor allem die Sprach-, Bildungs- und Religionspolitik, die Geschichtsschreibung, die Festkultur und die Architektur. a) Ascendancy-Kultur als koloniale ‚Leitkultur’ Die Ausgangssituation. Am Anfang des 18. Jahrhunderts richteten sich die kulturellen Abgrenzungsbemühungen der Ascendancy primär gegen die katholische Bevölkerung. Für diese Stoßrichtung waren nicht allein die noch frischen Wunden des Stuart-Erbfolgekrieges und der daran anschließenden wilheminischen Landenteignungen verantwortlich, sondern ebenso anglikanische Befürchtungen, daß es erneut zu einem jakobitisch-katholischen Aufstand kommen könnte. Diese Ängste basierten nicht allein auf der Existenz eines Stuart-Thronanwärters im französischen Exil, der sowohl die Unterstützung des französischen Königs als auch des Heiligen Stuhls in Rom genoß, sondern auch auf sorgsam von der Ascendancy im kollektiven Gedächtnis der anglikanischen Bevölkerung erhaltenen ‚historischen’ Erinnerungen an den katholischen Aufstand von 1641, der – faktisch zu Unrecht! – als direkter Vorläufer des Erbfolgekrieges betrachtet wurde. Das Ergebnis dieses Sinnkonstruktionsprozesses – de facto einer Mischung aus Analogschlüssen, konfessionellen Befürchtungen und ritualisierten ‚historischen’ Erinnerungen – bestand darin, daß die anglikanische Gemeinschaft von einer Tradition katholischen Widerstands mit exterminatorischen Absichten gegen die protestantische Bevölkerung ausging, gegen den es präventiv Gegenmaßnahmen zu ergreifen galt. Daneben figurierte auch das numerische Ungleichgewicht zwischen protestantischer und katholischer Bevölkerung als wesentlicher Faktor anglikanischer Ängste. Die massive Überlegenheit der katholischen Bevölkerung, die im Durchschnitt bei etwa 70 Prozent, in der Provinz Connacht sogar bei über 90 Prozent lag,447 und der Präzedenzfall der sogenannten Old English, der normanno-englischen Siedler, die vor der Reformation nach Irland gekommen waren, wo sie sich der gälischen Bevölkerungsmehrheit anpaßten bis selbst die Kolonialmacht England nicht mehr zwischen ihnen und der gälischen Bevölkerungsmehrheit unter- 446 447 WG, S. 530. McCracken, Social Structure, S. 37. 158 schied,448 resultierten in der Furcht der Ascendancy, ihre hegemoniale Position auf Dauer nicht halten zu können. Daß diese Befürchtung zumindest auf dem Land und vor allem im Westen Irlands nicht unbegründet war, läßt sich allein daran ablesen, daß schon die zweite Generation der Nachkommen protestantischer Landbesitzer, die zu Cromwells Zeiten nach Irland gekommen waren, im Westteil des Landes des Englischen kaum noch mächtig waren:449 „Zahlenmäßig der autochthonen irischen Bevölkerung enorm unterlegen, stellten die Anglo-Iren in ihren Burgen und Gutshäusern verstreute Inseln des Englischen in einem Meer des Gälischen dar.“450 Gewisse kulturelle Erosionserscheinungen waren also – zumindest regional – auch unter den anglo-irischen New English durchaus vorhanden, so daß die Ascendancy als Exponent der anglo-irischen Bevölkerung tatsächlich Anlaß zur Sorge hatte. Kulturelle Abgrenzung. Vor dem Hintergrund dieser Befürchtungen sind die kulturellen Abgrenzungsbemühungen der Ascendancy besser verständlich. Oberste Priorität hatte dabei die Verhinderung der Vermischung der protestantischen mit der katholischen Bevölkerung. Da sich ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Praxis durchgesetzt hatte, daß Katholiken eheliche Verbindungen mit Protestanten nur mit Genehmigung des zuständigen katholischen Bischofs und unter der Bedingung eingehen durften, daß die Trauung von einem katholischen Priester vorgenommen, die Religionsausübung des katholischen Partners unter keinen Umständen behindert und aus der Verbindung hervorgegangene Kinder im katholischen Glauben großgezogen werden mußten,451 rückten gemischtkonfessionelle Konnubialbeziehungen nun ins Zentrum protestantischer Abgrenzungsbemühungen. Interkonfessionelle Ehen wurden zwar nicht generell verboten, aber effektiv so drakonisch bestraft, daß das Resultat dasselbe war. Protestantische Frauen, die einen Katholiken heirateten, wurden gesetzlich für tot erklärt, so daß ihr gesamtes Hab und Gut an den nächsten protestantischen Verwandten fiel.452 Protestantische Männer, die eine Katholikin heiraten wollten, erhielten keine Heiratsgenehmigung des zuständigen anglikanischen Bischof. Ließen sie sich selbst 448 Beckett, Tradition, S. 36. D. Corkery, The Hidden Ireland, A Study of Gaelic Munster in the 18th Century, Dublin 19564, S. 21f. 450 R. McCrum u.a., The Story of English, London 1992 (rev. ed.), S. 172. 451 Corish, Catholic Community, S. 50. 452 Lydon, Making, S. 223. 449 159 dadurch nicht von ihrem Vorhaben abbringen, wurden sie – ungeachtet ihrer religiösen Präferenzen – vor dem Gesetz auch als „Papisten“ betrachtet und unterlagen damit der ganzen Bandbreite der Strafgesetze.453 Darüber hinaus wurden die Strafen für katholische Priester, die gemischtkonfessionelle Vermählungen vornahmen, aufgestockt: Ab 1725 wurde ein solcher Akt als Kapitalverbrechen bewertet, das mit der Todesstrafe belegt war, und einige Priester wurden deshalb tatsächlich hingerichtet.454 Die Ehen, die auf diese Weise zustande kamen, galten selbst 1745 – als die Ascendancy unter der Hand längst zu einer stillschweigenden Tolerierung der katholischen Religionsausübung übergegangen war – noch immer nicht als rechtsgültig.455 Gerade weil Ehen auch immer einen ökonomischen Aspekt besaßen und es dort unter Umständen um substantiellen Landbesitz ging wurden die Einhaltung dieser Gesetze strikt kontrolliert. Andererseits indiziert die Tatsache, daß die Gesetze gegen gemischtkonfessionelle Ehen ein ums andere Mal neu aufgelegt und ergänzt werden mußten, daß offensichtlich immer wieder Versuche unternommen wurden, sie zu umgehen.456 Der zweite Gefahrenherd für die zahlenmäßig unterlegene anglo-irische Bevölkerung bestand in der Konversion ihrer Mitglieder zum Katholizismus. Hier wurde noch härter durchgegriffen als beim gemischtkonfessionellen Konnubium: Protestantische Konversionen zum Katholizismus durch „Verführung, Überzeugung oder Pervertierung“ wurden unter Berufung auf das Statut Praemunire von 1377 (16 Richard II., II, c.5) als ‚äußerer Eingriff’ in die königliche Autorität betrachtet.457 Diese Sichtweise reflektierte einerseits die Assoziation des Katholizismus mit dem Vatikan als einer feindlichen äußeren Macht und andererseits den Status der anglikanischen Kirche als Staatskirche Irlands. ‚Äußere Eingriffe’ (d.h. der Versuch, ein Imperium in Imperio zu errichten) stellten jedoch ein Kapitalverbrechen dar, das mit vollständiger Enteignung und Todesstrafe belegt war – und genau diese Strafen wurden Konvertiten und ihren Mentoren angedroht.458 Um der Konversionsgefahr weiter vorzubeugen wurde gleichzeitig festgelegt, daß kein Katholik die Vormundschaft eines protestantischen Waisen unter 21 Jahren über453 Lecky, History of Ireland 1, S. 152; Froude, English in Ireland 1, S. 258. Corish, Catholic Community, S. 74. 455 Ebd. 456 Wall, Penal Laws, S. 8. 457 Curtis/McDowell, Documents, S. 189. 458 Ebd. 454 160 nehmen durfte. Der Court of Chancery war gesetzlich damit beauftragt, in einem solchen Fall einzuschreiten und das Kind bzw. den Jugendlichen dem nächsten protestantischen Verwandten zu überantworten oder ggf. einen nicht blutsverwandten Protestanten mit der Vormundschaft zu betrauen.459 Kulturelle Marginalisierung der Katholiken: Gesetze gegen Bildung und Klerus. Während die Ehe- und Konversionspolitik des Kolonialregimes vor allem darauf abzielte, das numerische Verhältnis zwischen der protestantischen und der katholischen Bevölkerung zu stabilisieren, versuchte die Ascendancy außerdem, die kulturelle Marginalisierung der katholischen Bevölkerung voranzutreiben, indem sie ihr den Zugang zur Bildung verstellte und die Grundfesten der katholischen Kirche attackierte. Hier war das Ziel jedoch nicht mehr bloß die kulturelle Segregation, sondern schlicht die Demontage des irischen Katholizismus. Der Maßnahmenkatalog im Bildungssektor erstreckte sich von den Elementarschulen bis zur Universität. Katholiken durften weder als Lehrer an öffentlichen Schulen noch als Privatlehrer tätig sein und keine eigenen Schulen unterhalten. Auf die Denunziation eines katholischen Schulmeisters waren 10 £ Belohnung ausgesetzt. Darüber hinaus war ihnen bei Strafe untersagt, ihre Kinder ins Ausland schicken, um ihnen in den katholischen Ländern des europäischen Festlandes eine Ausbildung zuteil werden zu lassen. Auch der Zugang zur damals einzigen Universität auf irischem Boden – dem anglikanischen Trinity College in Dublin – blieb ihnen versagt.460 Ähnlich rigoros wurde zunächst auch gegen den katholischen Klerus und die Ordensgeistlichkeit vorgegangen. Durch den Banishment Act von 1697 wurden alle katholischen Würdenträger und Ordensgeistlichen des Landes verwiesen. Allein im darauffolgenden Jahr wurden mindestens 440 Priester und 380 Fratres aus Irland deportiert.461 Auch das katholische Episkopat war um 1703 fast völlig ausgeschaltet: Von den 26 irischen Bischofssitzen war 1697 die Hälfte bereits vakant, fünf Bischöfe waren mit Jakob II. aufs europäische Festland geflohen, drei weitere verließen Irland wegen des Banishment Act, einer wurde 1703 nach Portugal deportiert, ein weiterer verstarb im gleichen Jahr.462 Außerdem wurde im gleichen Jahr festgesetzt, daß katholische Priester sich behördlich registrieren lassen und 459 Ebd., S. 190. Vgl. summarisch Lecky, History of Ireland I, S. 148f. 461 Wall, Penal Laws, S. 10. 460 161 zwei Leumundszeugen beibringen mußten, die jeweils 50 £ Kaution für das Wohlverhalten des Priesters zu hinterlegen hatten. Pro Kirchspiel durfte es nur einen Priester geben, dem es nur dort erlaubt war, die Messe zu lesen. Katholische Kirchen durften keine Glocken und keinen Kirchturm haben. Die öffentliche Aufstellung eines Kreuzes war Katholiken ebenfalls verboten.463 Wallfahrten wurden im gleichen Zuge als „Aufruhr“ und „illegale Versammlungen“ eingestuft und als solche unter Strafe gestellt.464 Gerüchte über eine französisch-jakobitische Invasion in Irland sorgten 1708 noch einmal für eine Zuspitzung der Lage: Alle Priester, deren man habhaft werden konnte, wurden verhaftet und auf die Ergreifung von katholischen Geistlichen hohe Belohnungen ausgesetzt. Um die nicht-registrierten Priester zu fassen, wurden Magistrate ermächtigt, jeden beliebigen Katholiken unter Eid zu befragen, wann, wo und von wem er das letzte Mal die Kommunion erhalten habe und wer dabei anwesend gewesen sei.465 Außerdem wurden die registrierten Priester – vergebens – dazu aufgefordert, einen Eid abzulegen, in dem sie die Thronansprüche Jakobs II. zurückwiesen.466 Aus Rücksichtnahme auf seine katholischen Allierten im Spanischen Erbfolgekrieg (1702-1713) – der Kaiser und der König von Polen legten offiziellen Protest ein – mußte Großbritannien darauf verzichten, dieses Gesetz rigoros durchzusetzen.467 Es ist aber auch ohne diese äußeren Einflüsse auffällig, daß die praktische Umsetzung gerade der Gesetze, welche die katholische Religionsausübung betrafen, weiter hinter der Rechtsnorm zurückblieb. Zum Teil ist dies sicherlich auf mangelnde administrative Möglichkeiten des Kolonialregimes zurückzuführen: Die Magistrate und Konstabler waren schlicht nicht in der Lage, den Gesetzen flächendeckend Geltung zu verschaffen.468 Darüber hinaus lassen sich in der Intensität der religiösen Verfolgung aber auch gewisse Konjunkturen ausmachen. In Krisenzeiten (also etwa während englisch-französischer Kriege oder der jakobitischen Aufstände in Schottland) wurde die Kontrolle über die katholische Bevölkerung stets deutlich verschärft.469 Politische Rücksichtnahme gegenüber katholi462 Ebd., S. 11f. Zum Strafgesetz von 1703 vgl. Lecky, History of Ireland I, S.156f. 464 Curtis/McDowell, Documents, S. 194. 465 Corish, Catholic Community, S. 76. 466 Zum anti-katholischen Strafgesetz von 1709 vgl. Wall, Penal Laws, S. 17f. 467 Wall, Penal Laws, S. 18f. 468 Ebd., S. 20-25. 469 Ebd., S. 18-20. 463 162 schen Verbündeten Großbritanniens wie etwa gegenüber Kaiser Leopold I. in der Regierungszeit Wilhelms III. erzwang dagegen vorübergehend eine mildere Linie gegenüber den irischen Katholiken.470 Auch dynastische Einflüsse auf die Umsetzung der Strafgesetze mit religiösem Inhalt sind feststellbar: In der Regierungszeit Königin Annes (1702-1714) wurde die religiöse Verfolgung der Katholiken mit sehr viel mehr Energie ins Werk gesetzt als unter ihren hannoveranischen Nachfolgern.471 Dessen ungeachtet blieben diese Strafgesetze – da sie nicht abgeschafft, sondern nur informell nicht beachtet wurden – eine potentielle Waffe der Ascendancy, um die katholische Bevölkerung in Schach zu halten: Sie konnten von der Ascendancy – in Absprache mit der britischen Kolonialmacht – jederzeit reaktiviert werden und sei es nur als Drohgebärde, um die katholische Bevölkerung einzuschüchtern. Angesichts dieser Rechtslage bedeutete die inoffizielle Tolerierungspolitik, die schon in der ersten Jahrhunderthälfte Raum griff und nach dem Scheitern des zweiten jakobitischen Aufstands von 1745 noch deutlich zunahm,472 keine Rechtssicherheit für die katholische Bevölkerung, keinen einklagbaren Anspruch auf Bildung oder freie Religionsausübung. Schwäche der protestantischen Mission. In dieses Bild informeller Tolerierung paßt auch die Feststellung, daß Maßnahmen, die nicht bloß auf die Zerstörung des Katholizismus, sondern auf die aktive Bekehrung von Katholiken zum Protestantismus abzielten, ungewöhnlich halbherzig verfolgt wurden.473 Der Versuch, anglikanische Priester in der gälischen Sprache zu unterrichten oder das anglikanische Gebetbuch und den anglikanischen Katechismus ins Gälische zu übersetzen, um die protestantische Mission im Westen Irlands voranzutreiben, wurden nach dem Tod Königin Annes im Jahr 1714 sofort eingestellt.474 Der anglikanische Erzbischof von Dublin, William King, der diesen Schritt befürwortet hatte und auch sonst Proselytisierungsversuche unterstütze, erklärte 1724 enttäuscht: „Aufgrund der Methoden, die seit der Reformation ergriffen wurden und die auch jetzt noch sowohl von den weltlichen wie auch von den kirchlichen Autoritäten verfolgt werden, erscheint es mir offensichtlich, daß es nie einen 470 Lecky, History of Ireland I, S. 167. Corish, Catholic Community, S. 73. 472 Schon um 1730 bestand wieder ein geordnetes Kirchspielsystem und ab 1747 waren auch wieder alle Bischofssitze besetzt. Vgl. ebd., S. 83; Wall, Penal Laws, S. 29f. 473 Dickson, New Foundations, S. 74; McCracken, Ecclesiastical Structure, S. 88. 474 Lydon, Making, S. 222. 471 163 Plan gegeben hat und auch heute nicht gibt, daß alle [Iren - MR] Protestanten werden sollen.“475 Auch Versuche, durch Einrichtung anglikanischer Konfessionsschulen die Mission voranzutreiben, stagnierten lange Zeit. 1717 gründete Henry Maule einen Verein zur Gründung der sogenannten Charter Schools, die katholische Kinder unterweisen und zu Protestanten bekehren sollten. Es dauerte aber bis 1731, ehe der Verein eine bescheidene finanzielle Unterstützung des Staates erhielt – und zwar nur vor dem Hintergrund, daß illegale katholische Elementarschulen, die sogenannten Hedge Schools, derart Zulauf erhielten, daß ein Gegengewicht für notwendig erachtet wurde. Obwohl die Finanzmittel für die Charter Schools sukzessive erheblich aufgestockt wurden und ein flächendeckenden Netz von mehr als 50 Schulen über das Land gebreitet wurde,476 blieb der Erfolg aus. Katholische Eltern weigerten sich vielfach, ihre Kinder in die Obhut der Charter Schools zu geben, weil diese die Kinder von ihren Eltern trennten, um katholische Einflußnahme zu verhindern, und weil die Lebensbedingungen in diesen Einrichtungen entsetzlich waren.477 Überdies schreckten die Charter Schools die katholische Kirche auf, die nun – entgegen der Strafgesetze! – energisch daran ging, ein eigenes Elementarschulsystem auf Kirchspielbasis einzurichten. Das Regime versuchte zwar, die Lücken in der Schülerschaft der Charter Schools mit Waisen aufzufüllen, aber selbst damit gelangte man zu keinen überzeugenden Ergebnisse: 1825 stellte eine Kommission fest, daß während der mehr als einhundertjährigen Aktivität der Schulen lediglich 12.745 Schüler nach ihrem Abschluß bei Protestanten in die Lehre gegeben worden waren.478 Die Gründe für diesen Mangel an Missionierungswillen sind vielfältig. Zum Teil sind sie in der anglikanischen Kirche selbst zu suchen, deren Bischöfe sich oft 475 Zitiert nach McCracken, Ecclesiastical Structure, S. 89. (meine Übersetzung) Ähnlich enttäuscht äußerte sich auch der anglikanische Erzbischof von Tuam, Dr. Synge, im Jahr 1727. Vgl. Lydon, ebd., S. 222. 476 Bis 1733 wurden die Charter Schools ausschließlich durch private Spenden finanziert, ab 1733 wurden dann vom Parlament 1.000 £ p.a. bereitgestellt, 1745 wurden vom Parlament die Einkünfte aus der Besteuerung fahrender Händler für diesen Zweck freigegeben, ab 1757 wurden die staatlichen Beihilfen erheblich aufgestockt, weil die Großgrundbesitzer in den Charter Schools eine Möglichkeit sahen, die Ausbildung qualifizierter Leineweber und -spinner voranzutreiben. Vgl. Wall, Penal Laws, S. 7. 477 J.R.R. Adams, Swine-Tax and Eat-Him-All-Magee: The Hedge Schools and Popular Education in Ireland, in: Donnelly Jr./Miller, Irish Popular Culture, S. 97-117, S. 100. 478 Wall, Penal Laws, S. 7. 164 mehr mit Politik als mit seelsorgerischen Angelegenheiten befaßten.479 Das spannungsgeladene Verhältnis zwischen den anglikanischen Würdenträgern, die überwiegend aus Briten rekrutiert wurden, und den anglo-irischen Großgrundbesitzern trug ebenfalls dazu bei, daß die Kooperation zwischen Staatskirche und Parlament in der Missionsfrage nicht reibungslos funktionierte.480 Der wichtigste Grund für das mangelnde Interesse an der Bekehrung der Katholiken lag jedoch woanders: Eine erfolgreiche anglikanische Mission hätte das Ende des Ascendancy-Regimes bedeutet. Ohne die konfessionelle Abgrenzung wäre weder die politische und ökonomische Marginalisierung der Bevölkerungsmehrheit noch die diesem System zugrundeliegende Legitimationsideologie aufrechtzuerhalten gewesen; die Ascendancy wäre zumindest gezwungen gewesen, die Macht mit dem katholischen Adel und Klerus zu teilen.481 Daher kann man festhalten, daß – ungeachtet aller administrativen Schwierigkeiten bei der Kontrolle über die Einhaltung der Strafgesetze – ein deutlicher Qualitätsunterschied im Geltungsgrad zu beobachten ist, der einzelnen Maßnahmen verschafft wurde, je nachdem ob diese im Interesse der Ascendancy waren oder nicht. Auf eine einfache Formel gebracht stellte die konfessionelle Gestalt anti-katholischer Maßnahmen nicht mehr als eine legitimative Camouflage für die Interessen der Ascendancy dar. An den Stellen, wo vitale Interessen der Ascendancy nicht berührt bzw. potentiell sogar bedroht wurden, blieb der protestantische Konfessionalismus ein Papiertiger: Es gab im 18. Jahrhundert keinen genuinen Religions- oder Kulturkampf in Irland, sondern lediglich eine Fortsetzung kolonialer Konflikte mit kulturellen Mitteln. 479 McCracken, Ecclesiastical Structure, S. 85f. Ebd., S. 87f. 481 Diese These wird perfekt durch eine Anekdote aus „The Case of the Roman Catholics of Ireland“ von 1724 illustriert, die Wall, Penal Laws, S. 6, wiedergibt. Danach entspann sich zwischen Lord Galway und dem Earl of Drogheda, zwei substantiellen anglo-irischen Großgrundbesitzern, folgende Konversation über eine Verschärfung der anti-katholischen Gesetzgebung: „Ich bezweifele nicht [so Lord Galway], daß Eure Lordschaft für die Verabschiedung dieses guten Gesetzes stimmen wird, denn dadurch wird die protestantische Religion gestärkt und wir werden uns dieses papistischen Ungeziefers entledigen.“ „Mein Lord, [antwortete der Earl of Drogheda] ich sollte mich freuen, die protestantische Religion gestärkt zu sehen, aber was sollen wir ohne Holzfäller, Wasserträger und Arbeiter tun, die unser Land pflügen, unser Korn dreschen etc.“ „Sorgen Sie sich darum nicht, mein Lord, [setzte Lord Galway nach] denn ich gebe ihnen mein Ehrenwort, daß innerhalb von drei Monaten, nachdem dieses Gesetz verabschiedet wurde, dreißigtausend protestantische Familien ins Land bringen werde. Dreißigtausend protestantische Familien!“ „Sehen Sie, [versetzte der Earl of Drogheda] genau aus diesem Grunde werde ich gegen das Gesetz stimmen, denn darunter befindet sich nicht einer, der kein Schwert trägt und sich nicht für genauso einen Gentleman hält wie ich einer bin und mir womöglich ein Duell anträgt, wenn ich ihn kritisieren sollte.“ (meine Übersetzung – MR) 480 165 Diese merkwürdige Ambivalenz der Ascendancy, ihr Schwanken zwischen Unsicherheit, Arroganz und Laxheit war nicht nur für ihre Abgrenzungsbemühungen gegenüber den Katholiken kennzeichnend, sondern zog sich wie ein roter Faden durch ihre gesamten kulturellen Vorlieben und Leistungen – von der Architektur über die Malerei, von der Musik bis in die Literatur. Architektur. Die Architektur der Ascendancy illustriert besonders gut ihr Bedürfnis, dem Land ihren Stempel aufzudrücken. Seit den 1720er Jahren brach unter den anglo-irischen Großgrundbesitzern eine geradezu epidemische Bauwut aus:482 Ohne Rücksicht auf die Kosten bauten anglikanische Gentlemen auf ihren Ländereien neue Landsitze bis Irland flächendeckend mit Landhäusern im georgianischen, neoklassizistischen oder neo-gotischen Stil, der mit italienischen Zitaten angereichert wurde, übersät war.483 Im gleichen Zug fand auch die englische Gartenbaukunst immer weitere Verbreitung: Der jardin anglais war bald in Irland ebenso verbreitet wie in England selbst.484 Parallel zum Bauboom stieg auch das Interesse der Ascendancy an der Architektur: Überwiegend wurden die neuen Häuser nämlich nicht von ausländischen Architekten, sondern von den Großgrundbesitzern selbst entworfen, die sich dazu der Hilfe architektonischer ‚Do-ityourself-Literatur’ bedienten.485 Die Obsession, durch Gestaltung der Landschaft Präsenz zu demonstrieren, kam auch in der Malerei zum Ausdruck: Da die angloirischen Gentlemen vor allem Abbildungen des eigenen Landes, Hauses und der eigenen Familie nachfragten, gab es in Irland im 18. Jahrhundert sehr gute Landschaftsmaler und Porträtisten, während gleichzeitig andere Bereiche – etwa die Schaffung von Devotional-skulpturen oder der Kirchenbau – eher stiefmütterlich vernachlässigt wurden.486 Die Baumaßnahmen in den Grafschaftshauptstädten487 und vor allem in der Hauptstadt Dublin, die das Aushängeschild des Ascendancy-Regimes darstellte, standen dem Bauboom auf dem Land in nichts nach. Der bereits beschriebene Umzug der Aristokratie und des wohlhabenden Mittelstands aus dem langsam 482 Foster, Modern Ireland, S. 190. Vgl. Karte 3 in: J.H. Andrews, Land and People, c. 1780, in: Moody/Vaughan, History of Ireland 4, S. 236-264, S. 238; Foster, ebd., S. 191. 484 Andrews, Land, S. 239. 485 Foster, Modern Ireland, S. 190f. Stararchitekten wie James Gandon beklagten sich bitter über die Amateurarchiteken, welche ihm Auftragseinbußen eintrugen. Vgl. ebd., S. 190. 486 Ebd., S. 192. 487 Vgl. ebd. 483 166 verarmenden Westen in den Osten Dublins (den heutigen Stadtkern) wurde von enormen privaten Bauvorhaben begleitet: Tyrone House (heute Sitz des Erziehungsministeriums), Leinster House (heute der Sitz des irischen Parlaments), Belvedere House und Charlemont House am Rutland Square (dem heutigen Parnell Square), Northland House in Dawson Street (heute Sitz der Royal Irish Academy) gehen alle auf das 18. Jahrhundert zurück, die Liste wäre problemlos erweiterbar.488 Neben den Dubliner Stadtresidenzen der Aristokratie wurden auch eine Vielzahl von offiziellen Gebäuden errichtet: Hier müssen vor allem die Four Courts, das Customs House, die Rotunda und das neue Parlamentsgebäude in Erwähnung finden. Besonders letzteres dokumentierte den ostentativen Machtanspruch der Ascendency: Zwischen 1729 und 1739 unter der Leitung des Stararchitekten Edward Lovett Pearce zu einem Preis von 95.000 £ errichtet, war es größer und prächtiger als selbst das britische Parlament in Westminster.489 Zwischen 1784 und 1789 wurde der Ostflügel des Parlaments, der das irische House of Lords beherbergte, von dem berühmtesten Architekten Irlands im 18. Jahrhundert, James Gandon, weiter ausgebaut. Das Timing dieser offiziellen Baumaßnahmen ist insgesamt sehr beachtenswert: Die Bauarbeiten an den Four Courts begannen 1776 und endeten 1786, das Customs House wurde zwischen 1781 und 1791 fertiggestellt, die Versammlungsräume der Rotunda wurden ebenfalls während der 1780er Jahre gebaut. Mit anderen Worten: Diese offiziellen Repräsentativgebäude wurden ausnahmslos in der Blütezeit des irischen ‚Patriotismus’ während der 1720er Jahre (also nach dem Declaratory Act) und der 1780er Jahre (also kurz vor oder nach „Grattan’s Revolution“) errichtet. Dieser Umstand legt nahe, gerade diese Bauten als politisches Statement zu interpretieren, als architektonische Symbole für den anglo-irischen Anspruch auf legislative Unabhängigkeit Irlands oder – anders gewendet – als Ausdruck des ‚kolonialen Nationalismus’ der ‚protestantischen Nation’.490 Parallel wurden von der 1758 gegründeten Wide Street Commission auch generelle städtebauliche Maßnahmen initiiert: Durch den Bau konzentrischer Straßenrin488 Vgl. ebd., S. 187f. und Craig, Dublin, S. 221-234. Weitere erwähnenswerte aristokratische Stadtresidenzen sind Powerscourt House, Whaley House (wegen des irren Aufwands, der bei der Erbauung betrieben wurde, auch als ‚Whaley’s Folly’ bekannt), Clonmell House, Ely House und Aldborough House. Vgl. Craig, ebd. 489 Vgl. Foster, Modern Ireland, S. 188. 167 ge, die durch Steinbrücken über den Liffey miteinander verbunden waren, und den Bau des Grand Canal und des Royal Canal nahm das Dubliner Stadtbild langsam geordnete Konturen an. Umfangreiche Straßenerweiterungen wie in Dame Street, der Ausbau der Kais entlang des Liffey und der Ausbau von Plätzen wie Rutland Square und Foster Place rundeten das Tätigkeitsprofil der Wide Street Commission ab. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gab sie jährlich rund 25.000 £ für Städtebaumaßnahmen aus.491 Privatunternehmer wie Luke Gardiner schufen zusätzlich prächtige Residenzstraßen wie Henrietta Street, Dominick Street und vor allem die Sackville Mall.492 Auch zwischen Grafton Street und Merrion Square entstand ein neuer Knotenpunkt des kommerziellen Lebens. Zeitgenossen – insbesondere Londoner – zeigten sich von der Grandezza der irischen Hauptstadt durchaus beeindruckt, aber sie machten auch keinen Hehl daraus, daß sie die architektonische Ostentation als ein überproportioniertes koloniales Neureichenphänomen betrachteten.493 Genau dieser Imponiergestus war aber das Ziel des Aufwandes: Das georgianische Dublin repräsentierte den zu Stein gewordene Machtanspruch der Ascendency und – wenn man die offiziellen Prachtbauten und vor allem das neue Parlamentsgebäude betrachtet – auch eine architektonische Herausforderung an die Adresse Londons. Umgekehrt stellten die Prachtbauten aber auch ein steinernes Fragezeichen dar: Da die Ascendancy überhaupt die Notwendigkeit sah, auf diese höchst kostspielige Weise Selbstdarstellung zu betreiben, gestand sie implizit auch ein, daß sie es nötig hatte. Darin liegt die Plausibilität der von ROY FOSTER geäußerte Vermutung, daß die Anstrengung, dem Stadtbild einen unverwechselbaren und nicht zu tilgenden Stempel aufzudrücken, einen Kompensationsversuch für die Unsicherheit einer kolonialen Elite darstellte, die erst seit relativ kurzer Zeit im Lande weilte.494 Gesellschaftliches Leben auf dem Land. Zieht man das kulturelle und gesellschaftliche Leben der Ascendancy insgesamt in Betracht, muß man zwischen Stadt und Land (und das bedeutet zugleich: zwischen verschiedenen sozialen 490 Vgl. Craig, Dublin, S. 124, Lydon, Making, S. 238. Craig, ebd., S. 173. 492 Vgl. E. Walsh, Sackville Mall: The First One Hundred Years, in: Dickson, Mask, S. 30-50. Heute ist die Sackville Mall, die nach der Unabhängigkeit in O’Connell Street umgetauft wurde, die Hauptstraße Dublins. 493 Ein englischer Beobachter schrieb, Dublin wirke auf ihn, „like being ‘at a table of a man who gives me Burgundy, but whose attendant is a bailiff disguised in livery’“. Zitiert nach Foster, Modern Ireland, S. 186. 491 168 Schichten) unterschieden. Nur der anglikanische Landadel, die ‘half-mounted gentlemen’ und ‚squireens’, denen es an den finanziellen Möglichkeiten gebrach, um an den gesellschaftlichen Aktivitäten in der Hauptstadt teilzunehmen, suchten im 18. Jahrhundert ihr Vergnügen auf dem Lande. Ihre Vorlieben für rustikale Formen der Unterhaltung, für Pferderennen und Hahnenkämpfe auf Jahrmärkten und Assizen, die Jagd und das Hurling (die schnelle und verletzungsintensive irische Version des Feldhockeys) sowie finanziell ruinöse Formen der Gastfreundschaft sind von zeitgenössischen Beobachtern ebenso festgehalten worden, wie ihre Wettleidenschaft und ihr offenbar ausgeprägter Hang zu exzessivem Alkohlkonsum und zum Austragen von Duellen.495 Gesellschaftliches Leben in Dublin. Den distinguierten Hochadel zog es dagegen entweder nach London, in die südenglische Badeorte oder aber – vor allem während der kurzen Legislaturperioden des irischen Parlaments – nach Dublin, wo man das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden konnte: Im Dunstkreis der Macht seine Geschäfte erledigen und sich amüsieren.496 Die gesellschaftliche Hochsaison im Dublin der Jahrhundertmitte dauerte von November bis März.497 Die gesellschaftlichen Aktivitäten erstreckten sich von Theater- und Konzertbesuchen über Bälle und privatere Formen der Unterhaltung wie Kartenabende und Dinners. 494 Ebd., S. 192. Vgl. Carty, Ireland, S. 123 u. Beckett, Making, S. 183. Der Hauptgewährsmann für diese Art der Vergnügungen des niederen Landadels ist Sir Jonah Barrington (1760-1834), der in seinen Personal Sketches of his Own Times ein lebendiges, sehr farbenfrohes Bild der Gewohnheiten dieser Schicht zeichnete. Barrington selbst war ein Exponent eben jener Schicht, die Arthur Young in seiner Tour of Ireland als „Ungeziefer des Königreichs“ und als „Despoten“ bezeichnete (zitiert nach Carty, Ireland, S. 112): Er beschloß sein Leben in Frankreich, wohin er sich Ende der 1820er Jahre zurückziehen mußte, um seinen Gläubigern zu entgehen. Eine weitere literarische Quelle für die Gewohnheiten der ‚landed gentlemen’ bilden der Roman „Castle Rackrent“ und die Kurzgeschichte „The Absentee“ von Maria Edgeworth (1767-1849). Zur passiven und aktiven Teilnahme der protestanischen Gentry am Hurling, an Preiskämpfen, Pferderennen und dergleichen mehr vgl. S. Connolly, 'Ag Déanamh Commanding': Elite Responses to Popular Culture, 1660-1850, in: Donnelly Jr./Miller, Irish Popular Culture, S. 1-29, S. 12-14, zu Festlichkeiten vgl. ebd., S. 17-20, zu Duellen und Trunkenheit vgl. ebd., S. 22f. sowie speziell zu ‚Fighting‘ Fitzgerald und anderen berüchtigten Duellisten der 1770er und 1780er Jahre, die unter dem Namen ‚Fire-eaters‘ bekannt wurden, vgl. J. Kelly, 'That Damn'd Thing Called Honour', Duelling in Ireland, 1570-1860, Cork 1995, S. 147-167. 496 Vgl. T. Mooney u. F. White, The Gentry’s Winter Season, in: Dickson, Mask, S. 1-16, S. 4. 497 Dieser gesellschaftliche Zyklus ist anhand der Werbung, die für Bälle, Konzerte oder Theatervorstellungen in den Tageszeitungen geschaltet wurde, rekonstruiert worden. Vgl. ebd., S. 1f. Da aber die Werbung in der Presse vor 1720 nur eine marginale Rolle spielte, läßt sich über das erste Viertel des Jahrhunderts auf diese Weise keine Aussage treffen. Vgl. R. Munter, The History of the Irish Newspaper, 1685-1760, Cambridge 1967, S. 66. 495 169 Theater. Insgesamt – vor allem aber in Bezug auf den literarischen Markt sowie die Theater- und Konzertveranstaltungen – fällt auf, daß sich die Ascendancy offensichtlich bemühte, das gesellschaftliche Leben Londons zu imitieren. In Dublin kam nur auf die Bühne, was vorher in London Erfolg gehabt hatte: Die Publikumsrenner in den wichtigsten Dubliner Theatern – dem Theatre Royal in Crow Street und dem Smock Alley Theatre – waren vor allem komische Opern und Shakespeares Dramen. Zaghafte Versuche, dem Publikum etwas Neues nahe zu bringen, scheiterten. Die Aufführung italienischer Opern in Dublin endete in der Saison 1777-78 in einem Fiasko: Die Stücke fielen beim Publikum und den Kritikern gnadenlos durch. Die Gegner dieser Neuerung engagierten sogar eine stadtbekannte Prostituierte, um die Veranstaltungen gezielt zu stören.498 Diese Aktion illustriert, daß das Theater als ein Raum der ritualisierten – also auf Wiederholung basierenden – kulturellen Selbstvergewisserung der Oberschicht diente, denn die Schärfe des Protestes ist kaum allein dadurch zu erklären, daß das Publikum italienische Opern als eine Geschmacksverirrung auffaßte. Unterstellt man jedoch, daß die Neuerung vor allem als Verstoß gegen den Kulturkanon der Ascendancy und damit gewissermaßen als kulturelle ‚Beleidigung‘ aufgefaßt wurde, macht ein derart drastisches Protestverhalten durchaus Sinn. Damit nicht genug, stellte das Theater auch einen Raum sozialer Distinktion dar. Der soziale Status der einzelnen Zuschauer fand schon in der Sitzordnung augenfällig Ausdruck.499 Noch erhellender ist in diesem Zusammenhang jedoch, daß ab den 1780er Jahren ein Rückgang der Theaterbesuche der kolonialen Oberschicht zu beobachten ist, während gleichzeitig Privatklubs gegründet wurden, die über einen Mitgliederbeitrag die Organisation gesellschaftlicher Anlässe wie Konzerte und Bälle finanzierten.500 Die Aristokratie zog sich aus dem öffentlichen gesellschaftlichen Leben zurück und privatisierte zunehmend, weil die Mitglieder der aufstrebenden städtischen Mittelschicht – darunter auch immer mehr katholische Kaufleute – begannen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. In den 1780er Jahren konnte zum Beispiel eine Frau jeden Ranges eine Karte für einen Logenplatz im Theater erwerben, während diese vorher für die (anglikanischen) Damen 498 Mooney/White, Gentry, S. 5. Das galt beileibe nicht nur für die Hauptstadt. Vgl. Connolly, Elite, S. 11. 500 Mooney/White, Gentry, S. 11f. 499 170 der kolonialen Oberschicht reserviert waren.501 Gleichzeitig wurden immer weniger gesellschaftliche Anlässe durch die Anwesenheit des Lord Lieutenant aufgewertet.502 Damit verlor das gesellschaftliche Leben an Exklusivität und der repräsentative Aufwand, der betrieben wurde, lohnte sich immer weniger. Die Ascendancy reagierte auf die ‘Plebeisierung’ der gesellschaftlichen Anlässe durch die Einrichtung neuer gesellschaftlicher Räume, deren Exklusivität sie allein kontrollieren konnte.503 Neben Privatklubs, die allein zur Unterhaltung der Männer dienten, entstanden so auch private Theater. Der Earl von Westmeath gründete 1792 die Amateur Dramatics Society, deren Mitgliedschaft auf einhundert Gentlemen begrenzt war. Mit den Mitgliederbeiträgen renovierten sie das Fishamble Street Theatre, das 1794 wiedereröffnet wurde. Bereits 1797 hatte dieses Theater die ehemalige Logenkundschaft des Theatre Royal zu sich herübergezogen.504 Dieser Sachverhalt unterstreicht die eigentliche Funktion, welche die Einrichtung des neuen Theaters hatte, nämlich die Bewahrung der exklusiven gesellschaftlichen und kulturellen Position der Ascendancy.505 Konzerte und Bälle. Neben den Theaterveranstaltungen wurden in St. Patrick’s Cathedral und Christ Church Cathedral Oratorien aufgeführt und in der Great Musick Hall in Fishamble Street gab es während der Wintermonate regelmäßig Konzertabende.506 Wie die Theateraufführungen war auch die Konzertkost eher eintönig und auf Stoffe eingeschränkt, die sich zuvor in London durchgesetzt hatten. Vor allem Händels Werke dominierten die Dubliner Musikszene im 18. Jahrhundert und wurden immer und immer wieder aufgeführt.507 Die zahlreichen Benefizkonzerte, die unter der Schirmherrschaft prominenter Mitglieder des anglikanischen Hochadels und von den späten 1760er bis zu den 1780er Jahren auch des Lord Lieutenant standen und deren Erlöse vor allem Hospitälern zugute kamen, boten diesen Kreisen die Chance, sich nicht nur als Kunstmäzene, sondern auch als Philantropen öffentlich zu profilieren. Insofern dienten Konzerte nicht nur zur 501 Ebd., S. 12 Ebd., S. 11f. 503 Ebd., S. 8 (Privatkonzerte), S. 13 (Privatklubs für Gentlemen). 504 Ebd., S. 12. 505 Zum gesellschaftlichen Leben der Ascendency in Dublin vgl. summarisch Mooney/White, Gentry; Beckett, Making, S. 183ff. Ebd. S. 185 auch über das gesellschaftliche Leben in den Provinzstädten Cork, Galway, Kilkenny und Limerick. Vgl. außerdem Carty, Ireland, S. 128-131. 506 Mooney/White, ebd., S. 7. 507 Ebd., S. 7. 502 171 bloßen Unterhaltung, sondern auch zur Erhöhung des Sozialprestiges von Veranstaltern und Teilnehmern. Bälle wurden bis in die 1760er Jahre primär in den Great Assembly Rooms in Brunswick Street und ab den 1780er Jahren vor allem im Grand Ridotto Room und dem Exhibition Room in William Street abgehalten. Auch bei den Bällen ging es jedoch zumindest ebenso sehr um die Selbstdarstellung der Ascendancy wie um ihre Zerstreuung, da die bloße Teilnahme an den gesellschaftlichen Hauptereignissen und die Zurschaustellung der eigenen Person in Garderoben der neuesten Mode dazu geeignet waren, die Zugehörigkeit zur höheren Gesellschaft zu demonstrieren.508 Literatur. Ein Blick auf die literarische Szene bestärkt noch einmal den Eindruck, daß der anglo-irische Teil der Gesellschaft von England kulturell abhängig war.509 Trotz illustrer Namen (Jonathan Swift, George Berkeley, Edmund Burke, Oliver Goldsmith und Richard Brinsley Sheridan um nur die wichtigsten zu nennen) und trotz eines großen literarischen Interesses im anglo-irischen Bürgertum und Adel, entstand – wie J.C. BECKETT feststellt – „kein Korpus literarischer Werke, der zurecht als anglo-irische Literatur bezeichnet werden könnte.“510 Während die Werke von Swift und Berkeley wenigstens noch vor ihrer Publikation in London in Dublin veröffentlicht wurden, verließen die jüngeren Autoren – Burke, Goldsmith und Sheridan – Irland sobald wie möglich und zeigten danach (vielleicht mit Ausnahme Sheridans) kein Interesse mehr an Irland.511 Auf der Dubliner Literaturszene blieben zweitklassige Autoren wie Pockrich oder Winstanley zurück, während die literaturinteressierte Öffentlichkeit nach London schaute und so zu einer Verlängerung des englischen Buchmarktes wurde.512 Immerhin wurde die literarische Nachfrage aber durch Dubliner Buchdrucker bedient, die das Recht hatten, jedes in England erschienene Buch nachzudrucken.513 Festkultur. Mit einer spannenden Ausnahme – den Feiern zum St. Patrick’s Day – bestätigt auch die offizielle Festkultur den engen kulturellen Nexus zwischen der Ascendancy und dem kolonialen Mutterland. Abgesehen vom Geburtstag des 508 Ebd., S. 6. Maurer, Geschichte Irlands, S. 162. 510 Beckett, Tradition, S. 80. 511 Ebd. S. 81, 131f. 512 Ebd., S. 80, Craig, Dublin, S. 202f. 513 Craig, ebd., S. 202-204. 509 172 jeweiligen Monarchen wurden vor allem solche Ereignisse offiziell gefeiert, die mit den Begebenheiten von 1690/1 in Verbindung standen: Der Geburtstag Wilhelms III. (4. November) und die Jubiläen der Schlachten an der Boyne (1. Juli) und bei Aughrim (12. Juli).514 Während die Erinnerung an die Schlachten vor allem von privaten Erinnerungsvereinen wie den Boyne-Societies wachgehalten wurde, die anläßlich dieser Tage Umzüge veranstalteten, Freudenfeuer anzündeten, Ehrensalute und Feuerwerke abschossen und anschließend an speziellen Gedenkgottesdiensten teilnahmen, standen die Feiern zu Wilhelms Geburtstag eindeutig unter der Ägide Dublin Castles. Der Lord Lieutenant veranstaltete einen Nachmittagsempfang und anschließend marschierten die administrativen und zivilen Notablen zusammen mit Mitgliedern des Hoch- und Landadels feierlich vom Castle zur Reiterstatue Wilhelms III., die 1701 in College Green vor dem Portal von Trinity College aufgestellt worden war,515 von dort nach Stephen’s Green zur Statue Georgs II. und wieder zurück zum Castle. Die Teilnehmer trugen orange und blaue Kockaden (also die offiziellen Farben Wilhelms und Irlands, nicht jedoch die irische Nationalfarbe Grün). Ab den späten 1770er Jahren nahmen auch die Freiwilligenverbände, die Volunteers, an diesem Umzug teil und verliehen ihm das Dekorum einer militärischen Parade. Nach dem Umzug fand im Castle normalerweise ein Empfang für die politische und soziale Haute volée statt.516 Im Gegensatz zu den Geburtstagsfeiern Wilhelms III. wurde St. Patrick’s Day (17. März), der Gedenktag des Patrons Irlands, vom Regime zunächst nicht gefeiert, sondern nur von der katholischen Bevölkerung. Das änderte sich jedoch 1783, 514 Anmerkung zur Datierung: Die Daten beruhen auf dem julianischen Kalender, der gregorianische Kalender, der in Kontinentaleuropa 1582 eingeführt wurde, erhielt in Irland erst 1752 Gültigkeit. Nach dem modernen Kalender wurde der Geburtstag Wilhelms III. am 15. November, die Schlacht an der Boyne am 12. Juli (wie heute noch die Orange Marches in Nordirland) und die Schlacht bei Aughrim am 23. Juli gefeiert. 515 Die Reiterstatue Wilhelms war von Anfang an das Ziel politischer Anschläge, aber auch das Opfer jugendlichen Vandalismus‘. Studenten des Trinity College zeichneten für einige der Anschläge verantwortlich, weil sie darüber empört waren, daß die Statue in Richtung des Castles schaute und ihrer Alma Mater, dem Sitz irischer Bildung, den Rücken zuwandte. Die restlichen Anschläge dürften auf das Konto von Jakobiten gehen. Die ikonoklastischen Aktivitäten waren vielfältig: Die Statue wurde mit Dreck beworfen, geteert (aber nicht gefedert!), das Zepter wurde abgerissen, sogar der Kopf wurde einmal sauber abgesägt. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts wurde ein Wachhäuschen neben der Statue aufgestellt, aber auch das half nichts. Besonders dreist war die Tat eines Witzbolds, der es 1805 fertig brachte, die Statue am Abend vor dem obligatorischen Umzug schwarz anzustreichen. Er erklärte dem kooperativen Wachmann, er sei vom Stadtrat damit beauftragt worden und verschwand nicht, ohne den Wachmann vorher zu bitten, doch ein Auge auf seine Farbtöpfe zu haben. Craig, Dublin, S. 76. 1836 wurde die Statue von einer Bombe in die Luft gejagt, aber repariert und wieder aufgestellt, bevor sie 1929 dann einem letzten Bombenanschlag endgültig zum Opfer fiel. Connolly, Companion, S. 592. 173 mit der Einrichtung des Ordens vom Hl. Patrick durch Georg III., der damit ein irisches Pendant zum englischen Hosenbandorden schuf.517 Von nun an veranstaltete der Lord Lieutenant, der als Großmeister dem Orden vorstand, regelmäßig ein festliches Dinner für die hochadeligen Ritter des Hl. Patrick. Zusätzlich wurde ab 1783 vom Castle regelmäßig ein Nachmittagsempfang mit anschließendem Ball und spätem Imbiß ausgerichtet.518 Die zweite Ausnahme von der Regel, daß St. Patrick’s Day einen rein katholischen Feiertag darstellte, bildeten die Friendly Brothers of St. Patrick, eine auf ökumenische Begegnung ausgerichtete Wohltätigkeitsorganisation, die regelmäßig am 17. März in Dublin zusammenkam, um ihre Vereinsgeschäfte zu erledigen, die (anglikanische) Messe zu hören und zusammen zu dinieren.519 Es ist also feststellbar, daß gegen Ende des Jahrhunderts der Tag des Hl. Patrick allmählich in den Festkanon der Ascendancy integriert wurde – und zwar sowohl vom Staat wie auch von einer kleinen Gruppe aufgeklärter Anglikaner. Parallel dazu ist interessant, daß das Regime die Feiern zu den Schlachten an der Boyne und bei Aughrim gegen Ende des Jahrhunderts längst nicht mehr so nachdrücklich unterstützte wie noch zu Beginn des Jahrhunderts.520 Das ist deshalb von Bedeutung, weil die Feiern anläßlich der Schlachten vor allem gegen die Katholiken gerichtet waren, da sie an deren Niederlage erinnerten, während die Feiern zum Geburtstag Wilhelms III. als politisches Bekenntnis zur „Glorreichen Revolution“ (und zur religiösen Tolerierung der Katholiken durch Wilhelm von Oranien) bei Katholiken bei weitem nicht soviel Verbitterung hervorriefen. Insofern kann die Festpolitik des Kolonialregimes gegen Ende des 18. Jahrhunderts ansatzweise als Geste symbolischer Versöhnlichkeit gegenüber der katholischen Bevölkerung aufgefaßt werden, die allerdings unverbindlich blieb und deren Bedeutung insofern nicht zu hoch veranschlagt werden darf. Historiographie. Auf dem Gebiet der Historiographie ist feststellbar, daß die Ascendancy sich allmählich mit dem kulturellen Erbe der präkolonialen, gälischen Gesellschaft zu arrangieren und identifizieren begann.521 ROY FOSTER weist in diesem Zusammenhang auf einen bezeichnenden Wandel in der Selbstbezeich516 Zu den Feiern zu Wilhelms Geburtstag vgl. Hill, National Festivals, S. 32-39 passim. Ebd., S. 31. 518 Ebd. 519 Ebd., S. 32. 520 Ebd., S. 35. 521 Lydon, Making, S. 235. 517 174 nung der kolonialen Oberschicht zwischen den 1690er und 1720er Jahren hin: In den 1720er Jahren verdrängte die Selbstbezeichnung „Irish gentlemen“ allmählich ältere Begriffe wie „the Protestants of Ireland“ oder sogar „the English of this kingdom“. Auch George Berkeley kann hier als Beispiel angeführt werden: Als 18jähriger Student sprach er 1703 noch von der irischen Bevölkerung als „Eingeborene“ („natives“), ein paar Jahre später dagegen schloß er sich selbst mit in diese Gruppe ein und sprach von „uns Iren“.522 In die gleiche Zeit fallen auch erste Veröffentlichungen von protestantischen Autoren, die versuchten, einer englischsprachigen Leserschaft die gälische Geschichte und Zivilisation nahezubringen. Klassisch anti-katholische Schriften wie Erzbischof William Kings „The State of the Protestants of Ireland under the Late King James’s Government“ von 1691 erhielten nun Konkurrenz von Veröffentlichungen wie William Nicolsons „Irish Historical Library“ von 1724 oder Francis Hutchinsons „A Defence of the Antient Historians“ von 1734.523 Die Autoren, die übrigens wie King beide Bischöfe der anglikanischen Kirche waren, rezipierten Geoffrey Keatings pro-gälische „General History of Ireland“, die ab 1723 in englischer Übersetzung (und von katholizistischen Untertönen ‚gereinigt’) vorlag. Weitere Werke pro-gälischer Enthusiasten mit protestantischem Hintergrund folgten in den späten 1740er Jahren.524 Das Timing dieser Veröffentlichungen war alles andere als zufällig: Die erste Welle des gälischen Enthusiasmus unter Protestanten ab den 1720er Jahren hing eng mit der Entfremdung der Ascendancy von Großbritannien zusammen, die ihre Wurzeln in den Kontroversen um den Declaratory Act und Wood’s-Halfpence-Krise hatte, die zweite Welle Ende der 1740er Jahre markierte das Abebben protestantischer Furcht vor einem jakobitischen Aufstand in Irland nach dem Scheitern der schottischen Rebellion von 1745. Darüber hinaus spricht auch die generelle Stoßrichtung und der selektive Charakter dieser Schriften deutlich für eine Adaption des gälischen Kulturerbes durch die protestantischen Autoren. Laut JACQUELINE HILL bestehen die Charakteristika dieser Schriften darin, daß erstens die gälische 522 Foster, Modern Ireland, S. 178, auch Lydon, ebd., S. 234. W. Nicolson, The Irish Historical Library: Pointing at Most of the Authors and Records in Print or Manuscript, Which May be Serviceable to the Compilers of a General History of Ireland, Dublin 1724; F. Hutchinson, A Defence of the Antient Historians with a Particular Application of it to the History of Ireland and Great Britain and Other Northern Nations in a Dialogue between a Protestant and a Papist, an Englishman and an Irishman, Dublin 1734. 524 So zum Beispiel J. Keogh, A Vindication of the Antiquities of Ireland, and a Defence thereof against all the Calumnies and Spersions Cast on it by Foreigners, Dublin 1748. 523 175 Kulturtradition vom römischen Katholizismus deutlich getrennt wurde, daß zweitens die gälische Kultur durch Vergleiche mit dem antiken Griechenland und Rom aufgewertet wurde und daß drittens das politische System der präkolonialen gälischen Gesellschaft mit Begriffen aus der Zeit nach der „Glorreichen Revolution“ gefaßt und beschrieben wurde.525 Kurzum: Die protestantischen Autoren versuchten, die Ascendancy in selbstlegitimativer Absicht in die gälische Kulturtradition einzuordnen, indem sie Vorstellungen, die mit dem Ascendancy-Konzept nicht übereinstimmten, aus ihrer Darstellung ausblendeten und andere, vor allem konstitutionalistische Ideen in den Vordergrund rückten und aufwerteten. Fazit. Betrachtet man die Entwicklung der Ascendancy-Kultur über den Verlauf des gesamten 18. Jahrhunderts, lassen sich resümmierend einige signifikante Veränderungen und Strukturmerkmale identifizieren. Die wichtigste Veränderung ist wohl, daß sich die kulturelle Fronstellung der Ascendancy umkehrte. Während am Anfang des Jahrhunderts ihr kulturelles Abgrenzungsbedürfnis primär kolonialkonfessionell ausgerichtet und gegen die katholische Bevölkerung gerichtet war, so wies es ab den 1770er Jahren eher eine soziale und – in Ermangelung eines besseren Begriffs – ‚nationale’ Stoßrichtung auf, die sich gegen das aufstrebende irische Bürgertum aller Konfessionen und die britische Kolonialmacht richtete. Tatsächlich gingen – wie vor allem die irische Historiographie zeigt – das Nachlassen des anti-katholischen Impetus und die Zunahme des anti-englischen Affekts Hand in Hand, denn die Abschwächung der anti-katholischen Position erlaubte die Verwendung des gälischen Kulturerbes, um gegenüber Großbritannien eine selbstbewußtere Position zu beziehen. Tatsächlich war es mit dem Selbstbewußtsein der Ascendancy jedoch nicht besonders weit her, denn das wichtigste Wesensmerkmal ihrer kulturellen Leistungen ist eine fundamentale Ambivalenz: Gegenüber den Katholiken war ihre Kulturpolitik gleichermaßen von Unsicherheit und Arroganz geprägt, gegenüber der Kolonialmacht Großbritannien vom trotzigen Pochen auf politischer Autonomie einerseits und einer fast unterwürfigen Bewunderung der englischen Kultur andererseits. Gerade letzteres läßt sich von der Malerei bis zur Literatur in allen schönen Künsten und im gesamten gesellschaftlichen Leben deutlich nachweisen. Die Ascendancy mochte für sich zwar die kulturelle Hegemonie in Irland beanspruchen, aber de facto unterwarf sie sich fast bedingungslos dem Vorbild englischer Kultur. Mit anderen Worten: Die kul525 Hill, Popery, S. 103-106. 176 turellen Leistungen der anglo-irischen Bevölkerung sind als ein Spiegelbild ihrer bedrängten Situation zwischen der katholischen Bevölkerungsmehrheit und der britischen Kolonialmacht zu betrachten. Diese konfliktgeladene Konstellation und die kulturpolitische Priorität, ihre hegemoniale Position in der irischen Gesellschaft auch kulturell darzustellen, reduzierte ihr Tableau kultureller Wahlmöglichkeiten und infolge dessen auch ihr kulturelles Potential, das sich gegenüber der katholischen Bevölkerung auf Demontage und selektive Adaption, gegenüber der Kolonialmacht auf Nachahmung bzw. Überholen durch schiere Größe (Architektur!) beschränkte. Kreativität und Originalität waren in der Ascendancy-Kultur indes eher rar gesät und wiesen eine deutliche Tendenz auf, mitsamt ihren Trägern nach England abzuwandern. 177 b) Katholische Kultur zwischen Assimilation und Beharrung Die Erosion der autochthonen Hochkultur. Nach der Kolonisation Irlands im 17. Jahrhundert waren von der autochthonen gälischen Kultur nur noch rudimentäre Reste vorhanden: Die Zerschlagung der ökonomischen Grundlage der gälischen Gesellschaft durch die diversen Landenteignungen des 17. Jahrhunderts und die Vertreibung der gälischen Oberschicht hatte die klassischen gälischen Kulturschaffenden – die Dichter und Barden, die in der autochthonen Bevölkerung ein ungeheuer hohes Sozialprestige genossen526 – ihrer Existenzgrundlage beraubt. Da sie kaum noch adelige Mäzene fanden, verarmten diese Männer allmählich und mußten sich als illegale Wanderlehrer und fahrende Musiker, zum Teil auch als einfache Tagelöhner durchs Leben schlagen.527 Dennoch hielten vor allem die Dichter am Anfang des 18. Jahrhunderts die aristokratische Literaturtradition wach und verliehen so der bereits atomisierten gälischen Adelsgesellschaft noch einmal eine Stimme: Diese Autoren erinnerten an die glorreiche Vergangenheit einzelner Adelsfamilien und beklagten ihren Niedergang. Sie kritisierten aber auch die Strafgesetze und verfaßten Satiren über ungebildete katholische Priester und die Parvenüs der neuen anglikanischen Oberschicht.528 Insofern bemühten sie sich, katholischen Entfremdungsgefühlen Ausdruck zu verleihen und die Hoffnung auf die Rückkehr der alten Zustände vor dem Sieg Wilhelms III. zu perpetuieren. Daher können sie mit Fug und Recht als eine Art ‚kollektives Gedächtnis‘ oder ‚Sinnstiftungsinstanz‘, aber auch als Trostspender für die prominenten Verlierer des Kolonisationsprozesses – die Überreste des gälischen Adels – betrachtet werden. Auf Dauer war diese aristokratisch-gälische Kulturtradition jedoch nicht überlebensfähig: In dem Maße wie die Rückkehr der Stuarts und der gälischen Adeligen immer unwahrscheinlicher wurde, waren die gälischen Dichter gezwungen, sich umzuorientieren und ihr neues Publikum zu bedienen – die katholische Landbevölkerung aus Middlemen, Kleinpächtern und Landarbeitern in Connacht, Westulster und Westmunster. Das läutete die Genese und den Aufstieg einer populär 526 S. Ó Tuama, Gaelic Culture in Crisis, The Literary Response, 1600-1850, in: T. Bartlett u.a. (Hgg.), Irish Studies – A General Introduction, Dublin 19892, S. 28-43, S. 39. 527 Ebd., S. 37. 528 Ebd., S. 36-38. 178 orientierten Version der alten Kulturform ein, die sich gleichwohl nicht nur in den poetischen Konventionen, sondern auch in den Inhalten sehr stark am Vorbild der aristokratischen Tradition orientierte, so daß den Dichtern weiterhin eine zentrale Rolle als Hüter des gälischen Kulturerbes zukam.529 Die literarischen Erzeugnisse dieser zweiten Strömung enthielten nur noch gelegentlich Referenzen auf die Stuarts; sie sind vor allem durch eine tiefe Antipathie gegen die protestantischen Eindringlinge gekennzeichnet.530 Die xenophoben Tendenzen wurden häufig von Äußerungen des Stolzes auf die eigne Ethnie und einem mythisch überhöhten Bewußtsein der Altehrwürdigkeit des eigenen Volkes begleitet und zwar in einem so ausgeprägten Maß, daß LOUIS M. CULLEN hier bereits ein „Gefühl ethnischer Identität [Hervorhebung im Original - MR]“531 für gegeben hält. Vor dem Hintergrund der offenkundigen Anleihen bei der aristokratischen Literaturtradition ist es umstritten, ob und inwiefern die populäre zweite Literaturströmung als kultureller Ausdruck des Lebensgefühls und der Weltsicht der gälischen Unterschichten verstanden werden kann. Das bis in die 1960er Jahre hinein einflußreiche „Hidden-Ireland“-Konzept532 von DANIEL CORKERY ging eindeutig davon aus, daß die gälische Lyrik als Schlüssel zum Weltbild der katholischen Unterschichten dienen konnte, aber mittlerweile sind daran berechtigte Zweifel 529 Wie sehr das der Fall war, läßt sich daran ablesen, daß es bis zum Ende des 17. Jahrhunderts keine schriftlich erkennbaren Dialekte gab. Erst mit dem Aussterben der bardic schools begannen gälische Autoren sich an der gesprochenen Sprache anstatt an literarischen Formen des Schriftgälisch zu orientieren, so daß es auch im Schriftgälisch zur Dialektausbildung kam. Vgl. Connolly, Companion, S. 269. 530 Vgl. Ó Buachall, Literary Evidence, passim. 531 Vgl. L.M. Cullen, The Hidden Ireland, Re-Assessment of a Concept, in: Studia Hibernica 9 (1969), S. 7-47, S. 26. 532 1924 legte Daniel Corkery unter dem Titel ,The Hidden Ireland‘ eine Studie vor, in dem erstmals die gälisch-irische Kulturtradition in den Mittelpunkt des Interesses gerückt wurde. Auf der Basis vorwiegend aus Munster stammender gälischer Lyrik versuchte er die gälisch-irische Welt des 18. Jahrhunderts zu rekonstruieren. Das Ergebnis war eine nationalistische Stilisierung: Corkery romantisierte die gälische Lyrik als das einzige Ausdrucksmittel, das einer religiös, politisch und ökonomisch von den Engländern unterdrückten katholischen Bauernnation noch geblieben war. Vgl. Corkery, Hidden Ireland, S. 16, 19-24, 94. Ungeachtet dieser undifferenzierten Sicht hat sich das Konzept des ‘Hidden Ireland’ erstaunlich hartnäckig gehalten: bis in die sechziger Jahre ist es auch von Historikern wie selbstverständlich immer wieder zur Darstellung der Lebensumstände im gälischen Irland des 18. Jahrhunderts herangezogen worden. Erst die Kritik revisionistischer Historiker hat zu einer Modifizierung seines Entwurfes geführt, die erlaubt, das Konzept mit revidiertem Inhalt weiter zu verwenden. An vorderster Front war hier Louis Michael Cullen tätig, dessen Kritik an Corkery – „His Hidden Ireland simplifies Irish History, putting it in a simple context of land resettlement, oppression and resentment with the predictable and stereotyped relationships flowing from it.“ – an Gültigkeit nichts eingebüßt hat. Vgl. Cullen, Re-Assessment, S. 47. 179 enstanden.533 Eins jedoch ist unbestreitbar: Egal ob aufgrund ihres politischen oder künstlerischen Inhalts – die Lieder und Lyrik der gälischen Dichter wurden auf Jahrmärkten, bei Festen und in Wirtshäusern von der katholischen Landbevölkerung rezipiert.534 Darüber hinaus lassen sich xenophobe Äußerungen der katholischen Landbevölkerung selbst gegen Ende des 18. Jahrhunderts auch in anderen Quellenarten identifizieren.535 Daher wird man – bei aller gebotenen Vorsicht – festhalten dürfen, daß die Lyrik und die Lieder zumindest ein kulturelles Angebot darstellten, das bei einem gälisch-irischen Publikum Gefallen fand und deren Inhalte plausibel mit den Wahrnehmungen des katholischen Bevölkerungsteils in Verbindung gebracht werden können. Daß die katholische Bevölkerung für die anglikanischen Kolonisten keine Sympathien hegte, darf als sicher vorausgesetzt werden, so daß sie sich – selbst wenn sie ihrem Zorn ohne die Barden auf eine andere Weise Ausdruck verliehen hätten – mit den politischen Inhalten der Lyrik und Lieder zweifelsohne identifizieren konnten.536 Die Kritik an CORKERYS Konzept ist sicherlich berechtigt, aber es besteht deshalb kein Grund, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Kultureller Assimilationsdruck und Konversion. Parallel zur allmählichen Zerstörung der autochthonen Kultur ging von der kolonialen Kultur aber auch ein nicht unerheblicher Assimilationsdruck aus, dem sich vor allem ambitionierte und noch relativ wohlhabende Katholiken schwer entziehen konnten. Daß zwischen 1703 und 1771 ca. 4.000 katholische Landbesitzer konvertierten, um ihre Ländereien vor Enteignung und Zerstückelung zu bewahren, ist bekannt und an anderer Stelle bereits ausführlich behandelt worden. Daß Katholiken konvertierten, weil sie in den Genuß einer akademischen Ausbildung kommen und Karrierechancen im Staatsapparat wahrnehmen wollten, ist dagegen weniger bekannt, kam aber 533 Vgl. hierzu vor allem Cullen, Hidden Ireland, passim. Es war z.B. ein beliebtes Mittel, in Wirtshäusern Lieder vor gemischtem Publikum vorzutragen, die alternierend aus gälischen und englischen Verszeilen bestanden. Die englischen Verse waren voll des Lobes über den englischen König, die anglikanische Kirche und die Anglo-Iren, die gälischen Verse dagegen, die nur von dem gälischen Publikum verstanden wurden, steckten voller Invektiven. Hier ein Beispiel für diese Art von Dichtung (die kursiv gedruckten Textteile wurden auf Gälisch gesungen): „Come drink a health, boys, to Royal George, our chief commander - not appointed by Christ; and let us beseech Mother Mary to scuttle himself and all his guards - We’ll fear no cannon nor loud alarms while noble George shall be our guide - and Christ that I may see them kicked aside by him who left us on his exile to France.“ Zitiert nach Leerssen, Mere Irish, S. 277. 535 Vgl. T. Bartlett, Select Documents 38: Defenders and Defenderism in 1795, in: IHS 95 (1985), S. 373-394. 536 Das konzediert sogar der überaus kritische Cullen. Vgl. Cullen, Hidden Ireland, S. 17f. 534 180 nichtsdestotrotz ebenfalls gelegentlich vor. Zum Teil befanden sich unter diesen Konvertiten und ihren Nachkommen führende Köpfe der Ascendancy: John Fitzgibbon, der spätere Earl von Clare, der als irischer Generalstaatsanwalt (17841789) und Lordkanzler (1789-1802) höchste Staatsämter innehatte und sich als entschiedener Gegner der katholischen Emanzipation hervortat, war z.B. der Sohn eines ehemals katholischen Rechtsanwalts, der konvertiert war, um Jura studieren und seinen Beruf ausüben zu können.537 Kultureller Assimilationsdruck und Sprache. Ein weiterer Aspekt, an dem sich der vom Kolonialregime ausgehende kulturelle Assimilationsdruck verdeutlichen läßt, ist der Rückgang der gälischen Sprache ab etwa 1745.538 Während die englische Sprache bis zum Ende des 17. Jahrhunderts nur entlang der Ostküste und in den von Kolonisten dominierten Städten als Verkehrssprache diente, verschob sich die Sprachgrenze in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts deutlich nach Westen und ins Landesinnere.539 Die Kommerzialisierung der Landwirtschaft und die infrastrukturellen Veränderungen (Straßen- und Kanalbau) begünstigten diese Entwicklung ebenso wie die allmählich wachsende Verbreitung von Presseerzeugnissen. Vor allen Dingen aber versprachen englische Sprachkenntnisse – nachdem Englisch durch die Kolonisation zur Amts-, Gerichts- und Geschäftssprache avanciert war – einen besseren sozialen Status und bessere Aussichten auf sozialen Aufstieg; gleichzeitig erfuhr das Gälische als Sprache der Ungebildeten und unteren sozialen Schichten eine entsprechende Abwertung.540 Während in den Reihen der katholischen Mittelschichten in den Städten die gälische Sprache besonders schnell in Vergessenheit geriet, mußten andere Bevölkerungsgruppen wie etwa die katholischen Middlemen beide Sprache beherrschen, weil sie als Vermittlungsinstanz zwischen den englischsprachigen Großgrundbesitzern und den gälischsprachigen Kleinpächtern fungierten. Daher muß festgehalten werden, daß die Muster der linguistischen Verschiebung zwischen der gälischen und der engli537 Connolly, Companion, S. 198. Ebd., S. 301. 539 McCrum u.a., Story of English, S. 175. Im Kernland des irischen Westens, in den Grafschaften Clare und Gallway, sprachen bis zur Wende zum 19. Jahrhundert ca. 80% der Bevölkerung Gälisch als Muttersprache, in den Provinzen Munster und Connacht zusammen immerhin noch mehr als die Hälfte. Noch höher lag natürlich die passive Sprachkompetenz. Vgl. auch Connolly, Elite, S. 10. 540 McCrum u.a., ebd., S. 174, Connolly, Companion, S. 176. Gälisch galt alsbald zurecht als Sprache der Ungebildeten: 1806 konnte man nur in 20.000 der 1,5 Mio. Haushalte, in denen Gälisch gesprochen wurde, auch Gälisch lesen. Vgl. Smyth, Men, S. 31; Connolly, Elite, S. 10. 538 181 schen Sprache nicht allein schichtspezifischen, sondern – gerade zwischen Stadt und Land – auch räumlichen Bedingungszusammenhängen folgten. Hedge Schools. Um am gesellschaftlichen Fortschritt und seinen Chancen partizipieren zu können, mußte aber auch die katholische Landbevölkerung à la longue englische Sprachkenntnisse erwerben. Dabei spielten die sogenannten Hedge Schools eine zentrale Rolle. Da katholische Kinder und Erwachsene wegen der Strafgesetze offiziell nicht beschult werden durften, mußte der Unterricht zunächst insgeheim durchgeführt werden: Umherziehende Privatlehrer richteten in Scheunen, Erdhütten und auch im Freien fliegende Klassenzimmer ein, in denen sie der Landbevölkerung für einen geringen Obolus bzw. Kost und Logis Lesen, Schreiben, ein bißchen Arithmetik und den Katechismus beibrachten.541 Vom sprachlichen Aspekt her ist entscheidend, daß die Unterrichtssprache und das Lehrmaterial durch die Bank englischsprachig waren.542 Da es keine standardisierte Lehrerausbildung gab, schwankte die Qualität dieser Elementarausbildung von Lehrer zu Lehrer: Während einige dieser Hedge Schoolmasters kaum selbst Lesen und Schreiben konnten und andere bestenfalls halbverdaute Weisheiten unters Volk brachten, gab es vor allem in Munster einige ehemalige Barden und Dichter, die deutlich besser qualifiziert waren und mit ihren Schülern auch klassische Autoren wie Horaz lasen.543 Auch wenn die Hedge Schools bis zur Einrichtung der unbeliebten Charter Schools und der katholischen Kirchspielschulen ab den 1730er Jahren der einzige Zugang der breiten katholischen Bevölkerung zu einer elementaren Ausbildung darstellten (und daher in der älteren Literatur häufig als ‚typisch’ katholisch eingestuft wurden)544, handelte es sich bei den Hedge Schools im Prinzip um gemischtkonfessionelle, koedukative Schulen für die ländlichen Unterschichten, in denen auch notfalls drei Katechismen nebeneinander unterrichtet wurden.545 Das Wirken der Hedge Schoolmasters führt insgesamt zu dem Ergebnis, daß die katholische Landbevölkerung in einem heute allerdings 541 Zur Beschaffenheit der ‚Schulgebäude’ vgl. Adams, Swine-tax, S. 113f., zur Bezahlung der Hedge Schoolmaster ebd., S. 112. 542 Smyth, Men, S. 31. 543 Adams, Swine-Tax, S. 109-111. 544 Vgl. exemplarisch Corish, Catholic Community, S. 79. 545 Adams, Swine-tax, S. 115f. Die Geschlechterverteilung lag bei etwa zwei Dritteln Jungen und einem Drittel Mädchen. 182 nicht mehr exakt zu bestimmenden Ausmaß alphabetisiert wurde546 und sich ganz allmählich in einen bilinguale Teil der Gesellschaft verwandelte, in dem Gälisch als Umgangs- und Alltagssprache benutzt, Englisch dagegen als Amts- und Geschäftssprache zumindest passiv verstanden, wenn nicht gar aktiv verwendet wurde. Über die bekannten Kulturtechniken semi-oraler Kulturen – vor allem das öffentliche und private Vorlesen – war damit prinzipiell die wichtigste Voraussetzung für eine grundlegende Politisierung der breiten Bevölkerung am Ende des 18. Jahrhunderts gegeben.547 Das Verhältnis der katholischen Bevölkerung zur kolonialen ‚Leitkultur’. Will man das Verhältnis der katholischen Bevölkerungsmehrheit zur protestantischen ‚Leitkultur’ insgesamt untersuchen, ist es notwendig eine sozial differenzierte Betrachtungsweise zu verwenden. Der Grund dafür liegt einerseits in der schichtspezifischen Bandbreite der Reaktionsmöglichkeiten auf die kulturellen Rahmenvorgaben der Ascendancy und andererseits in den unterschiedlichen Zielsetzungen, die von den verschiedenen sozialen Gruppen innerhalb der katholischen Bevölkerung verfolgt wurden. Lediglich die katholischen Unterschichten im Westen des Landes und einige ihnen besonders nahestehende Personen wie lokale Kleriker oder Middlemen gingen – aus Ermangelung anderer Optionen wie aus innerer Überzeugung – in die kulturelle Fundamentalopposition und partizipierten (mit Ausnahme der Benutzung der englischen Sprache) so gut wie überhaupt nicht an der kolonialen ‚Leitkultur’, von der sie durch konfessionelle, soziale und räumliche Barrieren getrennt waren. Die Reste der katholischen Aristokratie, das aufstrebende katholische Bürgertum und das katholische Episkopat dagegen verfolgten generell eine eher assimilatorische Linie, weil sie hofften, auf diesem Weg ihre Reintegration in die Kolonialgesellschaft besser bewerkstelligen zu können. Das Resultat war – wie SEAN CONNOLLY ausführt – eine tendenzielle Spaltung der katholischen Kulturgemeinschaft in eine Elitenkultur mit dem gedruckten Wort als kulturellen Transmissionsriemen, mit einem Zugang zur Welt des Gesetzes und der hohen Politik sowie einer standesbewußten Etiquette und 546 Zu den Schwierigkeiten, die Alphabetisierung der ländlichen Bevölkerung zu messen, vgl. am Beispiel der presbyterianischen Landbevölkerung in Ulster Adams, Word, S. 20f. 547 Zum Nexus zwischen Politisierung und Literalität vgl. Smyth, Men, S. 30-32. 183 der semi-oralen Kultur des ‚gemeinen Mannes’, die lokalistisch, gemeinschaftsorientiert, konservativ und von Ritualen und Gebräuchen bestimmt war.548 Die analytische Unterscheidung zwischen ‚Elite’ und ‚gemeinem Mann’ ist jedoch nicht ausreichend, wenn man ihr keine Unterscheidung zwischen verschiedenen geographischen Kulturräumen zur Seite stellt. Die unterschiedliche Häufigkeit des Kulturkontakts und der divergierende Grad kultureller Exponiertheit gegenüber der kolonialen ‚Leitkultur’ resultierten – idealtypisch überzeichnet – in einer Aufteilung der ‚popular culture’ in einen anglizisierten, politisierten und kommerzialisierten kulturellen Raum, dessen Zentrum in den Städten und im Ostteil des Landes lag und einen gälischen, lokalistischen, subsistenzorientierten und ‚in sich gekehrten’ kulturellen Raum, der im Westteil des Landes situiert war.549 Vergleicht man die Attribute, die CONNOLLY der Kultur des ‚gemeinen Mannes’ zuschreibt, mit denen, die er der gälischen Bevölkerung im Westen zuordnet, dann sticht die hohe inhaltliche Kongruenz dieser Attribute unmittelbar ins Auge. Das ist natürlich kein Zufall: Die gälischen, ländlichen Unterschichten stellen im Irland des 18. Jahrhunderts den Prototyp des ‚gemeinen Mannes’ dar. Für die folgende Analyse ist es daher legitim, sich auf die katholische Elitenkultur einerseits und die gälische Kultur der ‚kleinen Leute‘ im Westen des Landes (also im Prinzip auf DANIEL CORKERYS ‚Hidden Ireland’)550 zu konzentrieren. Adel und Bürgertum. Insgesamt läßt sich in der Kultur der katholischen Oberschicht eine deutliche Tendenz zur Anpassung an die koloniale ‚Leitkultur’ ausmachen. Dafür war nicht nur Besitzstandswahrungswünsche ausschlaggebend, sondern auch das Verlangen, entsprechend des sozialen Status in allen gesellschaftlichen Bereichen partizipieren zu können. Zu Anfang des Jahrhunderts konnten solche Wünsche jedoch noch nicht offen formuliert werden. Insgesamt scheint es, daß die katholische Ober- und Mittelschicht anfänglich aus Furcht, protestantischen Sozialneid zu schüren und neue 548 Connolly, Elite, S. 10. ‘Tendenziell’ deshalb, weil es sich dabei um eine idealtypisch überspitzte Differenzierung handelt, die zu analytischen Zwecken legitim ist, aber nicht im Sinne einer kompletten Trennung zwei separater Kulturstränge übertrieben werden darf. Connolly selbst hat dafür den Nachweis geführt, indem er kulturelle Transfers zwischen der Elite und der breiten Bevölkerung in so verschiedenen Bereichen wie dem Sport, ländlichen Feiern, dem Theater und beim Tanzen festgestellt hat. Bemerkenswert ist dabei, daß kulturelle Transfers sich in beiden Richtungen beobachten lassen: Sowohl von oben nach unten (Theater, Tanz) als auch von unten nach oben (Sport, Feierlichkeiten). Connolly, Elite, S. 12-19. 549 Ebd., S. 24. 550 Vgl. Corkery, Hidden Ireland, S. 23. 184 Restriktionen heraufzubeschwören, ostentativ einen bescheideneren Lebenswandel führten als ihre protestantischen Standesgenossen.551 Aus dem gleichen Grund taten sie sich in Dublin auch nicht durch große private Bauvorhaben hervor,552 wenngleich es Quellen gibt, die nahelegen, daß sie zumindest teilweise über durchaus prestigeträchtige Adressen verfügten.553 Erst ab der Jahrhundertmitte – speziell aber im Zuge der allmählichen Abschaffung der Strafgesetze ab 1778 – ließ dann jedoch allmählich die Zurückhaltung der Katholiken nach, ihren Wohlstand zu zeigen: Sie setzten ihn im Gegenteil sogar immer häufiger als Argument ein, um ihre gesellschaftliche Bedeutung zu verdeutlichen und auf dieser Basis für ihre Emanzipation zu werben.554 In ähnlicher Weise waren auch ihre Möglichkeiten, soziales Kapital durch kulturelle Patronage und Mäzenatentum zu generieren anfangs arg begrenzt, da sie von vielen gesellschaftlichen Anlässen, die an der Schnittstelle von Politik und Kultur angesiedelt waren, per se ausgeschlossen waren: Das galt nicht nur für Staatsempfänge in Dublin Castle, sondern ebenso für die Festivitäten, die von Gilden und Stadträten veranstaltet oder anläßlich von Assizen oder Wahlen abgehalten wurden.555 Die kulturelle Teilhabe der katholischen Ober- und Mittelschicht beschränkte sich hier weitgehend auf die Rolle teilnehmender Beobachter. Diese Beschränkung galt jedoch nicht für weniger offizielle gesellschaftliche Anlässe wie Bälle, Theateraufführungen und Konzertveranstaltungen – und schon gar nicht für private Formen gesellschaftlicher Unterhaltung wie Dinnerparties oder Kartenabende. Mit andern Worten: Die katholische Ober- und Mittelschicht tendierte dazu, sich im öffentlichen Kulturleben zurückzuhalten, um nicht anzuecken, und verlegte sich daher mehr auf private und solche Formen der Unterhaltung, die bar jeder politischen Konnotation waren. Bemerkenswerterweise unterschieden sie sich gerade in ihrem privaten gesellschaftlichen Leben am wenigsten von der Ascendancy. Das ist ein Umstand, der vermutlich mit der sozialen Verwandtschaft zwischen katholischer und protestantischer Oberschicht – ungeachtet 551 Wall, Rise, S. 78. Ebd. 553 Die Listen des Catholic Committee, in denen sich ab 1760 allmählich der katholische Mittelstand und Adel zusammenschlossen belegt das deutlich: Dort finden sich u.a. auch ausgewiesene Nobeladressen wie Dame Street, Dominic Street, Grafton Street, Kildare Street, Dawson Street, College Green und St. Stephen’s Green. Vgl. MBCC, passim. 554 Wall, Catholics, S. 90f. 555 Wall, Rise, S. 78. 552 185 der konfessionellen Barriere – am plausibelsten zu erklären ist: Die AscendancyKultur war Elitenkultur und die katholische Oberschicht fühlte sich zweifelsohne dieser ‚Elite’ zugehörig.556 Im katholischen Bürgertum ging die Tendenz zur Konfliktvermeidung durch kulturelle Assimilation noch sehr viel weiter und betraf zum Teil sogar den unmittelbarsten Ausdruck der personalen Identität: den Namen. Katholische Kaufmannsdynastien in Dublin wie etwa die McDermott-Familie von Usher Quay oder die O’Connor-Familie aus Dominick Street paßten sich ihrem – gerade in Dublin! – protestantischem Umfeld an, indem sie die gälischen Präfixe aus dem Namen tilgten: Aus ‚O’Connor’ wurde ‚Connor’, aus ‚McDermott’ ‚Dermott’.557 Es paßt in das bereits entworfene Bild steigenden katholischen Selbstbewußtseins in der zweiten Jahrhunderthälfte, daß diese Familien in den 1780er Jahren ihren alten Namen wieder annahmen und die O’Connors darüber hinaus für sich eine Herkunft von ‚milesischen’ Prinzen, den sagenhaften keltischen Gründungsvätern der gälischen Gesellschaft, reklamierten. Aufgeklärter Katholizismus. Am augenfälligsten wird der Wandel von katholischer Zurückhaltung zu neuem Selbstbewußtsein jedoch in den historiographischen Werken katholischer Autoren seit den späten 1740er Jahren. Parallel zum Interesse protestantischer Autoren an der präkolonialen gälischen Gesellschaft entdeckten nämlich auch katholische Intellektuelle wie Charles O’Conor von Belanagare und Dr. John Curry die gälische Geschichte neu für sich.558 Sie verfolgten damit vor allem zwei Ziele: Erstens eine glaubhafte Distanzierung von Rom und vom Jakobitismus, das mit einem Bekenntnis zum Konstitutionalismus verbunden wurde (als Voraussetzung für eine politische Gleichstellung der irischen Katholiken mit den anglo-irischen Protestanten), und zweitens eine Aufwertung 556 Diese These stützt sich auf das Verhalten der katholischen Aristokraten im Catholic Committee, wo sie zusammen mit dem Klerus eine Führungsposition reklamierten, obwohl das Komitee von Mittelstandskatholiken gegründet worden war. Der Kampf um die Vorherrschaft, der zwischen der Adelsfraktion und der Bürgertumsfraktion unerbittlich ausgetragen wurde führte 1791 zur Spaltung des Komitees. Wall, Keogh, S. 166. 557 Wall, Rise, S. 82. Nach 1784 machten die meisten Katholiken diesen Schritt jedoch wieder rückgängig, was als deutlicher symbolischer Ausdruck gestiegenen katholischen Selbstbewußtseins zu bewerten ist. Zu Namensänderungen von Katholiken in Antrim und Down vgl. Bardon, History, S. 147. 558 Vgl. exemplarisch Dr. J. Curry, A candid enquiry into the causes and motives of the late riots in the province of Munster, together with a brief narrative of the proceedings against the rioters, anno 1766. In a letter to a noble lord in England, London 1766; Charles O’Conor, The case of the Roman Catholics of Ireland. Wherein the principles and conduct of the party are fully explained 186 gälischer Kulturleistungen (um die katholische Bevölkerung vom protestantischen Stigma der ‚Unzivilisiertheit’ zu befreien).559 Diese aufgeklärt-katholische Lesart deckte sich zumindest teilweise mit den Befunden der protestantischen Historiographie, die ebenfalls – wenn auch aus anderen Gründen – an einer Aufwertung der gälischen Kultur interessiert war.560 Diese Konvergenz resultierte zwar nicht in einer umfassenden katholischen Emanzipation, aber dafür im sogenannten ‚Gaelic enthusiasm’561, der einen ersten Vorgeschmack auf den ‚Gaelic revivalism’ des 19. Jahrhunderts gab. Ende des 18. Jahrhunderts galt es – insbesondere unter aufgeklärten Katholiken, aber auch in liberalen protestantischen Kreisen – als chic, antiquarische und genealogische Studien zu betreiben, sich auf ‚milesische’ Wurzeln zu berufen und die gälische Kultur zu pflegen.562 Die katholische Amtskirche dagegen tat sich zunächst mit der kulturellen Anpassung, später aber auch mit dem gestiegenen Selbstbewußtsein des aufgeklärten Katholizismus à la Charles O’Conor ausgesprochen schwer. Naturgemäß konnte sie sich zwar mit dem weltlichen Regime der Ascendancy, nicht aber mit dessen konfessioneller Legitimationsbasis arrangieren. Das schränkte den Radius ihrer kulturellen Anpassungsbemühungen erheblich ein und resultierte in einer gewissen Ambivalenz: Auf der einen Seite versuchte sie den bescheidenen protestantischen Bekehrungsversuchen Paroli zu bieten, auf der anderen Seite war sie jedoch durchaus zu geistlichen Zugeständnissen an das protestantische Establishment bereit. So erwirkten etwa 1755 und 1778 die katholischen Bischöfe vom Papst für die Gläubigen Dispens für diejenigen katholischen Feiertage, die vom Kolonialregime nicht als allgemeine Feiertage anerkannt wurden.563 Vor dem Hintergrund einer Verschlechterung der katholisch-protestantischen Beziehungen wegen des Kriegsausbruchs zwischen Großbritannien und Frankreich im Jahr 1756 schlugen and vindicated. Pr. for P. Lord, Dublin 1755. O’Conors Werk ging ein Jahr später bereits in die dritte Auflage. 559 Hill, Popery, S. 104-107. 560 Zusätzlich wurde die katholisch-irische und protestantisch-anglo-irische Auseinandersetzung mit der gälischen Kultur durch James MacPhersons Studie zur ‚ossianischen’ Literatur von 17601763 angeheizt, der mit seiner Behauptung, daß das Zentrum der keltischen Kultur in Schottland gelegen habe, unter irischen Katholiken und Protestanten gleichermaßen große Empörung hervorrief. Vgl. Connolly, Elite, S. 7. 561 Hill, Popery, S. 102. 562 Maureen Wall führt als weitere Beispiele den Brauereiklan der Moores von Mount Browne, den Kaufmann Thomas Braughall und den Seidentuchhändler John Keogh an, die alle prominente Mitglieder des Catholic Committee waren. Vgl. Wall, Rise, S. 81f. 563 Corish, Catholic Community, S. 92f. 187 sieben katholische Bischöfe intern sogar vor, die Priester in ihren Diözesen dazu anzuhalten, von der Kanzel zu Beginn jeden Quartals eine Erklärung zu verlesen, in der demonstrativ anti-katholische Vorurteile zurückgewiesen und die katholische Loyalität gegenüber dem Regime beschworen wurde. Gleichzeitig sollten die Kleriker am Ende jeder Messe und jedes Hochamts laut für das Wohl der königlichen Familie beten.564 Diese Geste scheiterte zunächst am Widerstand der restlichen katholischen Bischöfe und am Veto Roms, weil Papst Benedikt XIV. nach wie vor die Thronansprüche der katholischen Stuarts unterstützte und deshalb nicht zulassen wollte, daß die katholische Kirche in Irland durch ihre Gebete die Legitimität der hannoveranischen Dynastie anerkannte und die Rechtsansprüche der Stuarts für obsolet erklärte. Diese Situation änderte sich aber bereits unter Benedikts Amtsnachfolger Klemens XIII., der ab 1760 in irischen Bischofsernennungen jede Erwähnung der Stuarts vermied und nach dem Tod Jakobs ‚III.’ im Jahre 1766 den Thronanspruche Charles Edward Stuarts nicht mehr anerkannte.565 Ab 1760 wurden denn auch die Dank- und Schutzgebete für Georg III. eingeführt. 566 Diese Begebenheit zeigt, daß zumindest Teile des katholischen Episkopats selbst dann bereit waren, Zugeständnisse gegenüber dem anglikanischen Establishment und dem König, ihrem weltlichen und geistlichen Oberhaupt, zu machen, wenn dies zu Konflikten mit dem Vatikan führte. Deutlich ausgeprägter war jedoch die Kooperationsbereitschaft der katholischen Kirche, wenn darunter das Verhältnis zu Rom nicht potentiell Schaden nahm: Anläßlich des Kriegsausbruchs zwischen Frankreich und Großbritannien im Jahr 1757 ermahnte der Erzbischof von Dublin seine Schäfchen in einem Hirtenbrief, der Obrigkeit gegenüber weiterhin ein „bescheidenes, friedfertiges und gehorsames Benehmen“ an den Tag zu legen.567 Noch deutlicher machten die katholischen Bischöfe ihren Einfluß während der Whiteboy-Unruhen der 1760er Jahre in systemstabilisierender Weise geltend: Der Bischof von Ossory wies 1764 seine Priester an, von der Kanzel herab – in Englisch und in Gälisch! – jeden Katholiken davor zu warnen, das Gesetz in die eigene Hand zu nehmen und sich an den Unruhen zu beteiligen. Als solche Verwarnungen nichts halfen, erhöhten die Bischöfe den Druck und drohten jedem katholischen Whiteboy die Exkommunikati564 Wall, Penal Laws, S. 59. Ebd. 566 Corish, Catholic Community, S. 122. 565 188 on an.568 Auch das half nicht viel, zeigte aber das Bemühen der Kirche, die Obrigkeit mittels ihrer kulturellen und geistlichen Autorität zu unterstützen.569 Mit den aufgeklärten Katholiken um O’Conor und Curry befand sich die katholische Kirche ab den späten 1760er Jahren ebenfalls im Clinch. In ihrem Bestreben, dem Regime ihre Zuverlässigkeit und Integrationsfähigkeit zu demonstrieren, versuchten diese nämlich einen Weg zu finden, der es Katholiken erlaubte, ihre Loyalität öffentlich unter Beweis zu stellen. Seit den Strafgesetzen war dafür das Ablegen eines Eides – des sogenannten Oath of Abjuration von 1702 – vorgesehen, dessen Inhalt jedoch mit der weltlichen Autorität des Papstes unvereinbar war.570 Das konnte die katholische Kirche natürlich so nicht akzeptieren, konnte gleichzeitig aber nicht verhindern, daß aufgeklärte Katholiken eine Eidformel auszuhandeln versuchten, die das Regime zufriedenstellte und durch welche die katholische Bevölkerung in den Genuß gesetzlicher Erleichterungen kam.571 1768 setzte sich eine Gruppe prominenter Katholiken unter der Führung Viscount Taaffes mit dem anglikanischen Bischof von Derry in Verbindung, um eine solche Formel zu finden, die jedoch anschließend vom päpstlichen Nuntio in Brüssel, Monsignor Ghilini, abgelehnt wurde.572 Ghilini forderte die irischen Erzbischöfe auf, ihre Schäfchen lieber dazu zu bewegen, die Strafgesetze zu ertragen als solche Schwüre zuzulassen.573 Über die Eidformel, die bei einem zweiten Anlauf 1778 herauskam, spaltete sich das Episkopat in entschiedene Gegner und Befürworter des Eides. Während sich die Bischöfe noch stritten und die Gegner des Eides sich wieder an Ghilini wandten, um ein Machtwort aus Rom zu erhalten, entschieden sich katholische Laien in Dublin zum Handeln: Unter der Führung von Lord Trimlestown und Curry marschierten sechzig katholische Kaufleute und Händler zum Gericht von King’s Bench, wo sie den Eid ablegten – ohne die Genehmigung der Kirche.574 1775 folgten einige katholische Bischöfe aus Munster gemeinsam mit ihren Priestern und vielen Landadeligen dem Beispiel der soge- 567 Wall, Catholics, S. 99. Corish, Catholic Community, S. 122; Wall, Penal Laws, S. 59. 569 Lecky, History of Ireland I, S. 168. 570 Wall, Loyalty, S. 107f. 571 Ebd., S. 109-111. 572 Ebd., S. 110. 573 Ebd., S. 110f. 574 Ebd., S. 112. 568 189 nannten ‚Juroren’.575 Die Gefahr eines Schismas war so groß, daß der Vatikan einlenkte: Er riet den anti-jurorischen Bischöfen von einer öffentlichen Verurteilung des Eids ab, um die Situation der irischen Katholiken nicht zu verschlimmern und ließ es bei einer scharfen, schriftlichen Ermahnung des Führers der JurorenPartei, des Erzbischofs von Cashel, bewenden.576 Die Jurorenaffäre demonstriert noch einmal die schwierige Position der katholischen Kirche. Ihr wurden nicht nur vom Regime Zugeständnisse als Preis für die weitgehend ungestörte katholische Religionsausübung, sondern überdies von Teilen der katholischen Gemeinschaft Konzessionen gegenüber dem Regime als Preis für die gesellschaftliche Reintegration des katholischen Adels und Mittelstands abverlangt. Keinem dieser Ansprüche konnte sie sich erfolgreich entziehen. Die Amtskirche und katholische Volksfrömmigkeit. Anders dagegen liegt der Fall, wenn man sich das Verhältnis zwischen der katholischen Amtskirche und den katholischen Unterschichten auf dem Land anschaut. Die Amtskirche konnte sich zwar auch hier mit ihren Vorstellungen nicht durchsetzen, aber sie lenkte nicht ein. Im Verhältnis zur katholischen Landbevölkerung sorgten vor allen Dingen Formen der Volksfrömmigkeit für Konfliktstoff. Dazu zählten die großen Wallfahrten nach St. Patrick’s Purgatory am Lough Dergh oder auf dem Gipfel des Croagh Patrick sowie die Verehrung lokaler Heiliger an Quellen und Brunnen (die sogenannten ‚patterns’) und gängige Rituale der Totenwache, die sogenannten ‚merry wakes’. Zum einen war den katholischen Würdenträgern bei diesen Ritualen eine aus keltischer Tradition stammende, paganisch-kosmologische Komponente ein Dorn im Auge, die sie als Aberglauben geißelten, und zum anderen die Tatsache, daß die Wallfahrten nach Beendigung des Ritus dazu tendierten, in einer kathartischen Reaktion in ausgelassenen Tanzfesten, Trinkgelagen und nicht selten in Schlägereien zu enden.577 Selbst bei den Totenwachen wurde allerlei derber, nach heutigen Standards extrem pietätsloser Schabernack getrieben, musiziert und getanzt wie bei einer Hochzeit.578 Auch Feenzauber wurden vollführt, nach Anzeichen für den nahenden Tod des Sterbenden gesucht (wie etwa dem Krähen eines Hahnes zur Nachtzeit) und der Leichnam dann auf genau fest575 Ebd., S. 113. Ebd., S. 113f. 577 Ó Crualaoich, The 'Merry Wake', in: Donnelly Jr./Miller, Irish Popular Culture, S. 173-200, S. 175f.; D. Ó Giolláin, The Pattern, in: Donnelly Jr./Miller, ebd., S. 201-221, S. 203f., 208-211. 578 Ó Crualaoich, 'Merry Wake', S. 185-187. 576 190 gelegte Art und Weise für die Totenwache aufgebahrt, aus dem Haus und zum Friedhof gebracht, um die ‚good people’(d.h. die Feen) nicht zu erzürnen.579 Gerade die oberen, akademisch ausgebildeten Ränge des katholischen Klerus bekämpften vehement den „verwirrten Aufschrei von Gebeten und Flüchen, von Heiligkeit und Blasphemie“, der bei diesen Anlässen aus der Sicht aufgeklärter Beobachtern das Bild prägte:580 Seit der Jahrhundertmitte sprachen die Bischöfe Ermahnungen aus, stellten die Teilnahme an den Wallfahrten zu heiligen Brunnen unter Strafe, verboten sie schließlich ausdrücklich und drohten den Teilnehmern einer solchen Zeremonie die Exkommunikation an.581 Wie wenig solche Drohungen und selbst drastischere Schritte der Tradition etwas anhaben konnten zeigt die Geschichte des St. Gobnait-Kreuzes in Dunquin (Co. Kerry): Als bei den Wallfahrten ein Mann in einer Schlägerei getötet wurde, verbot der lokale Priester das ‚pattern’. Da die Bevölkerung sein Verbot ignorierte, entfernte er das Kreuz vom Wallfahrtsort, um es bei sich zu Hause unter Verschluß zu nehmen. Auf dem Weg dahin wurde er von drei Männern gewaltsam aufgehalten, die das Kreuz zurückforderten. Der Priester konnte auf seinem Pferd entkommen und verschloß das Kreuz in seinem Verschlag. In kürzester Zeit verschwand es von dort und kehrte – wie durch ein Wunder... – auf seinen alten Platz zurück. Durch einen simplen Ikonoklasmus ihres Priesters ließen sich die Einwohner von Dunquin ihren Heiligen offenbar nicht nehmen.582 Im übrigen war das Beispiel des Priesters von Dunquin eher die Ausnahme als die Regel, denn der niedere Klerus scheint dazu tendiert zu haben, die Volksfrömmigkeit zu unterstützen. Die Priester vor Ort standen den Ritualen ihrer Gemeinden – von den Wallfahrten zu heiligen Quellen bis zu Sonnwendfeiern – in der Regel vor und präsidierten als Ehrengäste über alle Taufen, Hochzeiten und Begräbnisse.583 Wie tief in puncto Volksfrömmigkeit und Rituale der Graben zwischen dem hohen und niederen katholischen Klerus tatsächlich war läßt sich daran ablesen, daß es der Bischof von Ferns z.B. noch 1771 für notwendig hielt, seine Priester dazu anzuhalten, keine Exorzismen durchzuführen und nicht als ‚Feen- 579 Ebd., passim. Zur Bildung des katholischen Klerus vgl. Connolly, Elite, S. 16; Zitat bei Ó Giolláin, Pattern, S. 204. 581 Ó Giolláin, ebd., S. 214. 582 Ebd., S. 202. 583 Connolly, Elite, S. 17. 580 191 doktor’ in Erscheinung zu treten, der krankes Vieh und Felder mit Weihwasser besprenkelte.584 Erst in den 1780er Jahren begannen katholische Priester auf dem Lande damit, die volksfrommen Rituale nicht länger durch ihre Anwesenheit zu legitimieren und aufzuwerten. Die Praxis als solche hielt sich ungeachtet dessen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein.585 Kulturelle Charakteristika der gälischen ‚popular culture’. Die Kultur der breiten katholischen Landbevölkerung ist en passant bereits wiederholt angerissen worden. Um Redundanz zu vermeiden, werden an dieser Stelle daher nur noch einmal kurz die wichtigsten Charakteristika der Kultur der breiten gälischen Bevölkerung skizziert und das Beharrungspotential dieses katholischen Kulturstrangs gegen die koloniale ‚Leitkultur’ herausgearbeitet. Trotz der berechtigten revisionistischen Kritik an DANIEL CORKERYS sozialromantisch und nationalistisch imprägnierten Thesen spricht immer noch vieles dafür, sein Hidden-Ireland-Konzept in modifizierter Form weiter zu verwenden. Dazu müssen jedoch vor allem die von CORKERY besonders hervorgehobenen kulturellen Grenzlinien – Konfession und koloniale Stellung in der irischen Gesellschaft – um weitere Faktoren wie soziale und regionale Unterschiede ergänzt werden. Durch diese Modifikationen reduziert sich zwar die Reichweite des „Hidden-Ireland“- Konzepts erheblich, weil es sich dann nur noch auf die weitgehend gälischsprachigen, katholischen Unterschichten im ruralen Westen Irlands anwenden läßt, aber dafür behält das Konzept seine analytische Validität. Selbst wenn das Residuum autochthoner Kultur nicht vollständig in sich abgeschlossen war (wie CORKERY annahm), so waren die Kulturkontakte zwischen dieser und der von der kolonialen ‚Leitkultur’ beherrschten Sphäre doch auf einen kleinen Personenkreis aus niederem Klerus, Heckenschulmeistern, Balladensängern und Middlemen beschränkt, die sozial und räumlich ausreichend mobil waren und über genügend kulturelles Wissen verfügten, um überhaupt als Vermittlungsinstanzen zwischen dem kolonialen und dem autochthonen Irland aufzutreten.586 Unterhalb dieser Schicht kultureller Grenzgänger befand sich jedoch die breite katholische Landbevölkerung, die durch konfessionelle und linguistische Barrieren, durch ihre eigenen politkulturellen Orientierungen und das Desinteresse der kolonialen O584 Ebd., S. 16. Ó Giolláin, Pattern, S. 214f. 586 Connolly, Elite, S. 16. 585 192 berschicht dauerhaft von der kulturellen Entwicklung der irischen Kolonialgesellschaft abgekoppelt war und in ihren traditionalen Kulturmustern verharrte. Worin bestanden nun die klassischen Wesenszüge dieser traditionalen Kulturmuster? Die zentralen Merkmale sind bereits aus anderen Zusammenhängen bekannt: Die Kultur der katholischen Unterschichten auf dem Land war – wie am Beispiel der Hedge Schools diskutiert – bestenfalls proto-alphabetisiert und sie war primär gälischsprachig mit einer gewissen Tendenz zur Bilingualität. Die Untersuchung der Volksfrömmigkeitsformen hat die zentrale Bedeutung lokaler Riten herausgestrichen (‚merry wakes’, ‚patterns’). Die entschlossene Verteidigung existenter Riten und Praktiken gegen die eigenen Geistlichen vor Ort kann ebenso als deutliches Indiz für die kulturelle Beharrungskraft und Traditionalität der katholischen Unterschichten auf dem Land gewertet werden wie die Tatsache, daß diese Riten nicht allein auf christlichen Traditionen basierten, sondern darüber hinaus auch auf vorchristliche, keltische Vorstellungen von der ‚Anderswelt’ (z.B. den Feenglauben) rekurrierten.587 Darüber hinaus haben die Formen agrarischen Protests auch über kulturelle Orientierungen der katholischen Landbevölkerung Aufschluß gegeben: Über ihre Vorstellungen von ‚gerechten’ sozialen und ökonomischen Beziehungen zwischen Landbesitzer und Kleinpächter, über ihr Pochen auf ‚alte Rechte’ (z.B. in Hinsicht auf die Einzäunung von Allmenden) und über ihre Vorstellungen legitimen Widerstands gegen die weltliche und geistliche Obrigkeit. Der einzige charakteristische Aspekt der Kultur der katholischen Unterschichten auf dem Land, der bislang noch keine Erwähnung gefunden hat, ist ein weit verbreiteter, jakobitisch imprägnierte Messianismus. Von kultureller Warte betrachtet stellte der Jakobitismus der katholischen Unterschichten weit mehr dar als bloß eine politische Loyalität zur Stuart-Dynastie.588 Vor dem Hintergrund der aristokratischen Bardentradition, welche die Rückkehr der Stuarts mit der Hoffnung auf eine Restauration der präkolonialen gälischen Gesellschaft verknüpfte, ist es wenig überraschend, daß sich in den Äußerungen der breiten Bevölkerung die StuartHerrscher in messianische Gestalten verwandelten, deren Rückkehr nach Irland in mythologischer Weise mit dem Topos eines goldenen Zeitalters verbunden wur- 587 Zum keltischen Hintergrund katholischer Riten vgl. I. Clarus, Keltische Mythen, Zeugnisse aus einer anderen Welt, Augsburg 1997, S. 49-53. 588 Smyth, Men, S. 41. 193 de.589 Ein anonymer Vers, der in der oralen Tradition bis ins 19. Jahrhundert überlebte, brachte diese volkstümliche Vorstellung mit unprätentiösen Worten auf den Punkt: „Der König wird kommen, die Königin wird kommen Sarsfield und die MacCarthys werden kommen Die Franzosen werden in ihren Reihen marschieren Und die [englischen - MR] Flegel werden aus Irland vertrieben werden.“590 Die Loyalität gegenüber dem Haus Stuart wurde ohne Rücksicht auf die realpolitische Lage bis zum Ende des 18. Jahrhunderts auf jedes Mitglied der Dynastie übertragen: Von Jakob II. auf Jakob III, auf Charles Edward Stuart und schließlich sogar auf dessen jüngeren Bruder Henry, den Herzog von York.591 Diese für heutige Betrachter merkwürdig ‚stur’ wirkende Loyalität, die jeglicher politischer Logik entbehrt, wird nur im Kontext spirituell-mythologischer Königskonzepte der gälischen Kultur verständlich: Aus GIRALDUS CAMBRENSIS „Topographia Hibernica“ aus dem 12. Jahrhundert wissen wir, daß gälische Könige bei ihrer Thronbesteigung rituell mit dem Land vermählt wurden und anschließend für das Wohl und Wehe des Landes verantwortlich gemacht wurden.592 Ohne den rechtmäßigen König, glaubte man, war das Land dem Ruin verfallen und wurde von Mißernten, Epidemien und anderen Übeln heimgesucht. Die Parallelität zwischen dem christlichen Messiasglauben, der gälischen Königsvorstellung und der Hoffnung auf die Rückkehr die Stuarts ist offensichtlich und zusammen dienten sie sowohl der breiten Bevölkerung wie den gälischen Literati als kommunikatives Medium ihrer Hoffnungen und ihres Protests. Während die Barden ihre Visionsgedichte – die sogenannten Aíslings – schrieben und sangen, in denen die verlassene Frau ‚Irland’ auf die Rückkehr ihres Stuartprinzen aus dem Exil wartet, adaptierten die katholischen Unterschichten das Topos in kruderer Form, indem sie – wie in den Defender-Katechismen593 – ihre religiöse Zugehörigkeit mit ihrer 589 B. Ó Buachalla, Irish Jacobitism and Irish Nationalism: the Literary Evidence, in: M. O'Dea/ K. Whelan (Hgg.), Nations and Nationalisms, France, Britain, Ireland and the 18th Century Context, Oxford 1995, S. 103-116, 103-106. 590 Zitiert nach B. Ó Buachalla, Briseadh na Bóinne’, in Éigse 23 (1989), S. 83-106, S. 97. (meine Übersetzung) 591 Um die Übertragung der Loyalität auf den Herzog von York wissen wir aus einem DefenderKatechismus der 1790er Jahre. Vgl. Bartlett, Documents, S. 388; vgl. auch Ó Buachalla, Irish Jacobitism, S. 105. 592 Clarus, Mythen, S. 66-68. 593 Bei den sogenannten Defender-Katechismen handelt es sich um Satzsequenzen, die alternierend von zwei Mitgliedern gesprochen wurden zur gegenseitigen Erkennung, aber auch im Initiationsritus dieser bäuerlich-katholischen Geheimgesellschaft Verwendung fanden. 194 politischen Loyalität und ihrer mythischen Vorstellungen in eins setzten und mit biblischen Bildern verknüpften: „Der Herzog von York wird uns retten. Ich bin ihm treu ergeben. Ich auch. Wer taufte dich? Der heilige Johannes. Wo? Am Fluß. Welchem Fluß? Dem Jordan. Wofür taufte er dich? Um treu zu sein. Wem gegenüber? Gott und meinen Brüdern. Warum gegenüber Gott? Weil es meine Pflicht ist. Warum gegenüber meinen Brüdern? Weil ich ihnen treu bin und dem König. Warum gegenüber dem König? Wegen der Freiheit, die er uns gewährte. Wir haben verloren, wir haben unsere Brüder verloren, ja, wir haben sie verloren. Wohin sind sie gegangen? Zum Fluß. Zu welchem Fluß? Zum Fluß Jordan. Wann werden sie zurückkehren? Wenn sie Buße getan haben für ihre Sünden, dann werden sie zurückkehren und ihre unbefleckte Treue zeigen.“594 In Gasthäusern äußerte sich die Hoffnung auf Erlösung vom englischen Joch in konkreteren, derberen Formen,595 wenn etwa auf den Untergang bestimmter englischer Landbesitzer getrunken wurde: „Robertson wird gebrechlich sein und Redmonds schwach, Wallis und Swaine werden unterworfen und wertlos ein, Longfield wird von einer irischen Jury verurteilt werden, der schurkische Morrison wird zwischen Blake und Trant [hängen – MR], der verräterische Johnson wird zurecht im Höllenfeuer schmoren; das ist ein neuer Gang für das Mädchen des Hauses – Amen sage ich und füll’ uns die Becher!“596 Auch Toasts auf den Stuart-Kronprätendenten wurden in Kneipen öffentlich ausgebracht.597 Abgerundet wird das Bild einer in der breiten Bevölkerung verankerten, kulturell geäußerten Protesthaltung gegen das Regime durch das Genre der volkstümlichen Kriminalliteratur über die ‚Taten’ jakobitischer Tories und Rapparees, das aus den klassischen „letzten Reden“, „Bekenntnissen“ oder „Memoiren“ verurteilter Verbrecher hervorging, die sich besonders zwischen 1710 und 1730 großer Beliebtheit erfreuten.598 In den 1740er Jahren wurde das Genre durch die Veröffentlichung der „History of the most notorious Irish tories, highwaymen, and rapparees“ von John Cosgrave weiter popularisiert. Dieses Werk, das bereits von Anfang an zum niedrigen Preis von drei Pennies auf den Markt geworfen wurde, gehörte zur Standardlektüre in den Hedge Schools und hatte allein bis 1782 min594 Bartlett, Documents, S. 388f. (meine Übersetzung) Zur Rolle der Pubs als Zentren männlicher Geselligkeit und politischer Subversion sowie zu den Pubbesitzern als zentralen Figuren in der ländlichen Sozialstruktur vgl. E. Malcolm, The Rise of the Pub: A Study in the Disciplining of Popular Culture, in: Donnelly Jr./Miller, Irish Popular Culture, S. 50-77. 596 Zitiert nach Ó Buachalla, Irish Jacobitism, S. 112. (meine Übersetzung) 597 Ebd. 598 N. Ó Ciosáin, The Irish Rogues, in: Donnelly Jr./Miller, Irish Popular Culture, S. 76-94, S. 81f., Smyth, Men, S. 40f. 595 195 destens zehn Auflagen.599 Neben dem niedrigen Preis verweisen zwei weitere Aspekte darauf, daß dieses Werk und seine Nachfolger für ein breites, ländliches (und damit primär katholisches) Publikum bestimmt waren: Im Unterschied zu vergleichbaren englischen Werken wählte Cosgrave erstens vorwiegend solche Figuren für seine Darstellung aus, die auf dem Land aktiv waren, und zweitens ließ seine Darstellung die behandelten Figuren insgesamt in einem deutlich positiveren Licht erscheinen als das in vergleichbaren englischen Werken der Fall war.600 Cosgraves Protagonisten fielen ausnahmslos in die Kategorie des volkstümlichen Brigantenhelden, der die Reichen beraubt, mit den Armen teilt und nur durch Verrat zu besiegen ist: Lauter Robin Hoods, kein einziger Schinderhannes.601 Vor dem Hintergrund von ERIC HOBSBAWMS Konzept des Sozialbanditentums deutet NIALL Ó CIOSÁIN die Popularität dieses Genres daher für das 19. Jahrhundert als Ausdruck einer „anti-autoritären, anti-staatlichen Ideologie“ der breiten katholischen Bevölkerung. Für das 18. Jahrhundert ist das deutlich zu hoch gegriffen: Hier kann von einer geschlossenen „anti-staatlichen Ideologie“ noch nicht die Rede sein, sondern allenfalls von einer Divergenz zwischen lokalen Konventionen und staatlichen Ordnungsvorstellungen. Die Bewunderung der Bevölkerung für die zu Volkshelden stilisierten Briganten ist somit bloß als ein weiterer Beleg für die Existenz eines diffusen ländliches Protestpotential zu werten, das auf vielfältige Weise kulturellen Ausdruck fand. Fazit. Die katholischen Reaktionen auf die von der Ascendancy vertretene und repräsentierte kolonialen ‚Leitkultur‘ haben sich insgesamt als so vielfältig herausgestellt wie die Kulturäußerungen der katholischen Bevölkerung als uneinheitlich. Diese Feststellung reflektiert nicht mehr als die innere Heterogenität der größten irischen Bevölkerungsgruppe, die sich nicht nur auf den sozialen und sozialökonomischen, sondern im Hinblick auf den individuellen Bildungsstand, Deutungsmuster und Erwartungshorizonte ganz besonders auch auf den kulturellen Bereich erstreckte. Gerade die kulturelle Heterogenität der katholischen Bevölkerung basierte nicht allein auf sozialen Unterschieden, sondern wurde auch durch das Gefälle zwischen Stadt und Land sowie auf dem Land zwischen verschiedenen lokalen und regionalen Gebräuchen und kulturellen Praktiken und 599 Ó Ciosáin, ebd., S. 79, 83; Adams, Word, S. 90. Ó Ciosáin, ebd., S. 83, 85-88. 601 Ebd., S. 85. 600 196 schließlich durch den vom Kolonialregime ausgehenden kulturellen Assimilationsdruck gefördert. Zumindest partiell ist daher die innere Zerrissenheit als zentrales Merkmal katholischer Kultur auch auf den kolonialen Kontext zurückzuführen, der die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen schuf, in denen sie sich entfaltete. Trotz dieses uneinheitlichen Gesamteindrucks lassen sich jedoch einige signifikante Entwicklungstendenzen extrapolieren. Vor allem ist deutlich geworden, daß die soziale Elite der katholischen Bevölkerung – Adel, Klerus und Bürgertum – eine ausgeprägte, wenngleich zum Teil (vor allem im Hinblick auf den Klerus) durchaus widerwillige Tendenz zur kulturellen Anpassung entwickelte, während die katholische Landbevölkerung (mit der wichtigen Ausnahme einer Gruppe kulturell mobiler Grenzgänger wie dem lokalen Klerus, den Barden oder den Heckenschulmeistern) sich relativ konsequent einigelte und der kolonialen ‚Leitkultur‘ gegenüber verschloß. Für das Verhalten der katholischen Elite lassen sich gute Gründe anführen: Zum einen die Hoffnung auf gesellschaftliche Reintegration und letztlich Gleichstellung mit den sozialen Standesgenossen der anderen Bevölkerungsteile und die relative Häufigkeit des Kulturkontakts mit der anglikanischen und presbyterianischen Elite von der anderen Seite des konfessionell-kolonialen Vorhangs, die kulturelle Assimilation zu erleichtern, wenn nicht gar zu beschleunigen half, und insofern als Katalysator dieses Assimilationsprozesses aufzufassen ist. Punktuell ist auch feststellbar, daß die Assimilation einzelnen Gruppen der katholischen Bevölkerung leichter fiel, weil sie mit ihren eigenen Orientierungen übereinstimmte. Der Widerstand des höheren katholischen Klerus gegen die in der Landbevölkerung gepflegten Formen der Volksfrömmigkeit z.B. repäsentiert ebenso den kulturellen Hiatus zwischen akademisch-theologischen Auffassungen dieser Schicht und spirituellen Bedürfnissen in der Landbevölkerung wie den Versuch des Klerus, einen Beitrag zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu leisten und sich so demonstrativ loyal zu verhalten. Ähnlich hatten die aufgeklärten Katholiken verhältnismäßig wenig Probleme damit, eine Auseinandersetzung mit den konservativen Bischöfen auszutragen, um die Gelegenheit zu erhalten, dem Regime rituell ihre Loyalität zu versichern, weil sie die päpstliche Unterstützung für die Stuarts für einen alten Zopf hielten, der abgeschnitten gehörte. Ein weiteres Merkmal der Assimilation der katholischen Elite war, daß sie lediglich zu Beginn des 18. Jahrhunderts wirklich defensiv war und dazu diente, sich protestanti197 schen Zumutungen zu entziehen und gesellschaftliche Besitzstände zu wahren (wie etwa die Konversionsproblematik gezeigt hat). Spätestens ab der Jahrhundertmitte jedoch nahm die Assimilation der katholischen Oberschicht einen offensiven Charakter an, denn nun ging immer mehr darum, durch kulturelle Anpassung Loyalität zu demonstrieren, um eine Vertrauensbasis für die Forderung nach Erleichterungen und neuen Rechten zu schaffen. Das Resultat war eine bemerkenswerte Assimilationsbegeisterung auf seiten der katholischen Elite, die sich u.a. in unzähligen rituellen Loyalitätsversicherungen des Catholic Committee seit den späten 1770er Jahren niederschlug.602 Weniger einfach dagegen ist die Beharrlichkeit der katholischen Landbevölkerung zu erklären, mit der diese an ‚alten‘ Werten, Sitten und Gebräuchen festhielt. Hier fehlen auch schlicht die Selbstzeugnisse, die als Basis für eine Einschätzung der Motivlagen in der katholischen Landbevölkerung unentbehrlich sind. Es ist mühsam genug zu rekonstruieren, was in der Landbevölkerung rezipiert wurde, aber es ist fast unmöglich nachzuvollziehen, warum es wie rezipiert wurde. Daher ist an dieser Stelle nicht mehr möglich als der Verweis auf ein paar strukturelle Bedingungen, die das kulturelle Verharren begünstigten. Dazu zählt natürlich an vorderster Stelle die mangelnden Austauschmöglichkeiten mit der kolonialen ‚Leitkultur‘, die durch die räumliche Abgelegenheit des Hidden Ireland, die (sich allerdings langsam zurückziehende) Sprachgrenze und die eher kleinräumige Mobilität im subsistenzwirtschaftlich orientierten Westen des Landes gefördert wurde. Darüber hinaus fehlte aber auch jeder Anreiz zur Assimilation. Nicht nur, daß die katholische Landbevölkerung sich keinen sozialen Aufstieg von Assimilationsleistungen versprechen konnte: Sie war in vielerlei Hinsicht das Hauptopfer der anglikanischen Kolonisten. Nimmt man die zahlreichen xenophobischen Äußerungen gegen die ‚häretischen Eindringlinge‘, die in der Landbevölkerung in Balldenform zikulierten, und den jakobitischen Messianismus ernst, dann läßt sich die Einigelung der katholischen Landbevölkerung auch als eine Kombination aus ‚innerer Emigration‘ und kulturellem Widerstand interpretieren. Zumindest aber spricht die breite Unterstützung des Jakobitismus auf dem Lande, die sich von politischen Entwicklungen gänzlich unbeeindruckt zeigte, dafür, daß hinter diesen Orientierungen nicht primär mangelnde kulturelle Anpassungsfähigkeit, sondern vor allem ein Mangel an Anpassungswillen stand. 602 MBCC, S. 3-172. 198 c) Die presbyterianische ‚Gegenkultur’: Von kultureller Segregation zum Protest Die presbyterianische ‚Gegenkultur’. Kulturell nahm Ulster, die presbyterianische Kernregion, ebenso eine Sonderstellung ein wie in politischer oder ökonomischer Hinsicht. Ihre fundamentale kulturelle Divergenz basierte zum einen auf den strukturellen Anforderungen des Presbyterianismus an seine Anhänger und zum anderen auf der relativen sozialen Egalität der presbyterianischen Bevölkerung mit ihrem ausgeprägt mittelständischen Kern aus Kaufleuten, Großpächtern und ‚professional men’.603 Die Omnipräsenz der presbyterianischen Kirche, der Kirk, verlieh den kulturellen Aktivitäten der presbyterianischen Bevölkerung eine bemerkenswerte Geschlossenheit und Zielgerichtetheit: Die Kirk Sessions setzten die moralischen, religiösen und kulturellen Standards, denen die Bevölkerung – teils auch aus Furcht vor der Autorität der Gemeindeoberen – folgte.604 Insbesondere auf dem Lande stellte die Kirk Session oftmals die einzige kulturelle Institution dar, die der Bevölkerung kulturelle (An)Leitung gab.605 Die relative soziale Geschlossenheit der presbyterianischen Bevölkerung dagegen reduzierte das Bedürfnis nach kultureller Ostentation und dem kulturellen Pomp, der für die soziale Elite des anglikanischen Bevölkerungsteils in Dublin so charakteristisch war. Das kaufmännische Element in der presbyterianischen Bevölkerung drückte sich überdies in einer gewissen pragmatisch-nüchterne Wesensart aus: Ein junger Franzose, der Belfast 1797 besuchte, notierte leicht irritiert über die ‚Pfeffersack-Mentalität’ der Belfaster, „Wenn Du mit ihnen über den Kaiser oder General Clerfayt sprichst, werden sie Dir antworten, daß Zucker zu teuer ist oder Leinen zu billig.“606 Die presbyterianische Kirche mit ihren engen kulturellen Kontakten ins aufgeklärte Schottland sorgte für ein besonders ausgeprägtes Interesse an Bildung und Gelehrsamkeit, die religiösen Dispute innerhalb der presbyterianischen Glaubensge603 Vgl. W.H. Crawford, Change in Ulster in the Late 18th Century, in: Bartlett/Hayton, Penal Era, S. 186-203, S. 191; McCracken, Social Structure, S. 40. 604 McCracken, ebd. 605 Crawford, Change, S. 199. 199 meinschaft schärften darüber hinaus die allgemeine Kritikfähigkeit und bahnten dabei en passant auch philosophischen und politischen Debatten den Weg. Zeitgenossen waren sich über die hohen Bildungsstandards in der presbyterianischen Bevölkerung einig: Arthur O’Connor, ein prominenter United Irishman, beschrieb die presbyterianische Landbevölkerung Ulsters in den 1790er Jahren als die „vermutlich am besten gebildete Bauernschaft in ganz Europa“; Sir Richard Musgrave, ein Erzkonservativer, stimmte diesem Urteil mißbilligend zu, als er über die Grafschaften Antrim und Down notierte, daß dort „das Gros der Bevölkerung presbyterianisch ist, lesen und schreiben kann und Gefallen daran findet, über Religion und Politik zu spekulieren.“607 Die nach Meinung zeitgenössischer Beobachter hohe Alphabetisierungsrate in der Bevölkerung Ulsters war das Resultat eines presbyterianischen Bildungsprojekts, das auf dem religiösen Anspruch des ‚sola scriptura’ beruhte.608 Der religiös fundierte Anspruch, daß jeder Presbyterianer vom Prediger abwärts in der Lage sein müsse, die Bibel und den Katechismus zu lesen, führte schon recht früh zu Bemühungen, ein Elementarschulsystem aufzubauen. Damit kamen sie natürlich in Konflikt mit den Strafgesetzen, die ihnen – wie den Katholiken – die Unterhaltung eigener Schulen verboten.609 In einer an Königin Anne gerichteten Beschwerde der Presbyterianer aus der ersten Dekade des 18. Jahrhunderts heißt es daher: „[Es ist] ein großer Mißstand für uns, daß die Erziehung unserer Jugend dadurch extrem behindert wird, daß wir an vielen Stellen nicht die Freiheit genießen, gewöhnliche Schulmeister unserer eigenen Konfession zu haben ... Und sogar solche, die nur Lesen und Schreiben in den Landkirchspielen unterrichteten, werden zum großen Nachteil der Kinder und zur Entmutigung der Eltern, die aus Gewissensgründen um ihre Erziehung besorgt sind, verboten und verfolgt.“610 Zu Anfang des 18. Jahrhunderts gab es nur einige Privatakademien in Ulster, die diesen Bildungsanspruch jedoch nicht einlösen konnten. Also griff die Kirk ein und unterstützten systematisch den Aufbau eines Gemeindeschulsystems, deren Lehrer sich oft aus Anwärtern für das Predigeramt rekrutierten, die unter der Kon- 606 Zitiert nach R.B. McDowell, The Late 18th Century, in: J.C. Beckett u.a. (Hgg.), Belfast, the Growth of an Industrial City, London 1967, S. 55-66, S. 66. Ähnlich auch bei Curtin, United Irishmen, S. 40. 607 Smyth, Men, S. 28. 608 Vgl. ebd. 609 Adams, Word, S. 10. 610 Zitiert nach J.A. McIvor, Popular Education in the Irish Presbyterian Church, Dublin 1969, S. 31f. 200 trolle der Kirk Sessions standen.611 Gelegentlich half die Kirche auch mit der Zahlung von Gebühren und mit Buchspenden aus.612 Darüber hinaus standen auch in Ulster die bereits erwähnten prinzipiell gemischtkonfessionellen Hedge Schools zur Verfügung. Außerdem gab es – z.B. in Belfast ab 1770 – Wohltätigkeitsschulen (Charity Schools), in denen Kinder von Tagelöhnern, Webern und Bleichern im Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet wurden. Diese Schulen finanzierten sich durch Predigten und Tanzveranstaltungen, die extra für diesen guten Zweck abgehalten wurden.613 Ab den 1780er Jahren traten zusätzlich von Vereinen, Privatpersonen oder ganzen Gemeinden getragene Sonntagsschulen hinzu und rundeten das Schulbildungsangebot ab.614 Die Bildungsbeflissenheit der presbyterianischen Bevölkerung fand jedoch nicht nur in ihren weitgehend privat finanzierten Schulen Ausdruck. Buchklubs und Lesegesellschaften, von denen allein in den Grafschaften Antrim und Down 16 Stück für das 18. Jahrhundert nachgewiesen worden sind, gehören ebenso zum Bild wie ein vitale Presselandschaft, ein florierender Buchhandel sowie Leihbüchereien und Bibliotheken.615 Belfast, das in den 1790er Jahren lediglich 18.000 Einwohner zählte, leistete sich zeitweise sogar den Luxus zweier Zeitungen, des liberalen Belfast Newsletter (gegr. 1737) und des Belfast Mercury (1783-86) bzw. des radikalen Northern Star (1792-97), die zweimal wöchentlich erschienen. Aber auch die anderen größeren Städte in Ulster hatten jeweils ihre eigene Zeitung: Gordon’s Newry Chronicle, The Strabane Journal oder The Londonderry Journal.616 Obwohl die meisten Bücher aus Glasgow, Dublin und London importiert wurden, verfügte Ulster auch über eine Anzahl eigener Druckereien, die Ulster mit Büchern, Pamphleten, Karten, Musiknoten und anderen miszellären Druckprodukten versorgten. Zunächst befanden sich diese Druckereien ausschließlich in Belfast, aber ab der Jahrhundertmitte verfügten auch andere Städte wie Strabane, Armagh, Newry und Derry darüber.617 Insgesamt scheint sich der Ausstoß der örtlichen Druckereien aber auf einem relativ niedrigen Niveau bewegt zu haben, so daß 611 Adams, Word, S. 11. Vgl. ebd. 613 Vgl. ebd., S. 15. 614 Vgl. ebd., S. 15f. 615 Smyth, Men, S. 29. Zu den Lesegesellschaften vgl. auch Adams, Word, S. 38f. 616 Vgl. Smyth, Men, S. 29; Adams, Word, S. 35. 612 201 Belfast seine Rolle als Zentrum des Buchdrucks in Ulster im 18. Jahrhundert nicht ernsthaft streitig gemacht werden konnte. Der Vertrieb der Druckerzeugnisse wurden in Belfast von substantiellen Druckern in der Regel selbst erledigt, während er außerhalb der Metropole Ulsters in verschiedene Ebenen gegliedert war: In größeren Städten wie Derry oder Newry gab es echte Buchhandlungen, deren Besitzer sich allein auf den Verkauf von Druckerzeugnissen spezialisiert hatten, die sie direkt von den Druckereien bezogen. In Kleinstädten wie Omagh oder Enniskillen wurden Bücher von Kaufleuten neben anderen Waren vertrieben, in den Dörfern boten Ladenbesitzer einige populäre Schriften und Schulbücher feil. An der untersten Stelle des Vertriebs standen der reisende Chapman, der Flugblätter in den entlegenen Dörfern des Westens verlas und auch verkaufte, sowie natürlich der umherziehende Balladensänger, der vor allem Broadsides (einzelne Blätter mit Balladentexten) im Angebot hatte.618 Mit diesem vergleichsweise ausgefeilten Druckerei- und Druckerzeugnisvertriebssystem war Ulster nach Dublin führend in Irland während des 18. Jahrhunderts. Ein anonymer Zeitzeuge notierte 1774 anerkennend: „Sie lesen in der Tat im Norden mehr als im Süden. Auf dieser Rundreise habe ich 20 Buchgeschäfte angetroffen und zwischen Dublin und Cork gibt es kein einziges.“619 Auch die Inhalte der vertriebenen Bücher sind signifikant. Legt man als Sample eine von J.R.R. ADAMS aus Werbeanzeigen in zeitgenössischen Zeitungen zusammengestellte Publikationsliste der Druckereien in Ulster zwischen 1699 und 1800 (nicht der von auswärts importierten Werke!) zugrunde, dann ergibt sich folgende Verteilung: Kategorien Titel AnteilGenre AnteilGesamt 1. Religiöse Literatur: 88 52,7 % 52,7 % 2. Lehr- und Schul- 29 17,4 % 17,4 % a) Geschichte 19 11,4 % 15 % b) Politik 6 3,6 % 3 1,8 % Subkategorie/Genre bücher: 3. Gesellschaftslehre: 4. säkulare Literatur: a) Klassische Literatur 10,2 % 617 Adams, Word, S. 24. Zum Vertriebssystem und zur Ausbreitung des Druckgewerbes vgl. summarisch Adams, Word, S. 23-26. 619 Zitiert nach ebd., S. 26. 618 202 b) Romanzen und Lyrik 8 4,8 % c) andere 6 3,6 % 8 4,8 % 4,8 % 167 101,1 % 101,1 % Nicht zuzuordnen Summe: G 3: In Ulster publizierte Bücher (1699-1800) 620 Es fällt sofort ins Auge, daß mehr als die Hälfte aller Publikationen in Ulster währen des 18. Jahrhunderts religiöser Natur waren, gefolgt von weltlichem Lehrmaterial wie Wörterbüchern, Grammatiken, Arithmetikwerken und Benimmfibeln.621 Erst danach kamen Geschichtswerke im weitesten Sinn und säkulare literarische Werke. Das bestätigt noch einmal die These, daß die presbyterianische Kultur ihren Schwerpunkt auf religiöse und Bildungsinhalte legte – insbesondere wenn man berücksichtigt, daß zahlreiche religiöse Lehrwerke wie Katechismen und Meditationsanleitungen in der Tabelle der Einfachheit halber der Kategorie ‚religiöse Literatur’ zugeschlagen wurden. Sonst hätte der Anteil der Lehr- und Schulbücher bei deutlich über einem Viertel des gesamten Publikationsausstoßes gelegen. Die historischen Werke – mehrere Ausgaben der Biographie Roberts, des Earl von Huntington (besser bekannt als Robin Hood), eine Biographie des schottischen Freiheitskämpfers Sir William Wallace und diverse Ausgaben eines Werks über die Schlacht von Aughrim – sind in gewisser Weise auch aufschlußreich, weil sie ein spezifisch presbyterianisches Interesse an Personen zeigen, die wider den Stachel staatlicher Autorität löckten sowie am genuin presbyterianischen Beitrag zum Stuart-Erbfolgekrieg. Der enge Kulturkontakt zu Schottland kommt überdies nicht nur in der Publikation der Biographie William Wallaces zum Ausdruck, sondern in diversen Ausgaben der Werke des schottischen Nationaldichters Robert Burns (1759-1796). Der geringe Anteil genuin politischer Werke ist insofern irreführend, als viele der in der Kategorie ‚religiöse Literatur’ erfaßten Predigten durchaus politische Aspekte hatten. Bei den wenigen Werke, die hier der Kategorie ‚politische Literatur’ zugeschlagen wurden, handelt es sich durch die Bank um Veröffentlichungen aus den 1790er Jahren – angefangen bei Thomas Paines „Age of Reason“ (1794) über James Porters politische Satire „Billy Bluff and Squire Firebrand“ (1796 u. 1797) und der ebenfalls von James Porter 620 Die Aufstellung stützt sich auf ebd., Appendix 1, S. 175-181. 203 besorgten Sammlung radikaler Lieder, die unter dem Titel „Paddy’s Ressource“ ab 1796 massenhaft von den United Irishmen unters Volk gebracht wurden, bis zur Hinrichtungsrede der Ikone der United Irishmen, William Orr, von 1797. Davor wurden Debatten über die staatliche Autorität oder Kritik am Regime in der presbyterianischen Gemeinschaft stets religiös verbrämt und als Teil der Toleranzdiskussion geführt.622 Ein schönes Beispiel für die immer noch enge Verbindung zwischen religiösen und politischen Inhalten aus den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts stellt die millenaristische Schrift “Examination of the scripture prophecies ... in which ... the late revolution in France is shewn to be plainly foretold” (1795) dar. Ansonsten fällt vor allem der Mangel an literarischem Interesse auf: Burns Lyrik, eine – wahrscheinlich höchst erbauliche – Tragödie über Cato den Älteren, Aesops Fabeln und als bemerkenswerter ‚Ausreißer’ Ovids Ars amandi – das ist alles. Dazu paßt R.B. MCDOWELLS Befund, daß Belfast als kulturelles Zentrum des presbyterianischen Nordens während des 18. Jahrhunderts keinen bekannten Autor und keine gefeierte literarische Gruppe beherbergte.623 Politisch und philosophisch mag Belfast das ‚Athen des Nordens’ gewesen sein, wie die Herausgeber des Northern Star 1792 behaupteten, literarisch erinnert es jedoch eher an die Wüste Sinai. Einen weiteren Baustein in der Verbreitung von Bildungsgütern bildeten die Bibliotheken. Kommerzielle Leihbüchereien, die vermittels ihrer niedrigen Gebühren den Zugang zur Bildung auch für untere soziale Schichten ermöglichten, gab es in Ulster seit den frühen 1770er Jahren. Ein Beispiel hierfür ist die Leihbücherei Hugh Warrens in Belfast, die 1780 bereits mehr als 1.000 Bände umfaßte.624 Für die Benutzung einer solchen Bibliothek waren monatliche, viertel- oder ganzjährige Beiträge zu entrichten, die sich in der Größenordnung von 13 Schilling p.a. bewegten.625 Das war für einen Tagelöhner, der laut eines Pamphlets von 1786 im 621 Diese und die nachfolgenden Bemerkungen zu publizierten Titeln beziehen sich auf die von Adams zusammengestellte Liste derjenigen Werke, die in Ulster zwischen 1699 und 1800 publiziert wurden. Vgl. daher summarisch ebd., Appendix I, S. 175-181. 622 Tesch, Radicalism, S. 37. 623 McDowell, Late 18th Century, S. 59. 624 Adams, Word, S. 37f. 625 Vgl. ebd., S. 38. 204 Schnitt über ein Bruttojahreseinkommen von 5 £, 16 Sh. und 7 d. verfügte,626 immer noch deutlich zuviel, aber für durchschnittliche Pächter und Handwerker bereits erschwinglich. Gleichzeitig traten Büchereien in Erscheinung, die von in Lesegesellschaften organisierten Privatpersonen gegründet und finanziert wurden.627 Die größte dieser Gesellschaften, die 1785 gegründete Belfast Reading Society, benannte sich 1792 in Belfast Society for Promoting Knowledge um und betrieb den Aufbau einer Bibliothek, die den Mitgliedern einen „vollständigen philosophischen Apparat“ zur Verfügung stellen sollte.628 Da den Presbyterianern wie den Katholiken der Zugang zu Trinity College versperrt blieb, wandten sie sich vorwiegend nach Schottland, wo sie an den Universitäten von Glasgow und Edinburgh studierten. Über den gesamten Zeitraum zwischen 1690 und 1820 bildeten ‚Scotohiberni’ (also presbyterianische Iren schottischen Ursprungs) nicht weniger als 16 % der in Glasgow immatrikulierten Studenten und unter den Graduierungen schlugen Examinanten aus Ulster sogar mit etwa einem Drittel zu Buche.629 In der Hochphase der schottischen Aufklärung in den 1760er und 1770er Jahren stieg der Anteil schottisch-irischer Presbyterianer sogar auf über 45 %.630 Während Glasgow das Zentrum des Theologiestudiums war, avancierte Edinburgh aufgrund des guten Rufs seiner medizinischen Ausbildung am Ende des 18. Jahrhunderts zum bevorzugten Studienort angehender Ärzte. Ein Drittel dieser Medizinstudenten stammte aus Ulster.631 Der Anteil nordirischer Studenten an diesen schottischen Universitäten sank erst wieder gegen Ende des 18. Jahrhunderts, nachdem in Belfast 1785 von einem privaten Komitee die Belfast Academy gegründet wurde, „in der die Söhne von Gentlemen, die nicht 626 Anon., A Congratulatory Address to his Majesty from the Peasantry of Ireland, vulgarly denominated Whiteboys, or Rightboys, Dublin (P. Byrne) 1786, S. 16. 627 Adams, Word, S. 38-40. 628 Aus dieser Sammlung entstand die Linen Hall Library, die wichtigste Belfaster Bibliothek. Vgl. McDowell, Late 18th Century, S. 58f. 629 McBride, Drennan, S. 51f. Zur Selbstbezeichnung der Studenten aus Ulster findet sich bei Lydon, Making, S. 227 eine aufschlußreiche Geschichte: 1722 protestierten Glasgower Studenten aus Ulster dagegen, daß zwei ihrer Kommilitonen dem Lordadvokat als „Iren“ vorgeführt wurden und bestanden darauf, daß der schottischen Herkunft der Studenten aus Ulster vor Gericht mit der Bezeichnung ‚Scotohibernus‘ Rechnung getragen werde. Das ist ein faszinierendes Indiz für das regionale Sonderbewußtsein der schottisch-irischen Presbyterianer. 630 Ebd., S. 52. 631 Zu den Zahlen nordirischer Studenten an den Universitäten Glasgow und Edinburgh vgl. summarisch ebd., S. 51f. 205 komfortabel [d.h. aus Geldmangel – MR] aufs College geschickt werden konnten, eine liberale Erziehung erhalten konnten.“632 Soziales Engagement und Wohlfahrtsdenken. Die zweite zentrale Komponente der presbyterianischen Kultur bestand in ihrem ausgeprägten sozialen Engagement, das sich in einer für die Presbyterianer typischen Neigung zur Gründung von Wohlfahrtsausschüssen und -komitees zeigte. 1768 wurde in Belfast die Charitable Society gegründet, die ein Armenhaus für Alte, Bettler und Waisen einrichteten, das durch Einkünfte aus der vom Verein verbesserten privaten Wasserversorgung der Stadt finanziert wurde.633 1792 erfolgte unter der Ägide der gleichen Organisation die Gründung eines Dispensariums für mittellose Kranke und kurz danach wurde von der Humane Female Society ein kleines Mutterschaftshospital eingerichtet.634 Ansonsten wurden private Mittel vor allem für die Errichtung schmuckloser, aber solider Gebetshäusern mobilisiert, von denen es in Belfast allein fünf gab.635 Architektonischer Pomp bedeutete den Presbyterianern offenbar wenig. Orte, die in Dublin der sozialen und kulturellen Ostentation gedient hätten, brachten sie in Nutzgebäuden unter: Die White Linen Hall, die 1785 als Umschlagplatz für den Leinenhandel errichtet worden war, beherbergte so die Bibliothek und den Leseraum der Belfast Reading Society, in der New Exchange, einem Markthaus, befanden sich im ersten Stock die Assembly Rooms, die nach ihrer Errichtung im Jahr 1775 für Jahrzehnte den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens darstellten, wo Bälle und Konzerte abgehalten wurden.636 Allenfalls die Errichtung eines neuen Theaters in Belfast im Jahre 1784 kann den Eindruck konterkarieren, daß die presbyterianische Kultur insgesamt sehr kopflastig war.637 Die Zentren gesellschaftlicher Begegnung und kulturellen Austausches lagen in Ulster (nicht nur in Belfast) jedenfalls eher in der Handelskammer und in Wohlfahrtsvereinen, in den diversen Lesegesellschaften und in Freimaurerlogen.638 632 McDowell, Late 18th Century, S. 58; Stewart, Narrow Ground, S. 94. McDowell, ebd., S. 55, 58. 634 Ebd., S. 58. 635 Ebd., S. 57. 636 C.E.B. Brett, The Georgian Town: Belfast About 1800, in: J.C. Beckett u.a. (Hgg.), Belfast, the Growth of an Industrial City, London 1967, S. 67-77, S. 70f. 637 McDowell, Late 18th Century, S. 59. 638 Crawford, Change, S. 199; zur Rolle der Freimaurer in Ulster vgl. J. Smyth, Freemasonry and the United Irishmen, in: Dickson, The United Irishmen, S. 167-175, S. 170-173. 633 206 Politische Festkultur. Die politische Festkultur in Ulster weist ebenfalls eine eigene Handschrift auf. Zwar befolgten die Presbyterianer die gleichen Staatsfeiertage wie der Rest der Bevölkerung, aber sie begannen im späten 18. Jahrhundert damit, eigene Akzente zu setzen: Während die anglikanische Bevölkerung das Jubiläum der Schlacht an der Boyne feierten, zelebrierte die presbyterianische Bevölkerung die Verteidigung Derrys und die Schlacht bei Enniskillen.639 Dieser feine Unterschied ist tatsächlich höchst bedeutungsschwer, denn dahinter verbarg sich eine kulturelle Kampfansage an das Ascendancy-Regime. Dazu muß man wissen, daß die Verteidigung Derrys gegen die Truppen Jakobs II. und die Schlacht bei Enniskillen die zentralen Beiträge der presbyterianischen Bevölkerung zum Erfolg Wilhelm von Oraniens im Stuart-Erbfolgekrieg darstellte. Unter extrem hohen Verlusten hatten die Verteidiger Derrys 105 Tage im Kampf gegen die jakobitische Armee, Hunger und Fieber durchgehalten, bevor vom Lough Foyle endlich Entsatz kam.640 Die Geschichte der Belagerung von Derry versorgte die presbyterianische Bevölkerung mit einem ganzen Arsenal politischer Symbole und Rituale, die zum Teil noch heute von nordirischen Loyalisten eingesetzt werden und die bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts den Presbyterianern zur Abgrenzung gegenüber der Ascendancy dienten, wie etwa die Feiern zum einhundertjährigen Jubiläum der Belagerung von Derry im Jahre 1788 illustrieren.641 Zu Beginn der 1790er Jahre erreichte die kulturelle Distanz zwischen der Festkultur der Ascendancy und der presbyterianischen Gegenfestkultur schließlich ihren Höhepunkt: In Belfast begannen 1791 die Freiwilligenverbände den 14. Juli (den Tag der Erstürmung der Bastille) mit öffentlichen Umzügen, Paraden, mit Illuminationen und Freudenfeuern zu feiern. Diese Feiern fanden zwar auch in Dublin, vor allem aber in Belfast und anderen Städten Ulsters statt: Im Norden – dem Zentrum und Ausgangspunkt der in Ulster vor allem presbyterianisch getragenen Freiwilli639 Stewart, Narrow Ground, S. 71. Bardon, History, S. 152-158. 641 Dazu zählt das trotzige Motto ‚No surrender!’, das König Jakob von den Wällen Derrys entgegenschallte, als er am 18.4.1689 vor den Mauern der Stadt erschien, um die Besatzung zur Kapitulation aufzufordern, die rote Flagge, die an Colonel Michaelburns ‚blutige Flagge’ erinnert, die während der Belagerung auf der Bastion und der Kathedrale der Stadt gehißt wurde, die Belagerungskanonen, aus denen nach Beendigung der Belagerung zu Ehren der Verteidiger Salutgeschossen wurde. Die wichtigsten mit der Belagerung von Derry verbundenen Rituale sind das Schließen der Stadttore, das 1689 eigenmächtig und gegen den Willen des Militärgouverneurs von Derry, Oberstleutnant Lundy, von dreizehn Handwerksgesellen durchgeführt wurde und die rituelle Verbrennung eines Bildes von Lundy, der – wie der anglikanische Bischof Hopkins – wegen 640 207 genbewegung – lag das Epizentrum der Feiern zum Bastilletag.642 Die vom Castle finanzierte staatstragende Presse in Dublin betrachtete diese Feiern vor dem Hintergrund des herannahenden militärischen Konflikts zwischen Großbritannien und dem revolutionären Frankreich als gezielte Provokation und kritisierte die mangelnde Würdigung der ‚britischen Konstitution’ durch die radikalen, vorwiegend aus Presbyterianern bestehenden Freiwilligenverbände im Norden.643 Parallel zu den presbyterianischen Feiern des Bastilletags ist überdies eine deutliche Revitalisierung der protestantischen Feiern zum Geburtstag Wilhelms III. zu beobachten.644 Die Ascendancy reagierte also auf die presbyterianische Herausforderung, indem sie ihre ‚eigenen’ Festkultur rekonfessionalisierte und intensivierte. Daher kann man mit Fug und Recht von einem beginnenden politischen ‚Repräsentationskampf’ (ROGER CHARTIER) in kulturellem Gewand sprechen, dessen Eskalation allein dadurch gestoppt wurde, daß nach dem Ausbruch des Krieges zwischen Großbritannien und Frankreich im Jahr 1793 die Feiern zum Bastilletag von staatlicher Seite verboten wurden. Selbst in ihrer, in den 1790er Jahren relativ spät einsetzenden Förderung der gälischen Kultur versuchten die Presbyterianer in Ulster einen Kontrapunkt zur kolonialen ‚Leitkultur‘ zu setzen. Am besten wird dies durch die Ausrichtung des Harp Festival in Belfast illustriert, das 1792 unmittelbar vor den Feiern zum Sturm der Bastille durchgeführt wurde.645 Die anti-Ascendancy Komponente des Harp Festivals läßt sich nicht nur am Veranstaltungszeitpunkt sondern auch daran ablesen, daß renommierte presbyterianische Radikale wie Thomas Russell sich an der Organisation des Festivals beteiligten.646 Anläßlich dieses Festivals reisten Reformer und Radikale aller Konfessionen aus ganz Irland an und während des Festivals fanden zahlreiche Gespräche zwischen anglikanischen, presbyterianischen und katholischen Führungskräften der diversen Reformorganisationen statt, Defätismus‘ der Stadt verwiesen wurde. Vgl. Stewart, Narrow Ground, S. 66-72. Zum Vollzug der Einhundertjahrfeiern der Belagerung von Derry vgl. ebd., S. 71f. 642 Vgl. N.J. Curtin, The United Irishmen: Popular Politics in Ulster and Dublin, Oxford 1994, S. 228-230. 643 Vgl. Hill, National Festivals, S. 36. 644 Ebd., S. 36-38. 645 Connolly, Elite, S. 7. 646 Curtin, United Irishmen, S. 35, Anm. 91. 208 so daß das Festival auch den kulturellen Rahmen für ein vorsichtiges Kennenlernen verschiedenkonfessioneller, regimekritischer Organisationen diente.647 Fazit. Betrachtet man die kulturellen Entwicklungen im presbyterianischen Norden Irlands während des 18. Jahrhunderts, dann lassen sich nicht nur einige spezifische Charakteristika der presbyterianischen Kultur, sondern auch ein qualitativer Wandel seit den 1770er Jahren feststellen. Zu den spezifischen Wesenszügen presbyterianischer Kulturleistungen zählt vor allem ein besonders auffälliges, religiös fundiertes Interesse an Bildung (im Sinne der Volksaufklärung)648, ein ausgeprägtes, privat getragenes soziales Engagement und schließlich ein augenfälliges Desinteresse an kultureller Ostentation durch architektonischen oder gesellschaftlichen Pomp. Im presbyterianischen Norden wurde kulturelles und soziales Kapital eher durch Wohltätigkeit und Bildung als durch prestigeträchtige kulturelle Zurschaustellung des sozialen Status generiert wie in der Ascendancy. Der kulturelle Wandel in der presbyterianischen Bevölkerung bestand schließlich darin, daß die durch religiöse und soziale Umstände geförderte kulturelle Geschlossenheit sich in der ersten Jahrhunderthälfte als kulturelle Selbst-Segregation darstellte, ab den 1770er Jahren aber allmählich den Charakter einer dezidiert gegen die Ascendancy gerichteten ‚Gegenkultur’ annahm. Am deutlichsten ist dieser Wandel im Bereich der Festkultur und – ab den 1790er Jahren – auch in den politischen Druckerzeugnissen nachzuweisen. Daß dieser Wandel jedoch nicht grundlegend, sondern graduell war, läßt sich vor allem im Kontrast zu den kulturellen Orientierungen des katholischen Bürgertums und Adels erkennen: Während sich die soziale Elite der katholischen Bevölkerung durch ein gerüttelt Maß an Assimilationsbereitschaft auszeichnete, verschloß sich die presbyterianische Bevölkerung von Anfang an vor der kolonialen ‚Leitkultur’ der Ascendancy. Als kulturelles Gegengewicht dienten ihr dafür einerseits ihre engen kulturellen Kontakte ins aufgeklärte Schottland und später auch in die USA, die durch einen konstanten Zuwanderungsstrom aus Schottland und einen wachsenden Abwanderungsstrom in die USA stets neue Nahrung erhielten, und andererseits die Doktrinen des Presbyterianismus. Letzteres war offensichtlich entscheidend, denn insge- 647 T. Bartlett (Hg.) Life of Theobald Wolfe Tone, Compiled and Arranged by William Theobald Wolfe Tone, Dublin 1998, S. 131-133. 648 W. Schneiders (Hg.), Lexikon der Aufklärung, Deutschland und Europa, München 1995, S. 434-437. 209 samt legt die presbyterianische Kultur in Ulster eindrucksvoll Zeugnis ab vom Einklang zwischen kulturellen Formen und religiösen Überzeugungen. III. Die irisch-internationale Dimension Zum Verständnis der irischen Gesellschaft im 18. Jahrhundert reicht es nicht aus, sich allein mit ihren inneren Konfliktstrukturen zu beschäftigen. Schon bei einem der mächtigen europäischen Nationalstaaten könnte eine Betrachtung der äußeren Beziehungen als Spiegel innerer Konfliktstrukturen lohnend sein, wenn man die These vom ‚Primat der Innenpolitik‘ (Eckart Kehr) zugrunde legt. Hat man es jedoch wie im vorliegenden Fall mit einem kleinen Land an der Peripherie Westeuropas zu tun, dessen nächste Nachbarn nicht nur die eigene Kolonialmacht Großbritannien, sondern auch dessen heftigster Konkurrent um die europäische Hegemonie, Frankreich, und das größere koloniale alter Ego in Nordamerika waren, das sich 1776 von der britischen Kolonialherrschaft befreiten konnte, dann ist die Analyse der Außenbeziehungen nicht nur als Reflektionsfläche für innere Konfliktstrukturen aufschlußreich, sondern in der Tat unerläßlich zur Erfassung äußerer Einflüsse auf die gesellschaftliche Entwicklung in Irland. Genau hierum geht es in der nachfolgenden Analyse: Welche äußeren Kontakte und Einflüsse lassen sich feststellen und wie wirkten sie sich auf die innerirische Gesellschaftsentwicklungen aus? 210 1. Großbritannien und Irland Bislang sind die Beziehungen zwischen Großbritannien und Irland nur von der inneririschen Warte betrachtet worden, wobei der Schwerpunkt auf den gesellschaftlichen Interventionsmöglichkeiten der britischen Kolonialmacht gelegen hat. Dabei konnte der Eindruck entstehen, daß Großbritannien zur Durchsetzung seiner kolonialen Interessen in Irland lediglich mit dem Widerstand der angloirischen Kolonisten fertig werden mußte, und daß dies aufgrund der Mechanismen des Kolonialmanagements – vor allem der Kontrolle der britischen Exekutive über das irische Parlament – über weite Strecken des 18. Jahrhunderts relativ gut funktionierte. Britische Handlungszwänge und notwendige Rücksichtnahmen sind aus dieser Perspektive ebenso wenig zur Geltung gekommen wie die Tatsache, daß die anglo-irischen Beziehungen sich nicht nur auf die höchste staatliche Ebene zwischen Großbritannien und Irland beschränkten. Um diese partielle ‚Unterbelichtung‘ zu beheben ist es daher erforderlich, sich nun dem Thema aus britischer Perspektive zu nähern und die Vorbehalte, welche die britische Kolonialmacht bei ihrer Irlandpolitik berücksichtigen mußte, genauer auszuleuchten und zu bestimmen, in welchem Ausmaß innenpolitische und außenpolitische Faktoren der britischen Politik die Irlandpolitik des Empire beeinflußten. Dabei wird a priori davon ausgegangen, daß zwischen Großbritannien und Irland vielschichtige Beziehungen auf verschiedenen Ebenen bestanden – eine Arbeitshypothese, die es im weiteren Verlauf dieses Kapitels zu untermauern gilt. Äußere Bedingungsfaktoren der britischen Irlandpolitik. Wegen seiner geographischen Lage stellte Irland – militärisch gesehen – die Achillesferse Großbritanniens dar, denn der unzugängliche Westen des Landes lud zur Invasion einer feindlichen Macht geradezu ein. Außerdem eignete sich Irland wegen der geringen Distanz zur britischen Insel – zwischen Nordirland und Schottland liegen an der engsten Stelle gerade einmal 13 Meilen649 – hervorragend als Sprungbrett für eine Invasion der britischen Hauptinsel. War eine Invasionstruppe in Irland erst einmal gelandet, half auch die ganze Überlegenheit der britischen Flotte nicht mehr, denn in Irland standen bis 1793 nie mehr als 12.000 Mann reguläre britische Truppen, die überdies in fünf verschiedenen Distrikten stationiert waren und 649 Andrews, Geographer’s View, S. 28. 211 so auch für eine verhältnismäßig kleine Streitmacht eine leichte Beute darstellten.650 Im Kontext außenpolitischer Handlungszwänge, welche die britische Irlandpolitik beeinflußten, ist entscheidend, daß die Furcht vor französischen Invasionen während der zahlreichen militärischen Auseinandersetzungen mit Frankreich immer wieder aufkam – und zwar völlig berechtigt wie Thurots Eroberung Carrickfergus‘ im Jahr 1760, Hoches mißglückter Landungsversuch in Bantry Bay 1796 und Humberts Landung in Killala Bay 1798 belegen.651 Je nach britischer Einschätzung der Größe der Gefahr, daß es zu einer Kooperation zwischen Teilen der irischen Bevölkerung und französischen Invasoren kommen könnte, reagierte die britische Seite entweder mit Repression oder mit Konzilianz. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als die britische Seite fest davon ausging, daß die irischen Katholiken einen jakobitischen Einmarsch in Irland oder Großbritannien unterstützen würden, gerieten vor allem sie ins Fadenkreuz britischer Präventionsmaßnahmen. So führten etwa Gerüchte über eine französisch-jakobitische Flotte, die Kurs auf England genommen habe, im Jahr 1708 dazu, daß in Irland alle katholischen Geistlichen, derer man habhaft werden konnte, in Gefängnis geworfen wurden, daß selbst protestantische Buchdrucker und -händler, die katho650 Beckett, Making, S. 200, 208; T. Bartlett u.a. (Hgg.), Rebellion – A Television History of 1798, Dublin 1998, S. 60f. Die militärische Schwäche Irlands wurde dadurch erhöht, daß bei Ausbruch des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges von den in Irland stationierten Truppen 4.000 abgezogen und nach Amerika verlegt wurden. Vgl. ebd., S. 16. Unruhen in den westindischen Kolonien sorgten für eine weitere Schwächung der militärischen Präsenz Großbritanniens in Irland, da reguläre Truppen abgezogen und durch 9.000 schottische Fencibles ersetzt wurden, die aus Soldaten bestanden, die für den Dienst in der regulären Armee für untauglich gehalten wurden. 1796 standen daher bloß noch 3.500 Mann Kavallerie und 1.600 Mann reguläre Truppen in Irland. Zahlenmäßig wurden sie von ca. 18.000 Mann Miliztruppen und 20.000 Mann Yeomanry Truppen aufgefüllt. Die Miliz war jedoch nicht zuverlässig, weil die Milizionäre zum Dienst gepreßt wurden und die Yeomanrytruppen waren neu und schlecht ausgerüstet. Der Nominalstärke von gut 53.000 Mann unter Waffen war daher ein Witz, Dublin Castle war zurecht um die Schlagkraft der Truppen besorgt. Vgl. ebd., S. 59-61. Zur mangelnden Zuverlässigkeit der Truppen vgl. T. Bartlett, Indiscipline and Disaffection in the French and Irish Armies During the Revolutionary Period, in: Gough/Dickson, Ireland, S. 179-201; ders., An End to Moral Economy: The Irish Militia Disturbances of 1793, in: C.H.E. Philpin (Hg.), Nationalism and Popular Protest in Ireland, Cambridge 1987, S. 191-218. 651 Großbritannien war mit Frankreich im Laufe des 18. Jahrhunderts wiederholt in militärische Konflikte verwickelt: im spanischen Erbfolgekrieg (1701-1713), im Österreichischen Erbfolgekrieg (1740-1748), im Siebenjährigen Krieg zwischen Großbritannien und Frankreich (17561763), im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1778-1783) und – mit kurzen Unterbrechungen (z.B. während des Friedens von Amiens) – während der Koalitionskriege seit 1793 und bis zur finalen Niederlage Napoleons bei Waterloo im Jahr 1815. Invasionsängste spielten bei Kriegen mit dem französischen Erbfeind immer eine wichtige Rolle. Vgl. Bartlett, Rebellion, S. 9, 16, 46. Zu Thurots Invasion von 1760 vgl. Beckett, ebd., S. 196f. Zu den französischen Expeditionen nach Bantry und Killala Bay und der Rolle der United Irishmen in diesen Unternehmungen vgl. Elliott, Partners, S. 77-123, 214-231. Zu Napper Tandys Farce von einem Invasionsversuch und zu Tones tragischem letzten Versuch, das Schicksal der Rebellion herumzureißen, der am Lough Swilly ein jähes Ende fand, vgl. ebd., S. 232-237. 212 lische Gebetbücher feilboten, inhaftiert wurden und daß den irischen Magistraten erlaubt wurde, willkürlich Katholiken festzunehmen und zu verhören. Die Aufregung mündete schließlich in die Verabschiedung des letzten Strafgesetzes von 1709 (8 Anne, c.3), wonach alle katholischen Priester des Landes verwiesen werden sollten, sofern sie sich weigerten bis zum 25.3.1710 den Oath of Abjuration abzulegen.652 Ähnliche Vorfälle ereigneten sich angesichts einer spanischjakobitischen Invasionsdrohung 1718, dann noch einmal während der frühen 1720er Jahre (anläßlich der Entdeckung eines jakobitischen Plans für eine Invasion Englands) und natürlich während des Österreichischen Erbfolgekriegs (17401748) und des Siebenjährigen Krieges (1756-1763).653 Diese Reaktionen demonstrieren vor allem die panische Furcht der britischen Kolonialmacht vor einem jakobitischen Roll-back, sind zugleich aber auch ein Indiz für das Mißtrauen der britischen Kolonialmacht und der anglo-irischen Kolonisten gegenüber der katholischen Bevölkerung. Die britische Haltung gegenüber den irischen Katholiken entspannte sich erst ab den 1760er Jahren, nachdem diese in zwei jakobitischen Aufständen (1715 und 1745) weitgehend Ruhe bewahrt hatten, die Stuarts ab 1766 die politische Unterstützung des Vatikans und Frankreichs verloren hatten und vor allem die katholische Elite aus Klerus und Adel in Irland zu einer ostentativen Loyalitätspolitik übergegangen war.654 Das prinzipielle britische und anglo-irische Mißtrauen gegenüber den irischen Katholiken bestand zwar fort, aber pogromartige Auswüchse kamen nun nicht mehr vor. Vollends auf eine konziliante Linie schwenkte Großbritannien jedoch erst während des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges ein, als die katholische Elite vehement darum nachsuchte, Großbritannien militärische Hilfestellung zu leisten. Nun wurde katholisches Wohlverhalten nicht länger bloß zur Kenntnis genommen, sondern – wie die Catholic Relief Acts von 1778, 1782 und 1793 belegen, die samt und sonders auf britische Initiative und gegen den Widerstand der Ascendancy durchs irische Parlament gedrückt wurden – belohnt.655 Zugleich stellten diese Gesetze natürlich auch Warnsignale an die Adresse der Ascendancy dar, der die britische Kolonialmacht damit unmißverständlich klar machte, daß mangelnde anglo-irische Kooperationsbereitschaft mit Privile652 Vgl. Wall, Penal Laws, S. 17f. Vgl. ebd., S. 19f., dies., Catholic Loyalty, S. 109. 654 Bartlett, Rebellion, S. 15. 655 Ebd., S. 16. 653 213 gienentzug bestraft wurde und daß Großbritannien über politische Alternativen zur anglo-irisch–britischen Achse verfügte. Nachdem das Katholische Komitee sich ab 1795 mit den United Irishmen zusammentat, um einen Aufstand vorzubereiten, war es mit der britischen Konzilianz gegenüber den irischen Katholiken allerdings wieder vorbei, so daß sich die ab 1797 angeordneten Repressionsmaßnahmen auch wieder gegen die katholische Bevölkerung richteten. Ein weiterer Punkt, an dem sich die britische Außenpolitik auf die Irlandpolitik des Empire auswirkten, war die notwendige Rücksichtnahme auf katholische Bundesgenossen. Am deutlichsten läßt sich das während der schrittweisen Verhängung der Strafgesetze nachweisen. Als das irische Parlament 1697 den Banishment Act verabschiedete und ab Frühjahr 1698 mit der Ausweisung katholischer Priester und Ordensgeistlicher begann, bekam Wilhelm III. sofort Schwierigkeiten mit seinem katholischen Alliierten, Kaiser Leopold I.: Der österreichische Botschafter wurde vorstellig und protestierte nachdrücklich gegen die Ausweisung katholischer Bischöfe aus Irland. Wilhelm von Oranien konnte den Botschafter erst dadurch beruhigen, daß er den irischen Lordkanzler Methuen nach London zitieren ließ, der dem Österreicher versicherte, daß keine Bischöfe ausgewiesen würden, daß das Gesetz nicht allzu streng angewendet werde und daß überdies die freie Religionsausübung der Katholiken, die im Frieden von Limerick zugesichert worden war, nicht zur Debatte stand.656 Wilhelms Amtsnachfolgerin Anne sah sich mit ähnlichen Problemen konfrontiert: Als Reaktion auf den Popery Act von 1709 flatterten ihr postwendend Protestnoten Kaiser Josephs I., König Stanislaus′ von Polen und anderer katholischer europäischer Herrscher ins Haus. Die britische Seite hielt zwar in der Sache unerbittlich am Inhalt des Strafgesetzes fest – mit der Begründung, es handele sich lediglich um eine kleine Erweiterung bestehender Gesetze –, aber der amtierende Lord Lieutenant, Earl Wharton, durfte u.a. wegen dieses diplomatischen Zwischenfalls 1710 seinen Hut nehmen.657 Die Tatsachen, daß erstens die Strafgesetze gegen die irischen Katholiken weniger hart waren als die gegen die katholische Minderheit in England und 656 Wall, Penal Laws, S. 10. Der Kaiser hatte 1695 durch seine Intervention verhindert, daß der Banishment Act bereits zum damaligen Zeitpunkt in Kraft trat. Vgl. Dickson, New Foundations, S. 43. 657 Ebd., S. 18f. 214 daß zweitens ihre Umsetzung schon früh recht lax gehandhabt wurde,658 sind zumindest zum Teil darauf zurückzuführen, daß Großbritannien gezwungen war, seinen katholischen Bundesgenossen gewisse Zugeständnisse zu machen. Insgesamt läßt sich daher festhalten, daß gerade das britische Verhältnis zu den Katholiken von spezifisch britischen, außenpolitischen Handlungszwängen ganz erheblich beeinflußt wurde. Innere Bedingungsfaktoren der britischen Irlandpolitik. Die inneren Bedingungsfaktoren, die Großbritanniens Irlandpolitik beeinflußten waren ungleich vielfältiger als die äußeren. Dieser Umstand reflektiert die enge Verbindung, die zwischen Irland und Großbritannien realiter bestand und die leicht in Vergessenheit gerät, wenn man die anglo-irischen Beziehungen lediglich aus irischer Sicht – und das bedeutet vor allem: von der Warte irischer Kritiker – betrachtet. Nur wenn man das anglo-irische Verhältnis auch aus britischer Perspektive – also gleichsam als imperiale Innenpolitik – in den Blick nimmt, tritt überhaupt zutage, auf welchen verschiedenen Ebenen Irland eine bedeutende Rolle für Großbritannien spielte – mit entsprechenden Rückwirkungen auf Großbritanniens Irlandpolitik. Wirtschaftliche Wechselwirkungen. Im wirtschaftlichen Bereich ist die Wechselwirkung zwischen Irland und der britischen Irlandpolitik am leichtesten zu identifizieren. So wie die protektionistischen Wirtschaftsinterventionen Großbritanniens ab 1698 in Irland als Zugeständnisse der Londoner Regierung an die Interessen der britischen Wirtschaft wahrgenommen wurden und heftige Proteste hervorriefen, die sowohl von irischen Unternehmern, Kaufleuten und den abhängig Beschäftigten (wie z.B. den irischen Webern) getragen wurden, so führten das Freihandelsgesetz von 1780, das den direkten Handelsverkehr Irlands mit den amerikanischen Kolonien erlaubte und so den britischen Zwischenhandel ausschloß, in Großbritannien zu erheblichen Widerständen: Aus den Zentren des Kolonialhandels mit Amerika – in Liverpool, Manchester, Glasgow und Bristol – ergoß sich ein Strom von Pro-testeingaben über die britische Regierung, in Westminster wurden unter den Abgeordneten dieser großen Handelszentren gar unverhohlene Drohungen ausgestoßen.659 Was die Regierung North als Pazifizierungs658 Zur Härte der englischen im Vergleich zu den irischen Strafgesetzen vgl. Foster, Modern Ireland, S. 154; Wall, Penal Laws, S. 8; zur laxen Handhabung vgl. Wall, ebd., S. 18-25. 659 Lecky, History of Ireland 2, S. 179f. Der Protest wurde nicht nur von den Handelsstädten, sondern von allen Branchen getragen, die durch die Freigabe des Kolonialhandels Nachteile be- 215 maßnahme für die periphere Opposition in Irland geplant hatte, erwies sich nun als Bumerang für die politische Situation in Großbritannien selbst. Premier North sah sich deshalb gezwungen, die bereits zugesagten Freihandelsregelungen teilweise zurückzunehmen660 – mit dem Resultat, daß er weder die britische noch die irische Seite zufriedenstellen konnte. Die britischen Proteste gegen das Freihandelsgesetz von 1780 sind insofern recht lehrreich, als sie demonstrieren, daß der wirtschaftliche Interessenausgleich zwischen Irland und Großbritannien eine heikle Angelegenheit sein konnte, die genug Sprengkraft besaß, um eine britische Regierung ins Wanken zu bringen. Strukturell ist wichtig, daß die britische Regierung als politische Vermittlungsinstanz zwischen britischen und irischen Wirtschaftsinteressen zwischen allen Stühlen saß. Bis in die 1760er Jahre hinein machte sich das nicht nachteilig bemerkbar, weil die Machtverhältnisse klar waren und die jeweilige britische Regierung britischen Wirtschaftsinteressen uneingeschränkte Priorität einräumen konnte. Je effektiver jedoch die anglo-irische Kolonialelite britische Imperialkrisen zur Durchsetzung eigener Interessen zu nutzen verstand, desto mehr geriet dieses Handlungsmuster ins Wanken – und die britische Regierung in die Zwickmühle. Kooperation der Oppositionen im irischen und im englischen Parlament. Einen weiteren Faktor, den insbesondere konservative britische Regierungen in ihr politisches Kalkül einfließen lassen mußten, stellte die potentielle Zusammenarbeit zwischen den Oppositionen im irischen und britischen Parlament dar. Vor allem die englischen Whigs und die irischen „Patrioten“ kooperierten gern und häufig miteinander – zum beiderseitigen Vorteil. Zwei Beispiele mögen genügen, um diese enge Zusammenarbeit zu belegen: die Zeit von der irischen „FreeTrade“- Kampagne von 1779 bis zu „Grattan’s Revolution“ von 1782 und die Regentschaftskrise von 1788. Die irische Forderung nach Beseitigung der protektionistischen Handelsrestriktionen wurde 1779 von der englischen Whig-Opposition unter der Führung des Marquis von Rockingham genutzt, um den konservativen Premier Lord North in die Enge zu treiben. Ende November 1779 begannen die englischen Whigs damit, im fürchteten: Berufsgruppen wie die Agenten, die am Zwischenhandel zwischen den Kolonien und Irland verdienten, protestierten ebenso nachdrücklich wie die Textilregion Lancashire, die befürchtete von der irischen Konkurrenz ausgestochen zu werden. Vgl. ebd., S. 178. 216 Parlament Norths Irlandpolitik heftig zu kritisieren, priesen die irische Volunteerbewegung und drohten unverhohlen damit, dem irischen Beispiel zu folgen. North versuchte den politischen Druck zu reduzieren: Durch Aufhebung der Restriktionen für den irischen Kolonialhandel versuchte er die irisch-englische Oppositionsfront außer Gleichschritt zu bringen.661 Wie oben bereits ausgeführt, mißlang dieser Versuch jedoch. Die Regierung North, welche die Mißerfolge und Niederlagen im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zu verantworten hatte, wurde dadurch aus Irland zusätzlich unter Druck gesetzt – mit dem Ergebnis, daß die englische Regierung Ende März 1782 zurücktreten mußte.662 Norths Nachfolger war niemand geringeres als der Marquis von Rockingham, der in Irland umgehend den amtierenden Lord Lieutenant, den Earl von Carlisle, durch einen Whig-Favoriten, den Herzog von Portland, austauschen ließ.663 Portland setzte am 16.3. 1782 das Signal für Grattans dritten Antrag im irischen Parlament für eine Erklärung der legislativen Unabhängigkeit Irlands, der diesmal einstimmig angenommen wurde, obwohl er noch zwei Monate zuvor mit 137 zu 68 Stimmen abgeschmettert worden war.664 Dieser Vorgang belegt recht deutlich, daß „Grattan’s Revolution“ ohne die Unterstützung der englischen Whigs definitiv nicht so glatt (und vielleicht nicht einmal gewaltfrei) verlaufen wäre. Auch in der Regentschaftskrise von 1788 kooperierten die irischen „Patrioten“ mit den englischen Whigs. Die politische Situation war – knapp umrissen – folgende: Im November 1788 war nicht mehr zu vertuschen, daß Georg III. wegen einer Geisteskrankheit zumindest vorübergehend nicht mehr in der Lage sein würde, seine Amtsgeschäfte wahrzunehmen, und daß ein Regent ernannt werden mußte. Dafür kam nach Lage der Dinge nur der Prinz von Wales (der spätere Georg IV.) in Frage, dessen politische Vorliebe für die Whigs allgemein bekannt war. Daher befürchtete der amtierende Premier William Pitt d. J., daß er und seine Minister vom Kronprinz im Falle einer Regentschaft umgehend durch ein Whig660 Auf öffentlichen Druck in Großbritannien wurde eine Reihe von Produkten von dem Freihandelsgesetz ausgenommen: Hiervon waren Woll- und Baumwollstoffe ebenso betroffen wie Glasprodukte, Hopfen, Kohle und (natürlich) Schießpulver. Vgl. Lecky, History of Ireland 2, S. 180. 661 Zur englischen Seite der „Free-Trade“-Kampagne vgl. summarisch Beckett, Making, S. 217f. 662 Damit keine Mißverständnisse entstehen: North mußte natürlich vorwiegend wegen der Kriegsentwicklung in den amerikanischen Kolonien gehen. Andererseits: Wenn die amerikanischen Ereignisse den Sarg seiner politischen Karriere bildeten, stellte die ‚irische Frage‘ definitiv einige Sargnägel dar, die seinen Rücktritt beschleunigen halfen. 663 Maurer, Geschichte Irlands, S. 169, hebt in diesem Zusammenhang hervor, daß die Zusammenarbeit zwischen der englischen und irischen Opposition bereits „seit langem“ funktioniert habe. 664 Beckett, Making, S. 222f. 217 Kabinett unter der Führung Charles James Fox‘665 ersetzt werden würden. Er versuchte dem vorzubeugen, indem er dem Parlament vorschlug, vor der Einsetzung eines Regenten dessen Befugnisse dergestalt zu beschneiden, daß dieser nicht ermächtigt sei, das amtierende Kabinett zu entlassen. Die Opposition unter Fox‘ Führung protestierte natürlich energisch und argumentierte, daß ein Regent die vollständige royale Autorität besitzen müsse. Die Debatten zogen sich bis zur Eröffnung der Sitzungsperiode des irischen Parlaments am 5.2.1789 hin, das sich umgehend in die englische Debatte einschaltete. In der Hoffnung, daß ein WhigPremier auch ihren politischen Forderungen mehr Entgegenkommen schenken werde, ergriffen Grattan und seine Gefolgsleute sofort die Partei Fox‘. Zugleich war es aber auch eine glänzende Gelegenheit, wieder einmal die irische ‚Unabhängigkeit‘ zu demonstrieren – das ‚unabhängige‘ Königreich Irland konnte sich durch die Wahl eines Regenten als Großbritannien gleichgestellt gerieren. Die Repräsentanten der Ascendancy – allen voran die landed country gentlemen – 665 Charles James Fox (1749-1806): Englischer Liberaler, britischer Außenminister und Oppositionsführer. Ururenkel Karls II. (mütterlicherseits), Erziehung und Ausbildung in Eton und Hertford College, Oxford, Reisen in Frankreich (Treffen mit Voltaire), Italien und den Niederlanden; 1768 als Abgeordneter für Midhurst, Sussex, im Unterhaus; erwirbt dort schnell den Ruf eines enthusiastischen und überzeugenden Redners; 1770 bereits einer der Lords der Admiralität unter der Regierung North; macht sich im Parlament unbeliebt, weil er die Pressefreiheit beschränken wollte (1770/71); gab 1772 sein Amt in Norths Administration zurück und schließt sich der Opposition um Conway und Edmund Burke an, kehrt aber ein paar Monate später als stellvertretender Schatzmeister in die Administration Norths zurück; von Georg III. aus Verärgerung über sein Auftreten entlassen; schloß sich 1774 der Rockingham Opposition an und kritisierte das Verhalten des britischen Parlaments als den Grund für den Aufstand der amerikanischen Kolonisten; läßt sich während des englisch-amerikanischen Krieges nicht mehr auf einen Posten in Norths Administration ein, sondern bleibt bei Rockingham; wird 1782 Außenminister in Rockinghams Kabinett; unterstützte Grattans Revolution und brachte im britischen Parlament den Entwurf zur Abschaffung des Declaratory Acgt ein; legte sein Amt über einen Streit mit dem Kolonialminister über die Zuständigkeit für die Verhandlungen mit den USA 1783 nieder, was zur Spaltung der Whigs führte; Fox ging mit seinen Anhängern eine Koalition mit North ein und wurde wieder Außenminister (um den Preis, daß die Whigs als Partei ruiniert wurden); Ende 1783 vom König erneut entlassen; skandalöser Wahlkampf gegen Pitt endet 1784 mit Wiederwahl Foxens und empfindlichen Verlusten für seine Anhänger; Rückzug ins Privatleben; 1787 politische Renaissance; Gegner Pitts in der Regentschaftskrise von 1788; sprach sich von Anfang an für die Französische Revolution aus, überwarf sich dadurch mit Burke und verstellte sich mögliche Koalition mit Pitt, was einige führende Whigs dazu veranlaßt, sich von Fox zu trennen und Pitt zu dienen; vergeblicher Widerstand gegen den Krieg mit dem revolutionären Frankreich (1792/93); ebenso gegen die Treason und Sedition Bills und die Regelungen zur Niederschlagung der Meuterei in Spithead (1796); zog sich danach für fünf Jahre ins Privatleben zurück; begann an einer Geschichte der Revolution von 1688 zu schreiben; Gegner einer Union Irlands mit Großbritannien; 1802 als Abgeordneter wiedergewählt; mehrere Gespräche mit Bonaparte 1802, vertrat daraufhin die Ansicht, daß Bonaparte den Frieden mit Großbritannien zu erhalten wünsche; setzte sich nun auch wiederholt für die Pressefreiheit ein; Pitts Versuche, Fox wieder als Außenminister einzusetzen scheitert am ausdrücklichen Verbot des Königs (1803, 1805); nach dem Tode Pitts von Grenville als zweiter Mann ins Boot genommen, verfolgt Fox nun eine anti-napoleonische Linie; setzte sich am Schluß seines Lebens stark für die Abschaffung des Sklavenhandels ein, lehnte einen Adelstitel nebst Versetzung ins Oberhaus ab und starb am 13.9.1806 an der Wassersucht. 218 schlossen sich (auch aus Opportunismus und handfesten Eigeninteressen) dieser Sichtweise an und das irische Unter- und Oberhaus präsentierten je ihr eigenes, einstimmiges Votum für die Wahl des Prinzen von Wales zum irischen Regenten. Lord Lieutenant Buckingham weigerte sich, diese Voten nach London weiterzuleiten, nachdem es ihm nicht gelungen war, die Abstimmung in den beiden Kammern zu verhindern. Daraufhin ernannten beide Häuser Abgesandte, welche die Abstimmungsergebnisse persönlich nach London bringen sollten. Es kam allerdings nicht komplett zum Eklat, weil sich der Gesundheitszustand des Königs rechtzeitig besserte, die Streitfrage wurde daher nicht abschließen geklärt.666 Die Regentschaftskrise erhärtet die These, daß englische und irische ‚Liberale‘ – wenn man von der „patriotischen“ Kernforderung nach der legislativen Unabhängigkeit Irlands absieht, waren die „Patrioten“ im Prinzip auch Whigs – kooperierten, um das politische Gewicht der parlamentarischen Oppositionen in beiden Ländern zu erhöhen – mit dem durchschlagenden Ergebnis, daß einzelne politische Entscheidungsträger, ja, ganze Kabinette darüber zu Fall kamen. Zum Teil basierte diese interinsulare Zusammenarbeit auf verwandten politischen Interessen (z.B. der gemeinsamen Forderung nach Parlamentsreformen auf konstitutioneller Basis), entscheidend erleichtert aber wurde sie durch die Auffassung der englischen Whigs, daß nur Bildungs- und Besitzkriterien, nicht aber die Staatsangehörigkeit die politische Partizipation beeinflussen dürfe – was aus Sicht britischer Liberaler für die britische Gesellschaft als ‚gut‘ und ‚fortschrittlich‘ eingeschätzt wurde, durfte auch der irischen Gesellschaft nicht verweigert werden. Das ist zumindest die Konsequenz, die man aus der Unterstützung britischer Whigs für „Grattan’s Revolution“ ziehen darf.667 Die schwierige Kooperation irischer, schottischer und englischer Radikaler. Unterhalb der parlamentarischen Ebene bildete sich ab 1791 allmählich ebenfalls eine Kooperationsachse heraus, welche die britische Regierung mit noch größerer 666 Summarisch zur Regentschaftskrise vgl. Beckett, Making, S. 240f., Foster, Modern Ireland, S. 256; zu knapp bei Maurer, Geschichte Irlands, S. 171, der sich um die irisch-englische Kooperation keine Gedanken macht. Sowohl Foster als auch Beckett führen auch andere Motive für das irische Votum an (Beckett den Opportunismus der Repräsentanten der Ascendancy, Foster Pläne der Magnaten, daß durch dieses Abstimmungsverhalten das politische Gewicht der alten Undertaker wieder erhöht werden könnte), aber beide rekurrieren an erster Stelle auf die enge Kooperation zwischen der englischen und der irischen Opposition. Vgl. ebd. 667 Natürlich basiert diese These nicht allein auf dem Verhalten der Rockingham’schen Whigs während „Grattan’s Revolution“ von 1782, sondern ebenso auf ihren ideologischen Entscheidungen, die ihre prinzipielle Radikalität eher zweifelhaft erscheinen lassen. Vgl. hierzu Dickinson, Liberty, S. 197-210. 219 Sorge erfüllen mußte – eine Allianz zwischen den regimekritischen Organisationen in Irland, Schottland und England. Den Ausgangspunkt dieser radikalen ‚Internationale‘ im britischen Empire bildeten die United Irishmen, die sich schon im Juni 1791 – also noch während der Planungsphase für die Lancierung der Organisation, die am 14.10.1791 in Belfast erstmals zusammentrat – auf die Fahnen schrieben, „mit ähnlichen Gesellschaften im Ausland wie dem Jakobinerklub in Frankreich, der Revolutionsgesellschaft in England [und] dem Komitee für Reformen in Schottland“ Kontakt aufzunehmen.668 Bei dem ursprünglich geplanten Interessen- und Informationsaustausch blieben die United Irishmen jedoch nicht stehen, sondern bemühten sich sukzessive um den Ausbau dieser Außenbeziehungen – mit dem Ziel, eine zur konzertierten politischen (und ab 1795 auch militärischen) Aktion befähigte radikale Phalanx zu schmieden. Ihre erste Offerte ging am 26.10.1792 an die Friends of the People in London, denen sie in einer Adresse nicht nur ihre politischen Prinzipien und Absichten erläuterten und eine detaillierte politische Zustandsbeschreibung Irlands gaben, sondern auch ein vorsichtiges Kooperationsangebot unterbreiteten, das auf Interessengleichheit zwischen der United Irish Organisation und den englischen ‚Volksfreunden‘ beruhte, aber gleichwohl keine Verschmelzung beider Organisationen vorsah: „Auf der Basis dieser [Prinzipien und Ziele der United Irishmen – MR] appellieren wir an diejenigen, die sich selbst als Freunde des Volkes bezeichnen. Schaut nicht mit einem unbeteiligten Auge auf Irland. Die Zeit irischer Bedeutungslosigkeit schwindet rasch dahin. Falls die Nation [gemeint ist die irische Bevölkerung als „Sockel legitimer politischer Macht“ – MR] jemals verächtlich erschienen ist, dann lag das daran, daß die Nation nicht gehandelt hat. (...) Mit Hinblick auf eine wie auch immer geartete Union zwischen den Inseln [Großbritannien und Irland – MR] glaubt uns, wenn wir versichern, daß unsere Union auf unserer wechselseitigen Unabhängigkeit beruht. Wir werden einander lieben, sofern wir uns selbst überlassen werden. Es ist die Union der Gedanken (union of minds) die diese Nationen zusammenbinden sollte. Reziproke Interessen und wechselseitige Mißstände werden immer unsere wechselseitige Wertschätzung sicherstellen, wenn jedoch eine andere Form der Union erzwungen würde – und nur Zwang könnte sie herbeiführen – würdet ihr eure Freiheiten gefährden und wir unsere Rechte verlieren.“669 Diesem Dokument haftete noch eine zögerliche Ambivalenz an: Dem Willen zur politischen Zusammenarbeit, den gemeinsame Interessen nahelegen, stand noch die Befürchtung im Weg, daß englische Radikale versuchen könnten, die United 668 J. Brims, Scottish Radicalism and the United Irishmen, in: D. Dickson et al. (Hgg.), The United Irishmen, Republicanism, Radicalism and Rebellion, Dublin 1993, S. 151-166, S. 151. 669 Address to the Friends of the People in London (26.10.1792), in: Society of United Irishmen of Dublin, estab. November 9, 1791: „Let the Nation Stand“, Dublin 1794, S. 23-29, S. 29. (meine 220 Irishmen gewissermaßen zu ‚kolonisieren‘. Angesichts des mehr als zurückhaltenden Tons überrascht es nicht, daß diese Offerte auf taube Ohren stieß und die United Irishmen von den Friends of the People in London nicht einmal eine Antwort erhielten. Knapp einen Monat später, am 26.11.1792, wurde darum ein zweiter Verstoß unternommen, um zu einer Zusammenarbeit mit regimekritischen Organisationen von der anderen Seite der irischen See zu gelangen. Die Adressaten waren diesmal die Associated Friends of the People (AFP) in Schottland, die gerade dabei waren, ihren ersten Kongreß zu organisieren, der Mitte Dezember 1792 begann und auf dem die schottischen Reformer zu einem Beschluß darüber kommen wollten, ob sie eine moderat-reformerische oder eine radikale Richtung einschlagen sollten.670 Von Thomas Muir671, einem Radikalen aus dem inneren Zirkel der schottischen Reformer dazu ermutigt, wurde William Drennan672, einer der Gründungsväter und – neben Theobald Wolfe Tone673 – prominenteste Autor Übersetzung) United Irish Position zur Frage der Volkssouveränität vgl. ebd., S. 23f.; zu Zielen ebd., S. 24, 28, zur Zustandsbeschreibung Irlands vgl. ebd., S. 25f. 670 Brims, Scottish Radicalism, S. 154f. 671 Thomas Muir (1765-1798): Schottischer Radikaler; Ausbildung in der Glasgow Grammar School, juristisches Studium in Glasgow University (1777-1782, M.A.), dort wegen Protesten gegen einige Professoren zwangsexmatrikuliert, beendete das Studium in Edinburgh, 1787 Zulassung als Mitglied der juristischen Fakultät; 1792 Teilnahme an mehreren Treffen der Associated Friends of the People, deren Hauptredner er schnell wird; ebenso Teilnahme am Reformkongreß in Edinburgh; Kontakte zu A.H. Rowan, einem führenden Dubliner United Irishmen – die beiden bilden die wichtigste Verbindung zwischen schottischen und irischen Reformkräften; 1793 des Umsturzes angeklagt, aber gegen Kaution wieder auf freien Fuß gesetzt; Reise nach Paris, um im Namen der schottischen Reformer gegen die Hinrichtung Ludwigs XVI. zu protestieren; in Edinburgh in der Zwischenzeit zum Gesetzlosen erklärt und aus der Fakultät ausgeschlossen; nach seiner Rückkehr ein Schauprozeß mit einer parteiischen Jury gegen ihn, der mit einer Verurteilung zu 14 Jahren Deportation nach (Australien) endet; 1794 nach Botany Bay verschifft, 1796 von amerikanischen Sympathisanten befreit; anschließend Odysee mit Schiffbruch, indianischer Gefangenschaft, Aufenthalt in Mexiko, Haft in Havanna; auf spanischer Frigatte nach Cadiz geschickt; verliert beim Angriff zweier britischer Schiffe ein Auge und Teil seiner Wange; vom französischen Direktorium aus spanischer Gefangenschaft ausgelöst, über Bordeaux nach Paris (4.2.1798) gebracht, wo er vom Direktorium willkommen geheißen wurde, französischer Staatsbürger; stirbt am 27.9.1798 an seinen Verletzungen. 672 William Drennan (1754-1820): Irischer Poet, ‚Educationalist‘ und United Irishman der alten Generation, Sohn eines ehemaligen Assistenten des Moralphilosophen Francis Hutcheson in Glasgow, Medizinstudium in Glasgow (M.A. 1771); Promotion in Medizin an der medizinischen Fakultät in Edinburgh (1778); ausgewiesener aufgeklärter Pamphletist (Letters of Orellana, 178485), Gründervater und – neben Wolfe Tone – prominentester Autor der United Irishmen, bis zum Ende seiner aktiven Zeit mißtrauisch gegenüber den politischen Motiven des Catholic Committee, 1792-93 Vorsitzender der Dubliner Gesellschaft der United Irishmen, 1794 wegen Aufruhrs für seine Veröffentlichungen vor Gericht gestellt, aber freigesprochen; zog sich danach aus der Politik und von den United Irishmen zurück; verfaßte zahlreiche patriotische Schriften (auch für den Northern Star), darunter ein Lament auf William Orr, den Märtyrer der United Irishmen, prägte in seinem Gedicht „When Erin first rose“ die Metapher über Irland als dem „Grünen Eiland“, 18081815 Herausgeber des Belfast Monthly Magazine, das literarische Texte und politische Kommentare verschmolz; einer der Gründer der Belfast Academical Institution. 673 Theobald Wolfe Tone (1763-1798): Radikaler, irischer Nationalist und United Irishman; als Sohn eines anglikanischen Fuhrunternehmers geboren, erhielt juristische Ausbildung am Trinity 221 der United Irishmen damit beauftragt, die Adresse an den schottischen Reformkongreß zu verfassen.674 Drennans Adresse haftete keine Zögerlichkeit mehr an. Er hob die nationale Unabhängigkeit Schottlands – des „Lande[s] wo Buchanan schrieb, Fletcher sprach und Wallace kämpfte“675 – hervor, betonte den Gleichklang der Interessen zwischen den irischen und schottischen Reformern676 und drängte auf Zusammenarbeit: „Es ist nicht die Verfassung, sondern das Volk, das unverletzlich sein sollte, und es ist Zeit, die Rechte der englischen, der schottischen und der irischen Nation anzuerkennen und zu erneuern. (...) Unser Ziel: eine nationale Gesetzgebung; unser Mittel: eine Union des gesamten Volkes. Laßt diese Union sich durch das ganze Empire ausdehnen. Laßt alle sich für alle vereinigen oder jeden Menschen für alle leiden. In jedem Land laßt das Volk in friedlichen und verfassungsmäßigen Versammlungen zusammenkommen. Laßt Delegierte aus jedem Land einen Reformplan ausarbeiten, welcher der Situation und den Umständen der jeweiligen Nation am besten entspricht und laßt der Gesetzgebung sofort die Petitionen der dringlichen und einstimmigen Stimme Englands, Schottlands und Irlands vorlegen. College Dublin, praktische Ausbildung an den Inns in London, mehr an Politik als an Juristerei interessiert, unternahm er ab 1790 erste Versuche als politischer Pamphletist, erwarb sich dadurch zuerst die Aufmerksamkeit des Northern Whig Club, die er aber frustriert über ihre moderaten politischen Ansichten bald wieder verließ; 1791 Veröffentlichung seines Argument on Behalf of the Catholics of Ireland, indem er für einen Zusammenschluß aller Reformkräfte mit den Katholiken plädierte, um gegen den Widerstand der Ascendancy, Parlamentsreformen und die katholische Emanzipation auf den Weg zu bringen; daraufhin 1791 zur Vorbereitung der Gründung der United Irishmen hinzugezogen und 1792 vom Catholic Committee zum Sekretär bestellt; geriet 1794 in die Wirren der Jackson Affäre und konnte sich seinem Prozeß wegen Hochverrats nur dadurch entziehen, daß er einwilligte, sich ‚freiwillig‘ ins Exil in die USA zu begeben; im Februar 1796 reiste er nach Paris, wo er sehr erfolgreich mit dem französischen Direktorium über französische Waffenhilfe für die United Irishmen verhandelte; 1796 Teilnahme an der von Hoche geleiteten französischen Expedition nach Bantry Bay; 1798 an Bord eines französischen Schiffs von Briten vor der Küste Irlands festgenommen; beging in der Haft Selbstmord, um der Hinrichtung zu entgehen (dieser Selbstmord wird in irisch-nationalistischen Kreisen immer noch als britischer Mord betrachtet); einer der wichtigsten Stichwortgeber für nachfolgende irische Nationalisten – etwa mit der Bemerkung, daß „England die unfehlbare Quelle für alle Übel Irlands“ sei. 674 Brims, Scottish Radicalism, S. 157; D.A. Chart (Hg.), The Drennan Letters Being a Selection from the Correspondence which Passed Between Wm. Drennan, M.D., and his Brother-in-Law and Sister Samuel and Martha McTier During the Years 1776-1819 (with an Index), Belfast 1931, S. 103. 675 Address from the Society of United Irishmen in Dublin to the Delegates for Promoting a Reform in Scotland, 23.11.1792, in: „Let the Nation Stand“, S. 32-40, S. 33. Die Adresse beginnt insgesamt mit einer Hommage an die schottische Nation, die kraft ihrer politschen Orientierung als distinkt und eigenständig konstruiert wird: „We greatly rejoice that the spirit of freedom moves over the face of Scotland; that light seems to break from the chaos of her internal government; and that a country so respectable for her attainments in science, in arts, and in arms; for men of literary eminence, for the intelligence and morality of her people, now acts from a conviction of the union between virtue, letters, and liberty: and, now rises to distinction, not by a calm, contented, secret wish for a reform in Parliament, but by openly, actively, and urgently willing it, with the unity and energy of an embodied nation. We rejoice that you do not consider yourselves as merged and melted down into another country, but that in this great national question, you are still – Scotland – the land where Buchanan wrote, and Fletcher spoke, and Wallace fought.“ Ebd., S. 32f. 676 „Our cause is your cause – If there is to be a struggle between us, let it be which nation shall be foremost in the race of mind: Let this be the noble animosity kindled between us, who shal first attain that free constitution from which both are equidistant, who shall first be the saviour of the empire.“ Ebd. S. 33. 222 Ihr habt unsere Vorschläge. Antwortet uns, und das rasch. Dies ist nicht der Zeitpunkt, um zu zaudern. Euer berühmter Fletcher hat gesagt, daß die Freiheiten eines Volkes nicht ohne das Durchschreiten großer Schwierigkeiten gesichert werden können und keine Mühe oder Arbeit sollte gescheut werden, um ein Nation vor der Sklaverei zu bewahren.“677 Mit dieser Adresse verbanden sich bei den United Irishmen hohe Erwartungen.678 Um so größer war die Enttäuschung, als der schottische Reformkongreß die irische Offerte, die von Thomas Muir präsentiert wurde, ablehnte. Der Grund war, daß die schottischen Reformer – obwohl sie prinzipiell mit den Thesen der United Irishmen durchaus einverstanden waren – sich auf ihrem Kongreß auf eine moderat-konstitutionelle Reformpolitik verständigten, in der Verweise auf ProtoRepublikaner wie Buchanan ebenso fehl am Platz waren wie der Rekurs auf den prominentesten Gegner der Union zwischen Schottland und England, Fletcher, oder den Freiheitskämpfer Wallace. Darüber hinaus spekulierten die AFP darauf, die Unterstützung des schottischen Bürgertums und Landadels gewinnen zu können, die durch derlei radikale Töne nur verschreckt wurden.679 Ein weiterer Vorstoß, der im Frühsommer 1793 von den vier Belfaster Gesellschaften der United Irishmen unternommen wurde, verlief ebenso im Sande: Die Belfaster erhielten nicht einmal Antwort aus Edinburgh.680 Die Zusammenarbeit zwischen schottischen und irischen Reformern und Radikalen nahm erst gegen Ende 1793 Gestalt an. Die politische Situation hatte sich in der Zwischenzeit so geändert, daß beide Seiten ernsthaft an einer Zusammenarbeit interessiert waren. In Irland war inzwischen die von den United Irishmen geförderte, aber von den Volunteers getragene Kampagne für Parlaments- und Wahlrechtsreformen unter dem Druck des Kolonialregimes kollabiert: Der Reformkongreß der Ulster Volunteerverbände in Dungannon wurde am 11.3.1793 zwangsaufgelöst und im August 1793 verabschiedete das irische Parlament den Convention Act, der weitere Massenversammlungen und –kongresse unter strenge Strafe stellte. Im gleichen Zug wurden auch die Volunteerbewegung unterdrückt, 677 Ebd. S. 39. „The address to the Scotch is looked upon as a masterpiece. I think you will flatter the Scotch into answers. You have attacked them on their weak side.“ Martha McTier an ihren Bruder William Drennan, 8.12.1792, DL, S. 103. 679 Brims, Scottish Radicalism, S. 156f. 680 Ebd., S. 159f. 678 223 die schon ab Januar 1793 wiederholt mit den Behörden in Konflikt geraten war.681 Damit nicht genug, begann Dublin Castle – unter dem Eindruck des heraufziehenden Kriegs mit Frankreich – mit der juristischen Verfolgung führender United Irishmen (unter anderem auch der Gallionsfigur der Dubliner Radikalen, James Napper Tandy).682 Die Reformbemühungen der United Irishmen gerieten ins Stocken und sie selbst unter Verfolgungsdruck – man benötigte also dringend politische Partner, um zu Erfolgen zu gelangen. In Schottland hatte sich die moderate Reformpolitik der AFP mittlerweile als Irrweg erwiesen: Ihre Petitionskampagne für Parlamentsreformen war kläglich gescheitert und der Organisation begann die Basis wegzulaufen. In dieser Situation wandte sich Thomas Hardy, der in Schottland geborene Sekretär der London Corresponding Society (LCS), einer republikanischen Organisation, an die AFP und unterbreitete einen Vorschlag zur Zusammenarbeit, der diesmal von den schottischen ‚Volksfreunden‘ dankbar angenommen wurde, zumal auch in Schottland die Behörden dazu übergingen, prominente Reformer zu kriminalisieren.683 Aufgrund der neuen Partnerschaft mit der LCS, aber auch aus Furcht, daß der irische 681 Curtin, United Irishmen, S. 58. Zu früheren Belästigungen der Volunteers durch die Behörden vgl. NS 30/1/1793, 23/2/1793, 28/2/1793. Zum Teil stellten die Volunteers daraufhin ihre Aktivitäten freiwillig ein. Vgl. NS 2/3/1793. 682 Zur Verhaftung und Verurteilung Oliver Bonds und Simon Butlers wegen ihrer Kritik an einem geheimen Untersuchungsausschuß der irischen Regierung vgl. NS 20/2/1793, 27/2/1793, 2/3/1793. Bond und Butler wurden zu je sechs Monaten Haft und 500 Pfund Strafe verurteilt. Am 21.3.1793 wurden die Eigentümer des National Evening Star – einer Dubliner Reformzeitung – und James Napper Tandy vorgeladen, der aber untertauchte. NS 20/3/1793. Zur Verhaftung Dr. James Reynolds wegen Aussageverweigerung vor dem Untersuchungsausschuß vgl NS 27/3/1793. Reynolds wurde erst Ende Juli 1793 wieder auf freien Fuß gesetzt (NS 27/7/1793). Zur Reynolds-Affäre vgl. auch NS 30/3/1793, 24/4/1793. Auch Archibald Hamilton Rowan kam mit der Justiz in Konflikt (NS 26/1/1793) – ebenso wie eine Reihe Drucker, Verleger und Buchhändler. Vgl. NS 26/1/1793, 4/5/1793. James Napper Tandy (ca. 1737-1803): Kopf der Dubliner Radikalen, Patriot, Volunteer und United Irishman. Von Beruf ein Eisenwarenhändler und Landagent, war Tandy seit den späten 1770er Jahren im Dubliner stadtrat und den Gilden ein notorischer Oppositionsführer und Chef einer der Dubliner Volunteerbrigaden. 1791 von Wolfe Tone und Thomas Russell für die United Irishmen begeistert, machte er seinen Einfluß zur Gründung der Dubliner United Irishmen gültig, deren erster Sekretär er wurde. Wegen Zusammenarbeit mit den Defenders von den Behördern gesucht, floh er 1793 in die USA und von dort 1797 nach Frankreich. Dort rivallisiert er mit Tone in den Verhandlungen um französische Waffenhilfe und spaltete die Gemeinschaft der irischen Exilanten; brach 1798 als Kommandant eines Schiffes nach Irland auf, um Humbert Entsatz zu bringen; erfuhr bei seiner Landung von Humberts Niederlage, trug eine ‚Erklärung‘ vor und mußte sinnlos betrunken aufs Schiff zurückgetragen werden; in Hamburg im November 1798 festgenommen und nach Irland zurückgebracht, wo er nach seinem Prozeß auf seine Hinrichtung wartete; seine Verhaftung führte zu diplomatischen Friktionen, weil sie als Verstoß gegen internationales Gesetz betrachtet wurden, 1802 auf Intervention Napoleons anläßlich des Friedens von Amiens freigelassen und nach Frankreich gebracht, wo er 1803 verarmt starb. 683 Brims, Scottish Radicalism, S. 158f. Zur Kriminalisierung vgl. die Berichte und Kommentare über den Prozeß gegen Thomas Muir in NS 7/9/1793, 11/11/1793 bzw. zur vorübergehenden Verhaftung W. Skirvings, des Sekretärs der schottischen ‚Volksfreunde‘, vgl. NS 31/8/1793. 224 Convention Act einen Präzedenzfall darstelle, der auch in Schottland zur Anwendung kommen könne, vollzogen die schottischen ‚Volksfreunde‘ im Sommer 1793 einen Politikwechsel und begannen mit der Vorbereitung eines britischen Reformkongresses, der am 19.11. 1793 in Edinburgh zusammentrat.684 Dieser Reformkongreß fand unter der Teilnahme zweier Delegierter der United Irishmen – Simon Butler und Archibald Hamilton Rowan aus Dublin685 – statt, denen dort kraft Beschluß des Kongresses vom 25.11.1793 Rede- und Abstimmungsrecht eingeräumt wurde.686 Damit war die Zusammenarbeit – nachdem die United Irish Abgesandten das Kooperationsangebot mit einer feierlichen Antwortadresse bekräftigt hatten687 – faktisch beschlossene Sache, aber sie half nicht mehr viel: Ein paar Tage später wurde der Reformkongreß vom Lord Provost von E684 Brims, ebd. Simon Butler (1757-1797): Sohn des 10. Viscount Mountgarret; 1778 als Jurist zugelassen; 1784 Aufstieg zum King’s Counsel und Mitglied der Ehrenwerten Gesellschaft der King’s Inns; Gründungsmitglied der Dubliner Gesellschaft der United Irishmen und ihr erster Vorsitzender 1791; Veröffentlich einer Zusammenfassung aller gesetzlichen Regelungen der Strafgesetze, welche die Katholiken behinderten (Digest of the Popery Laws) 1792 trägt ihm eine Ehrenprämie in Höhe von 500 Pfund vom Catholic Committee ein; 1793 zusammen mit Oliver Bond vor Gericht gestellt, wegen scharfer Kritik am Secret Committee des irischen Parlaments – ein von Bond und Butler unterzeichnetes Papier hatte diesen Untersuchungsausschuß als verfassungswidrig kritisiert; Bond und Butler verteidigen sich vor Gericht bravourös, werden aber dennoch zu sechs Monaten Haft verurteilt; nach seiner Freilassung unternimmt er zusammen mit A.H. Rowan den Auftrag, die United Irishmen auf dem Edinburgher Reformkongreß zu repräsentieren, muß aber Schottland bald wieder verlassen, weil Rowan mit den schottischen Behörden in Konflikt gerät; nach dem Verbot der United Irishmen versinkt er in politischer Bedeutungslosigkeit und verstirbt 40jährig in Dublin. Archibald Hamilton Rowan (1751-1834): einziger Sohn eines anglo-irischen Adeligen; in London geboren; Ausbildung an einer englischen Privatschule in Marylebone; danach Studium (das mehr der Jagd und den Hunden als den Büchern gewidmet war) in Queen's’College Cambridge; anschließende einige Monate Aufenthalt in Amerika; danach schlug Rowan die Offizierslaufbahn ein, die er 1780 beendete; 1781-84 Aufenthalt in Paris als Pensionär; danach Umzug nach Irland; Eintritt in die Volunteers, Teilnahme am Volunteerkongreß in der Rotunda 1784 als Delegierter der Grafschaft Down; 1786 Kommandant der Killeleagh Volunteers; 1790 Gründungsmitglied des NorthernWhig Clubs in Belfast, wo er im folgende Jahr die Bekanntschaft Tones machte und sich anschließend den United Irishmen anschloß; Nachfolger Tandys als Sekretär der Dubliner Gesellschaft der United Irishmen; 1792 wegen eines Aufrufs an die Volunteers verhaftet aber auf Kaution freigelassen, nahm an der Expedition nach Schottland teil, wo er sich mit dem schottischen Generalstaatsanwalt anlegte; 1794 in der alten Sache vor Gericht gestellt und zu 500 Pfund Strafe und zwei Jahren Haft verurteilt; wegen seiner Kontakte zu Jackson mit einem weiteren Prozeß und der Todesstrafe bedroht; Gefängnisausbruch und dramatische Flucht nach Frankreich; bei seiner Ankunft als britischer Spion verhaftet und dem Wohlfahrtsausschuß vorgeführt; erhielt 1795 Erlaubnis, sich in die USA zu entfernen; ließ sich in Philadelphia und später am Delaware nieder, wo er bald Tandy und Tone wiedertraf; weigerte sich, sich Tone anzuschließen und nach Frankreich zu gehen, weil er vom Terreur angewidert seine politische Einstellung revidiert hatte; befürwortete 1799/1800 die Union, weil sie die Beseitigung der Ascendancy ermöglichte; suchte um Pardon nach, daß ihm 1803 gewährt wurde, ließ sich als geachteter Landbesitzer auf dem Erbe seines Vaters nieder und engagierte sich fürderhin nur noch für liberale Politik und die katholische Emanzipation, war Subskribent für O’Connells Catholic Association; starb wenige Monate nach dem Tod seiner Frau und seines ältesten Sohnes. 686 Vgl. „Let the Nation Stand“, S. 121. 687 Vgl. „Let the Nation Stand“, S. 122f. 685 225 dinburgh zwangsaufgelöst, die führenden Köpfe der British Convention – der Präsident M. Campbell Browne, der Sekretär der AFP W. Skirving, M. Margorot und J. Gerrald von der LCS und ein gewisser Sinclair, Delegierter der britischen Society for Constitutional Information, wurden verhaftet und von schottischen Gerichten zur Deportation verurteilt.688 Weder die schottischen noch die englischen Radikalen verfügten über die Massenbasis oder die militärischen Mittel, um den irischen Radikalen tatsächlich von Nutzen sein zu können. Trotzdem versteiften sich gerade die United Irish Gesellschaften aus Ulster auf eine Zusammenarbeit: Nach dem Verbot der Organisation im Jahr 1794 und der Reorganisation des Vereins als Untergrundbewegung versuchten sie – nominell recht erfolgreich –, in Schottland Mitglieder anzuwerben, die im Fall einer französischen Invasion in Irland oder England in Schottland losschlagen sollten.689 Für die Beharrlichkeit, mit der gerade Radikale aus Ulster den Schulterschluß mit den schottischen Regimekritikern suchte, gab es zwei Gründe: Zum einen die geographische Nähe und die traditionell wichtige Rolle, die Schottland als Bezugspunkt für die Einwohner Ulsters spielte, und zum anderen die Tatsache, daß Schottland gerade den United Irishmen aus Ulster als Zufluchtsort diente, als in Nordirland 1797 das Kriegsrecht verhängt wurde.690 Die schottischen Behörden waren sich der Kontakte jedoch sehr wohl bewußt und beobachteten die United Irish bzw. United Scottish Bewegungen sehr genau.691 Auch die Kooperationsversuche mit den englischen Radikalen führte zu keinem befriedigenden Ergebnis. Die LCS war nach der Zerschlagung der British Convention ins Zentrum behördlicher Verfolgung geraten und obwohl ihre Anführer – Hardy, Horne Tooke, Thelwall –von den englischen Juries freigesprochen wurden, standen sie unter permanenter Überwachung. Überdies waren die Mitglieder der LCS untereinander zerstritten und ihre Kriegskasse war leer.692 Dennoch unternahmen einige besonders radikale United Irishmen wie James Coigley, Arthur 688 Vgl. NS 9/12/1793, 19/12/1793, 23/12/1793, 9/1/1794, 13/1/1794, 13/3/1794. Brims, Scottish Radicalism, S. 163; Elliott, Partners, S. 145, spricht von 9.650 United Scotsmen im September 1797, aber diese Angaben sind – wie die official returns, die offiziellen Mitgliederzahlen in Irland – mit Vorsicht zu genießen: Die United Irishmen zählten jede Person als Mitglied, die ihren Eid abgelegt hatte. Die aktive Mitgliedschaft (d.h. die Anzahl derjenigen, die an einer Rebellion teilnehmen würden) wurde selbst von den militärischen Führern der United Irishmen bloß bei etwa 10 Prozent der official returns vermutet. 690 Brims, ebd., S. 163f. 691 Vgl. HMC (Hg.), Laing Mss., in: Report of the Historical Manuscript Commission on the Laing Manuscripts Preserved at the University of Edinburgh, Bd. II, London 1925, S. 628f., 635f. 692 Elliot, Partners, S. 146. 689 226 MacMahon und Samuel Turner den Versuch, in England zu agitieren.693 Insbesondere Coigley gelang es, den militanten Flügel der LCS unter dem Etikett „United Britons“ bzw. „United Englishmen“ ins Boot zu holen.694 Derweil agitierten die United Scotsmen im Norden Englands.695 An Bemühungen mangelte es also nicht, die Allianz zum Funktionieren zu bringen. Das Problem war jedoch, daß die United Scotsmen und die United Englishmen von Anfang an nur Ableger der irischen Hauptorganisation darstellten, die sich vor allem aus irischen Emigranten und Flüchtlingen sowie ein paar Hundert englischen und schottischen Radikalen speiste. Nie gelang es, eine tragfähige Massenbasis herzustellen, welche die schottischen und englischen Radikalen zu vollwertigen Partnern der United Irishmen gemacht hätte. JOHN BRIMS skeptische Bilanz, daß „es keine Hinweise darauf gibt, daß die United Scotsmen irgendeinen Versuch unternommen hätten, auch nur die beschränkteste Form aufständischer Aktivität in Unterstützung ihrer irischen Alliierten zu organisieren“ läßt sich daher praeter propter auch auf die United Englishmen übertragen.696 Die Bedeutung der Kooperation lag vor allem darin, daß die United Irishmen so über Agenten in Großbritannien verfügten, die sie vor allem dafür verwendeten, Informationen zu sammeln, und daß sie ihre schottischen und englischen „Mobilisierungserfolge“ in Irland als Mobilisierungsinstrument und gelegentlich auch zur Stärkung der Moral ihrer dortigen Anhänger einsetzen konnten. Es klingt paradox, ist aber dennoch zutreffend, daß für beide Entwicklungen – das Zustandekommen einer interinsularen radikalen Kooperation und deren Scheitern – britische Repressionen verantwortlich waren: Ohne das harte Durchgreifen der Behörden gegen die British Convention und die anschließenden State Trials gegen führende Reformer wäre die schottische und die englische Reformbewegung nicht in dem Ausmaß geschwächt und gleichzeitig radikalisiert worden, das den Anschluß an die United Irishmen überhaupt erst möglich machte. Wenn andererseits eine solche Allianz später entstanden wäre – ohne die vorherige Schwächung der britischen Radikalen – dann hätte daraus eine ernste Gefahr für den inneren Frieden Großbritanniens mit der Perspektive einer briti- 693 D. Keogh (Hg.), A Patriot Priest, The Life of Father James Coigly, 1761-1798 (Originaltitel: The life of the Rev. James Coigly, an Address to the People of Ireland, as Written by Himself During His confinement in Maidstone Gaol, London 1798), Cork 1998 (Irish Narratives), S. 14f. 694 Elliott, Partners, S. 146-149. 695 Ebd., S. 145. 696 Für die United Scotsmen vgl. Brims, Scottish Radicalism, S. 164-166, Zitat S. 165; für die United Englishmen mit fast exakt dem gleichen Urteil vgl. Elliott, ebd., S. 149. 227 schen Revolution nach französischem Vorbild entstehen können. So blieb es lediglich ein weiteres Intermezzo in den fortlaufenden Versuchen der United Irishmen, Partner und Bundesgenossen für ihren Kampf gegen das irische Kolonialregime, die Ascendancy und ab 1796 gegen Großbritannien zu gewinnen. Irische Seeleute in der britischen Marine. Einen Sonderfall der subversiven Aktivitäten irischer Radikaler in Großbritannien stellt die Unterwanderung der britischen Flotte in den Jahren 1797-1798 dar. In den Kriegsjahren 1796-1798 befand sich Großbritannien in einer verzweifelten innen- und außenpolitischen Lage. Von seinen kontinentalen Alliierten Preußen und Österreich verlassen, mußte Großbritannien, das unter einer ernsten Finanzkrise und kriegsbedingten Rezession litt, die Kriegslast gegen das revolutionäre Frankreich allein tragen. Friedensverhandlungen mit Frankreich, die Großbritannien eine Atempause hätten verschaffen können, wurden von französischer Seite im März 1796 abgebrochen und im Dezember 1796 wurde der britische Unterhändler Malmesbury in einem Akt kalkulierter diplomatischer Demütigung aus Paris ausgewiesen.697 Auf sich allein gestellt hing der Schutz Großbritanniens allein von seiner Flotte ab – und just dort kam es ab Dezember 1796 andauernd zu Unruhen und Meutereien, die sich wie eine Epidemie in den verschiedenen Flottenverbänden verbreiteten.698 Alle beteiligten Seiten wurden von diesen Ereignissen völlig überrascht. Die Franzosen waren natürlich entzückt – der französische Direktor La RéveillièreLepeaux konnte selbst in einer Sitzung des Direktoriums vor Lachen über ein Bonmot aus der französischen Tagespresse, welche die britische Flotte hämisch als „schwimmende Republik“ bezeichnet hatte, kaum an sich halten – versäumten aber, die britische Schwäche zu nutzen.699 Die britische Regierung dagegen war selbstredend ebenso entsetzt wie die irische Kolonialverwaltung, denn eine französische Invasion war unter diesen Umständen zumindest in Irland nicht mehr abzuwenden.700 Für die britische Seite war von Anfang an klar, daß die Meuterei nur durch die Subversion irischer und französischer Agenten hervorgerufen wor- 697 Elliott, ebd., S. 134. Den Anfang machte die Nordseeflotte im Dezember 1796, gefolgt von der Kanalflotte im Februar 1797, im April folgten die Schiffe, die in Portsmouth, Plymouth und Spithead stationiert waren, im Mai griff die Meuterei auch auf die Nore Flotte und den Flottenverband in Yarmouth über. Bis Juli hatte die Meuterei auch die Schiffe am Kap der guten Hoffnung und bis Oktober 1797 sogar diejenigen im Indischen Ozean erreicht. Vgl. ebd., S. 134f. 699 Ebd., S. 136. 700 So zumindest Lecky, History of Ireland 4, S. 171. 698 228 den sein konnte.701 Das stimmte zwar anfänglich nicht – es ging den Seeleuten um eine Anhebung der Heuer, um eine bessere Lebensmittelversorgung und eine humanere Behandlung der Mannschaften durch die Offiziere702 –, aber die United Irishmen erblickten nun in der Tat neue Chancen, um die britische Seite militärisch zu schwächen und so eine bessere Ausgangsposition für den geplanten Aufstand in Irland zu schaffen. Seit dem Ausbruch des Krieges im Jahr 1793 hatte die britische Admiralität eine wenig zimperliche Rekrutierungspolitik betrieben und entlassene Strafgefangene und soziales Strandgut aller Art in die Marine gezogen – darunter auch eine ganze Anzahl von verurteilten United Irishmen und Defenders, die den Repressionsmaßnahmen der britischen Truppen in Irland seit 1795 zum Opfer gefallen waren, sowie Seeleute der irischen Handelsmarine, die von Rekrutierungskommandos zum Dienst gepreßt worden waren.703 Theobald Wolfe Tone, der ab 1796 als Emissär der United Irishmen beim französischen Direktorium tätig war, verstieg sich in einem seiner Memoranden für Lazare Carnot zu der kühnen Behauptung, daß Irland 80.000 – und damit knapp zwei Drittel – der 135.000 britischen Seeleute und Marinesoldaten gestellt habe.704 Die tatsächliche Anzahl lag wohl nur zwischen 15.000 und 25.000.705 Aber auch in dieser Größenordnung stellten die irischen Seeleute eine Bedrohung für die Funktionsfähigkeit der britischen Flotte dar, denn die Schiffsbesatzungen, die 1798 aus Sympathie mit der „Great Rebellion“ meuterten, bestanden tatsächlich zu mindestens 50 Prozent aus Iren.706 Hinsichtlich der britischen Wahrnehmung über die Verursacher der Meutereien ist aufschlußreich, daß die Mehrheit derjenigen Seeleute, die für ihre Teilnahme an den Meutereien nach Australien deportiert wurden, ebenfalls aus Iren bestand.707 Selbst wenn also die Meutereien von Spithead, Portsmouth und Plymouth nicht von irischen Seeleuten angezettelt wurden, ändert das nichts an der Tatsache, daß es a) ein deutlich erkennbares, spezifisch irisches Protestpo- 701 Elliott, Partners, S. 137. Vollständige Liste der Gravamina der Meuterer bei Lecky, History of Ireland 3, S. 169f. 703 Besonders drastisch hierzu Lecky, History of Ireland 4, S. 173f., moderater Elliott, Partners, S. 136. 704 Theobald Wolfe Tone, First Memorial on the Present State of Ireland, Delivered to the French Govnment, February 1796, in: T. Bartlett (Hg.), Life of Theobald Wolfe Tone, Compiled and Arranged by William Theobald Wolfe Tone, Dublin 1998, S. 603-612, S. 611. 705 H. W. Wilson, United Irishmen in die British Fleet, in Macmillan’s Magazine, London 1898, S. 340-347, S. 340, Elliott, Partners, S. 138. 706 Elliott, ebd., S. 138. 707 G. Rudé, Protest and Punishment, The Story of the Social and Political Protesters Transported to Australia, 1788-1868 Oxford 1778, S. 183f. 702 229 tential in der britischen Flotte gab und daß b) die britische Obrigkeit von der Regierung bis zur Admiralität offensichtlich davon ausging, daß irische Radikale hinter den Meutereien steckten. Die United Irishmen zogen aus dem Ausbruch der Meutereien im Jahr 1796 ihre eigene Konsequenz und versuchten mit viel Energie, die britische Flotte zu unterwandern. Auf einigen Schiffen seiner Majestät wurden verräterische Kassiber gefunden – darunter auch die United Irish Eidformel und Aufrufe, in denen die Mannschaften dazu ermutigt wurde, bei Ausbruch eines Aufstands in Irland ihre Offiziere zu töten und die Schiffe nach Frankreich oder nach Irland zu entführen.708 Auch drängten United Irishmen nun verstärkt in die britische Marine: Allein bis Juli 1797 ließen sich etwa 1.200 von ihnen als Seeleute anwerben.709 Die Meuterer wurden zusätzlich aus Irland mit Geld versorgt, das die United Irishmen auf Jahrmärkten und per Subskription sammelten.710 Trotz dieses groß angelegten Unterwanderungsprojekts führten die Meutereiversuche, die ab etwa Mitte 1797 tatsächlich auch von der United Irish Organisation angezettelt wurden, nicht zum gewünschten Erfolg, weil sie frühzeitig entdeckt und die Rädelsführer hart bestraft wurden.711 Die United Irish Agitation mag die Meutereien verlängert haben und die Gefahr, daß die Rebellion in der Flotte weitere Kreise schlug war durchaus real,712 aber die Anfälligkeit der United Irishmen gegenüber Spitzeln und das rigorose Durchgreifen der Marineoffiziere verhinderten, daß die britische Flotte dadurch 1798 in ihrer Funktionsfähigkeit behindert wurde. Die fehlende Zusammenarbeit zwischen irischen und englischen Katholiken. Angesichts der diversen politischen Kooperationsachsen zwischen Irland und Großbritannien ist auffällig, daß Vergleichbares für die irischen und englischen Katholiken selbst in den turbulenten 1790er Jahren nicht aufzufinden ist.713 Dieser 708 Wilson, United Irishmen, S. 343, 346f. Elliott, Partners, S. 142. 710 Ebd. 711 Wilson, United Irishmen, S. 340. 712 So auch Elliott, Partners, S. 143. 713 Die Tatsache, daß keine Zusammenarbeit im engeren Sinne zustande kam, soll jedoch nicht bedeuten, daß es nicht auch in diesem Feld Verbindungen zwischen England und Irland gegeben hätte. So vertritt etwa Eamon O’Flaherty die These, daß die Aktivitäten des Katholischen Komitees in Irland ab 1789 durch die Agitation englischer Katholiken beeinflußt worden sei. Vgl. E. O'Flaherty, Irish Catholics and the French Revolution, in: Gough/Dickson, Ireland, S. 52-67, S. 56f. Das mag insofern richtig sein, als es eine zeitliche Koinzidenz gegeben hat und nicht anzunehmen ist, daß die Katholiken diesseits und jenseits der irischen See keinen regen Informationsaustausch miteinander unterhalten hätten, aber andererseits sind solche Verbindungen, die nicht zu einer konkreten politischen Zusammenarbeit führten, zu vage, um hier berücksichtigt zu werden. 709 230 Befund ist um so verwunderlicher, als das Catholic Committee entsprechend seines Anspruchs, eine repräsentative Interessenvertretung für den katholischen Adel, Klerus und das katholische Bürgertum darzustellen, in der Tat spätestens seit 1778 so etwas wie eine eigene englische ‚Außenpolitik‘ betrieb: Seit diesem Zeitpunkt nämlich, der nicht zufällig mit der Agitation für Gardiners ersten Catholic Relief Act zusammenfällt, leistete sich das Catholic Committee bis 1792 einen ständigen Interessenvertreter in London.714 Der Londoner „Agent“ des Catholic Committee hatte vor allem die Aufgaben eines Lobbyisten, der britische Parlamentarier und andere politisch wichtige Personen für die Emanzipation der irischen Katholiken einnehmen sollte und dementsprechend über gute gesellschaftliche und politische Kontakte verfügen mußte, eines Nachrichtenoffiziers, der für die irischen Katholiken relevante Nachrichten sammelte und nach Dublin weiterleitete, und eines politischen Repräsentanten, der stellvertretend Gänge und Sondierungsgespräche für das Catholic Committee unternahm.715 Angesichts dieser vielfältigen, verantwortungsvollen Aufgabenbereiche liegt der Vergleich des Agentenamts mit dem eines – allerdings von britischer Seite nicht akkreditierten und daher inoffiziellen – Botschafters der irischen Katholiken in London durchaus nahe. Der Grund, warum trotz alledem keine Kooperation zwischen den irischen und den englischen Katholiken feststellbar ist, ist relativ simpel: Alle anderen Kooperationen zwischen englischen und irischen Gruppen waren auf beiderseitigen Vorteil angelegt – von einer Kooperation zwischen irischen und englischen Katholiken hätten jedoch nur die englischen Katholiken einen Vorteil erwarten können. 714 MBCC, Eintrag vom 11.11.1768, S. 32: „That it is the opinion of this committee [gemeint ist das Select Committee, ein ständiger Ausschuß mit ursprünglich rein beratender Funktion, der sich im Laufe der Zeit jedoch zum Führungszirkel des gesamten CC mauserte – MR] that it will be highly necessary for us to have a resident agent in London to transact our lawfull business there.“ Für die Kosten wurden freiwillige jährliche Beitragszahlungen von den Mitgliedern des CC erhoben. Vgl. ebd. Das Amt des Londoner Agenten hatte zwischen 1778 und 1791 der Londoner Anwalt Daniel Macnamara inne (ebd., S. 33, 73), wobei die Formulierung, daß man Macnamara bitten werde, sein Amt „fortzusetzen“ nahelegt, daß er bereits vor 1778 hier und da für das CC als Agent tätig war (Vgl. ebd., S.33). 1791/92 wurde das Amt von Richard Burke, dem Sohn Edmund Burkes, wahrgenommen – natürlich auch um die politischen Kontakte des Vaters für die Emanzipation der irischen Katholiken nutzbar machen zu können. Vgl. Wall, Keogh, S. 166. Wegen seines hitzköpfigen, undiplomatischen Auftretens war Burke Jr. jedoch kein geeigneter Mann für den Posten und wurde darum bereits 1792 wieder entlassen. Vgl. Bartlett, Rise and Fall, S. 148. Sein Nachfolger wurde niemand Geringeres als Theobald Wolfe Tone, der bis zu seiner Verhaftung 1794 im Amt blieb. 715 In den Protokollen des CC liest sich das sehr viel lakonischer; dort heißt es bloß, der Agent solle in London ansässig sein und dort die rechtlichen Geschäfte des CC erledigen. Vgl. ebd., S. 231 Das hängt mit der außerordentlichen Schwäche der katholischen Bevölkerung in England zusammen: Die Katholiken machten in England nur einen verschwindend geringen Prozentsatz der Bevölkerung aus, der sich zwischen 1685 und 1780 um über 75 % auf lediglich 70.000 Personen verkleinerte.716 Auch politisch hatten sie seit ihrer Beteiligung am ersten Stuart-Aufstand von 1715, die zu neuen antikatholischen Repressionen und Verfolgungsmaßnahmen des anglikanischen Staats führte, nichts mehr zu melden: Die Strafgesetze gegen die englischen Katholiken waren strenger als selbst die irischen Penal Laws!717 Aus diesem Grund stellten die englischen Katholiken aus irisch-katholischer Sicht keinen hoffnungsvollen Partner, sondern lediglich eine Belastung dar. Außerdem hätte eine Kooperation aber auch protestantischen Ängsten vor einer katholischen Verschwörung und katholischen Restaurationsabsichten neue Nahrung gegeben und den protestantischen Widerstand gegen die katholische Emanzipation auf beiden Seiten der irischen See verstärkt. Wenn man bedenkt, daß alle wichtigen Catholic Relief Acts (1778, 1782, 1793) auf britischer Initiative beruhten und mit erheblichem britischen Druck im irischen Parlament durchgesetzt wurden, wird vollends klar, warum das Catholic Committee keinen Wert darauf legte, das in jahrelanger Agitation mühsam und teuer erkämpfte Wohlwollen der britischen Seite durch einen Pakt mit den – politisch nutzlosen – englischen Katholiken aufs Spiel zu setzen. Fazit. Die wohl wichtigste Erkenntnis aus der Betrachtung der anglo-irischen Beziehungen ist die Modifizierung der Wahrnehmung über den Handlungsspielraum und das politische Potential irischer Regimegegner. Waren diese uns bisher aus der inneririschen Perspektive als Akteure vertraut, die primär reagierten, so hat dieses Kapitel gezeigt, in welchem Umfang und mit welchen, zum Teil einschneidenden, Konsequenzen sie auf der politischen Bühne auch agieren konnten. Das relativiert eine Sicht der irischen Bevölkerung, die mit einem kolonialen Interpretationsansatz nur zu leicht einhergeht: nämlich eine Festlegung der irischen Akteure auf eine Opferrolle. Sowohl auf der parlamentarischen als auch auf der außerparlamentarischen Ebene stellten die irischen Akteure beides dar: Agens und Reagens. Die zweite wichtige Erkenntnis, welche den im kolonialen Interpretationsansatz fast deterministisch angelegten Stellenwert der Machthierarchie zwi33. Ein genauerer Eindruck über die Aufgabenbereiche des Londoner Agenten lassen sich jedoch aus den Aktivitäten des Dubliner Agenten, Owen Hogan, ableiten. Vgl. ebd., S. 26. 716 Maurer, Geschichte Englands, S. 274. 717 Vgl. Wall, Penal Laws, S. 8. 232 schen Kolonialmacht und Kolonisten bzw. zwischen Kolonisten und Kolonisierten relativiert, ist, daß die anglo-irischen Beziehungen nicht nach dem Prinzip einer Einbahnstraße funktionierten, in der vom übermächtigen kolonialen Mutterland beliebig alle Weichen gestellt wurden. Der Perspektivwechsel hat eine ganze Reihe von Rückkoppelungseffekten zutage gefördert, durch welche die britische Seite – unter dafür günstigen Voraussetzungen – aus Irland unter Zugzwang geriet: Das gilt sowohl für den wirtschaftlichen Bereich, für die Kooperation der parlamentarischen Oppositionen in Irland und England und für die Subversionsversuche der United Irishmen. Das hilft, die historische Situation der 1790er Jahre – trotz der vernichtenden Niederlage von 1798/99 – auch aus der Retrospektive als ergebnisoffen begreifen zu können: Die Gegner des irischen Kolonialregimes und der kolonialen Verbindung zwischen Irland und Großbritannien wurden nicht wie eine tumbe Herde Schafe vom anglo-irischen Regime in Irland oder von Großbritannien vor sich her und zur Schlachtbank getrieben, sie hatten Handlungschancen und sie versuchten, diese zu nutzen. Dabei bewegten sie sich – das ist die letzte wichtige Feststellung – mit ebenso großer Selbstverständlichkeit auf der britischen politischen Bühne wie die Kolonialmacht Großbritannien sich in Irland bewegte – eine Einsicht, die man sich nur allzu schnell verstellt, wenn man in den klassischen Formen irisch-republikanischer Nationalgeschichtsschreibung denkt. 233 2. Irland und Amerika Vermittels der gemeinsamen Kolonialmacht Großbritannien standen Irland und die späteren USA im 18. Jahrhundert in einem Verhältnis zueinander, das durch den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg vollständig auf den Kopf gestellt wurde. Bis zum Ausbruch der kriegerischen Auseinandersetzungen in Lexington (18.4.1775) diente Irland als die ältere der beiden Dominions den britischen Gesetzgebern in den amerikanischen Kolonien als Modell: Der in den amerikanischen Kolonien 1766 erlassene Declaratory Act war praktisch eine Kopie des 1719 in Irland erlassenen, gleichnamigen Gesetzes.718 Die amerikanische Wahrnehmung Irlands. Es ist daher auch nicht verwunderlich, daß Irlands Proteste gegen die Superiorität des britischen Parlaments den amerikanischen Widerstand gegen britische Ansprüche beeinflußten: Die auf Unabhängigkeit drängenden amerkanischen Kolonisten – allen voran Benjamin Franklin und John Adams – rekurrierten auf William Molyneux und andere irische „Patrioten“, um ihren Anspruch auf konstitutionelle Unabhängigkeit mit Argumenten zu unterfüttern.719 In ihren Augen stellte Irland – wie OWEN DUDLEY EDWARDS treffend bemerkt – eine ganze Reihen von Dingen dar: Einen konstitutionellen Präzedenzfall, einen potentiellen militärischen Bundesgenossen, ein Terrain für diplomatische Ablenkungsmanöver und ein Land, das auf eine fruchtbare ökonomische Kooperation in der Zukunft hoffen ließ.720 Am deutlichsten trat das anläßlich des Besuchs Benjamin Franklins in Dublin im Jahr 1771 zutage. Franklin konferierte mit führenden irischen „Patrioten“ und schrieb später über diese Begegnungen: „Ich fand sie Amerika gegenüber freundlich gesonnen und bemühte mich, sie darin zu bestärken, indem ich ihnen in Aussicht stellte, daß unser wachsendes Gewicht eines Tages in ihre Waagschale geworfen werden könnte und daß für uns wie für sie von dieser Nation [England – MR] eine gerechtere 718 O.D. Edwards, The Impact of the American Revolution on Ireland, in: The Impact of the American Revolution Abroad, Papers Presented at the Fourth Symposium, May 8 and 9, 1975, Washington 1976, S. 127-159, S. 127f. 719 Lecky, History of Ireland 1, S. 158; Edwards, Impact, S. 128; ergänzend dazu ders., The American Image of Ireland: A Study of its Early Phases, in: Perspectives in American History 4 (1970), S. 214-241. 720 Edwards, Impact, S. 128. Franklin und die Gebrüder Adams bezogen sich nicht nur auf Molyneux, sondern auch auf Robert Molesworth und Charles Lucas. Vgl. Dickson, New Foundations, S. 142. 234 Behandlung erhalten werden könne, wenn wir unsere Interessen mit den ihren vereinten.“721 Die irische Wahrnehmung von den transatlantischen Kolonien. Wie aber sah es auf der anderen Seite des Atlantiks, in Irland, aus? Dort hatte man bis zum heraufziehenden Unabhängigkeitskrieg die amerikanischen Kolonien vor allem als begehrten Handelspartner und als Auswanderungsziel im Blick.722 Interessanterweise standen jedoch in Irland die von amerikanischer Seite betonten Parallelen der konstitutionellen Situation Irlands mit der in den amerikanischen Kolonien zunächst keineswegs im Vordergrund. Im Gegenteil: William Molyneux, der anglo-irische Ideenlieferant Franklins und Adams, hatte 1698 noch mit Verweis auf die ‚echten‘ Kolonien in Amerika Irlands konstitutionellen Sonderstatus reklamiert: „Erscheint es nicht wegen der Verfassung Irlands offensichtlich, daß es sich um ein in sich vollständiges Königreich handelt? Tragen nicht die Könige von England neben ihren übrigen Königreichen den Titel Irlands im Namen? Verträgt sich das mit dem Wesen einer Kolonie? Benutzen sie auch den Titel 723 eines Königs von Virginia, Neuengland oder Maryland?“ Mit dem Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges schlug die öffentliche Meinung in Irland gegenüber den amerikanischen Kolonien jedoch jäh um: Nun wurden Stimmen laut, daß – wie ein irischer Parlamentarier blumig formulierte – die Amerikaner in Fresko darstellten, was die Iren in Wasserfarbe seien.724 Die Kriegsgegner führten außerdem ins Feld, der Krieg gegen die amerikanischen Kolonien sei ungerecht, da die Amerikaner ein Recht hätten, sich willkürlicher Besteuerung zu widersetzen und außerdem habe das Beispiel der „Glorious Revolution“ gezeigt, daß nicht jeder Widerstand gegen die Krone grundsätzlich den Tatbestand der Rebellion erfülle.725 Mit Ausnahme der Castle-treuen Presse hieben die Printmedien in dieselbe Kerbe: „Wir sind hier alle Amerikaner“, notierte ein Korrespondent aus Cork.726 Was steckte hinter diesem relativ abrupten Sinneswandel? 721 Lydon, Making, S. 249. (meine Übersetzung) Ähnlich auch John Adams: „Of their [die irische – MR] friendly disposition, we do not yet despond; aware, as they must be, that they have nothing more to expect from the same common enemy, than the humble favour of being last devoured.“ Zitiert nach Edwards, Impact, S. 134. 722 Zum Handel vgl. Dickson, Foundations, S. 118f; Foster, Modern Ireland, S. 201f. Zur Auswanderung nach Amerika vgl. Foster, ebd., S. 216. 723 Zitiert nach Boyce, Nationalism, S. 102. (meine Übersetzung) 724 Foster, Modern Ireland, S. 241. 725 O'Connell, Irish Politics, S. 27. 726 Beckett, Making, S. 207; ähnliche Äußerungen auch bei Edwards, Impact, S. 135. 235 Das wird sehr schnell deutlich, wenn man sich anschaut, wer diese öffentliche Meinung konstituierte, die natürlich vom zur Loyalität verpflichteten Kolonialapparat um den Lord Lieutenant in Dublin Castle nicht geteilt wurde. Hinter der amerika-freundlichen Haltung steckten in seltener Einigkeit sowohl die anglikanische, anglo-irische Kolonialelite als auch das „Patrioten“-Lager und die ‚Outs‘ um Ponsonby und den Herzog von Leinster im Parlament, die radikalen Presbyterianer aus Ulster, deren Presse die Ereignisse in den amerikanischen Kolonien minutiös nachzeichnete, und ab 1778 auch die Volunteers, welche die außerparlamentarische Opposition bündelten und mit der innerparlamentarischen um Lord Charlemont, Henry Flood, Barry Yelverston und natürlich Henry Grattan vernetzten.727 Mit anderen Worten: Alle gesellschaftlichen Kräfte, die aus Eigennutz oder prinzipiellen Gründen an einer Aufwertung des irischen gegenüber dem britischen Parlament interessiert waren und daher konstitutionelle Parallelen zwischen Amerika und Irland erblicken wollten – gleichviel, ob sie tatsächlich vorhanden waren. Denn de facto gab es genug Gründe, die gegen eine solche Gleichstellung Irlands mit den amerikanischen Kolonien sprachen: Im Gegensatz zu den amerikanischen Kolonien war Irland verfassungstheoretisch und -technisch durchaus ein eigenes Königreich, verfügte sogar über ein eigenes Parlament, ohne dessen Zustimmung während des 18. Jahrhunderts in Irland niemals Steuern erhoben wurden.728 Dementsprechend ging es aus irischer Sicht eigentlich auch nicht darum, auf naturrechtlicher Basis neue Rechte einzufordern (wie das die amerikanischen Kolonisten taten), sondern darum, die alten Selbstbestimmungsrechte Irlands wiederherzustellen.729 Dieser Umstand erklärt auch, warum – wie D. GEORGE BOYCE ausführt – irische Gegner der Superiorität des englischen bzw. britischen Parlaments (im Prinzip seit Molyneux) weniger auf Verfassungstheorie als auf historische Präzedenz abhoben und selten amerikanisches Material verwendeten, um ihre Position argumentativ zu verstärken.730 Der springende Punkt, an dem die irische Pro-Amerika-Fraktion ihre Parallelitätsthese konstitutionell festmachte, war jedoch, daß das britische Parlament auf der Grundlage von Poynings‘ Law und des 727 Dickson, New Foundations, S. 142f. Einige Zeitgenossen behielten diese Unterschiede durchaus im Blick. Der unabhängige Abgeordnete, Sir Hercules Langrishe, griff in den 1770er Jahren Molyneuxs Differenzbestimmung zwischen Amerika und Irland wieder auf, indem er notierte, daß Irland „an ancient kingdom [war – MR], great in its own growth, entrenchend behind an ancient constitution, co-equal and co-eval with England.“ Zitiert nach McDowell, Irish Public Opinion, S. 48. 729 So auch Henry Grattan im Jahr 1780, vgl. Boyce, Nationalism, S. 111. 728 236 Declaratory Act von 1719 potentiell dazu in der Lage gewesen wäre, Irland ohne parlamentarische Zustimmung zu besteuern – und zwar völlig legal.731 Die Interessenbasis irischer Wahrnehmungen. Tatsächlich jedoch standen hinter der These, daß eine konstitutionelle Parallele zwischen Irland und den amerikanischen Kolonien bestand, in Irland handfeste, gruppenspezifische Motive. Zum einen bot die imperiale Krise Großbritanniens den „Patrioten“ eine Gelegenheit, dem kolonialen Mutterland Zugeständnisse abzutrotzen. Das Kalkül war simpel: Mit den Problemen in den amerikanischen Kolonien behaftet würde Großbritannien alles tun, um die Entstehung eines zweiten Krisenherds in Irland zu vermeiden.732 Die Zugeständnisse, zu denen Großbritannien in Irland bis zum Pariser Frieden von 1783 gezwungen war – von der Abschaffung aller irischen Handelsbeschränkungen im Handel mit den amerikanischen Kolonien (24.2.1780) bis zur Abschaffung des Declaratory Act (21.6.1782) und zur Modifikation von Poynings‘ Law (27.7.1782) – belegen zweifelsfrei, daß diese Rechnung perfekt aufging. Für die Ascendancy, die natürlich auch keine Einwände gegen die Aufwertung des von ihr dominierten irischen Parlaments hatte, bedeutete die koloniale Krise in Amerika außerdem, daß ihre Kooperation für das koloniale Mutterland wertvoller wurde und daher zu einem höheren Preis verkauft werden konnte.733 Zudem erhielt sie hier die Chance, Macht zurückzugewinnen, die durch das energische Durchgreifen Lord Lieutenant Townshends verlorengegangen war.734 Politische Rachegedanken mögen dabei ebenfalls eine gewisse Rolle gespielt haben.735 Alle politischen Gruppierungen in der anglikanischen Bevölkerung waren schließlich auch aus konfessionell-politischen Gründen gegen die britische Amerikapolitik eingenommen. Hier bildete der Quebec Act von 1774, in dem West730 Ebd.; ebenso O’Connell, Irish Politics, S. 30f. Beckett, Making, S. 206. Prägnant auf den Punkt gebracht wurde diese Position vom irischen „Patrioten“ George Ogle, der im irischen Parlament während der Debatten zur Loyalitätsadresse an Georg den III. 1775 zu Protokoll gab: „If you vote the Americans to be rebels, for resisting a taxation where they are not represented, what can you say when the English will tax you?“ Zitiert nach O'Connell, ebd., S. 27. 732 Beckett, ebd., S. 207. 733 Entsprechend schwieriger wurde es für die Lord Lieutenants Harcourt und Buckingham das Parlament zu kontrollieren. Der Kontrollverlust schlug sich unmittelbar in der Free-TradeKontroverse nieder, die mit einem Einlenken Großbritannien endete. Ebd., S. 209-219. 734 Das erklärt, warum die Anhänger der Ponsonbys zur Pro-Amerika-Fraktion gehörten, denn Ponsonby als Mitglied des Undertaker-Triumvirats war von Townshend aus seinen Ämtern und dem Kronrat geworfen worden und mußte 1771 sein Präsidentenamt im Parlament niederlegen. 735 Zumindest vertritt O’Connell die These, daß die Konflikte in den amerikanischen Kolonien in der irischen Politik viel mehr dazu eingesetzt wurden, um Dublin Castle und die englische Regie731 237 minster den Katholiken in der Provinz Quebec, die 1763 von den Franzosen an Großbritannien abgetreten worden war, die freie Religionsausübung zusicherte, den Stein des Anstoßes. In der Befürchtung, daß dieses Beispiel in Irland Schule machen könnte, daß der Quebec Act als amerikanischer Präzedenzfall für eine Lockerung der Strafgesetze in Irland dienen könnte, fühlte sich die Ascendancy – wieder einmal – in ihren Grundfesten bedroht und reagierte entsprechend ablehnend.736 Die Presbyterianer aus Ulster hatten ihre eigenen Gründe, die amerikanischen Kolonisten zu unterstützen. Zum einen waren diese persönlicher Natur, denn die Kolonien in der neuen Welt waren während des gesamten 18. Jahrhunderts das Hauptziel presbyterianischer Emigration aus Ulster. Die Bedeutung dieser umfangreichen Wanderungsbewegung – allein zwischen 1769 und 1774 wanderten etwa 40.000 Presbyterianer aus Ulster nach Amerika aus, insgesamt waren es während des 18. Jahrhunderts rund eine Viertelmillion737 – schlug sich auch in der Konfliktwahrnehmung der presbyterianischen Bevölkerung nieder, da – wie der New Light Prediger Dr. William Steel Dickson 1776 anmerkte – „es kaum eine presbyterianische Mittelschichtfamilie unter uns gibt, die sich nicht mit den Einwohnern dieses ausgedehnten Kontinents verwandt fühlt.“738 Mit Stolz und Anteilnahme verfolgte man daher in Ulster die Erfolge der amerikanischen Armee, an denen zu einem nicht unerheblichen Teil die ‚Scotch-Irish‘ aus Ulster beteiligt waren.739 Aber auch aus prinzipiellen, ideologischen Gründen war der Krieg gegen die Kolonien in Ulster, den Dr. Dickson öffentlich als einen „wahnsinnigen Krieg“ verurteilte, nicht populär. Ein anderer Zeitgenosse, der presbyterianische Geistliche Dr. William Campbell, faßte die Stimmung in Ulster um die Mitte der 1770er Jahre retrospektiv mit den beredten Worten zusammen: „Die Presbyterianer aus Ulster verurteilen diesen Krieg als ungerecht, grausam und verachtenswert. Mit Sorge und mit Schrecken hielten sie ihn für den verwerflichsten, unprovoziertesten Despotismus. Ihre Freunde und Verwand- rung unter Druck zu setzen als aus einem genuinen Interesse daran, den amerikanischen Kolonisten moralische Unterstützung zuteil werden zu lassen. Vgl. O’Connell, Irish Politics, S. 31. 736 Besonders stark macht Owen Dudley Edwards die Konfession in seiner Argumentation, bürdet ihr dabei aber m.E. eine zu große Erklärungslast auf, denn anderen Komponenten wird hier wenig Beachtung geschenkt. Wertvoll ist aber immerhin die Erkenntnis, daß die irischen Amerikafreunde in ihren Reihen auch die entschiedensten Gegnern der katholischen Emanzipation hatten. Vgl. Edwards, Impact, S. 132-135; auch Dickson, New Foundations, S. 142. 737 Tesch, Radicalism, S. 42; Foster, Modern Ireland, S. 216. 738 Zitiert nach McDowell, Public Irish Opinion, S. 44; vgl. auch O’Connell, Irish Politics, S. 28, der sich ebenfalls auf McDowell beruft. (meine Übersetzung) 739 Dickson, New Foundations, S. 144. 238 ten befanden sich in großer Zahl in den verschiedenen Provinzen Amerikas und sie hörten mit Stolz, daß sie die Blüte von Washingtons Armee bildeten, um – getragen von einer angeborenen Freiheitsliebe – für die Sicherheit ihres angenommenen Heimatlandes jeder Gefahr ins Auge zu blicken.“740 Hier kam also wieder die radikale Komponente des Presbyterianismus zum Tragen, die Übergriffe der staatlichen Autorität auf individuelle Freiheitsrechte nicht duldete und den ‚Opfern‘ solcher staatlicher Zumutungen ein prinzipielles Recht auf Widerstand einräumte. Wie feindlich die Stimmung in Ulster von britischer Seite eingeschätzt wurde läßt sich bereits daran ablesen, daß man es 1775/76 vermied, in der Provinz Ulster Rekruten für den Einsatz in den amerikanischen Kolonien anzuwerben.741 Bezeichnend für die spezifisch irische Wahrnehmung des Kolonialkonflikts in Amerika ist, daß aus der katholischen Bevölkerung so gut wie gar keine Unterstützung für die amerikanischen Kolonisten kam. Im Hidden Ireland, dem gälischländlichen Teil der katholischen Bevölkerung, gab es zwar die eine oder andere Stimme, die sich mit Schadenfreude über englische Niederlagen in den Kolonien äußerte und Washingtons Erfolge feierte,742 aber der politisch aktive Teil der katholischen Bevölkerung unternahm alle erdenklichen Anstrengungen, um seine Loyalität unter Beweis zu stellen und verhielt sich außerordentlich kooperativ.743 Angesichts der Tatsache, daß den Katholiken in dem von protestantischer Seite vertretenen irisch-amerikanischen ‚Parallelitätsszenario‘ die Rolle der indianischen Ureinwohner zukam, war diese Orientierung wenig überraschend: Da die katholische Bevölkerung von der Ascendancy keine Erleichterung zu erwarten hatten, schlug sie sich halt auf die britische Seite – in der Hoffnung, daß im Gegenzug die Strafgesetze von Großbritannien zumindest teilweise abgeschafft wür- 740 Zitiert nach Tesch, Presbyterian Radicalism, S. 43. (meine Übersetzung) Dickson, New Foundations, S. 144. 742 Ebd. 743 Im September 1775 präsentierte das Catholic Committee Lord Lieutenant Harcourt eine Loyalitätsadresse, in der es seine „Abscheu über die unnatürliche Rebellion“ zum Ausdruck brachte, „die kürzlich unter einigen amerikanischen Subjekten seiner Majestät“ ausgebrochen sei und in unmißverständlichen Worten die uneingeschränkte Kooperation der katholischen Bevölkerung Irlands in Aussicht stellte: „We humbly presume to lay at his [Majesty’s – MR] feet, two millions of loyal, faithful, and affectionate hearts and hands, unarmed indeed, but zealous, ready and desirous to exert themselves strenuously in defence of his Majesty’s most sacred person and Government.“ Zitiert nach O’Connell, Irish Politics, S. 33; vgl. auch Lecky, History of Ireland I, S. 165. Diesem Angebot folgten durchaus Taten: Der katholische Adel setzte Rekrutierungsprämien für Katholiken aus, die sich von der britischen Armee oder Marine für den Kampf in den Kolonien anheuern ließen. Vgl. Wall, Loyalty, S. 124. Katholisch beherrschte Städte wie Limerick oder Kilkenny setzen ebenfalls Prämien für Dienstwillige aus. Vgl. Edwards, Impact, S. 135. 741 239 den. Protestantische Zeitgenossen in Irland betrachteten diese Entwicklung voller Mißtrauen und Sorge. 1775 schrieb John Ridge aus Dublin an Edmund Burke: „Die Römisch-Katholischen, die von ihren Mituntertanen anderer Konfession keinen Gefallen, kein Pardon erhalten und die der Regierung für eine gewisse Milde in der Anwendung der Gesetze [d.h. der Strafgesetze – MR] gegen sie zu Dank verpflichtet sind und die keine Freiheit besitzen ... sind bereit der Regierung ihre bettlerische Zustimmung zu geben.“744 Wie wir aus den Notizen Lord Shelbournes wissen, hatte sich an dieser Situation auch drei Jahre später noch nichts geändert: „Ich finde alle Klassen dieses Königreichs [Irlands – MR] viel mehr über Amerika in Unruhe versetzt als in England. Im Haus eines jeden Anglikaners oder Presbyterianers ist der etablierte Trinkspruch ‚Erfolg für die Amerikaner!‘. Bei den Römisch-Katholischen dagegen redet man nicht nur, man agiert auch sehr offen auf der anderen Seite. In verschiedenen Gegenden sind sie in Vereine eingetreten und haben großzügig gespendet, um Männer gegen Amerika zu rekrutieren, wobei sie ihre Abneigung gegen eine Verfassung in Amerika oder hier beschwören, an der zu partizipieren ihnen nicht gestattet ist.“745 In dieser Situation war die katholische Loyalitätspolitik geradezu perfekt geeignet, um katholische Emanzipationsforderungen relativ risikolos verwirklichen zu können. Einerseits konnte nämlich Großbritannien nicht allzu offensichtlich auf die katholischen Offerten eingehen, weil dies den Widerstand in der protestantischen Bevölkerung weiter gesteigert hätte, so daß zu keinem Zeitpunkt zu befürchten stand, daß die Kolonialmacht Tausende irischer Katholiken im Unabhängigkeitskrieg ‚verheizen‘ würden. Andererseits war Großbritannien aber auch nicht in der Position, die nachdrücklich vorgetragene katholische Kooperationsbereitschaft unbelohnt zu lassen und so die irischen Katholiken auch noch gegen sich aufzubringen. Das Resultat dieser Politik – die Catholic Relief Acts von 1778 und 1782 – zeigt, wie die katholische Bevölkerung aus dieser britischen Zwangslage politisches Kapital zu schlagen verstand. Während der katholische Adel und das katholische Bürgertum diese Politik bis in die frühen 1790er Jahre unverändert beibehielten, erlahmte der AmerikaEnthusiasmus der protestantischen Bevölkerung rasch. Zum einen war hierfür der Kriegseintritt Spaniens und Frankreichs – der katholischen ‚Erbfeinde‘ der AngloIren – auf Seiten der amerikanischen Kolonisten im Jahr 1778 verantwortlich, denn damit war eine konfessionell imprägnierte Deutung der transatlantischen 744 745 Zitiert nach Edwards, ebd., S. 135. (meine Übersetzung) Zitiert nach ebd. (meine Übersetzung) 240 Ereignisse zusehends schwieriger zu bewerkstelligen.746 Dazu kam, daß Frankreich Irland als britische Dependence auffaßte und daher mit einer Invasion bedrohte und die Aktivitäten von amerikanischen Korsaren und Schmugglern vor den Küsten Nordirlands allmählich brenzlig wurden.747 Aber auch die politischen Entwicklungen innerhalb Irlands sorgten dafür, daß die Amerikanische Revolution auf der irischen Politszene in den Hintergrund trat. Die Freihandelskontroverse von 1779 und der unmittelbar daran anschließende Kampf um die legislative Unabhängigkeit des irischen Parlaments, der in „Grattan’s Revolution“ von 1782 mündete, fanden zwar vor dem Hintergrund und unter der latenten Drohung statt, daß sich Irland für Großbritannien in ein Fiasko von amerikanischen Ausmaßen verwandeln könnte, aber die primären Trägergruppen des pro-amerikanischen Enthusiasmus Mitte der 1770er Jahre – allen voran die Volunteers und „Patrioten“ – waren vollauf mit der politischen Durchsetzung und Implementierung neudefinierter anglo-irischer Beziehungen beschäftigt. Der Wahrnehmungswandel in Irland nach „Grattan’s Revolution“. Erst nachdem die Umsetzung der Reformpläne, welche die Volunteer- Nationalversammlung 1783 in Dublin verabschiedete, am Widerstand des Parlaments gescheitert waren, wurde die amerikanische Revolution in Irland politisch für kurze Zeit wieder interessant. Der Gegensatz zwischen der neuen amerikanischen Republik mit ihrer schriftlich fixierten Verfassung, ihrer Religionsfreiheit und ihrer Trennung zwischen Staat und Kirche und Irland, das lediglich über eine legislative Unabhängigkeit verfügte, die aber das Grundproblem des korrupten Kolonialmanagements nicht einmal im Ansatz löste, lud die enttäuschten Volunteers geradezu zu einer idealisierenden Identifikation mit den USA ein. Die erste Dubliner Volunteerkompanie erklärte, mit den „glorreichen Brüdern der Volunteer-Bürger von Amerika“ eine unverbrüchliche Union bilden zu wollen. Die offene Frage, wie man den Einfluß der britischen Administration brechen wolle, wurde im radikalen Volunteer Journal am 10.5.1784 unter Verweis auf die USA 746 Ebd., S. 142. Maurer, Geschichte Irlands, S. 167; Edwards, ebd., S. 142; Lecky, History of Ireland I, S. 222; über die Aktivitäten John Paul Jones, des schottischen Korsaren in amerikanischen Diensten, der vor Belfast Lough im April 1778 die Drake kaperte, vgl. A.T.Q. Stewart, The Summer Soldiers: The 1798 Rebellion in Antrim and Down, Belfast 1995, S. xif. 747 241 dahingehend beantwortet, daß man „durch Stärke, Hartnäckigkeit und Geschlossenheit (...) unsere Feinde besiegen werde, ohne einen Schlag zu führen.“748 Auch wenn diese erneute Identifikation mit der amerikanischen Revolution zeitlich gesehen nur ein kurzes Intermezzo darstellte, weil die Entrüstung der Volunteers über den Rückzieher der „Patrioten“ bald einer kompletten politischen Apathie wich, so ist sie dennoch von nicht zu unterschätzender Bedeutung, weil sich hier eine neue Interpretation der Revolution in Irland abzeichnete, die bis zum Jahrhundertende von Bedeutung sein sollte: Von einem als parallel wahrgenommenen Fall rückten die frischgebackenen USA nun einerseits zu einem nachahmenswerten politischem Modell und andererseits zu einem bis zum Mythos idealisierten Referenzpunkt politischer Hoffnungen in Irland auf.749 Ab 1789 wandte sich der Blick der irischen Presse allmählich von den USA ab, traten die aktuellen Tagesereignisse in Frankreich in den Vordergrund. Aber selbst wenn Frankreich nun die Hauptaufmerksamkeit regimekritischer und oppositioneller irischer Gruppierungen zuteil wurde, bedeutete das keineswegs, daß die Amerikanische Revolution nun keinen wichtigen Bezugspunkt mehr für diesen Personenkreis darstellte. Die Aktualität der Französischen Revolution überlagerte die Amerikabegeisterung, sie substituierte sie nicht. Einen verläßlichen Indikator hierfür bilden die Kataloge der Trinksprüche, die auf den Bastilletagfeiern, die 1791 von den Belfaster Volunteers und dem Northern Whig Club ausgerichtet wurden, ausgebracht und in den nächsten Ausgaben oppositioneller Zeitungen abgedruckt wurden.750 Wegen des Anlasses der Feiern war natürlich klar, daß Toasts auf die revolutionären Entwicklungen in Frankreich im Vordergrund standen, aber weder die radikalen Belfaster Volunteerkompanien noch die sozial exklusiven und daher moderateren Reformer vom Northern Whig Club vergaßen, Toasts auf George Washington, das Andenken Benjamin Franklins und die „freien 748 Zitiert nach McDowell, Irish Public Opinion, S. 114. (meine Übersetzung) Smyth, Men, S. 84f. 750 Die Bedeutung, die diesem politischen Ritual beigemessen wurde, läßt sich schon daran erkennen, daß die Veranstalter solcher Feiern immer Sorge dafür trugen, daß die Toasts in der Presse veröffentlicht wurden. Vollends deutlich wird die Bedeutung jedoch, wenn man sich vor Augen führt, daß diese Trinksprüche von einem Komitee jeweils sorgfältig vorbereitet und nicht ad hoc ausgebracht wurden – „as it is usual in similar circumstances to make some necessary arrangements, and to agree upon certain toasts appropriate to the occasion, and expressive of the principles of the assembly, and the object of commemoration“, wie es dazu erläuternd im Nor-thern Star hieß. Vgl. NS, 14/4/1794. Im Dezember 1794 führte ein Streit über einen Toast auf Parlamentsreformen sogar zu eienr Spaltung des Katholischen Komitees, der die Friktionen zwischen der moderaten Mehrheit und der radikalen Minderheit im Catholic Committee anzeigte. Vgl. ebd. 749 242 Staaten von Amerika“ auszubringen.751 Überraschenderweise sind selbst von katholischer Seite solche Trinksprüche belegt.752 Erst als die protestantischen Reformer und die katholischen Emanzipationisten über genügend eigene ‚Helden‘ und ‚Erfolge‘ verfügten, wurden Trinksprüche auf auswärtige Lichtgestalten der Reformszene seltener, traten in der Reihenfolge der Toasts an das Ende der Liste oder verschwanden ganz.753 Das zeigt, daß die USA lange Zeit eine Art kompensatorisch angelegter Stellvertreterrolle in der Wahrnehmung irischer Reformer spielten, daß die Erfolge der amerikanischen Kolonisten gefeiert wurden, weil es an irischen Reformimpulsen und -erfolgen fehlte. Fazit. Was war also – zusammenfassend gefragt – die Bedeutung der Amerikanischen Revolution und der Vereinigten Staaten für die irische Gesellschaft im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts? OWEN DUDLEY EDWARDS warnt zurecht davor, den Einfluß der Amerikanischen Revolution in Irland zu hoch zu veranschlagen, weil Europa als Orientierungspunkt wesentlich höher rangiert habe als die USA, da es in Irland festere Kontakte nach Europa und größeres Wissen über europäi- 751 Zu politischen Orientierung des Northern Whig Club vgl. Curtin, United Irishmen, S. 42. Zu den Feiern der Belfaster Volunteers und der Northern Whigs vgl. Dublin Evening Post aus der zweiten Hälfte des Juli 1791. Auch die Reihenfolge der Toasts ist wichtig, um ihren relativen Stellenwert ermessen zu können: In diesem Zusammenhang ist aufschlußreich, daß die Toasts auf Amerika unmittelbar im Anschluß an die Toasts auf den Anlaß der Feierlichkeiten ausgebracht wurden. Das bekräftigt noch einmal die große Bedeutung, die der Amerikanischen Revolution und den USA im Weltbild der Reformkreise zugebilligt wurde. In Belfast wurden neben den Bildern von Mirabeau und Dumouriez auch Konterfeis von Washington und Franklin öffentlich aufgestellt und im März 1793 kam es zu Unruhen, weil Regierungstruppen versuchten, diese Bilder zu entfernen. Vgl. Lecky, History of Ireland 3, S. 194f. 752 Am Bastilletag 1792 reiste eine vierzehnköpfige Delegation des Katholischen Komitee nach Belfast, um auf Einladung presbyterianischer Radikaler an den Feiern teilzunehmen. Dabei nahmen sie natürlich auch an dem Toast-Ritual teil. Vgl. The Proceedings of the General Committee of the Catholics of Ireland, which sat in Dublin in the years 1792 and 1793, compared with the proceedings of the Catholic Committee which sat in Dublin in the years 1810 and 1811, Dublin 1811, S. v. Bei einem Dinner der „führenden Katholiken Belfasts“ am 21.4.1791 wurden dieselben Toasts auf Washington, Franklin und die USA ausgebracht, die man bereits von den Volunteers und den Northern Whigs kannte. Vgl. NS, 18/4/1791. 753 Auf der Toastliste der „true friends of liberty“ aus Cork vom 30.3.1793 fehlt jeder Verweis auf Franklin und der Trinkspruch auf Washington stand erst an 25. Stelle; auf der Toastliste des Katholischen Komitees für ein Dinner zu Ehren des Earl of Moira und des Duke of Leinster fehlt jeder Verweis auf Amerika; dito auf einer Veranstaltung der unabhängigen Wähler von Antrim vom 1.1.1794; dito auf einer Wahlfeier des unabhängigen Kandidaten in Co. Kerry im November 1794; dito auf einer Einwohnerversammlung in Belfast am 12.11.1794; auf der Toastliste für ein Dinner, welches das katholische Komitee für die freigesprochenen Besitzer des Northern Star am 27.11.1794 ausrichtete, tauchte der Name Washington zwar wieder auf, aber erst an vorletzter Stelle; auf einer Veranstaltung des Katholischen Komitees vom 12.12.1794 fehlt dagegen wieder jeder Verweis auf Amerika – die Tendenz ist also eindeutig. Einzig bei den United Irishmen spielte Amerika den Toasts nach zu schließen 1793 noch eine große Rolle: Dort wurde auf die USA, ihre ewige Freiheit und Unabhängigkeit sowie auf Washington getrunken. Vgl. NS, 17/4/1793, 21/8/1793, 24/8/1793, 2/1/1794, 27/11/1794. 243 sche als über amerikanische Zusammenhänge gegeben habe.754 Entscheidend ist jedoch nicht, was irische Reformer über die USA wußten, sondern was sie subjektiv zu wissen glaubten. Daher birgt EDWARDS skeptisches Urteil, daß „die [Amerikanische – MR] Revolution einige Iren radikalisierte wie sie einige Amerikaner radikalisierte“, deutlich zuviel Understatement: Die Amerikanische Revolution verlieh einerseits der irischen Opposition bis 1783 einen beträchtlichen Zuwachs politischen Handlungsspielraums gegenüber dem britischen Kolonialapparat, ohne den weder die Catholic Relief Acts von 1778 und 1782 noch die Verwirklichung der legislativen Autonomie Irlands möglich gewesen wären, und stellte andererseits ab 1782 – vor allem in irischen Reformkreisen, nicht dagegen in der breiten Bevölkerung – einen zentralen Anknüpfungspunkt ungeheuer großer politischer Hoffnungen dar. Gerade letzteres war von kaum zu unterschätzender Bedeutung für die politische Entwicklung Irlands in den 1790er Jahren: Die Amerikanische Revolution war nicht nur eine kulturelle Asservatenkammer, aus der irische Reformer und Radikale eine Menge politischer Argumente, Symbole und auch Idole entlehnen konnten, sondern vor allem im Kontext der internationalen Aufklärungsbewegung ein geradezu providentielles Zeichen, daß Widerstand machbar und die alte Ordnung nicht unbesiegbar war. Die Amerikanische Revolution ließ sich als donnernden Startschuß für einen fundamentalen Wandel westlicher Gesellschaften interpretieren und gab insofern auch irischen Reformern Hoffnung und Ansporn, denen die sie umgebenden gesellschaftlichen Zustände wenig Aussicht auf Besserung versprachen. Es ist kein Zufall, sondern direkt auf die Rezeption von Aufklärungsgedanken und die – wenn auch durch Vermittlung gebrochene und aufgrund politischer Wünsche idealisierte – Erfahrung der Amerikanischen Revolution zurückzuführen, daß ausgerechnet die United Irishmen, die irische Organisation mit dem nachdrücklichsten Reformwillen, ihre Gründungserklärung, 754 Edwards, Impact, S. 143. Diese These gewinnt an Glaubwürdigkeit, wenn man sich etwa die Enttäuschung vor Auge hält, die aus einem Brief des frisch ins amerikanische Exil gegangenen United Irishman Theobald Wolfe Tone an seinen Freund Thomas Russell in Belfast spricht: „Having now been a month in this Country and made many inquiries, I am a little more competent to speak my opinion than when I wrote last. The result of my observation is a most unqualified dislike of the people. They, I mean those of Philadelphia, seem a selfish, churlish, unsocial race totally absorbed in making money; a mongrel breed, half English, half Dutch, with the worst qualities of both countries. The spirit of commerce has eaten up all other feeling, and the price of mercantile wealth is, I promise you, little beneath the lofty pretensions of your Aristocracy.“ NAI 620/16/3/3 Tone an Russell (Philadelphia 1/9/95). Tone hatte sich ganz offensichtlich etwas anderes unter den ‚freien Staaten von Amerika‘ vorgestellt. 244 in der sie ihre politischen Ziele festlegten und der Öffentlichkeit vorstellten, mit der folgenden Präambel begannen: „In der jetzigen großartigen Reformära, in der ungerechte Regierungen in allen Teilen Europas fallen, in der religiöse Verfolgung gezwungen ist, ihrer Tyrannei über das Gewissen abzuschwören, in der die Menschenrechte (Rights of Men) in der Theorie bekräftigt und diese Theorie durch die Praxis erhärtet wird, in der die alte Zeit nicht länger absurde und unterdrückende Formen gegen den gesunden Menschenverstand (Common Sense) und die gemeinsamen Interessen der Menschheit verteidigen kann, in der alle Regierungen anerkennen, daß sie vom Volk ausgehen, und nur insofern verpflichtend sind als sie dessen Rechte schützen und sein Wohlergehen fördern – halten wir es für unsere Pflicht hervorzutreten und zu sagen, was wir als unsere schwere Bedrückung empfinden und was wir für die effektivste Heilung halten.“755 Dieser Text bietet in der Tat ein schönes Beispiel für typisch irische Aufklärungsrhetorik, die durch wenig Originalität, aber dafür um so mehr durch deutlich erkennbare Anleihen bei den Klassikern der Aufklärung (in diesem Fall: John Locke vermittelt über William Molyneux und Thomas Paine) glänzt. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Bedeutung der Amerikanischen Revolution für Irland ist jedoch viel aussagekräftiger, daß solch ein selbstbewußtes Auftreten nur durch absolute politische Gewißheit erklärlich ist, daß die United Irishmen ihre Erklärung im Brustton der Überzeugung abfaßten, weil sie sich sicher waren, daß gesellschaftlicher Wandel unabdingbar war. Eine der Quellen für diese politische Gewißheit war die Amerikanische Revolution und das ist – bezogen auf die 1790er Jahre – sicherlich die Quintessenz des Einflusses der Amerikanischen Revolution auf Irland. 3. Irland und Frankreich Im Vergleich zur Amerikanischen Revolution polarisierte das andere Großereignis des späten 18. Jahrhunderts – die Französische Revolution von 1789 – die irische Gesellschaft in einem viel höheren Ausmaß. Hatte die Amerikanische Revolution bei der protestantischen Bevölkerung zu lediglich unterschiedlich ausgeprägten Sympathieäußerungen geführt, denen sich die politische und soziale Elite der katholischen Bevölkerung primär aus einem strategischen Kalkül heraus (nicht notwendigerweise aus Mangel an Sympathie) verschloß, so schieden sich an der Französischen Revolution grundsätzlich die Geister. Der Grund dafür ist 755 NAI 620/18/14/139 245 nicht allein im kataklysmatischen Revolutionsverlauf ab Ende 1792 – dem Ausbruch des ersten Koalitionskriegs, der Absetzung und Hinrichtung Ludwigs XVI. sowie der nachfolgenden Terreur – zu suchen. Zumindest ebenso bedeutungsvoll für die gesellschaftlich polarisierende Wirkung der Französischen Revolution in Irland waren vorrevolutionäre Wahrnehmungen der irischen Bevölkerung von Frankreich. Daher stießen das Epochenjahr 1789 und die Wirren von 1793 und 1794 in Irland auf präexistente frankophile und frankophobe Orientierungen und Präferenzen der Bevölkerung, die sie lediglich verstärkten, während nur das numerisch relativ kleine, politisch radikale Bevölkerungssegment durch die Französische Revolution einen Impuls erhielt, der in die Entstehung neuer politischer Positionen resultierte. Die Ausgangslage: Vorrevolutionäre irische Wahrnehmungen von Frankreich. Zu Frankreich – Irlands nächstgelegenem Nachbarn auf dem europäischen Festland – bestanden vielfältige religiöse, familiäre, intellektuelle, wirtschaftliche und nicht zuletzt auch politische Beziehungen,756 die angesichts des langen Schlagschattens, den das britische Empire über Irland warf, aus deutscher Sicht nur zu leicht übersehen werden. Stellten für die anglo-irischen Anglikaner England und für die schottisch-irischen Presbyterianer in etwa gleichberechtigt Schottland und die USA die primären äußeren Bezugspunkte dar, so spielte Frankreich diese Rolle in Bezug auf die irischen Katholiken. Wie bereits verschiedentlich erwähnt repräsentierte Frankreich in ihren Augen nicht nur ein sicheres Refugium vor protestantischer Verfolgung, sondern – gerade in den jakobitisch imprägnierten katholischen Unterschichten – eine millenaristisch angehauchte Verheißung der Erlösung vom britischen Joch. Schließlich hatte Jakob Stuart nach seiner Niederlage an der Boyne 1691 dort die politische Unterstützung Ludwigs XIV. und einen sicheren Zufluchtsort, hatten seine Anhänger, die legendären ‚wild geese‘, in den irischen Brigaden der französischen Armee ein neues Betätigungsfeld gefunden. Nach Frankreich schickten katholische Adelige und Bürger ihre Söhne, um ihnen die akademische Ausbildung zuteil werden zu lassen, die ihnen in Irland verweigert wurde. In Frankreich wurde auch das Gros 756 R.B. McDowell, The Age of the United Irishmen: Reform and Reaction, 1789-94, in: Moody/Vaughan, History of Ireland 4, S. 289-373, S. 289. (Bemerkung zur Zitierweise: Zur Unterscheidung von einem weiteren Kapitel R.B. MCDowells in Moodys und Vaughans ,New History of Ireland‘, dessen Titel ebenfalls mit den Worten „Age of the United Irishmen“ beginnt, aber den Zeitraum von 1794-1800 behandelt wird dieses Kapitel nachfolgend als „Age I“ zitiert.) 246 der katholischen Priester ausgebildet, die in Irland ihr geistliches Amt ausübten, weil die Strafgesetze die Einrichtung katholischer Priesterseminare untersagten.757 Daß überdies irische Exilanten, die sich als Kaufleute in den französischen Atlantikhafenstädten niedergelassen hatten, ausgiebig mit ihren katholischen Glaubensbrüdern aus Limerick, Cork und Waterford Handel trieben, paßt ebenso ins Bild wie die Tatsache, daß selbst irisch-katholische Schmuggler aus dem Süden Irlands meist über exzellente Kontakte nach Frankreich verfügten. Mit einem Wort: Die Frankophilie des katholischen Teils der irischen Bevölkerung stellte ein unbestreitbares Faktum dar. Ganz anders dagegen positionierte sich die protestantische Bevölkerung Irlands. Gerade weil so enge Kontakte zwischen den irischen Katholiken und dem gleichkonfessionellen Frankreich bestanden, stufte die protestantische Bevölkerung Frankreich insgesamt als bedrohlich ein: Eine katholische Restauration, die mit französischer Hilfe herbeigeführt werden konnte, stellte schließlich nicht nur die Grundfesten der kolonialen Gesellschaftsordnung Irlands, sondern darüber hinaus essentiell auch das Leben und den Besitz der Protestanten auf irischem Boden in Frage. Gleichwohl besteht weiterer Differenzierungsbedarf, denn in der protestantischen Bevölkerung gab es – jenseits der allgemein geteilten Furcht vor einer französisch-irisch-katholischen ‚Verschwörung‘ – durchaus unterschiedliche Motive für Frankophobie, die zudem auch nicht überall gleich stark ausgeprägt war.758 Zum Verständnis der sehr unterschiedlichen Reaktionen der protestantischen Bevölkerung auf die Französische Revolution ist es daher notwendig, diese unterschiedlichen Motivlagen und die Variationsbreite der Frankophobie in den einzelnen sozialen und konfessionellen Untergruppen der protestantischen Bevölkerung zumindest grob zu kartographieren. Am stärksten ausgeprägt war die Frankophobie sicherlich in der Ascendancy, die bei einem katholischen Roll-back am meisten zu verlieren hatte: Sie „haßte die Franzosen als potentielle Förderer einer katholischen Rebellion in Irland.“759 In zweiter Linie gehörte die Frankophobie aber auch aufgrund der Muster kolonialen Kulturtransfers zur mentalen 757 Auf dem Festland gab es nicht weniger als 30 irische Priesterseminare zwischen Lissabon und Prag. Von den 600 Theologiestudenten, die jeweils in diesen Seminaren ausgebildet wurden, wurde die Hälfte in Frankreich und ein Drittel in Paris ausgebildet. Vgl. L. Swords, The Green Cockade, The Irish in the French Revolution, 1789-1815, Dublin 1989, S. 16. 758 Grundlegend hierzu G. O'Brien, Francophobia in Later Eighteenth-Century Irish History, in: Gough/Dickson, Ireland, S. 40-51. 759 Vgl. ebd., S. 42. 247 Grundausstattung der Ascendancy: Die englischen Kolonisten, die Ende des 17. Jahrhunderts nach Irland kamen, trugen den Haß auf die Franzosen – einen englischen Haß wohlgemerkt! – bereits im Marschgepäck.760 Zwischen der englischen und die anglo-irischen Frankophobie eröffnete sich jedoch im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine signifikante Divergenz: In Großbritannien verlor sie zumindest vorübergehend an Virulenz, weil Frankreich nach dem Scheitern des jakobitischen Aufstandes von 1745 im Inneren Großbritanniens keinen Angriffspunkt mehr besaß – die Jakobiten waren vernichtend geschlagen und die englischen Katholiken stellten bloß eine insignifikante Minderheit dar – und weil nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) auch die äußere Bedrohung durch Frankreich nachließ. Wie GERARD O’BRIEN bemerkt wurde „die Frankophobie in England als Schatten eines verblassenden religiösen Konflikts umdefiniert.“761 Diese Entwicklung vollzogen die anglo-irischen Kolonisten jedoch nicht mit: Wegen der inneririschen Situation (vor allem wegen der numerischen Überlegenheit der katholischen Bevölkerung) blieb die Furcht vor katholischen Aufständen weiterhin bestehen und die Frankophobie daher unverändert virulent. Während also die englische Abneigung gegenüber Frankreich sich unter den wandelnden Umständen des 18. Jahrhunderts modifizierte, blieb die anglo-irische Frankophobie nach wie vor in den konfessionellen Denkstrukturen des 17. Jahrhunderts gefangen und erwies sich auch dem aufgeklärten Katholizismus und der konsistent vorgetragenen katholischen Loyalitätspolitik gegenüber dem irischen Staat ab den späten 1740er Jahren als ausgesprochen resistent.762 Die presbyterianische Abneigung gegenüber Frankreich war weniger durch pragmatische Machtinteressen als vielmehr durch politisch-ideologische Prinzipien und historische Erinnerungen geprägt, die – in für die irischen Presbyterianer typischer Weise – in ein konfessionelles Gewand gekleidet wurden. Wenn man sich die bereits bekannten radikalen politischen und konfessionellen Positionen in der presbyterianischen Bevölkerung vergegenwärtigt, dann fällt es nicht schwer, ihre spezifischen Vorbehalte gegenüber Frankreich zu verstehen. Eingedenk der Tat760 Diese englische Abneigung gegenüber den französischen Erbfeinden hat Derek Jarrett sehr plastisch auf den Punkt gebracht: „Before the English learn that there is a God to be worshipped, they learn that there are Frenchmen to be detested.“ Vgl. D. Jarrett, The Begetters of Revolution: England’s Involvement with France, 1759-1789, London 1973, S. 18. Zum englisch-französischen Verhältnis vgl. auch J. Black, Natural and Necessary Enemies: Anglo-French Relations in the 18th Century, London 1986. 761 O’Brien, Francophobia, S. 41. 248 sache, daß z.B. die radikalen Covenanters nicht einmal das Resultat der ‚Glorreichen Revolution‘ in Großbritannien anerkennen wollten, weil dadurch die episkopale Struktur der anglikanischen Staatskirche festgeschrieben worden war,763 überrascht es nicht, daß sie der engen Verbindung zwischen dem französischen Staat und der katholischen Kirche nach dem von Ludwig XIV. vertretenen Motto „Ein König, ein Glaube, ein Gesetz“ nichts abgewinnen konnten. Katholiken waren den Presbyterianern per se verdächtig, galten sie ihnen doch als obrigkeitshörig, ignorant und bigott und insofern summarisch als incapaces libertatis.764 Jenseits dieser generellen Ablehnung des Katholizismus spielte aber auch die katholische Tradition der Verfolgung von Abweichlern und Andersgläubigen eine wichtige Rolle in der presbyterianischen Wahrnehmung von Frankreich: Die Hugenottenverfolgungen des 16. und 17. Jahrhunderts und die Aufhebung des Edikts von Nantes durch das Revolutionsedikt von Fontainebleau (22.10.1685), dem weitere Verfolgungsmaßnahmen folgten, die eine massive hugenottische Auswanderungswelle (unter anderem auch nach Irland) in Gang setzten, gaben der Frankophobie der Dissenter zusätzlich Nahrung. Durch die hugenottischen Flüchtlinge, die sich mehrheitlich in Dublin, aber auch in Cork, Waterford und vor allen Dingen in Lisburn – also mitten im Siedlungsgebiet der Dissenter in Ulster – niederließen,765 waren sie aus erster Hand über die Verfolgung ihrer calvinistischen Glaubensbrüder durch den französischen Staat (von den berüchtigten Dragonnades bis zu Bibelverbrennungen und Hinrichtungen auf dem Scheiterhaufen) bestens orientiert. Der dritte Ansatzpunkt für presbyterianische Frankophobie bestand in der absolutistischen Herrschaftsform des französischen Staates. Wie bereits geschildert setzten sich die Dissenter hartnäckig gegen jeden staatlichen Eingriff in die individuelle Religionsfreiheit zur Wehr und machten dabei auch vor der Monarchie nicht Halt. Vor diesem Hintergrund konnte der französische Absolutismus nur als eine Inkarnation der Willkürherrschaft erscheinen. Gemildert hätte dieser Eindruck lediglich dadurch werden können, daß Frankreich ein, vielleicht sogar das wichtigste Zentrum der Aufklärung war. Dazu kam es wegen der bekannten engen kulturellen Beziehungen zwischen Schottland und Ulster jedoch 762 Ebd., S. 42f. Tesch, Radicalism, S. 40. Ähnliches gilt aber auch für die Seceders. Vgl. ebd., S. 39. 764 K. Whelan, United and Disunited Irishmen, The State and Sectarianism in the 1790s, in: ders., Tree, S. 99-130, S. 100. 765 Vgl. Simms, Protestant Ascendancy, S. 26. 763 249 nicht: Die Dissenter rezipierten die Aufklärung via Schottland. Kurz und pointiert: Das katholische, absolutistische Frankreich stellte in den Augen der Dissenter ein ‚Reich des Bösen‘ von geradezu babylonischem Ausmaß dar. Das hilft auch zu verstehen, warum sich ausgerechnet in Belfast, also im Herzen des presbyterianischen Siedlungsgebiets, 1778 die ersten Volunteerkompanien zur Verteidigung gegen eine potentielle französische Invasion zusammenfanden. Der Wendepunkt von 1789: Irische Reaktionen. Die Französische Revolution schlug auch in Irland ein wie eine Bombe. Keiner der zeitgenössischen Beobachter und Akteure konnte sich den revolutionären Ereignissen in Frankreich entziehen, jeder mußte sich auf die eine oder andere Art dazu positionieren. Wie Wolfe Tone aus der Retrospektive treffend bemerkte: „Die Französische Revolution wurde zum Test für die politische Überzeugung eines jeden (...)“766 Selbst Edmund Burke, der sich kurz darauf als dezidierter Revolutionsgegner entpuppte, konnte sich dem Zeitgeist nicht entziehen: „Unsere Gedanken an alles was sich Zuhause ereignet sind ausgesetzt durch unser Erstaunen über das wundervolle Spektakel, das in einem benachbarten und rivalisierenden Land aufgeführt wird – was für Zuschauer und was für Schauspieler!“767 Unter dem Eindruck der Revolution kam es partiell durchaus zu politischen Konversionen, vor allem aber verursachte die Französische Revolution in Irland eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft und Verhärtung der politischen Fronten.768 Beides – Konversionen und Polarisierungen – sind analog auch in Hinsicht auf die irische Wahrnehmungen von Frankreich feststellbar. Die Reaktion der Ascendancy. Solange sie sich noch damit beruhigen konnte, daß die Ereignisse in Frankreich nichts weiter darstellten als die um 100 Jahre verspätete ‚gallische‘ Version der „Glorreichen Revolution“, verhielt sich die Ascendancy abwartend. Sobald aber absehbar wurde, daß es den französischen Revolutionären nicht bloß um konstitutionelle Reformen, sondern um die Abschaffung der Monarchie und die Ausrufung einer Republik ging, verwandelte sich die Position der Ascendancy von beobachtender Anteilnahme in entsetzte Abwehr. Denn nun hatte Frankreich in der Wahrnehmung der anglo-irischen Kolonialelite eine neue Bedrohungsqualität angenommen: Zusätzlich zur Gefahr einer franzö766 Bartlett, Life, S. 38. (meine Übersetzung) Zitiert nach McDowell, Age I, S. 289. (meine Übersetzung) 768 So auch die Wahrnehmung Wolfe Tones, der von der Entstehung einer „aristokratischen“ und einer „demokratischen Partei“ berichtet. Vgl. Bartlett, Life, S. 38. 767 250 sisch-irisch-katholischen Kooperation bestand nun auch die Gefahr der Zusammenarbeit zwischen französischen Revolutionären und ‚umstürzlerischen Elementen‘ im benachbarten Ausland wie z.B. in Irland.769 Entsprechend groß war der Beifall, den Edmund Burkes vernichtende Kritik an der Französischen Revolution, die Anfang November 1790 unter dem Titel „Reflections on the Revolution in France“ erschien, von der alarmierten Ascendancy erhielt. Sofort begann die Kolonialelite damit den Text, der ihre Ansichten so brillant in Worte goß, in der irischen Gesellschaft zu verbreiten und den illustren Autoren zu ehren: Bereits am 9. November begann das dem Castle gefügige Freeman’s Journal damit, die Reflections abzudrucken, und ehe noch der Monat um war, war in den Dubliner Buchläden eine irische Edition des Werkes zu haben. Burke selbst erhielt von seiner irischen Alma mater, dem Trinity College, das einen integralen Bestandteil des Ascendancy-Establishments bildete, die Ehrendoktorwürde verliehen.770 Burke, der in der Französischen Revolution eine Mischung aus „Verbrechen, Sittenlosigkeit, Chaos, Narretei und Wahnsinn“ erblickte, benutzte die Gelegenheit zu einem Plädoyer für die katholische Emanzipation, einem lange verfolgten Wunschprojekt: Um der revolutionären Ansteckungsgefahr zu widerstehen, so argumentierte er, müsse man alle gesellschaftlichen Kräfte sammeln, die an der Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung interessiert seien – und dazu zählte er explizit die Reste des katholischen Adels und das neue katholische Bürgertum, die aufgrund ihrer „religiösen Prinzipien, ihrer Kirchenpolitik und ihrer habituellen Disziplin“ gewissermaßen ‚natürliche Konservative‘ darstellten.771 Diesem Teil der Burke’schen Argumentation schloß sich die Ascendancy natürlich nicht an. Die Reaktion der Katholiken war wesentlich komplexer, weil dieser Teil der Bevölkerung der kulturell und sozial heterogenste war. Es ist zweifelhaft, ob die katholischen Unterschichten auf dem Lande überhaupt die Signifikanz der Französischen Revolution vollständig erfaßten – zumindest suggerieren das die spärlichen Quellen über die katholischen Defenders, also den noch am ehesten politi769 ‚Benachbartes Ausland‘ mag auf den ersten Blick ein wenig übertrieben klingen, aber man muß sich vor Augen halten, daß zwischen Brest und Cork nur knapp 500 km Wasserfläche liegen, also in etwa die Strecke Kiel-Frankfurt. Auch bei den Transportbedingungen des 18. Jahrhunderts war das keinesfalls unmöglich und die französischen Invasionsversuche in Bantry Bay, Killala Bay und am Lough Swilly belegen das eindeutig. 770 Zur Verleihung der Ehrendoktorwürde und den irischen Veröffentlichungen der Reflections vgl. McDowell, Age I, S. 290 u. Anm. 1, ebd. Zur Rolle des Trinity College im anglo-irischen Establishment vgl. Foster, Modern Ireland, S: 124f. 251 sierten Teil der katholischen Landbevölkerung.772 Es ist auf jeden Fall bezeichnend, daß an verschiedenen Orten die katholische Landbevölkerung – nach jahrelanger, großflächiger Propagandaarbeit der United Irishmen – die Franzosen immer noch nur als katholische Glaubensbrüder (also nach traditionell jakobitischer Manier) wahrnahmen. Die Tagebuchnotiz eines französischen Offiziers, der an General Humberts Irlandkampagne teilnahm, spricht Bände: „die Mehrzahl kannte die Franzosen nicht einmal dem Namen nach... Diese unglücklichen Insulaner waren deshalb aber nicht weniger begeistert von der Freiheit ... sie betrachten uns als ihre geborenen Befreier und Beschützer ihrer Religion, die katholisch ist.“773 Das war nicht die einzige Überraschung, welche die Franzosen im Kontakt mit der irischen Landbevölkerung erlebten, die ihnen von den Emissären der United Irishmen (wie Wolfe Tone und Arthur O’Connor) aus taktischen Gründen immer in den glühendsten Farben als durch und durch revolutionär und politisch aufgeklärt geschildert worden war. Als Humberts Truppen 1798 in Killala Bay landeten und in der kleinen Hafenstadt gleichen Namens einzogen, standen die Bauern in ihren zerrissenen Kitteln am Straßenrand, hielten in ihren Händen Rosenkränze, berührten die Uniformen der Offiziere ehrfurchtsvoll mit ihren Fingern (so wie gläubige Katholiken auch heute noch Reliquare berühren oder küssen) und erklärten die Franzosen zu ‚Erlösern‘, die gekommen seien „um die Waffen für Frankreich und die gesegnete Jungfrau“ zu ergreifen.774 Kurzum: Humbert wurde begrüßt, als ob er ein Nachfahre der Stuarts775 oder ein Heiliger sei und nicht ein typisches Produkt der Revolution – ein Bauernsohn aus den Vogesen, der sich unter Hoche in der Vendée durch ungewöhnliche Waghalsigkeit ausgezeichnet 771 Vgl. R.B. McDowell, Burke and Ireland, in: Dickson, United Irishmen, S. 102-114, S. 108, Zitate ebd. (meine Übersetzung) 772 Vgl. Elliott, Ireland, S. 79. Elliott belegt, daß die Defenders zwar Versatzstücke aus der französischen Revolutionsrhetorik übernahmen, zugleich wird aber auch deutlich, daß diese Entlehnungen mit einer merkwürden katholischen Firnis versehen wurden, wenn etwa – wie in einem der Defenderkatechismen – die Franzosen als ihresgleichen, als French Defenders, bezeichnen. Vgl. ebd. Ähnlich skeptisch äußert sich auch Tom Dunne, der den Defenders zwar (wie der ,popular culture‘ überhaupt) ein recht hohes Ausmaß politischen Bewußtseins attestiert, andererseits aber darauf verweist, daß revolutionäre Metaphern lediglich einen neuen Anstrich für traditionell, jakobitische Ideen darstellten und daß sich die traditionelle Semantik im Regelfall sehr rasch gegenüber der revolutionären durchsetzte. Vgl. T. Dunne, Popular Ballads, Revolutionary Rhetoric and Politicisation, in: Gough/Dickson, Ireland, S. 139-155, S. 146. Ähnlich auch bei Smyth, Men, S. 113, 115. 773 Zitiert nach M. Elliott, The Origins and Transformation of Early Irish Republicanism, in: IRSH 23 (1978), S. 405-428, S. 419. (meine Übersetzung) 774 Elliott, Partners, S. 224. 775 Vgl. Elliots Bemerkungen über das kulturell tief in der katholischen Landbevölkerung verankerte mittelalterliche Königskonzept. Elliott, Ireland, S. 81 und Anm. 32, ebd. 252 hatte und es so trotz mangelnder Bildung zum Brigadegeneral gebracht hatte.776 Diese Reaktion der katholischen Landbevölkerung war vermutlich authentischer als die exzentrische Mischung aus traditionalen und revolutionären Versatzstücken, die in den Defenderkatechismen in Erscheinung treten, denn hier ist nie ganz auszuschließen, daß die Formulierungshilfen kleinbürgerlicher Vermittler die Aussage der Quellen verzerrten.777 Insgesamt muß man daher davon ausgehen, daß sich an der traditionellen Frankreichwahrnehmung der katholischen Landbevölkerung als dem mythischen Land, aus dem die jakobitischen Erlöser vom englischen Joch kommen würden, durch die Französische Revolution wenig änderte. Anders dagegen lagen die Dinge im katholischen Bürgertum, Adel und Klerus. Der katholische Adel und der Klerus reagierten entsprechend ihrer sozialen Lage – mit anfänglicher Zurückhaltung und zunehmender Distanzierung. Die im Juni 1790 in Frankreich verabschiedete Zivilverfassung des Klerus, die praktisch einer Enteignung gleichkam,778 bildete für den katholischen Klerus in Irland den Rubikon,779 die katholischen Adeligen erreichten ihn – wie ihre anglo-irischen Standesgenossen – spätens zwischen September 1792 und Januar 1793, also zwischen der Ausrufung der Republik und der Hinrichtung Louis Capets. Die äußerlich sichtbare Folgen der Distanzierung des katholischen Adels und Klerus richteten sich jedoch nicht gegen Frankreich, sondern gegen die radikalemanzipatorische Fraktion im Katholischen Komitee. Diese nahmen nämlich die Französische Revolution und die damit einhergehende Entspannung antikatholischer Vorurteile in presbyterianischen Kreisen zum Anlaß, um mit den Radikalen aus Ulstern eine Allianz zu schmieden und die vollständige Beseitigung der Strafgesetze und Gleichstellung der Katholiken zu fordern.780 Die kon- 776 M. Elliott, The Role of Ireland in French War Strategy, 1796-1798, in: Gough/Dickson, Ireland, S. 202-219, S. 204f. 777 Dunne, Ballads, S. 146f. 778 Zur Zivilverfassung des Klerus vgl. den entsprechenden Artikel von Francois Furet in: F. Furet u. M. Ozouf, Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, Bd. 2 (Institutionen und Neuerungen, Ideen, Deutungen und Darstellungen), Frankfurt/M. 1988, S. 944-955. 779 Grundlegend dazu: D. Keogh, The French Disease: The Catholic Church and Radicalism in Ireland, 1790-1800, Blackrock 1993, S. 29-33; vgl. auch ders., Archbishop Troy, the Catholic Church and Irish Radicalism, 1791-3, in: Dickson, United Irishmen, S. 124-134, S. 125. 780 E. O'Flaherty, Irish Catholics and the French Revolution, in: Gough/Dickson (Hgg.), Ireland and the French Revolution, Dublin 1990, S. 52-67, S. 59f.; Wall, Keogh, S. 165f. Vgl. hierzu auch die entsprechenden Pamphlete von Wolfe Tone und Theobald McKenna (dem Verfasser der Gründungserklärung für die Catholic Society). T. Wolfe Tone, („A Northern Whig“), An Argument on Behalf of the Catholics of Ireland, In Which the Present Political State of That Country, 253 servative katholische Oberschicht aus Klerus und Adel war über diese Entwicklung zutiefst besorgt und machten dafür den verderblichen Einfluß der Französischen Revolution verantwortlich. Dr. Caulfield, der Bischof von Ferns, erklärte in einem internen Schreiben an den Erzbischof von Dublin, Dr. Troy: „Der teuflische Geist der Jakobiner wird uns alle ruinieren.“ Der Widerstand, den die katholische Elite im Catholic Committee (CC) gegen die Radikalen geltend zu machen versuchte, resultierte in ihrer vollständigen Isolation: Im Dezember 1791 wurde Lord Kenmare, der Kopf der Adels- und Klerusfraktion im CC, formell aus dem Komitee ausgeschlossen, weil er im Alleingang versucht hatte, mit Dublin Castle zu verhandeln,. Aus Solidarität und im Bewußtsein, daß sie gegen die radikalen Mittelstandskatholiken unter der Führung John Keoghs, Thomas Braughalls und Theobald McKennas ohnehin nichts mehr ausrichten konnten, verließ daraufhin die ganze alte Garde der katholischen Aristokraten und Kleriker das CC.781 Insbesondere die Bischöfe unter Führung Troys mobilisierten – auch auf Anweisung des Vatikans!782 – anschließend alle Kräfte, um die Verbreitung radikalen Gedankenguts in der katholischen Bevölkerung zu verhindern, stieß dabei aber auf Widerstand und taube Ohren.783 Erzbischof Troy war schließlich zum Einlenken gezwungen, weil seine Schäfchen (die Mittelstandskatholiken) ihm in Scharen davonliefen.784 Die Ereignisse von 1791/92 indizieren eine deutliche Polarisierung innerhalb der inoffiziellen politischen Vertretung der irischen Katholiken, die zwar nicht durch die Französische Revolution direkt herbeigeführt wurde, aber dennoch ursächlich damit zusammenhing. Es gibt zwei Indikatoren dafür: Erstens der Umstand, daß die Konflikte im CC, die bereits seit Anfang der 1780er Jahre latent bestanden, erst 1791/92 offen ausbrachen, und zweitens die Tatsache, daß das CC seit 1784 im Prinzip vollständig inaktiv gewesen war und nun scheinbar plötzlich zu einem neuen Anlauf ansetzte, die katholische Emanzipation zu erwirken – und das mit ungewöhnlich massivem Auftreten, denn nun forderte das CC and the Necessity of a Parliamentary Reform are Considered, Addressed to the People, and More Particularly to the Protestants of Ireland, Dublin 1791; T. McKenna, Declaration of the Catholic Society of Dublin, Dublin 1791 (fortan zitiert als DecCS). 781 Wall, Keogh, S. 166f.; Keogh, Archbishop Troy, S. 126. 782 Kardinal Antonelli ermahnte Troy im Dezember 1791 aus Rom, er möge dafür sorgen, daß der Gehorsam der Katholiken gegenüber der Regierung auf jeden Fall gewahrt werde. Dummerweise konnte Troy den Einfluß, der dazu nötig gewsen wäre, gar nicht mehr aufbringen. Vgl. O’Flaherty, Irish Catholics, S. 61; Keogh, ebd., S. 126. 783 Zu den Gegenmaßnahmen der Bischöfe vgl. die ausführliche Darstellung bei Keogh, French Disease, S. 38-43. 784 Keogh, Archbishop Troy, S. 127f.; Bartlett, Fall, S. 148f. 254 das prinzipielle Recht der Katholiken auf Gleichstellung ein, statt wie bisher unter Verweis auf ihr Wohlverhalten um Zugeständnisse vom Staat zu bitten.785 Diese Vorgänge sind nur zu erklären, wenn man sich den Reaktionen der radikaleren Mittelstandskatholiken und der protestantischen Reformer und Radikalen auf die Französische Revolution zuwendet. Die bürgerlichen Emanzipationisten im CC reagierten auf den Ausbruch der Französischen Revolution, indem sie eine zweigleisige Politik verfolgten. Auf der einen Seite nutzten sie den Handlungsspielraum, den ihnen Burke mit seinen Reflections eröffnet hatte, indem sie in ihrer neuen Kampagne zur Abschaffung der Strafgesetze auf sein Argument abhoben, daß man die Katholiken von den Strafgesetzen befreien müsse, um zu verhindern, daß sie sich den radikalen Elementen anschlossen. Genial war Keoghs Schachzug, sich dafür der Unterstützung keines Geringeren als Edmund Burke selbst zu versichern, indem dessen Sohn, Richard Burke, vom CC zum Londoner Agenten berufen wurde. Dieser Schritt sicherte dem CC den Zugang zu Burke senior, dessen Reputation wegen der Veröffentlichung der Reflections im Zenit stand, und über Burke zu einflußreichen Mitgliedern des britischen Kabinetts wie namentlich dem britischen Innenminister Henry Dundas, dessen Portefeuille auch für irische Angelegenheiten zuständig war.786 Um ihrem Anliegen mehr Nachdruck zu verleihen, warnte Burke davor, daß es zu einer Allianz zwischen den Katholiken und den Presbyterianern kommen könnte.787 Parallel dazu organisierte das CC eine katholische Nationalversammlung in 785 Vgl. DecCS, S. 81: „We desire only that property in our hands may have ist natural weight, and merit in our children its rational encouragement. We have sworn allegiance to our sovereign, and the very evils we complain of prove how inviolabe is our attachment to such obligations. We respect the peeragae, the ornament of the state, and bulwark of the people; interposing, as we hope the Irish Catholics will experience, mediatory good offices between authority and the objects of it. We solicit a share of interest in the existence of the commons. Do you require an additional test? We offer one more unequivocal than a volume of abjurations. We hope to be free, and will endeavour to be united. Do ysou require new proofs of sincerity? We stood by you in the exigencies of our country. We extend our hands, the pledge of cordiality. Who is he that calls himself the friend to IRELAND, and will refuse us?“ (Hervorhebungen im Orignal – MR) Da es sich bei der Catholic Society um eine Abspaltung radikaler Katholiken vom Catholic Committee handelte, sind ihre Ansichten für die radikalen Emanzipationisten durchaus repräsentativ. 786 O’Flaherty, Irish Catholics, S. 58f.; Wall, Keogh, S. 166. 787 Vgl. Wall, ebd., S. 166. Gleichwohl verwendete Burke das Argument auch gegenüber irischen Parlamentariern. Vgl. Burke, Letter to Langrishe, S. 267: „Suppose the people of Ireland divided into three parts; of these (I speak within compass) two are Catholic. Of the remaining third onehalf is composed of Dissenters. There is no natural union between those descriptions. It may be produced. If the two parts of Catholics be driven into close confederacy with half the third part of Protestants, with a view to a change in the constitution in Church or State, or both, and you rest the whole of their security on a handful of gentlemen, clergy, and their dependants; compute the strength you have in Ireland to oppose to grounded discontent, to capricious innovation, to blind popular fury, and to ambitious turbulent intrigue.“ 255 Dublin, auf der die Delegierten die Forderung nach vollständiger Beseitigung der Strafgesetze absegnen sollten. Diese Nationalversammlung, die Anfang Dezember 1792 in Tailor’s Hall in Dublin zusammentrat, beriet sich, verabschiedete diverse Resolutionen und formulierte eine Petition, die von einer fünfköpfigen Delegation unter der Führung Keoghs dem König in London persönlich vorgelegt werden sollten – ein Novum, weil Petitionen normalerweise dem Lord Lieutenant vorgelegt werden mußten, der eigenständig darüber entschied, ob er solche Schriftstücke nach London weiterleitete oder nicht.788 Das Resultat der Verhandlungen in London war, daß den Katholiken zwar nicht die vollständige Abschaffung der Strafgesetze, wohl aber das aktive (wenn auch nicht das passive!) Wahlrecht zugestanden wurde.789 Der Umfang des britischen Entgegenkommens reflektiert die Verhandlungsmacht der katholischen Delegation, die auf zwei Umständen beruhte: Einerseits dem britischen Zwang zur Zurückhaltung, weil bei Ankunft der katholischen Delegation in London bereits der Ausbruch des Krieges mit Frankreich absehbar war und zweitens wegen wiederholter Offerten protestantischer Radikaler und Reformer, mit den Katholiken zusammenzuarbeiten. Damit sind wir an dem Punkt angelangt, wo wir uns mit der Reaktion protestantischer Radikaler auseinandersetzen müssen. Die Reaktion protestantischer Radikaler und Reformer auf die Französische Revolution fiel zunächst weder spontan noch sonderlich enthusiastisch aus. Selbst der erste Jahrestag des Sturms auf die Bastille verstrich in Irland ohne öffentliche Feiern.790 Das zeigt vor allem wie schlecht es um die Organisation der radikalen Kräfte in Irland bestellt war: Seit dem Zusammenbruch der Volunteerbewegung nach dem gescheiterten Reformversuch von 1783 befanden sich die irischen Radikalen gewissermaßen in einem Winterschlaf – und auch ein Jahr nach dem Ausbruch der Französischen Revolution rieben sie sich noch verschlafen ihre Augen.791 Die öffentlich sichtbare Reaktion der Radikalen auf die Französische Re788 Vgl. Wall, Keogh, S. 169; Bartlett, Fall, S. 149-152 (Catholic Convention), S. 155 (Verhandlungen in London). 789 Bartlett, ebd., S. 156f. und Wall, ebd., S. 167f. – dort auch zur anschließenden Debatte im CC, ob sich die Delegation von den britischen Diplomaten mit zuwenig hatte abspeisen lassen. Wall bejaht diese These, die von Tone und anderen Radikale vertreten wurde, Bartletts Urteil ist deutlich vorsichtiger, weil er davon ausgeht, daß mehr als das aktive Wahlrecht zum gegebenen Zeitpunkt einfach nicht zur Diskussion stand. 790 Smyth, Men, S. 91. 791 Implizit gab auch Wolfe Tone zu, daß die Reformkräfte in Irland bis zum Ausbruch der Französischen Revolution paralysiert waren: „The French Revolution had awakened all parties in the nation from the stupor in which they lay plunged from the time of the dispersion of the ever me- 256 volution setzte in Irland erst als Reflex auf die von Burkes und Paines Veröffentlichungen 1790/91 losgetretene Debatte ein. Burkes Veröffentlichung hatte die irischen und englischen Liberalen schockiert: Ausgerechnet ein ausgewiesener Liberaler und elder Statesman, der unter Rockingham ein Ministeramt bekleidet hatte, vollzog nun eine Kehrtwende um 180 Grad und griff den liberalen Hoffnungsträger Frankreich an.792 Um so dankbarer griffen sie Thomas Paines Antwort auf, deren erste Dubliner Edition im März 1791 erschien: The Rights of Man, Part I. Paines Werk war ein Bestseller in Irland: Allein im Jahr 1791 hatte das Buch mindestens sieben Auflagen, die ersten drei Auflagen (insgesamt ca. 10.000 Exemplare) waren bereits zwei Monate nach Erscheinen des Werks vergriffen – und das, obwohl das Werk gleich in drei Dubliner und einer Belfaster Zeitung in Auszügen oder als Serie veröffentlicht wurde.793 In Belfast genoß Paines Schrift, wie Wolfe Tone lakonisch im Oktober 1791 in seinem Tagebuch notierte, alsbald Kultstatus: „Paines Buch [The Rights of Man – MR], der Koran von Blefescu [=Belfast – MR].“794 Der Grund für die rasante Verbreitung des Werkes war, daß die Veröffentlichung von Anfang an von diversen Reformorganisationen subventioniert wurde.795 Paines Schrift enthielt nichts, mit dem die radikaleren Reformern nicht bereits vertraut waren – das Prinzip der Volkssouveränität, das Widerstandsrecht gegen eine ungerechte, korrupte Regierung, die tyrannische Qualität eines monarchischen Systems, das nur qua Tradition legitimiert sei, das aber der neuen Ära der Vernuft werde weichen müssen usw. –, aber die Klarheit und polemische Kraft der Sprache, mit der Paine sein Reformprojekt verteidigte, gab irischen Reformern neue Hoffnung und Ausdrucksformen.796 Mit zwei knappen morable volunteer convention [dem Nationalkongreß der Volunteers in der Rotunda von 1783 – MR], and the citizens of Belfast were the first to raise their heads from the abyss, and to look the situation of their country steadily in the face.“ Bartlett, Life, S. 43f. 792 D. Dickson, Paine and Ireland, in: Ders. u.a. (Hgg.), The United Irishmen, Republicanism, Radicalism and Rebellion, Dublin 1993, S. 135-150, S. 137. 793 Ebd., S. 138. 794 Vgl. Bartlett, Life, S. 119. ‚Blefescu‘ ist eine phonetische Verballhornung des Wortes ‚Belfast‘, die Tone regelmäßig zur Bezeichnung der Stadt verwendete. Entlehnt hat er dieses Wort natürlich aus Jonathan Swifts ‚Gullivers Reisen‘: ‚Blefescu‘ ist die Hauptstadt von Lilliput. 795 Die Whigs of the Capital, eine Gruppe moderater Reformer mit exklusivem sozialen Hintergrund, die sich am 26.6.1789 in Dublin konstuiert hatte, warfen eine billige Ausgabe der Rights of Man auf den Markt, die zum Preis von 6 d. in zwei Tranchen etwa 20.000 Exemplare absetzte. Das Unternehmen wurde qua Subkription finanziert. Vgl. Dickson, Paine, S. 138. Auch die United Irishmen verteilten Exemplare gratis. Vgl. Smyth, Men, S. 92f. 796 Zum Inhalt der Rights of Men vgl. Dickson, ebd., S. 140 u. Curtin, United Irishmen, S. 22f.; zum Einfluß des Werks vgl. McDowell, Age I, S. 290; Curtin, United Irishmen, S. 22 und v.a. Smyth, Men, S. 92, der exemplarisch nachweist, wie Paines Sprache in die politische Sprache der United Irishmen eindrang. Die Stimme einer weiblichen Zeitgenossin belegt die Durchschlagskraft 257 Sätzen faßte er die heimlichen Hoffnungen der irischen Regimekritiker zusammen: „Nach dem zu urteilen, was wir gerade sehen, sollte keine Reform der politischen Welt für unmöglich gehalten werden. Dies ist ein Zeitalter der Revolution, in dem man auf alles hoffen darf.“797 Den irischen Oppositionellen und Reformern ging es primär um Bestärkung ihrer Kritik, um massenwirksame, polemische Statements, nicht um philosophische Aussagen. Das läßt sich nicht zuletzt daran ablesen, daß sein antiklerikales Age of Reason – „verdammter Müll“, wie Wolfe Tone ungnädig urteilte – aus bürgerlichen und vor allem presbyterianischen Reformkreisen vorwiegend Kritik auf sich zog.798 Als Ikone und – nach seiner Flucht nach Frankreich im September 1792 – auch als Märtyrer der Oppositionellen allerdings ist Paines Bedeutung schwer zu überschätzen.799 Die Französische Revolution und die Renaissance der irischen Reformbewegung. 1791, das Veröffentlichungsjahr der Rights of Man, stellt parallel dazu den Zeitpunkt dar, an dem wieder Bewegung in die außerparlamentarische Opposition in Irland kam: Neben den moderaten Reformansätzen bei den Whig Clubs unternahmen die Volunteers erste Schritte, um ihre Anfang 1793 gescheiterte Kampagne für Parlamentsreformen auf den Weg zu bringen, das Catholic Committee begann mit seiner offensiveren Emanzipationspolitik, Katholiken und Dissenter traten in einen schwierigen, aber hoffnungsvollen Dialog über politische Zusammenarbeit ein und im Oktober 1791 gründeten radikale Volunteers in Belfast die erste Gesellschaft der United Irishmen.800 Mit einem Wort: Die periphere Opposider Paine‘schen Rhetorik: „I never liked kings and Paine has said of them what I always suspected, thruth seems to dart from him in such plain and pregnant terms, that he, or she who runs may read...“ Vgl. Martha McTier an William Drennan 28.10.1791, zitiert nach McDowell, Irish Public Opinion, S. 163. 797 Zitiert nach McDowell, ebd., S. 290; Smyth, Men, S. 92. 798 Vgl. Dickson, Paine, S. 144-146, Tone-Zitat S. 145 u. T. Dunne, Theobald Wolfe Tone, Colonial Outsider, An Analysis of His Political Philosophy, Cork 1982, S. 26. Anders dagegen die Rezeption des noch radikaleren zweiten Teils der Rights of Man, die von den Dubliner United Irishmen per Subskription zum Preis von 1 d. unters Volk gebracht wurde. Zu den United Irish Verbreitungsbemühungen vgl. Curtin, United Irishmen, S. 179f. Aus der Erfahrung mit Paines Rights of Man lernten die United Irishmen die praktische Bedeutung der massenhaften Verbreitung von Propagandamaterial. 799 Dickson, ebd., S. 144. Bezeichnend für die Verehrung Paines in radikalen Kreise ist auch, daß Paine von der Dubliner Gesellschaft der United Irishmen zum Ehrenmitglied erkoren wurde – eine Ehre, die außer Paine nur Thomas Muir zuteil wurde. Vgl. ebd., S. 135; R.B. McDowell,The Personnel of the Dublin Society of United Irishmen, 1791-4, in: IHS 2 (1941), S. 12-53, S. 42, Einträge Nr. 291, 325. (Fortan zitiert als DSUI) 800 Zu den Whig Clubs und ihrem beschränkten öffentlichen Appeal vgl. Curtin, United Irishmen, S. 42. Sowohl Wolfe Tone, der immerhin Mitglied der Northern Whigs war, auch als Drennan hielten die Whig Clubs nach nur kurzer Zeit für politischen Humbug. Drennan erkundigte sich bei seinem Schwager Samuel McTier über die Northern Whigs und berichtete über die Whigs of the Capital: „How does your Whig Club? This one here does nothing more than eat and drink. They 258 tion in Irland war auf breiter Front wieder auf dem Vormarsch. Zumindest in zwei Aspekten war dafür die Französische Revolution von zentraler Bedeutung: Erstens als Hintergrund zur Entstehung des katholisch-protestantischen Dialogs und zweitens als Vernetzungsanlaß während der Feiern zum zweiten Jahrestags des Sturms auf die Bastille. Die Französische Revolution bildete insofern den Hintergrund für die Genese des interkonfessionellen Dialogs, als sie den politisch radikalen Dissenters zu denken gab: Sie fand in einem katholischen Land statt, in dem – wenn man es mit den Augen presbyterianischer Radikaler aus Ulster betrachtet – Katholiken das ‚Wohl der Nation‘ über ihre konfessionellen Interessen gestellt hatten. Nicht nur, daß die angeblich zur Freiheit unfähigen Katholiken die ‚despotische‘ Monarchie gestürzt hatten, sie schafften die Zehntzahlungen ab und enteigneten mit der Zivilverfassung des Klerus praktisch die katholische Kirche auf französischem Territorium. Was wenn die irischen Katholiken – immerhin die Bevölkerungsmehrheit – zu ähnlichen Leistungen in der Lage waren? Bestand vielleicht die Möglichkeit, den Patt mit der Ascendancy durch eine Allianz mit den politisch aufgeklärten Katholiken zu überwinden?801 Samuel Neilson und ein paar andere Belfaster Radikale aus den Reihen der Belfast Volunteers fanden, daß dies zumindest einen Versuch wert war. Die Feiern zum zweiten Jahrestags des Sturms auf die Bastille sollte den Rahmen für eine Annäherung zwischen Katholiken und Dissenters stellen, Drennan und Tone wurde von den Belfast Volunteers separat mit der Unterbreitung geeigneter Adressen beauftragt. Aus beiden Vorschlägen wurde jedoch jeder Verweis auf die Emanzihave no fellow-feeling with the people nor the people with them, and my own opinion is that every Volunteer should blush to quit his uniform and buy one for the either Whig Club, North and South“ (Drennan an Saml. McTier, 5.2.1791, in: DL, S. 53f.) und Tone bezeichnete das System der Whig Clubs als „elendig und fehlerhaft“ und ihre Anstrengungen als „kläglich“. Vgl. Bartlett, Life, S. 39. Zu den Aktivitäten des Catholic Commitee von 1791 bis zum Catholic Relief Act von 1793 vgl. Smyth, Men, S. 52-66 u. Bartlett, Fall, S. 124-172; Zum katholisch-presbyterianischen Dialog vgl. Smyth, Men, S. 53-57; zur Gründung immer noch lesenswert R. Jacob, The Rise of the United Irishmen, 1791-94, London 1937, und A.T.Q. Stewart, 'A Stable Unseen Power'. Dr. William Drennan and the Origins of the United Irishmen, in: J. Bossy/P. Jupp (Hgg.), Essays Presented to Michael Roberts, Sometime Professor of Modern History in the Queen's University of Belfast, Belfast 1976, S. 80-92; vgl. sonst Curtin, United Irishmen, S. 42-45. 801 Das sind sinngemäß auch die Fragen, die Drennan in einem Vorschlag zur Gründung einer neuen – republikanischen – Organisation als Plattform für eine neue Kampagne für Parlementsrefomren niederlegte, der Anfang Juni 1791 in Dublin kursierte: „What are the rights of Roman Catholics, and what are the immediate duties of Protestants respecting these rights? Are the Roman Catholics generally or partially capaces libertatis? And if not, what are the speediest means of making them so?“ Vgl. P. Rogers, The Irish Volunteers and Catholic Emancipation (1778-1793), 259 pation der Katholiken herausgestrichen.802 Tone beschritt daraufhin enttäuscht, aber nicht entmutigt einen anderen Weg, um seine Vorstellungen an die Öffentlichkeit zu bringen:803 Unter dem Pseudonym „A Northern Whig“ veröffentlichte er Anfang August 1791 das Pamphlet, das allein ausgereicht hätte, um ihm einen prominenten Platz in der irischen Geschichte zu reservieren – „An Argument on Behalf of the Catholics of Ireland“.804 Die Bastilletag-Feiern von 1791. Vor der Veröffentlichung dieser Schrift, von der ab Anfang August 1791 bis Ende 1792 6.000 Exemplare verkauft wurden und von der die United Irishmen weitere 10.000 Exemplare unters Volk streuten,805 wurden jedoch am 14. Juli 1791 zunächst die Feiern zum zweiten Jahrestags des Sturms auf die Bastille veranstaltet, die unter der Ägide der Volunteers standen. Sie fanden nicht nur in Dublin und Belfast statt, sondern auch in einer Reihe anderer Städte in Ulster, was nicht nur einen Indikator für die politische Radikalität Ulsters im Vergleich zum restlichen Irland darstellt, sondern auch augenfällig unterstreicht, wo die Wurzeln der Volunteerbewegung lagen.806 Die Feierlichkeiten hatten – neben der offensichtlichen Aufgabe, den Sturm auf die Bastille als Ereignis zu feiern – vielfältige Funktionen. Erstens meldeten sich die Volunteers damit nach jahrelanger Abstinenz auf die politische Bühne zurück – und reklamierten auf diese Weise in der peripheren Opposition ihren Führungsanspruch, demonstrierten aber gleichzeitig gegenüber dem Kolonialregime – auch mit Blick auf die breite Bevölkerung – ihre Stärke und Entschlossenheit.807 Zweitens stellA Neglected Phase of Ireland's History, With an Introduction by Prof. Eoin MacNeill, UCD, London 1934, S. 209f, Zitat S. 210. 802 M. Elliott, Wolfe Tone, Prophet of Irish Independence, New Haven 1989, S. 125; Rogers, Volunteers, S. 213-215. 803 Tones Ärger über die Säuberung seiner Adresse war beträchtlich: „I am, this day, July 17, 1791, informed that the last question [Tones Formulierung, daß keine Reform effektiv und gerecht sein könne, wenn die Katholiken nicht gleichfalls in ihren Genuß kämen – MR] was lost. If so, my present impression is to become a red hot Catholic; seeing that in the party apparently, and perhaps really, most anxious for reform, it is rather a monopoly than an extension of liberty which is their object, contrary to all justice and expediency.“ (meine Hervorhebung) Vgl. Bartlett, Life, S. 119. 804 Vgl. Tones eigene, retrospektive und geschönte Darstellung der Ereignisse bei Bartlett, Life, S. 45f.; kritisch zu Tones Selbstlob Elliott, Tone, S. 125f. 805 Elliott, ebd., S. 129. 806 Neben den Belfaster und Dubliner Volunteerkompanien richteten auch die Volunteers von Derry, Newry, Banbridge, Randalstown und Ballymoney zu diesem Anlaß Feiern aus. Vgl. Smyth, Men, S. 94. 807 William Sharman, Oberst der Dromore Volunteers führte als einen Grund für seine Teilnahme an den Feierlichkeiten Folgendes an: „The other [der andere Grund - MR] was to rejoice at it – as a memento to the several governments of the earth to make a timely reform of abuses (...)“ Zitiert nach Curtin, United Irishmen, S. 230f. Hier zumindest wurde die Feier also auch als Drohgebärde, als memento mori aufgefaßt. 260 ten die Feiern aber auch eine Demonstration der respektablen sozialen Basis der veranstaltenden Organisationen sowie – durch die Dignität und den demokratischen Habitus ihres Auftretens – für den Willen zur praktischen Umsetzung ihrer politischen Reformziele dar.808 Drittens bemühten sie sich die Gelegenheit zu nutzen, um ihre Position in die Tradition der Amerikanischen und Französischen Revolution einzureihen – einerseits um ihre Reformbestrebungen zu legitimieren und andererseits, um entweder im Licht der amerikanischen und französischen Erfolge der jüngsten Vergangenheit gute Chancen für ähnliche Erfolge in Irland für die nahe Zukunft in Aussicht zu stellen oder um die französische Freiheit mit der irischen Unterdrückung zu kontrastieren. Beides sollte zweifelsohne zur Mobilisierung der Bevölkerung dienen. Viertens schließlich diente diese Zeremonie – wie die meisten Rituale – dazu, den inneren Zusammenhalt der Akteure zu stärken und natürlich zur Unterhaltung von Teilnehmern und Zuschauern.809 Der rituelle Procedere der Feierlichkeiten ist wichtig und muß daher kurz skizziert werden: Die Volunteers paradierten in voller Uniform und mit ihren Waffen und Fahnen durch die Straßen der jeweiligen Stadt.810 Alle Teilnehmer der Parade und auch viele Zuschauer waren mit grünen Kokarden angetan,811 die marschierenden Volunteertruppen führten außerdem Transparente und Bilder mit. In Belfast waren das die Konterfeis von Franklin und Mirabeau, sowie ein doppelseitig bemaltes Transparent, das auf der einen Seite den Sturm auf die Bastille und auf der anderen Seite eine gefesselte Hibernia darstellte, die von einem Volunteer in Galauniform der personifizierten Freiheit vorgestellt wurde.812 Außerdem wurden stolz vier Kanonen als Symbol militärischer Stärke in die Parade integriert.813 In 808 Ebd., S. 229. N.J. Curtin, Symbols and Rituals of United Irish Mobilisation, in: Gough/Dickson (Hgg.), Ireland and the French Revolution, S. 68-82, S. 70 810 Ebd., S. 70. Die Motive, die Curtin in ‚Symbols and Rituals‘ angibt, sind relativ schwach, weitaus besser dagegen in Curtin, United Irishmen, S. 228f. Einen ausführlichen zeitgenössischen Bericht über die Paraden in Dublin und Belfast findet man in der Dublin Evening Post. Vgl. DEP 16/7/1791. Bezeichnenderweise fanden die ersten Bastilletagfeiern auf den britischen Inseln nicht in Irland, sondern 1790 in London statt. Vgl. DEP 13/7/1790, 20/7/1790. Danach zu urteilen ließen sich die irischen Radikalen also von englischen Revolutionsfreunden inspirieren. 811 Curtin, ebd., S. 229. 812 McDowell, Age I, S. 293; ausführlicher bei Froude, The English in Ireland 3, S. 17f. und Lecky, History of Ireland 3, S. 9f. Unter dem Portrait von Franklin stand das Motto „Where liberty is; – There is my country“ und unter dem Konterfei Mirabeaus stand eine Sentenz aus seiner Rede über die Menschenrechte: „Can the African Slave trade, tho‘ morally wrong, be politically right?“ Unter dem 8,5, mal 6 Fuß großen Transparent stand auf der Seite mit der Darstellung des Sturms auf die Bastille das Motto „14 July 1789, Sacred to Liberty“ und auf der anderen Seite mit der Hibernia der Satz: „For a people to be free; it is sufficient that they will it.“ Vgl. DEP 16/7/1791. 813 Rogers, Volunteers, S. 215. 809 261 Dublin führten die Volunteers einen großen erleuchteten Lampion mit, der u.a. folgende Aufschriften trug: „Wir freuen uns nicht, weil wir Sklaven sind, sondern wir freuen uns, weil die Franzosen frei sind“, „Rights of Man“.814 Die Belfaster Parade wurde auf dem Platz vor der Linen Hall beendet, wo nach einem Ehrensalut zunächst feierlich eine Grußadresse an die Assemblée Nationale verlesen und per Akklamation angenommen und im zweiten Schritt Resolutionen für Parlamentsreformen und für die Beseitigung ziviler und religiöser Intoleranz verabschiedet wurden.815 In Dublin versammelten sich die Volunteers abschließend in Stephen’s Green und feuerten einen Ehrensalut.816 Der Rest des Rituals war in Belfast und Dublin identisch: Man löste sich auf und traf sich am Abend in geschlossener Gesellschaft zum gemeinsamen Dinner und anschließenden Ausbringen von vorher von einem Komitee vorbereiteten Trinksprüchen.817 Durch die Berichterstattung der Presse, die immer mit Listen dieser Trinksprüche und der (oft übertriebenen) Anzahl der Gäste versehen wurde, sorgte dafür, daß die Öffentlichkeit auch davon umfassend in Kenntnis gesetzt wurde. 1792 fanden die gleichen Rituale – wenngleich auch viel elaborierter (wie z.B. in Belfast durch Kombination mit dem Harpers‘ Festival)818 – noch einmal statt. Nach dem Ausbruch des Kriegs gegen Frankreich Anfang 1793 war eine Wiederholung allerdings ausgeschlossen, ab August 1793 stellte der Convention Act öffentliche Paraden dieser Art grundsätzlich unter strenge Strafe.819 Signifikant an den Feiern ist der ausgefeilte choreographische Dreiklang aus einem öffentlichen Teil, der das Publikum integrierte, einem privaten Teil, der die ‚Eingeweihten‘ deutlich von der Allgemeinheit distinguierte, und der medialen Rückkoppelung auch des privaten Teils an die Öffentlichkeit. Nichts wurde dem Zufall überlassen: Die Feiern wur- 814 McDowell, Age I, S. 290; Dickson, Paine, S. 139. Die beiden anderen Seiten des Lampions waren mit revolutionären Genealogien bedeckt. Die erste Seite trug unter dem Titel „Rights of Men“ die Daten 12.10.1779 (Amerikanische Revolution), 16.4.1782 (Grattan’s Revolution), 14.7.1789 (Sturm auf die Bastille) und wertete so Grattan’s Revolution als Vorgängerin des Sturms auf die Bastille auf. Die dritte Seite des Lampions beschrieb die Amerikanische Revolution als Quelle der Französischen Revolution und bezog auch polnische Reformbestrebungen unter Stanislaus III. mit ein. Die Dublin Evening Post beschrieb diese Seite des Lampions wie folgt: „– a representation of the hemispheres – the one inscribed – AMERICA – the other – FRANCE and POLAND – with rays emanting from the former to the latter, and an inscription – THE NEW WORLD ILLUMINATING THE OLD – indicating that the revolution in America was the source of those in France and Poland.“ DEP 16/7/1791. 815 Rogers, Volunteers, S. 215f.; McDowell, ebd., S. 293. 816 McDowell, ebd., S. 291. 817 Ebd., S. 291; Rogers, Volunteers, S. 216. 818 Vgl. Curtin, Symbols, S. 70 819 Curtin, United Irishmen, S. 230. 262 den durch Anzeigen in den Tageszeitungen rechtzeitig angekündigt und von der Marschordnung der Parade bis zu den Trinksprüchen war alles minutiös durch eigens dafür eingerichtete Komitees geplant. Auch die Integration der Zuschauer durch gemeinsame Symbole (die grünen Kokarden) und die kontrastive semantische Struktur der Transparente (irische Sklaven vs. französische Freie oder die Befreiung der Bastille vs. die Befreiung der gefesselten Hibernia) ist augenfällig. Ebenfalls wichtig ist die Tradition, in die sich die Volunteers durch die Abbildungen einreihten. Den Rekurs auf Paines Rights of Man hin oder her – die Wahl Franklins und Mirabeaus zeigt es deutlich: Die Volunteers waren alles andere als Montagnards. Protestantisch-Katholische Annäherungen im Jahr 1791. Die Feiern hatten zwar nicht – wie von Drennan oder Tone erhofft – dazu geführt, daß die radikalen Volunteers aus Belfast mit den Katholiken eine politische Allianz eingingen, aber selbst die etwas nebulöse Forderung der Belfaster Volunteers nach der Beseitigung aller religiösen Intoleranz reichte aus, um den Dialog zu eröffnen: Die Katholiken von Elphin und Jamestown verabschiedeten darauf eine an die Belfaster Erste Volunteerkampagne gerichtete Dankadresse.820 In dieser Situation vorsichtiger gegenseitiger Annäherung erschien Anfang September Tones bereits erwähntes Pamphlet, in dem er argumentierte, daß ohne die Hilfe der Katholiken keine Parlamentsreformen durchsetzbar seien, weil das korrupte Regime der Ascendancy auf der Spaltung der Nation (d.h. der Bevölkerung als politischer Souverän) beruhte. Die Schrift trug Tone nicht nur eine Reputation als politischer Schreiber, sondern auch die Beachtung der Belfaster Radikalen und der Dubliner Katholiken ein. Er lernte dadurch nicht nur den Führungszirkel des Catholic Committee um Keogh, Braughall, Richard McCormick und Edward Byrne kennen, die ihn 1792 zum bezahlten Sekretär ihres Exekutivausschusses bestellten, sondern auch die Volunteers von der Ersten (oder Grünen) Belfaster Kompanie, die ihn zum Ehrenmitglied machten.821 Die Belfaster Kontakte führten dazu, daß 820 Rogers, Volunteers, S. 216. Bartlett, Life, S. 46f. Von Zeitgenossen wie von Historiker der älteren Generation ist das Zustandekommen der losen katholisch-protesantischen Allianz vor allem Tones Traktat zugerechnnet worden. Das erscheint vor dem Hintergrund der neueren Forschung als übertrieben. Tones Verdienst liegt eher darin, daß er die Tendenzen zur interkonfessionellen Annäherung richtig erfaßte und in Paine’scher Manier prägnant und massenwirksam auf den Punkt brachte. Vgl. Elliott, Wolf Tone, S. 129. Er war nicht der ‚Erfinder‘ der ‚cordial union‘, sondern ein begnadeter Propagandist – und zwar auch in eigener Sache, denn er verstand es, ein Thema derart zu besetzen, daß es automatisch mit seinem Namen assoziiert wurde. Das gilt auch für seinen Anspruch, die United 821 263 Tone schon relativ früh in den Plan eingeweiht wurde, eine neue Reformorganisation – die United Irishmen – zu gründen, und an diesem Organisationsprozeß maßgeblich beteiligt war.822 Auf der anderen Seite vermittelte er zwischen Volunteers und Katholiken und stimulierte so den interkonfessionellen Dialog. Im Oktober konnten sich die Volunteers in Dublin und Belfast endlich zu einem klaren Wort in der Katholikenfrage durchringen: Am 4.10.1791 verabschiedete die Belfaster Volunteerkompanien eine Dankadresse für die Glückwünsche der Katholiken aus Elphin und Jamestown. Darin hieß es unmißverständlich: „Ihr [die Katholiken – MR] seid oder solltet in unserer Sache engagiert sein – es ist eine nationale Sache. (...) Laßt alle unsere Feindseligkeiten bei den Gebeinen unserer Ahnen ruhen: Uns in unserer Religion unterscheidend wie in unseren Gesichtszügen, aber in den großen Qualitäten der Menschheit aneinander erinnernd; laßt uns uns vereinigen, um unsere natürlichen Rechte zu verteidigen; (...)“823 Am 23.10.1791 folgten die Dubliner Volunteerkompanien dem Belfaster Beispiel.824 Der Boden war bereitet: Ab Oktober 1791 standen die Volunteers und das Catholic Committee im Austausch miteinander und die Ende Oktober 1791 in Belfast bzw. Anfang November 1791 in Dublin gegründeten Gesellschaften der United Irishmen, die ihren Wunsch auf Allianz mit den Katholiken in ihren Gründungsdeklarationen festhielten,825 machten ihren Einfluß auf beiden Seiten geltend, um die Zusammenarbeit zu vertiefen. Man kann also ohne Übertreibung festhalten, daß die Bastilletagfeiern und die vor dem Hintergrund der Französischen Revolution unternommenen politischen Schritte von essentieller Bedeutung für das Zustandekommen einer losen interkonfessionellen Allianz waren. Irishmen ‚erfunden‘ zu haben: Er hat den Namen geprägt, aber die Idee stammte von Drennan. Vgl. Stewart, Power, S. 80-92. Die traditionelle Lesart, daß Tone die United Irishmen gegründet habe, findet sich bei Lecky, History of Ireland 3, S. 13. 822 Elliott, Tone, S. 133-141. 823 W. Sinclair, At a General Meeting of All the Volunteer Compagnies of Belfast, Held at the Linen-Hall, 4th October, 1791, in: Anon., Tracts on Catholic Affairs, Appendix Nr. 5, Dublin (R. White) 1792, S. 154-156, Zitat S. 155f. 824 J. Napper Tandy u.a., Meeting of Delegates from the Protestant Members of the Associated Corps of the City of Dublin, 23rd October, 1791, in: Anon., Tracts on Catholic Affairs, Appendix 4/2, Dublin (R. White) 1792, S.152-153: „(...) we most aptly wish that outr animosities were entombed with the bones of our ancestors; and that we, and our Roman Catholic brethren, would unite, like citizens, and claim the Rights of Man.“ Notabene die aufklärerische Brüderlichkeitssemantik, die auch in der Belfaster Deklaration durchscheint. Vgl. hierzu auch die am 17.10.1791 von den Independent Dublin Volunteers (einer der diversen Dubliner Kompanien) verabschiedeten Resolutionen, welche die gleichen Formulierungen enthalten: A. Hamilton Rowan, At a Full Meeting of the Independent Dublin Volunteers on the 17th October, 1791, in: Anon., Tracts on Catholic Affairs, Appendix Nr. 4/1, Dublin (R. White) 1792, S.149-151, S. 150f. 825 J. Napper Tandy, At a Meeting of the Society of United Irishmen of Dublin at the Eagle, Eustace Street, 9 November, 1791, in: Anon., Tracts on Catholic Affairs, Appendix Nr. 3, Dublin (R. White) 1792, S. 143-148, S. 144, 147. S. 147 ist aus der Belfaster Deklaration entlehnt. 264 Die Französische Wahrnehmung Irlands im Jahr 1793/94. So wie der hoffnungsvolle Beginn der Reformbewegung der frühen 1790er Jahre mit Frankreich zusammenhing, so hing auch das Ende der United Irishmen als einer öffentlich agierenden Reformorganisation 1794 mit Frankreich zusammen. Dazu muß man kurz Frankreichs strategische Wahrnehmung von Irland skizzieren. Nach einem kurzen internationalistischen Intermezzo, in dem die brissotinische Fraktion der Girondisten dafür sorgte, daß der Nationalkonvent am 19.11.1792 ein Dekret verabschiedete, welches ausländischen Revolutionären französische Unterstützung und Hilfe zur Selbsthilfe in Aussicht stellte, wurde Frankreichs außenpolitische und militärische Linie zunehmend von dem defensiven Ziel beherrscht, die Revolution in Frankreich gegen die europäische Reaktion zu verteidigen. Entsprechend wurde das Dekret vom November 1792 zunächst wiederholt relativiert und schließlich im April 1793 – also nach den Niederlagen der Revolutionsarmee im März 1793 – von Danton zur ewigen Ruhe gebettet.826 Die Zusammenarbeit zwischen europäischen Radikalen und französischen Revolutionären stellte sich in der Regel für beide Seiten als enttäuschend heraus: Die holländischen, belgischen und Schweizer Patrioten waren verschwindend geringe Minderheiten ohne militärische Signifikanz, die Frankreich nicht nützen konnten, und gerade während der Terreur befleißigte sich Frankreich eines rücksichtslosen Chauvinismus, der von „Pufferzonen“ (Danton) für die Revolution sprach und damit tatsächlich französische Annektionen meinte, wie etwa die Belgier 1795 feststellen mußten.827 In diesem Szenario spielten irische Radikale von Anfang an ein andere Rolle: Sie wurden von französischen Diplomaten und Militärs ernster genommen als etwa ihre belgischen oder holländischen Kollegen. Dafür gab es zwei Gründe: Erstens war Irland geopolitisch von entscheidender Bedeutung, um Großbritannien in die Knie zu zwingen, denn – wie Lazare Hoche treffend bemerkte – ein direkter Angriff auf Großbritannien konnte nur als „Chimäre“ betrachtet werden.828 Zweitens war Großbritannien durch seine Spionageaktivitäten in Paris, seine Interventionen entlang der französischen Atlantikküste und durch seine Unterstützung für die Aufstände in der Vendée und der Bretagne zum Hauptfeind der Revolution aufgestiegen und entsprechend stieg die Aufmerksamkeit, die französische Militärs und 826 Elliott, Partners, S. 53; dies., The Role of Ireland in French War Strategy, 1796-1798, in: Gough/Dickson (Hgg.), Ireland and the French Revolution, S. 202-219, S. 201. 827 Furet/Ozouf, Kritisches Wörterbuch, S. 181-187. 828 Zitiert nach Elliott, Partners, S. 63. 265 Politiker Irland widmeten. Es gibt keinen Zweifel, daß etwa Carnot, der die französische Expedition nach Irland Ende 1796 befürwortete und für die Bereitstellung der dafür notwendigen Mittel sorgte, damit ganz klar die Absicht verfolgte, Irland in eine britische Vendée zu verwandeln.829 Die Jackson-Affäre und ihre Folgen. 1793 war es jedoch auf das Betreiben eines Exil-Irens names Nicholas Madgett zurückzuführen, der ab Jahresmitte in einer Abteilung des französischen Marineministerium als Berater für irische und englische Angelegenheiten arbeitete, daß ein irischer Geistlicher namens William Jackson, der den Großteil seines Lebens in England zugebracht hatte, damit beauftragt wurde, Kontakte mit den United Irishmen herzustellen.830 Jackson, der sich für seine Mission der Unterstützung eines befreundeten Londoner Anwalts namens John Cockayne versicherte, beging mit diesem Schritt einen tödlichen Fehler: Cockayne war ein britischer Spion und die irische Regierung wußte früher über Jacksons Ankunft Bescheid als dieser überhaupt irischen Boden betrat.831 Bei den meisten Anführern der Dubliner United Irishmen stieß Jackson auf taube Ohren – Lord Edward Fitzgerald weigerte sich ihn zu treffen, Simon Butler behandelte seine Angebote als Witz, Wolfe Tone hielt ihn für einen englischen Agent provocateur.832 Aber beim bereits inhaftierten Hamilton Rowan fand Jackson endlich Gehör und dieser beauftragte Tone damit, einen Bericht über die Lage in Irland zu verfassen, und bat einen anderen United Irishman, Dr. James Reynolds, mit Jackson nach Paris zurückzukehren, um dort über eine Kooperation zu verhandeln.833 Als Tones Bericht fertig war, gab Hamilton Rowan Jackson eine Abschrift, die dieser – sancta simplicitas! – einfach mit der Post nach Paris schickte.834 Der Brief wurde natürlich abgefangen und nun hatte die irische Regierung die langersehnte Gelegenheit gegen die United Irishmen vorzugehen. Am 26.4. 1793 wurde Jackson verhaftet. Nachdem er davon erfahren hatte, floh Rowan am 1. Mai aus der Haft, Reynolds folgte kurze Zeit später seinem Beispiel.835 Die Regierung, die es vor allem auf Rowan abgesehen hatte, schätzte Tone als kleinen Fisch ein und ließ sich auf Fürsprache des Generalstaatsanwalts Arthur Wolfe, 829 Elliott, Role, S.204. Elliott, Partners, S. 61-63. Zu dem vorangegangenen Versuchen, Kontakte herzustellen (etwa durch Gespräche zwischen Lord Edward Fitzgerald und Thomas Paine) vgl. ebd., S. 58-61. 831 Ebd., S. 64; Lecky, History of Ireland 3, S. 233. 832 Elliott, ebd. 833 Lecky, History of Ireland 3, S. 233. 834 Elliott, Partners, S. 65. 830 266 eines Verwandten seines Patenonkels Theobald Wolfe, auf einen Kuhandel ein: Eine Einstellung seines Verfahren (nolle prosequi) gegen Tones Abreise aus Irland ins lebenslange Exil. Die Dubliner United Irishmen als Organisation hingegen kamen nicht so glimpflich davon.836 Trotz ihrer Anstrengungen sich von Rowan und seiner Unvorsichtigkeit zu distanzieren, hoben die Behörden die Organisation, die schon längst mit Informanten des Castle durchsetzt war am 26.5.1794 aus: Bei einer Razzia wurde ihr Versammlungsort in Tailor’s Hall gestürmt, die Vereinsdokumente wurden eingezogen, insgesamt etwa 40 Haftbefehle gegen führende United Irishmen ausgestellt und die Organisation insgesamt verboten.837 Der Prozeß gegen Jackson, der im April 1793 stattfand, verwandelte sich aus der Sicht der Kolonialregierung jedoch zum Fiasko: Zuerst verweigerte der Informant Cockayne dem Staatsanwalt seine Kooperation (u.a. weil er Morddrohungen von Dubliner Radikalen erhalten hatte), anschließend wurde er von Jacksons Verteidigern Curran und Ponsonby im Verhör durch den Fleischwolf gedreht und charakterlich komplett desavouiert und zum bösen Schluß beging der Delinquent auch noch im Gerichtssaal mit Laudanum Selbstmord – und verstarb direkt auf der Angeklagtenbank.838 Das war natürlich ein gefundes Fressen für die Presse und um die Absicht der Regierung, öffentlich ein Exempel zu statuieren, war es geschehen.839 Für die Beziehungen zwischen den irischen Radikalen und Frankreich hatte die Jackson-Affäre vor allem drei Konsequenzen. Erstens hatte der Plan für eine französisch-irische Kooperation gegen Großbritannien und die Ascendancy durch den Jackson-Prozeß eine ungeheure Publicity erhalten – mit dem Ergebnis, daß dieser nun intensiver in der irischen Bevölkerung diskutiert wurde als je zuvor. Außerdem wirkte sich der Sturz Robespierres und das Ende der Terreur positiv auf die 835 Elliott, Tone, S. 243; zu Rowans dramatische Flucht vgl. Lecky, History of Ireland, S. 234f. Elliott, ebd., S. 243f. 837 Curtin, United Irishmen, S. 60f.; Elliott, ebd., S. 244f. 838 Zur Verschwörung ein Attentat auf Cockayne zu verüben vgl. Smyth, Men, S. 147; zu Cockaynes ‚Blackout‘ vor Gericht vgl. NS 23/4/1795; Elliott, ebd., S. 250f. 839 Vgl. exemplarisch NS 23/4/1795, 30/4/1795, 4/5/1795; der Kommentar des Northern Star über Jacksons Tod zeigt, daß die Presse nur zu genau über die Pläne der Regierung orientiert war: „The unfortunate Mr. Jackson, we understand, was to have been executed with great pomp and solemnity, in front of the parliament house in College Green. He departed just in the critical moment, for had he lived until sentence was pronounced, and died the moment after, the body would have been hanged, drawn and quartered. (...) this death was occasioned by a draught of laudanum, which he had taken previous to his arrival in court. He was perceived to be indisposed from the moment he was put to the bar. He asked the court for a glass of water, and shortly after, during the Attorney 836 267 irische Wahrnehmung von Frankreich aus: Nun konnten sich wieder mehr irische Reformer und Radikale eine Zusammenarbeit mit Frankreich vorstellen.840 Zweitens hatte die Zerschlagung der United Irishmen als einer reformorientierten Organisation den Weg für ihre Radikalisierung und Wiedergeburt in Form einer separatistischen Untergrundarmee bereitet. Für eine Rebellion bedurften die United Irishmen der französischen Hilfe jedoch sehr viel mehr als vorher, wo sich hinter der ganzen radikalen Rhetorik im Kern nichts anderes als ein moderates, liberales Reformprogramm (Parlamentsreformen, Beseitigung der Korruption, virtuelle Repräsentation à la Burke und katholische Emanzipation) verbarg. Die ‚alten‘ United Irishmen waren zur Kooperation mit dem Regime prinzipiell bereit, die radikalen, ‚neuen‘ United Irishmen ab 1795 schlossen dies kategorisch aus. Rowans erstes Geschäft nach seiner Flucht nach Frankreich war, daß er Madgett Tones Lagebericht zukommen ließ, woraufhin die französische Seite wieder mehr Interesse an Irland zu zeigen begann.841 Drittens hatten die Behörden den Fehler gemacht, Tone lediglich als pro-katholischen Aktivisten und damit zu gering einzuschätzen. Tone, der ausgewiesenermaßen begnadete Propagandist, sollte so die Gelegenheit erhalten, seine Talente ab 1796 in Paris einzusetzen, um Carnot und Hoche von den Vorteilen einer französisch-irischen Kooperation zu überzeugen. Hätte er das geahnt, hätte Marcus Beresford, der Vertreter der Staatsanwaltschaft beim Aushandeln des Deals mit Tone, es sich wohl zweimal überlegt, die Meinung zu ventilieren, es sei kein schlechter Handel für die Regierung, Tone loszuwerden!842 Die brüchige französisch-irische Partnerschaft 1796-1798. Die ganzen diplomatischen Wendungen im Verhältnis zwischen irischen Radikalen und dem Französischen Direktorium zwischen 1796 und 1798 en detail zu entwirren, würde zu weit führen.843 Gleichwohl ist die weitere Entwicklung der irisch-französischen General’s reply to Mr. Curran, he arose, gave a significant smile, waved his hand, and in sitting down fell off the chair, and expired after a few minutes with a groan.“ NS 30/4/1795. 840 Elliott, Tone, S. 246. 841 Elliott, Partners, S. 68. 842 Vgl. Elliott, Tone, S. 243. 843 Statt dessen sei hier auf die ungemein detaillierte, mit einem Preis der American Historical Association ausgezeichnete Studie Marianne Elliotts, Partners in Revolution, The United Irishmen and France, verwiesen, die auch knapp 20 Jahre nach ihrer Veröffentlichung immer noch unübertroffen ist und unbestritten das Standardwerk zu diesem Themenkomplex darstellt. Vgl. hierzu auch das sehr positive Rezensionsecho aus der Mitte der 1980er Jahre: D.H. Akenson, Marianne Elliot: "Partners in Revolution: The United Irishmen and France", in: The Historian 46 (1983/84), S. 443; T. Bartlett, Marianne Elliott: "Partners in Revolution: the United Irishmen and France", in: IHS 24 (1984/85), S. 107-109; G.C. Bond, Marianne Elliott: "Partners in Revolution: The United 268 Beziehungen von so großer Bedeutung, daß sie hier – zumindest kursorisch – Erwähnung finden muß. Diplomatische Akteure und Interessenkonflikte. Beide Seiten machten sich aufgrund der taktisch-strategisch begründeten Aussagen der Gegenseite falsche Vorstellungen vom Charakter ihrer Kooperation. Im ersten Direktorium gab es 1796 ernsthafte Differenzen über das militärisch-strategische Vorgehen: Während Direktor Reubell und Außenminister Delacroix einem Vorstoß gegen Österreich den Vorzug gaben, um die Rheingrenze zu sichern, plädierte Direktor Carnot – sekundiert von General Hoche – für einen Angriff auf England.844 Beide Optionen reflektierten den persönlichen Hintergrund der beiden zerstrittenen Direktoren, wurden aber über taktische und finanzielle Sachzwänge verhandelt.845 Tone, der 1796 in Paris eintraf, geriet mitten in diesen Konflikt und machte ihn sich zunutze, indem er an Delacroix und Madgett vorbei Kontakt zu Carnot und dessen Sprachrohr General Clarke, einem Exil-Iren der zweiten Generation, aufnahm.846 Dieser Schritt förderte zwar das Vorankommen seiner Mission, weil Carnot an einer Invasion in Irland sehr viel mehr interessiert war als Delacroix, aber gleichzeitig machte er sich Delacroix und Reubell damit zum Gegner und war somit auf Carnot angewiesen. Dieser aber glaubte einerseits (durch den Einfluß Clarkes) immer noch, daß die irischen Katholiken durch die Bank Jakobiten und damit Royalisten und Reaktionäre waren, welche gegen die Errichtung einer Republik in Irland kämpfen würden,847 und verfolgte andererseits unbeirrt sein Lieblingsprojekt, in Irland General Humberts Légion Noire landen zu lassen, um mittels dieser Bande von Deserteuren, ehemaligen Chouans und Halsabschneidern Irland in Irishmen and France", in: AHR 89,1 (1984), S. 129-130; A. Booth, Marianne Elliott: "Partners in Revolution: The United Irishmen and France" & R. Wells, “Insurrection: the British Experience”, in: Social History 9,3 (1984), S. 373-375. 844 Elliott, Partners, S. 82f.; zum steigenden Anglophobie Frankreichs ab 1793 vgl. ebd., S. 56f., 62f. 845 Reubell stammte aus dem Elsaß, das er gegen Angriffe der Koalition zu sichern wünschte, Carnot und Hoche hatten gegen die Chouannerie und in der Vendée gekämpft, was für ihre Anglophobie von entscheidender Bedeutung war. Darüber hinaus reflektierten die Differenzen aber auch einen Zuständigkeits- und Machtkonflikt im Direktorium, in dem Carnot dem ineffektiv agierenden Außenministerium in den Rücken fiel. Vgl. ebd., S. 82f., 85-88; Elliott, Role, S. 203f. 846 Vgl. Tones Tagebucheinträge zur Schilderung seiner schleppenden Zusammenarbeit mit Delacroix und zur Kontaktaufnahme mit Carnot in: Bartlett, Life, S. 467 (erste Begegnung), 469 (Delacroix verweist Tone an Madgett), 483-485 (erste diplomatische Vexierspielchen und Verhandlungen zwischen Delacroix und Tone), S. 491-494 (Delacroixs Weigerung, 20.000 Mann nach Irland zu schicken, Tone enttäuscht über mangelndes französisches Entgegenkommen, hält Delacroixs und Madgetts Plan die britische Marine zu unterwandern für ‚flat nonsense‘), S. 476-481 (erstes Treffen mit Carnot, nachdem Tone von Madgett enttäuscht war, Gespräch mit Carnot läuft hervorragend); Elliott, Partners, S. 83f. 269 Großbritanniens Vendée zu verwandeln und so Rache für Quiberon zu nehmen.848 Tone war über dieses Szenario natürlich entsetzt und schrieb wie ein Bessener gegen diese Vorstellung an, indem er konfessionelle Konfliktpotentiale in Irland komplett ausschloß, die irische Bevölkerung als durch und durch politisiert und von der Französischen Revolution begeistert darstellte und den Organisationsgrad der United Irishmen, die gerade erst dabei waren, sich im Untergrund zu reorganisieren, maßlos übertrieb.849 Seine Memoranden gipfelten in der These, daß es nur einer relativ kleinen Invasionstreitmacht und großer Waffenvorräte bedürfe, um die rebellionsbereite Bevölkerung zum Aufstand zu bewegen.850 Das wiederum kollidierte mit den Gepflogenheiten der Franzosen, die nach schlechten Erfahrungen dazu übergegangen waren, erst dann ihre Unterstützung zu geben, wenn ausländische Revolutionäre durch den Ausbruch eines Aufstands ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt hatten. Tone gelang es jedoch, Carnot und vor allem Hoche zu überzeugen.851 847 Bartlett, Life, S. 581. Im Juni 1795 setzten englische Schiffe in der Bucht von Quiberon eine Streitmacht emigrierter französischer Royalisten in der Bretagne an Land, die den Chouans Führung und Auftrieb geben sollten. Elliott, Partners, S. 85; zur Légion Noire vgl. Elliott, Role, S. 204; zu Clarkes und Carnots ‚falschen‘ Vorstellungen vgl. Elliott, Partners, S. 85-87. 849 Über die Dissenter heißt es dort: „The Dissenters are, from the genius of their religion, and the spirit of inquiry which it produces, sincere and enlightened republicans (...)“ Bartlett, Life, S. 605. – Es fragt sich dann bloß, wo die Orangemen in Ulster herkamen, die ja auch Presbyterianer in ihren Reihen hatten. Über die Union zwischen Katholiken und Presbyterianer schreibt Tone: „The leaders on both sides saw that as they had but one common country, they had but one common interest; that while they were mutually contending and ready to sacrifice each other, England profited of their folly to enslave both; and that it was only by cordial union , and affectionate cooperation, that they could assert their common liberty and establish the independence of Ireland.“ Bartlett, Life, S. 606. – Hier müßte relativierend eingefügt werden, daß das CC primär das Ziel der katholischen Emanzipation, nicht der Unabhängigkeit Irlands verfolgte und daß es ein gerüttelt Maß Mißtrauen bei den Presbyterianern über die revolutionäre Überzeugung der Katholiken gab, wie etwa aus den Drennan Briefen von 1792 noch deutlich hervorgeht. Vgl. DL, S. 70f., 82, 97, 106f. Über die Gesamtlage schreibt Tone: „I hazard nothing in asserting that these three bodies [United Irishmen, Defenders und CC – MR] are alike animated with an ardent desire for the independence of Ireland, an abhorrence of British tyranny, and a sincere attachment to the cause of thde French Republic; and, what is of very great consequence, they have a perfect good understanding and communication with each other (that is to say, their leaders), so that, on any great emergency, there would be no possible doubt of their mutual co-operation.“ Bartlett, Life, S. 610. Daß die Defenders die Unabhängigkeit Irlands wollten, kann man getrost für ein Gerücht halten, und was die ernsthafte Hingabe der katholischen Unterschichten zur Französischen Revolution betrifft haben wir bereits von den Erfahrungen französischer Offiziere im Jahr 1798 gehört. Auch hatte der Terreur bei vielen United Irishmen und Mitgliedern des CC beträchtliche Zweifel ausgelöst. Tones Statements waren nicht wirklich falsch, sondern eine Melange aus irreführender Schönfärberei und der Wahrheit. 850 Tone sprach von mindestens 5.000 und höchstens 20.000 Mann unter der Führung eines berühmten Generals, der die Mobilisierung der irischen Rebellen erleichtern würde, von Waffenlieferungen (vor allem Artillerie) und Ingenieuren. Vgl. Bartlett, Life, S. 615. 851 Vgl. Tones Bericht über die abschließende Konferenz mit Carnot und Hoche über die Invasion. Bartlett, Life, S. 580-582. 848 270 Zu allem Überfluß schalteten sich ab Mitte 1795 immer mehr United Irishmen in die Verhandlungen mit Frankreich ein: Lord Edward Fitzgerald und Arthur O’Connor aus Hamburg ab Anfang Juli 1795, die über den dortigen französischen Gesandten Frédérique Reinhard mit Delacroix Verhandlungen aufnahmen, nach dem Mißerfolg des Invasionsversuchs in Bantry Bay im Jahre 1796 auch Edward Lewins ab Ende März 1797, sowie William James MacNeven ab Ende Juli 1797 und einige andere mehr.852 Wegen der schlechten Kommunikationsverhältnisse verfügten alle United Irish Agenten über einen unterschiedlichen Wissenstand und das Direktorium erhielt nun eine Vielzahl unterschiedlicher Informationen. Allen gemein war lediglich das eindringliche Nachsuchen, eine französische Invasions-truppe aufzustellen und loszuschicken. Wirklich fatal wurde die Lage jedoch erst als im Juni 1797 Napper Tandy aus Amerika in Paris eintraf. Tandy reklamierte die uneingeschränkte Führungsrolle für alle in Paris befindlichen Iren, obwohl er dafür nicht die geringste Handhabe aus Dublin oder Belfast erhalten hatte. Sein theatralisches Auftreten beschädigten die Position Tones und Lewins‘, der beiden authorisierten United Irish Agenten. Er schreckte nicht einmal davor zurück, seine Eitelkeit dadurch zu befriedigen, daß er mit dem schottischen Reformer Thomas Muir gemeinsame Sache machte, der für sich eine ähnliche Position in Schottland reklamierte wie Tandy für Irland und so als Chef einer – inexistenten – schottischen Befreiungsarmee mit den United Irishmen um französische Unterstützung konkurrierte. Sie störten die Geheimverhandlungen Tones und Lewins‘ dadurch, daß sie öffentliche Auftritte mit Thomas Paine organisierten und sich ausgiebig in der Presse zu Wort meldeten.853 Frankreichs Abkehr von Irland. Die französische Seite wiederum hatte selbst ernsthafte Probleme mit der Organisation und Finanzierung eines weiteren Invasionsversuchs. Die notorische finanzielle Misere des Direktoriums erforderte, daß der Krieg sich durch Annektionen und Abgaben der eroberten Regionen und Länder selbst finanzierte854 – der erste Invasionsversuch von 1796 hatte jedoch nur Geld gekostet, keins eingebracht. Es ist darum auch nicht verwunderlich, daß die Partei, die eine weitere irische Unternehmung unterstützte, zunehmend geschwächt wurde. Der von Carnot nachdrücklich unterstützte Italienfeldzug Bonapartes hatte die – ebenfalls von Carnot – mühsam hergestellte Priorität eines An852 853 Elliott, Partners, S. 98-100, 130-132, 152f. Zu Tandys Interventionen vgl. summarisch ebd., S. 170f. 271 griffs auf Großbritannien durch eine Invasion in Irland bereits relativiert, bevor die Inva-sionsflotte unter Hoches Leitung im Dezember 1796 Brest mit Kurs auf Irland verließ.855 Der Mißerfolg von Bantry Bay spielte Reubell in die Hände: Carnot war nun isoliert und sein Plan für einen zweiten Invasionsversuch traf im Direktorium auf entschiedenen Widerstand. Auch Hoches glänzende Reputation als ‚Pacificateur de Vendée‘ war irreparabel beschädigt: Während er unverrichteter Dinge, aber mit schweren Verlusten (11 Schiffe und 5.000 Mann waren verlorengegangen) aus Irland zurückkehrte, fuhr sein ärgster Konkurrent in der Generalität, Bonaparte, einen Sieg nach dem anderen ein.856 Die Wirren um den Staatsstreich des 17. Fructidor (4.9.1797) veränderten die Lage noch einmal einschneidend: Dem Staatsstreich, an dem Hoche beteiligt war, fiel ein geplanter Invasionsversuch in Irland zum Opfer; Carnot wurde aus dem Direktorium entfernt und zur Deportation nach Guyana verurteilt und Hoche, den man zum alleinigen Sündenbock für den mißglückten Coup d‘etat machte, wurde unehrenhaft aus dem Dienst enlassen und von der Presse als Verräter angefeindet.857 Carnot und Hoche, der nur knapp drei Wochen später mit 29 Jahren verstarb, waren erledigt und im zweiten Direktorium saßen nun vornehmlich Gegner der Expeditionen nach Irland – namentlich Reubell und Bonaparte. Schon angesichts dieser personellen Zusammensetzung war klar, daß die United Irish Agenten nicht mehr darauf hoffen durften, daß Irland auf der französischen Militäragenda einen allzu großen Stellenwert einnehmen werde.858 Direktor Barras hielt Tone und Lewins hin und das zweite Direktorium kehrte zur altbewährten politischen Linie zurück, nur denjenigen ausländischen Revolutionären zu helfen, die sich selbst helfen konnten.859 Als 1798 in Irland die Rebellion ausbrach waren die französischen Truppen entlang des Rheines und in Ägypten gebunden, so daß überhaupt nur kleinere Aktionen 854 Elliott, Role, S. 208. Zu Carnots Rolle bei der Vorbereitung des Itralienfeldzugs vgl. Furet/Ozouf, Kritisches Wörterbuch, S. 122; Elliott, ebd., S. 207. 856 Elliott, ebd., S. 207f.; Furet/Ozouf, ebd., S. 127-133. 857 Furet/Ozouf, ebd., S. 223f.; Elliott, ebd., S. 209f. 858 Entsprechend besorgt äußerte sich Tone über den Tod Hoches. „My fears, with regard to General Hoche, were but too well founded. He died this morning [18.9.1797 – MR] at four o’clock. His lungs seemed to me quite gone. This most unfortunate event has so confounded and distressed me that I know not what to think, nor what will be the consequences.“ Bartlett, Life, S. 811. 859 Elliott, Role, S. 210f. 855 272 möglich waren.860 Schlecht vorbereitet und ausgestattet hatten die Expeditionen von Humbert und Hardy, Tandy und Tone nicht den Hauch einer Chance.861 Irische Hoffnungen auf französische Waffenhilfe und ihre Folgen. In Irland dagegen war die Hoffnung auf eine französische Intervention vom Führungszirkel der United Irishmen vor allem zu zwei Zwecken verwendet worden. Erstens zur Mobilisierung der Bevölkerung, der man mit der Aussicht auf französische Waffenhilfe einen Aufstand schmackhafter machen konnte, da sich argumentieren ließ, daß der Blutzoll einer Rebellion mit französischer Hilfe kleiner – die United Irishmen behaupteten sogar: insignifikant klein – ausfallen werde und zweitens zur Erhaltung der Moral der United Irish und Defender Anhängerschaft angesichts einer ab 1795 zunehmend härteren Repressionspolitik des Kolonialregimes.862 Überdies verwendete die Führung der United Irishmen die Aussicht auf eine französische Intervention auch dazu, um 1797 ihre Anhänger davon abzuhalten unter dem Eindruck der Entwaffnung Ulsters durch General Lake und der zahlreichen Übergriffe durch staatliche und nichtstaatliche Gruppen wie die lokalen Magistrate, die in latent unruhigen Gebieten stationierten Miliz- und Yeomanryverbände und den vor allem in Ulster und den angrenzenden Grafschaften aktiven Oranierorden, frühzeitig die Rebellion loszutreten. Dabei verkalkulierten sich die Führungszirkel der United Irishmen jedoch in vielfacher Hinsicht: Zum einen gaben sie so der Regierung die Möglichkeit, ihre Kontrolle über das platte Land sukzessive auszubauen und zu verstärken, während die Rebellen durch Entwaffnungen, Verhaftungen und Deportationen aber auch durch gewaltsame Überfälle geschwächt wurden – und das, wie sich später herausstellte, in einem Umfang, der jede Verstärkung durch französische Waffenhilfe bei weitem übertraf. Zum anderen trieb diese enge Verknüpfung von französischer Waffenhilfe und Aufstand einen Keil in die United Irish Führung, denn über die Frage, ob man vor Ankunft der Franzosen oder erst danach losschlagen sollte entzweiten sich die Belfaster und die Dubliner Führung mehrfach. Nach den Verhaftungen von 1798, in denen praktisch der ganze Dubliner Führungsstab ausgehoben wurde, kam es in Ulster wegen dieser Frage zu einem Putsch der Basis gegen die zögerliche Führungsspitze, die nicht losschlagen wollte, bevor französische Hilfe angekommen war.863 Es 860 Ebd., S. 211. Ebd., S. 211-215. 862 Curtin, United Irishmen, S. 64-66, 87-89, 123f. 863 Ebd., S. 264-266. 861 273 mußten erste radikalere Führungskräfte wie Henry Joy McCracken und Henry Munro aufs Schild gehoben werden, bevor die Rebellion überhaupt losgehen konnte,864 und das zeigt überdeutlich, welchen Bärendienst sich die United Irishmen damit erwiesen, ihr Vorgehen so umfassend an französische Waffenhilfe zu binden. Fazit. Wendet man sich nun abschließend der Frage nach der Bedeutung der Französischen Revolution für Irland zu, so kann man – in Analogie zur Bedeutung der Amerikanischen Revolution – festhalten, daß sie in den Kreisen von Reformern und Radikalen enorme Hoffnungen auf gesellschaftlichen Wandel weckte und insofern die zentrale Triebfeder für die Renaissance der irischen Reformbemühungen Anfang der 1790er Jahre darstellte. Die relative Gleichzeitigkeit der Ereignisse in Frankreich und Irland mit bloßer chronologischer Koinzidenz abtun zu wollen, stellt die einzige, aber wenig plausible Alternative dazu dar. Ebenfalls analog zur Amerikanischen Revolution muß die Bedeutung revolutionärer Symbole und Rhetorik hervorgehoben werden, die aus Frankreich übernommen wurden und zu integralen Bestandteilen der politischen Sprache in Irland avancierten. Darauf wird zu einem späteren Zeitpunkt unter besonderer Berücksichtigung des Begriffs ‚Nation‘ noch zurückzukommen sein. Die letzte wichtige Gemeinsamkeit ist schließlich, daß beide Großereignisse in Irland aus der Perspektive spezifisch irischer Interessen und Wahrnehmungen rezipiert und gedeutet wurden. Entscheidend für die Rezeption beider Revolutionen war nicht, wie es eigentlich gewesen war, sondern wie es subjektiv aus Sicht irischer Akteure wahrgenommen und gedeutet wurde. Dieser Hiatus zwischen dem Ereignis und seiner Wahrnehmung war vor allem für einen Effekt der Französischen Revolution in Irland ausschlaggebend: Die fundamentale Polarisierung der irischen Gesellschaft. Die Nähe und die Radikalität der französischen Umwälzung zwang – zumindest nach zeitgenössischen Äußerungen – jedermann zu einer Positionierung, die wahlweise und individuell nach politischen Präferenzen, sozialer Lage oder kulturellen Faktoren (von der konfessionellen Zugehörigkeit bis zu tradierten Feindbildern) entschieden werden konnte. In jedem Fall aber basierte die Entscheidung auf einer durch ein Prisma irischer Wahrnehmungs- und Deutungsmuster gebrochenen Wahrnehmung der Französischen Revolution. Es war das in der Revolution vermutete Bedrohungspotential für ihre gesellschaftliche Stellung in Irland, das die Ascendancy 864 Ebd., S. 265, 266f. 274 und die katholische Oberschicht aus Adel und Klerus zur Verteufelung der Revolution trieb, während irische Reformer vor allem das emanzipatorische Potential der Revolution für Irland im Blick hatten und tendenziell eher mit einer Idealisierung der Revolution reagierten. Ein echtes Novum stellten die Kriterien der Positionierung dar: Während die Grenzlinie zwischen Befürwortern und Gegnern im Fall der Amerikanischen Revolution konfessioneller Natur war, war sie während der Französischen Revolution zunehmend an sozialen Grenzen ausgerichtet. Hier standen sich nicht mehr Protestanten und Katholiken gegenüber, sondern der erste und zweite Stand dem dritten und vierten. Eine Einschränkung ist zu dieser Aussage jedoch notwendig: Interessanterweise – und das belegt noch einmal die spezifisch irische Couleur der Interpretation der Französischen Revolution – konnte sich trotz dieser veränderten Lage weder im ersten und zweiten noch im vierten Stand eine konfessionsübergreifende Allianz ausbilden. Die Ascendancy dachte gar nicht daran, mit dem katholischen Klerus und Adel zu kooperieren und die Defenders blieben eine katholische Unterschichtenorganisation. Nur dem irischen Wirtschafts- und Bildungsbürgertum gelang es mittels gemeinsamer Feindbilder und partiell überlappender Interessen für kurze Zeit (zwischen 1795 und 1798) eine labile Allianz herzustellen. Mit anderen Worten: Wenn man das irische Establishment analog zu Frankreich als Ancien régime auffassen will, dann muß man in Rechnung stellen, daß es sich hier um einen kolonialen Subtypus dieses Systems handelte und daß die irischen Wahrnehmungen der Französische Revolution auf Deutungsmustern beruhten, die aus präexistenten, kolonialen Konflikten basierten Ein weiterer Unterschied zwischen dem Einfluß der Amerikanischen und Französischen Revolution auf Irland eröffnet sich, wenn man die Akteursebene betrachtet. Im ersten Fall reagierten irische und britische Akteure bloß in Irland auf die Aktivitäten der amerikanischen Kolonisten in Amerika, im zweiten Fall aber agierten französische und britische Akteure in Irland und irische Protagonisten in Frankreich. Das demonstriert den fundamental anderen Charakter der irischfranzösischen Verbindung: Sie lag mit Blick auf die Dichte der Interaktion näher an der Qualität der anglo-irischen als an der der amerikanisch-irischen Beziehungen. Dieser Umstand reflektiert nicht nur die geographische Nähe zwischen Frankreich und Irland, sondern vor allem den Versuch irischer Radikaler und französischer Revolutionäre, eine militärische Zusammenarbeit ins Leben rufen. 275 Für das Scheitern dieses Unternehmens sind folgende Gründe festzuhalten: Erstens divergierende Interessen, die dazu führten, daß sich keine der beiden Seiten von der jeweils anderen in die Karten schauen ließ, und zweitens unrealistische Erwartungen auf beiden Seiten. MARIANNE ELLIOTT hat zurecht darauf hingewiesen, daß die französische Seite von den United Irishmen „alles für nichts“ erwartete, d.h. einen Sieg über Großbritannien bei minimalem französischen Einsatz. Hierin wurden sie durch die irreführenden Informationen der United Irish Agenten bestärkt, die maßlos die Kampfstärke der United Irishmen und die Rebellionsbereitschaft der irischen Bevölkerung übertrieben, um einerseits überhaupt französische Waffenhilfe zu erhalten und andererseits Frankreich keinen Appetit auf eine Annektion Irlands zu machen. Andererseits erwarteten zumindest einige der United Irishmen zuviel, weil sie einerseits ihren Status als Alliierte Frankreichs deutlich überschätzten, andererseits aber ihre eigenes Verhalten sowohl gegenüber ihrer Gefolgschaft wie gegenüber dem Gegner zu sehr von französischer Waffenhilfe abhängig machten. Irland genoß nur für sehr kurze Zeit eine prominente Position in der französischen Militärstrategie und es grenzt an Realitätsverlust, wie Tandy und Konsorten angesichts dieser Situation in Frankreich auftraten. Auch unterschätzten die United Irishmen – Tone und Lewins inklusive – die Fluidität der revolutionären Verhältnisse und die Kommunikationsschwierigkeiten, die – auch ohne Tandy Eskapaden – verhinderten, daß die United Irishmen in Paris geschlossen auftreten und mit einer Stimme sprechen konnten. Es ist zwar eine billige, weil retrospektive Kritik, aber den Erfolg der Mission in Frankreich hauptsächlich an Carnot und Hoche zu hängen und ständig neue Interessenvertreter ins Rennen zu schicken war wohl ebenso ein Fehler wie bei der Vorbereitung der Rebellion in Irland der französischen Waffenhilfe einen zu großen Stellenwert zu verleihen. IV. Innere und äußere Konfliktkonstellationen in Irland (1691-1798): ein Bilanzierungsversuch Das zentrale Resultat der Konstellationsanalyse – die fundamentale und umfassende Fragmentierung der irischen Gesellschaft – hat die Ausgangshypothese auf breiter Front erhärtet, daß in Irland der Entstehungskontext des Nationalismus 276 gegen Ende des 18. Jahrhunderts durch ein ungewöhnliches Maß gesellschaftlicher Zersplitterung geprägt wurde, der besondere Anstrengungen nötig machte, um eine nationale Integrationsideologie überhaupt signifikanten Teilen der Bevölkerung plausibel zu machen. Zugleich ist aus der Konstellationsanalyse aber auch deutlich hervorgegangen, daß irische Nationalisten potentiell auf eine Vielzahl von gesellschaftlichen Konflikten rekurrieren konnten, um eine nationale Integrationsideologie zu legitimieren. Außerdem kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß Irland gegen Ende des Jahrhunderts die Voraussetzungen mitbrachte, die für die Genese des Nationalismus zwar nicht hinreichend, aber unabdingbar sind. Hierzu zählten vor allem eine in den urbanen Zentren, z.T. aber auch auf dem Land zumindest ansatzweise politisierte Bevölkerung, eine funktionierende Medienöffentlichkeit, die von der Presse und einer äußerst vitalen Flugschriftenliteratur getragen wurde und die mit der zunehmenden staatlichen Zentralisierung in Irland einhergehende kommunikative und infrastrukturelle Anbindung der Peripherie an die Zentren in Dublin und Belfast, die sich nicht zuletzt in der Migration zwischen Stadt und Land und damit in einer wachsenden, wenn auch ungleich verteilten Mobilität der Bevölkerung niederschlug. Andererseits soll man den Stellenwert dieser allgemeinen, letztlich modernisierungstheoretisch verankerten Faktoren nicht zu hoch veranschlagen, denn schließlich machen sie den Nationalismus nicht, sie machen ihn nur möglich. Anders hingegen liegen die Dinge, wenn es um die Folgen der Modernisierung der irischen Gesellschaft im 18. Jahrhundert geht, denn diese waren von entscheidender Bedeutung für die Form und Qualität gesellschaftlicher Konflikte. Hier ist vor allem festzuhalten, daß die gesellschaftliche Entwicklung Irlands im 18. Jahrhundert ungleichgewichtig war und daß sich die Konflikte in zwei gesellschaftlichen Dimensionen konzentrierten: dem politischen und dem sozialen Bereich. Die politische Partizipations- und die soziale Distributionskrise – das waren im 18. Jahrhundert die primären Konfliktherde in Irland. Nimmt man nun die Konflikte selbst – d.h. ihre Form und Entwicklung über die Zeit – in den Blick, dann lassen sich folgende Muster identifizieren: 1. Allgemeine gesellschaftliche Konflikte waren hochgradig anschlußfähig an kolonial-konfessionelle Konflikte. Diese Feststellung erscheint auf den ersten Blick widersinnig, weil kolonial-konfessionelle Konflikte natürlich auch prinzipiell den vier gesellschaftlichen Dimensionen zugeordnet werden können. 277 Andererseits macht eine analytische Differenzierung zwischen ‚normalen‘, ubiquitären gesellschaftlichen Konflikten einer- und kolonial-konfessionellen Konflikten andererseits Sinn. Denn nur so ist überhaupt feststellbar, wie kolonial-konfessionelle Wahrnehmungen, die aus ebensolchen Konflikten resultierten, das Verständnis der Zeitgenossen von den – am europäischen Durchsschnitt des 18. Jahrhunderts gemessen – nicht außergewöhnlichen Konflikten überlagerte und z.T. verstärkte. Ein eklatantes Beispiel hierfür sei kurz ins Gedächtnis gerufen, um zu verdeutlichen, was gemeint ist: Daß der Protest der presbyterianischen Kleinpächter in Ulster, der durch eine Verschlechterung der Pachtbedingungen hervorgerufen wurde und in den Peep-o‘-DayDefender-Auseinandersetzungen mündete, sich ab 1784 nicht gegen die Landbesitzer, sondern gegen die anderskonfessionellen Kleinpächter richtete, ist ohne eine kolonial-konfessionelle Interpretation eines sozioökonomischen Konflikts schlichtweg nicht zu erklären. 2. These 1 wird dadurch erhärtet, daß sich in allen gesellschaftlichen Bereichen die koloniale Machthierarchie in der Konfliktstruktur widerspiegelt: Die Handlungsinitiative lag grundsätzlich bei der kolonial überlegenen Machtinstanz. Die Ascendancy reagierte auf britische Interventionen, die Dissenter und Katholiken auf die Offensiven der Ascendancy. Geschlossen wird der Kreis dadurch, daß selbst die Kolonialmacht Großbritannien in bestimmten Situationen (vor allem in äußeren Krisen) von Irland aus unter Druck und in Handlungszwänge geraten konnte. Dieses Muster wurde lediglich zu Beginn der 1790er Jahre kurzfristig außer Kraft gesetzt, als die interkonfessionelle Reformbewegung vorübergehend soviel Machtressourcen mobilisieren konnte, um die Kolonialelite in die Defensive zu drängen. Die anti-reformerischen Repressionen ab dem Convention Act von 1793 demonstrieren allerdings, daß die Ascendancy sehr bemüht war, den Status quo ante möglichst rasch wiederherzustellen. 3. Dauerhafter, aber parallel zu These 2, wurde die Deutungs- und Zuschreibungshegemonie der Ascendancy von den ‚peripheren‘ Bevölkerungsgruppen angegriffen: Zu Anfang des 18. Jahrhundetrs lag die Deutungshegemonie und die Hegemonie über die Zuschreibung des gesellschaftlichen Status einzelner Bevölkerungsgruppen klar in den Händen der Ascendancy. Die Strafgesetze liefern den schlagenden Beweis dafür. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts er278 kämpften sich die ‚peripheren‘ konfessionellen Gruppierungen – also die Katholiken und Dissenter – jedoch einen eigenen Deutungsanteil. Auf unterschiedliche Weise: Während die Dissenter mit regionaler Abkapselung und Errichtung eines eigenen politisch-religiös fundierten Bezugsrahmens reagierten, der ihnen eine prinzipielle Oppositionshaltung gegenüber dem Kolonialregime ermöglichte, verfolgten die Katholiken eine pragmatische ‚Zweischienen-Politik‘, die durch Assimilationsversuche und Unterwerfungsgesten einerseits und einen auf Korporationsgeist beruhenden sozioökonomischen Wiederaufstieg andererseits charakterisiert war. Beides jedoch resultierte in einer Steigerung des Selbstbewußtseins des presbyterianischen und katholischen Bürgertums, der die Plattform für die Reformbewegung Anfang der 1780er und 1790er Jahre bildete. 4. Als ein wesentlicher Faktor hinter allen kolonial motivierten Faktoren hat sich die doppelte Frontstellung der Ascendancy gegen Großbritannien und den Rest der irischen Bevölkerung herausgeschält. Die Eigenwahrnehmung der Ascendancy, die sich zwischen der Scylla britischer Intervention und der katholischen Charybdis gefangen sah, ist zusammen mit reinen Machtinteressen dafür verantwortlich zu machen, daß eine politische Zusammenarbeit – auch mit dafür geeigneten und qualifizierten Teilen der katholischen Bevölkerung wie dem Klerus und dem Adel nicht zustandekam. Daher rührt auch der Reformstau, den die periphere Opposition seit Anfang der 1790er Jahre mit zunehmender Nachdrücklichkeit gegenüber dem Kolonialregime und der Ascendancy geltend machte, und der Versuch, den Reformforderungen mittels ebenfalls zunehmender Repressionen Herr zu werden. Der springende Punkt ist, daß sich die Ascendancy aufgrund ihrer spezifischen Position in der irischen Gesellschaft zu einer defensiven Modernisierung vollständig außer Stande erwies, um den oppositionellen Druck kontrolliert entweichen zu lassen. Statt dessen erhöhte sie den Gegendruck bis der Kessel platzte. Der Strudel von 1798 riß jedoch beide, die Opposition und die Ascendancy, mit sich fort: Der Sieg der Ascendancy über die Opposition erwies sich als Pyrrhussieg. Während der staatlichen Vereinigung von Irland und Großbritannien im Jahr 1800 verleibte sich die britische Kolonialmacht kurzerhand das ein, was die inneririschen Auseinandersetzungen übriggelassen hatten. 279 Die Untersuchung der irischen Außenbeziehungen nach Großbritannien, Amerika und Frankreich hat vor allem das Ergebnis gehabt, die Thesen, die aus der Analyse der kolonialen Binnenstrukturen resultierten, zu modifizieren und zu ergänzen. Speziell im Hinblick auf die anglo-irischen Beziehungen haben sich dabei zwei wichtige Feststellungen ergeben. Erstens ist die Opferrolle der irischen Seite, die im kolonialen Interpretationsansatz quasi automatisch enthalten ist, relativiert worden, denn im Feld der anglo-irischen Beziehungen sind – für eine Vielzahl irischer Akteure – Handlungsspielräume nachgewiesen worden, die ein solches Verständnis nicht zulassen. Auch die klare dichotomische Kategorisierung ‚Kolonisten‘ vs. ‚Kolonisierte‘ hat sich zwar nicht als analytisch falsch, aber als faktisch problematisch herausgestellt, denn Allianzen irischer und britischer Akteure, die sich in der Regel gegen eine Gruppe richteten, die in der Machthierarchie höher angesiedelt war, zeigen ein Verhalten, das mit der Vorstellung einer strikten Trennung oder eines strikten Antagonismus nicht zu vereinbaren ist und so noch einmal den idealtypisch überspitzten Charakter dieser zentralen Kategorie zur Beschreibung der irischen Gesellschaft ins Bewußtsein ruft. Es waren Minderheiten an der Peripherie der konfessionell voneinander getrennten kolonialen Bevölkerungsgruppen, von denen die Impulse zur Überwindung der konfessionellkolonialen Grenzziehungen ausgingen: Auf der individuellen Ebene koloniale Außenseiter wie Wolfe Tone, der zwar zum Dunstkreis der Ascendancy gehörte, sich aber nie richtig in ihr etablieren konnte, auf der kollektiven Ebene marginalisierte politische und/oder konfessionelle Gruppen, wobei kritisch anzumerken ist, daß politische Vorbehalte gegen das Regime und konfessionelle Orientierungen – ebenso übrigens wie Regimekritik und soziale Lage – realiter tendenziell miteinander verschmolzen. Die zweite wichtige Feststellung ist die Selbstverständlichkeit, mit der sich nicht nur britische Akteure in Irland, sondern ebenso irische Akteure in Großbritannien bewegten. Diese Erkenntnis relativiert die – nationalistisch imprägnierte – Sichtweise von zwei durch die irische See voneinander getrennten Inseln (und später: Nationen). Die vielfältigen Interaktionen auf den diversen Ebenen der irischen und der britischen Gesellschaft erlauben jedoch ebenso eine integrative Betrachtungsweise, die auf der Ebene der sozialen und politischen Eliten aller Konfessionen (sowohl der alten aristokratischen wie der neuen bürgerlichen) von einem interinsularen politischen und kulturellen Raum ausgeht, die britischen Inseln also 280 gleichsam als ein großes Ganzes auffaßt. Hierin kann man sicherlich eine Konsequenz des Kolonialismus sehen – nämlich der Selbst- oder Fremdassimilation der irischen Kolonisierten unter der britischen Kolonialherrschaft –, aber das allein greift nicht weit genug, obwohl es natürlich wichtig ist. Einerseits ist die englische Kolonialherrschaft über Irland erst im Laufe von zwei Jahrhunderten allmählich hergestellt worden, während andererseits die anglo-irischen Beziehungen auch im 18. Jahrhundert schon auf eine ca. sechshundertjährige Geschichte zurückblicken konnten, wenn man die Ankunft Strongbows in Irland im Jahre 1170 – zugegebenermaßen relativ willkürlich – als Anfangspunkt setzt. Das bedeutet, daß Iren und Engländer und noch sehr viel mehr Iren und Schotten bereits lange vor der Kolonisation ‚vertraute Fremde‘ waren und daß man die Kolonisation – obwohl nationalistisch gesinnte Iren gegen diese revisionistische These vehement protestieren würden – auch als ‚Intensivierung‘ bereits bestehender politischer und kultureller Kontakte verstehen kann. Die Nationalisierung der anglo-irischen Beziehungen, die im späten 18. Jahrhundert einsetzte, hat diese interinsulare Vertrautheit, die Irland kulturell und politisch in die Rolle eines Westbritanniens schiebt, zwar in den Hintergrund gedrängt, aber bis auf den heutigen Tag nicht gänzlich zu beseitigen vermocht. Es mag zwar ein langer Weg nach Tipperary sein, aber zwischen Dublin und London waren die Wege im 18. Jahrhundert bereits recht kurz und das sind sie heute immer noch. Die beiden äußeren Großereignisse des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die Amerikanische und die Französische Revolution, waren vor allem als Impulsgeber und als Hintergrund von inneririschen Politisierungs- und Reformprozessen wichtig. Beide dienten oppositionellen Kreisen in Irland als Modell und historischer Präzedenzfall, die von den organisatorischen Kollektivakteuren – allen voran den Volunteers und den United Irishmen – zur Massenmobilisierung und zur Stärkung der Moral der Oppositionellen eingesetzt wurden, als Anknüpfungspunkt für politische Hoffnungen, als Quelle für spezifische Formen oppositoneller und radikaler Rhetorik, Symbolik und Metaphorik und – im Fall Frankreichs – sogar als potentieller militärischer Bündnisgenosse. Kurzum: Durch diese beiden Großereignisse wurden zwei aufeinander folgenden irische Generationen – entweder als Gegner und Kritiker oder als Förderer und Befürworter – politisch sozialisiert. Dabei ist allerdings deutlich zwischen den beiden Revolutionen hinsichtlich der Gruppen, die in Irland durch die Ereignisse politisiert wurden, und der Qualität der Politi281 sierung zu unterscheiden. Die Amerikanische Revolution trug entscheidend zur schichtübergreifenden Emanzipation der ‚protestantischen Nation‘ (d.h. des politisch aktiven Teils der protestantischen Bevölkerung) gegenüber der Kolonialmacht Großbritannien bei, während die Französische Revolution (zumindest bis zur Terreur) konfes-sionsübergreifend das irische Bürgertum politisierte – mit einer Tendenz zur Ausweitung der Politisierung in Richtung des vierten Standes. Ein weiterer wesentlicher Unterschied bestand darin, daß die Amerikanische Revolution konstitutionellen Autonomiebestrebungen in Irland Auftrieb gab, die mit klassischen liberalen Argumentationsstrukturen fast deckungsgleich waren, während die Französische Revolution zunehmend radikalere Orientierungen hin zur Errichtung einer Republik, zur Beseitigung der Monachie und – in Verbindung damit – auch zur vollständigen Trennung Irlands von Großbritannien begünstigte. Ein dritter wichtiger Unterschied ist das Ausmaß der gesellschaftlichen Polarisierung in Irland, daß durch die beiden Großereignisse hervorgerufen wurde, und die Fluidität der Wahrnehmungen von den Revolutionen in Irland. Zum Ausmaß der Polarisierung läßt sich festhalten, daß diese im Hinblick auf die Französische Revolution wesentlich stärker ausgeprägt war, was zum Teil an der Radikalität der Französischen Revolution und ihren gesellschaftlichen Implikationen, zum Teil aber auch an den spezifischen zeitgenössischen Interpretationen der Französischen Revolution in Irland lag, die auf kolonialen, konfessionellen und sozialen Wahrnehmungsmustern beruhte. Was die Fluidität der zeitgenössischen Interpretationen in Irland betrifft, kann hinsichtlich der Amerikanischen Revolution in Anlehnung an OWEN DUDLEY EDWARDS festgehalten werden, daß lediglich zu bemerken ist, daß die protestantische Amerikanophilie in dem Maße abnahm, wie die Bündnispolitik der amerikanischen Kolonisten – also vor allem das Bündnis mit Frankreich und Spanien – eine konfessionelle Lesart der Ereignisse erschwerte. Die Entwicklung der irischen Frankophilie bzw. –phobie hingegen unterlagen einer anderen, schichtspezifischen Logik: Das Lager der irischen Revolutionsgegner setzte sich zunächst aus dem irischen Schichtpendant der französischen Revolutionsgegner zusammen (also aus Adel und Aristokratie) und erweiterte sich sukzessive um die moderaten Teile des irischen Bürgertums aller Konfessionen, bis schließlich auf der Seite der Frankophilen nur noch Radikale aus allen Schichten und Konfessionen und die Defenders als ansatzweise politisierte Repräsentanten des (überwiegend katholischen) vierten Standes übrigblieben. Das Verhältnis des 282 irischen Bürgertums zur Französischen Revolution entspannte sich allerdings nach dem Ende der Terreur wahrnehmbar und das zeigt, daß der komplexe Verlauf der Französischen Revolution sich auch in den irischen Reaktionen darauf widerspiegelte und nachzeichnen läßt. Dies sind die gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen die Genese des republikanischen, irischen Nationalismus in den 1790er Jahren stattfand, der sich vom protestantischen Protonationalismus, dem sogenannten ‚colonial nationalism’ der sogenannten ‚Protestant Nation‘, kategoriell vor allem dadurch unterschied, daß er als Integrationsideologie an die Adresse der Iren aller Konfessionen gerichtet war, daß er dezidiert politisch (und nicht kulturell) fundiert war und daß er seine Gegner nicht nur in Großbritannien, sondern auch in der als britischer Brückenkopf in Irland wahrgenommenen Ascendancy suchte und fand. Nun gilt es, sich den Trägerschichten und organisatorischen Kollektivakteuren zuzuwenden, um mehr über die soziale Basis des republikanischen, irischen Nationalismus zu erfahren. 283