31 B. Konstellationsanalyse: Konfliktstrukturen in der irischen

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31 B. Konstellationsanalyse: Konfliktstrukturen in der irischen
B. Konstellationsanalyse: Konfliktstrukturen in der irischen
Kolonialgesellschaft im 18. Jahrhundert
I. Einleitung
„Nationalistische Ideologie ist weder der Ausdruck einer nationalen Identität
(zumindest gibt es keinen rationalen Weg, um nachzuweisen, daß dies der
Fall ist) noch die willkürliche Erfindung von Nationalisten für politische
Zwecke. (...) Genau weil ihre [nationalen – MR] Annahmen nicht rein willkürlicher Natur sind, müssen sie eine mehr oder weniger plausible Verbindung mit existierenden sozialen Arrangements und Bedürfnissen, mit tatsächlichen Überzeugungen und mit oftmals weit verbreiteten politischen
Mißständen aufweisen.“1
Der zentrale Gesichtspunkt dieser These JOHN BREUILLYS liegt in der Annahme,
daß nationale Ideologien nicht willkürlich, sondern in Abhängigkeit von und Anlehnung an konkrete, präexistente gesellschaftliche Sachverhalte entstehen. Mit
dieser Position steht Breuilly keineswegs allein, sie reflektiert vielmehr eine allgemeine Grundannahme, die zumindest seit ERNEST RENANS lakonischer Feststellung, daß der Mensch sich selbst nicht aus dem Stegreif erfinden kann,2 in der
Nationalismusforschung implizit oder explizit opinio communis ist.3 Wenn jedoch
Nationalismus und nationale Ideologien auf der Basis gesellschaftlicher und historischer Realitäten entstehen, dann müssen sie, wie ERIC HOBSBAWM schreibt, „im
Kontext dieser Realitäten erklärt werden.“4
Dazu bedarf es zweierlei: Erstens muß das generelle Verhältnis zwischen dem
gesellschaftlichen Entstehungskontext des Nationalismus5 und dem tatsächlichen
Entstehungsprozeß im Vorgriff geklärt werden, bevor im zweiten Schritt der auf
diese Weise umrissene Rahmen mit Inhalt gefüllt und nach den spezifischen „so-
1
J. Breuilly, Nationalism and the State, Manchester 19932, S. 63. (meine Übersetzung)
Renan, Nation, S. 34.
3
Vgl. exemplarisch K.W. Deutsch, Nation und Welt, in: H.A. Winkler (Hg.) Nationalismus,
Königstein 19852, S. 49-66; B. Anderson, Imagined Communities, Reflections on the Origin and
Spread of Nationalism, London 1991; A.D. Smith, National Identity, Harmondsworth 1991; E.
Gellner, Nationalismus und Moderne, Hamburg 1995 (engl. Originalausg. 1983); E.J. Hobsbawm,
Nationen und Nationalismus seit 1780, Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt/M. 19922 (engl.
Originalausg. 1990).
4
Hobsbawm, Nationen, S. 20.
5
‚Der Nationalismus’ wird hier als generischer Begriff für die gesamte Bandbreite spezifischer
Nationalismen (d.h. der spezifischen Ausprägungen des übergreifenden Phänomens ‘Nationalismus) verstanden.
2
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zialen Arrangements", die im Kontext des konkreten Untersuchungsgegenstands
relevant werden, gefragt werden kann.
a) Das Verhältnis zwischen Entstehungskontext und Entstehungsprozeß des
Nationalismus. Der überwiegende Teil der Nationalismusforschung, der von der
These ausgeht, daß es sich beim Nationalismus um ein Phänomen moderner Gesellschaften handelt, das erst im Laufe des 18. Jahrhunderts, an der Schwelle zur
Neuzeit entsteht,6 sieht einen Zusammenhang zwischen der Entstehung des Nationalismus einerseits und gewissen gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozessen
andererseits.7 Letztere werden wahlweise mit den Stichworten ‘staatliche Zentralisierung’, ‘Säkularisierung’, ‘Industrialisierung’, ‘soziale Mobilität’, Durchsetzung der ‘Marktwirtschaft’, Entstehung einer ‘Hochkultur’ samt der dazugehörigen staatlichen Bildungsinstitutionen, ‘technologischer Fortschritt’ und ‘neuen
Kommunikationsformen’ umrissen.8 Die Akzentuierung der einzelnen Faktoren
unterscheidet sich zwar ebenso von Autor zu Autor wie die Nachdrücklichkeit,
mit der einige Autoren einen bestimmten Nexus zwischen gesellschaftlichem Entstehungskontext und der tatsächlichen Genese des Nationalismus hervorzuheben
versuchen, aber angesichts des Tableaus gesellschaftlicher Referenzpunkte ist ein
modernisierungs-theoretischer Bezugsrahmen dieser Autoren schlechterdings
nicht von der Hand zu weisen. Sie gehen ausnahmslos alle davon aus, daß gewisse
gesellschaftliche Bedingungen erfüllt sein müssen, bevor Nationalismus überhaupt entstehen kann.
Andererseits muß RENANS Hinweis, daß der Mensch sich nicht aus dem Stegreif
erfindet, und daß ,die‘ Nation – wie der Einzelne – der Endpunkt einer langen
Vergangenheit von Anstrengungen, Opfern und Hingabe darstellt, ernstgenommen werden.9 Auch die Nation kann der Mensch nicht aus dem Stegreif erfinden,
er muß zu diesem Zweck auf präexistentes, kulturelles ,Rohmaterial’ zurückgreifen.10 A. D. SMITH hat hierfür die einprägsame Formulierung gefunden, daß der
Nationalismus, einem Chamäleon gleich, die Farbe seines Kontextes annimmt.11
6
Autoritativ hierzu Langewiesche, Nation/Forschungsstand, S. 200-204.
Vgl. O. Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland, 1770-1990, München 1993, S. 14; P.
Alter, Nationalismus, Frankfurt/M. 1985, S. 10; Winkler, Nationalismus, S. 6.
8
Vgl. exemplarisch Deutsch, Nation, S. 51-53; Anderson, Imagined Communities, S. 9-46; Smith,
National Identity, S. 59-61; Gellner, Nationalismus, S. 34-97; Hobsbawm, Nationen, S. 20-24.
9
Renan, Nation, S. 34.
10
Vgl. Gellner, Nationalismus, S. 77.
11
Smith, National Identity, S. 79.
7
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Diesen Ergebnissen der modernen Nationalismusforschung zufolge gibt es also
einen doppelten Nexus zwischen der Genese des Nationalismus und seinem gesellschaftlichen Entstehungskontext:
1.) Bedingungsebene. Gewisse strukturelle Voraussetzungen müssen in einer
Gesellschaft erfüllt sein, bevor einerseits ‘die Nation’ denkbar, kommunizierbar und schließlich sensuell erfahrbar gemacht werden und bevor andererseits eine Nachfrage nach nationalistischen Orientierungsmustern
entstehen kann. Ohne eine politische Öffentlichkeit beispielsweise ist die
Genese eines Nationalismus kaum vorstellbar. Andererseits sind diese
strukturellen Voraussetzungen bloß als notwendige, nicht aber als hinreichende Entstehungsbedingungen eines Nationalismus zu betrachten: So
kann – um beim Beispiel zu bleiben – die Entstehung einer politischen Öffentlichkeit zwar die Genese eines Nationalismus nach sich ziehen, sie
muß es aber nicht. Mit deterministischen Setzungen im Stil einer Rezeptur
für die Genese des Nationalismus kommt man also nicht weiter, es bedarf
notwendig der empirischen Überprüfung am Einzelfall, wenn man die unentbehrlichen Vorbedingungen für die Genese eines spezifischen Nationalismus ergründen will.
2.) Konstruktionsebene. Nationalisten konstruieren ‘ihre’ Nation unter
Rückgriff auf gesellschaftliche Werte, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster und mit Hilfe von Symbolen und sozialen Praktiken, die sie aus der
Asservatenkammer gesellschaftlich-kultureller Artefakte entlehnen. Aufgrund der Mobilisierungserwartungen und -hoffnungen von Nationalisten,
die sie bei zweckrationalem Vorgehen dazu veranlassen, ‘ihre’ Nation
maßgeschneidert zu den antizipierten Erwartungen der potentiellen Gefolgschaft zu entwerfen, ist die spezifische Form, die einem Nationalismus
verliehen wird, also nur im kulturellen Kontext seiner Entstehungsgesellschaft zu entschlüsseln.
Angesichts des doppelten Nexus empfiehlt es sich, zunächst mit der Untersuchung
des historischen Hintergrunds und der Entstehungsbedingungen des republikanischen Nationalismus in Irland zu beginnen, um den Rahmen für die weitere Analyse abzustecken. Neben einer allgemeinen Einführung des Lesers in die irische
Geschichte des 18. Jahrhunderts dient dieses Kapitel vor allem dem Zweck, Konfliktpotentiale und mögliche Bruchstellen in der irischen Gesellschaft zu identifi33
zieren, die entweder Barrieren oder Ansatzpunkte für nationalistische Identifikationsprozesse bilden konnten und zugleich entscheidenden Einfluß auf Vergemeinschaftungsprozesse in der irischen Gesellschaft hatten.12 Im Zentrum der folgenden Konstellationsanalyse steht also eine konflikttheoretisch fundierte Analyse
gesellschaftlicher Fragmentierungsprozesse (oder positiv gewendet: innergesellschaftlicher Gruppenbildungsprozesse).13 Diese Fokussierung der Konstellationsanalyse ist hochgradig präjudizierend und daher erklärungsbedürftig. Der Grund
für diese Vorentscheidung liegt im zentralen Spezifikum der Genese des republikanischen Nationalismus in Irland – seinem kolonialen Entstehungskontext. Wir
beenden also an dieser Stelle den allgemeinen Vorgriff und beginnen damit, den
abgesteckten analytischen Bezugsrahmen an den konkreten Untersuchungsgegenstand anzubinden.
b) Der koloniale Entstehungskontext des republikanischen Nationalismus in
Irland. Von MAX WEBER stammt die Erkenntnis, daß
„»Nation« (...) ein Begriff [ist], der, wenn überhaupt eindeutig, dann jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr Zugerechneten
definiert werden kann. Er besagt, im Sinne derer, die ihn jeweilig brauchen,
zunächst unzweifelhaft: daß gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten sei, gehört also der Wertsphäre an. Weder darüber aber, wie jene Gruppen abzugrenzen seien, noch
darüber, welches Gemeinschaftshandeln aus jener Solidarität zu resultieren
habe, herrscht Übereinstimmung.„14
Demnach können also über den empirisch nachprüfbaren Einzelfall hinaus keine
verläßlichen Aussagen über den mit einer Nation verbundenen Handlungshorizont, ihre tatsächlichen Demarkationslinien oder Zugehörigkeitskriterien gemacht
12
In Anlehnung an Max Weber wird hierunter eine soziale Beziehung verstanden, deren „Einstellung des sozialen Handelns (...) auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht.“ Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriß
der verstehenden Soziologie, Tübingen 19805, S. 21. (Fortan zitiert als WG)
13
Auf eine einfache Formel gebracht, geht die Konflikttheorie davon aus, daß Konflikte „in allen
Gesellschaften vorfindbare Prozesse der Auseinandersetzung [sind], die auf unterschiedlichen
Interessen sozialer Gruppierungen beruhen und die in unterschiedlicher Wese institutionalisiert
sind und ausgetragen werden.“ B. Schäfers (Hg.), Grundbegriffe der Soziologie, Opladen 19985,
S. 182. Hinsichtlich der gesellschaftlichen Funktionalität oder Dysfunktionalität von Konflikten
herrscht Uneinigkeit. In der Tradition G. Simmels bewerten Strukturfunktionalisten Konflikte als
positive Erscheinungen, die zur Aneignung neuer sozialer Normen und damit dem gesellschaftlichen Wandel dienen. Im Gegensatz dazu bewertete R. Dahrendorf Konflikte als Gefahr für das
gesellschaftliche Gefüge und machte die sozial integrative Wirkung der Konfliktregelung gegenüber den potentiell explosiven Effekten der Konfliktaustragung stark. Letztlich wird man wohl
anhand der Intensität der Konflikte und der applizierten Konfliktregelungsmechanismen bzw. der
Art der Konfliktaustragung entscheiden müssen, ob es sich um ein funktionales oder dysfuntkionales Phänomen handelt. Vgl. ebd. 183f. Der entscheidende Pluspunkt einer konflikttheoretischen
Herangehensweise besteht in der Fokussierung auf Interessen und Machtpotentiale, mittels derer
diese Interessen umgesetzt werden bzw. werden können.
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werden. Gleichwohl richtet WEBERS These die Aufmerksamkeit auf zwei Aspekte, die allen Nationalismen gemein sind: Erstens handelt es sich um Abgrenzungen – also um die Klassifizierung der Welt in die Gruppe der Zugehörigen (‚die
Eigenen’) und der Nichtzugehörigen (‚die Fremden’) auf der Basis von nur im
Einzelfall zu ermittelnden Differenzbestimmungen15 – und zweitens beinhaltet
das Konzept ‚Nation’ sui generis eine Handlungsaufforderung. Es ist diese notwendige Klassifizierung in das ‚Eigene’ und das ‚Fremde’ nebst ihren Implikationen,16 die im kolonialen Entstehungskontext eines Nationalismus zu spezifischen
Problemen führt.
Kolonisten und Kolonisierte stehen in ständigem Austausch miteinander und gleichen sich so im Laufe der Zeit tendenziell aneinander an (ohne daß damit behauptet werden soll, daß diese Entwicklung automatisch Konsequenzen für den hierarchischen Aufbau einer Kolonialgesellschaft nach sich zieht). Das Ergebnis solcher
kolonialer Interaktionsprozesse ist, daß ‚der Kolonist’ nicht mehr einfach als
‚Fremder’ stigmatisiert werden kann, er ist aus der Sicht der Kolonisierten ein
‚vertrauter Fremder’, der im Laufe von mehreren Generationen durchaus beginnen kann, sich von seiner kolonialen Muttergesellschaft zu entfremden und sich in
der Kolonie als ‚Einheimischer’ zu fühlen. Klassische Beispiele für dieses Problem der Beziehungen zwischen kolonialem Zentrum und kolonialer Peripherie
sind im 18. Jahrhundert neben den englischen Kolonisten in Irland vor allem die
englischen Kolonisten in Amerika. Der entscheidende Gesichtspunkt ist, daß in
einem solchen Fall typische Mechanismen der nationalen Integration nach innen
durch Abgrenzung nach außen, wie sie etwa MICHAEL JEISMANN am deutschfranzösischen und LINDA COLLEY am britischen Beispiel diskutiert hat,17 nicht
mehr funktionieren. Nationalistisch motivierter Widerstand bedeutet im kolonialen Kontext zwangsläufig Widerstand gegen das koloniale Mutterland (den äuße14
WG, S. 528.
B. Giesen, Die Intellektuellen und die Nation, Eine deutsche Achsenzeit, Frankfurt/M. 1993, S.
86-101. So auch Canetti, Masse, S. 186: „Denn es ist eitel, von Nationen zu sprechen, wenn man
sie nicht in ihren Unterschieden bestimmt.“
16
Vgl. R. Koselleck, Vergangene Zukunft, Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M.
19922, S. 212: „Eine politische oder soziale Handlungseinheit [also auch eine Nation – MR] konstituiert sich erst durch Begriffe, kraft derer sie sich eingrenzt und damit andere ausgrenzt, und
d.h. kraft derer sie sich selbst bestimmt.“ Notabene: Die Klassifizierung in das ‚Eigene’ und das
‚Fremde’ ist keine differentia specifica des Nationalismus, sondern ubiquitär. Vgl. ders., Feindbegriffe, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch 1993, S. 83-90, S. 83.
15
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ren Feind) und eine normalerweise in der ‚eigenen’ gesellschaftlichen Hierarchie
hoch angesiedelte Kolonistengruppe (den inneren Feind). Innere Feinde sind aber
stets ambivalenter Natur, sie sperren sich gegen polare, dichotomische Klassifizierungen (‚das Eigene’/‚das Fremde’, ‚Freund’/‚Feind’), weil generell die Möglichkeit besteht, daß sie die Seiten wechseln und im Widerstand gegen das koloniale Mutterland zu Verbündeten avancieren.18
Das zweite Problem, das zwar nicht für den kolonialen Entstehungskontext eines
Nationalismus spezifisch ist, aber hier in besonders ausgeprägter Form auftritt, ist,
daß die inhärente Homogenitätsfiktion des Nationalismus, mittels derer Nationalisten Gemeinschaft zu stiften versuchen, nachhaltig in Frage gestellt wird. Keins
der üblichen, potentiell Gemeinsamkeitsglauben und Solidaritätsempfinden stiftenden Kriterien greift im kolonialen Kontext. Zur Erhärtung dieser These kann
der von A.D. SMITH entwickelte Kriterienkatalog aufgegriffen und diskutiert werden.19
¾ Gemeinsame Abstammung. Nationalisten haben es im kolonialen Kontext stets mit mindestens zwei Abstammungsgemeinschaften zu tun. Diese
Schwierigkeit taucht auch in anderen Gesellschaften auf – man denke nur
an Vielvölkerstaaten wie Österreich oder das russische Reich –, aber im
Unterschied zu den Vielvölkerstaaten kann sie in einer Kolonialgesellschaft nicht dadurch gelöst werden, daß man numerisch unterlegene ethnische Bevölkerungsgruppen als Minderheiten deklariert und einer hegemonialen (als ‚national’ apostrophierten) ethnischen Bevölkerungsgruppe unterordnet. Im kolonialen Kontext ist es nämlich in der Regel die numerisch
unterlegene Kolonistenschicht, die den kolonialen Staatsapparat dominiert
und zur Verteidigung ihrer hegemonialen Position einsetzt. Also stellt sich
hier das aus den Vielvölkerstaaten bekannte Muster auf den Kopf: In einem kolonialen Regime wird die Mehrheit der Kolonisierten durch die
Minderheit der Kolonisten marginalisiert.
17
M. Jeismann, Das Vaterland der Feinde, Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992; L. Colley, Britons, Forging
the Nation 1707-1837, London 1992.
18
Koselleck, Feindbegriffe, S. 89, weist am Beispiel der Bürgerkriege – dem extremsten Fall
innerer Feindschaft – auf das paradoxe Wesen des ‚inneren Feindes’ hin: „Die meisten und vielleicht die brutalsten Bürgerkriege werden dort ausgetragen, wo sich beide oder alle Parteien mit
derselben Sprache als Feinde definieren und dementsprechend ermorden. Ein Blick in die Zeit der
religiösen Bürgerkriege oder heute nach Jugoslawien genügt.“
19
Smith, National Identity, S. 11, 14, 21.
36
¾ Gemeinsame historische Erfahrungen und Erinnerungen kann es in
einem kolonialen Kontext nicht geben, weil die Kolonisierten den im Vergleich zur Vorgeschichte relativ kurzen Erfahrungszeitraum, den sie mit
den Kolonisten teilen (also die Geschichte der Kolonisation), als Entrechtungs-, Leidens- und Unterdrückungsgeschichte (Geschichte der ‚Opfer’)
lesen, während die Kolonisten ihn als Geschichte legitimer Eroberung oder legitimer Zivilisationsprojekte interpretieren (Geschichte der ‚Sieger’).
Insofern hat man es immer mit mindestens zwei konfligierenden Geschichtsauffassungen und zwei Bedingungssets kollektiver Erinnerung zu
tun, die zwar potentiell über die gleichen Referenzpunkte in den res gestae
verfügen, sie aber diametral entgegengesetzt deuten.
¾ Ein oder mehrere Elemente einer gemeinsamen Kultur sind im kolonialen Kontext ebenfalls eher unwahrscheinlich. Im Einzelfall kann nicht
ausgeschlossen werden, daß es im kolonialen Kontext Elemente gemeinsamer Kultur gibt (wie etwa die konfessionelle Gemeinsamkeit zwischen
Kolonisten und Kolonisierten im von Österreich besetzten Teil Polens),
aber in Irland war dies dezidiert nicht der Fall: Es gab keine Sprachgemeinschaft zwischen der gälisch sprechenden autochthonen Bevölkerung
und den englischen Kolonisten, keine konfessionelle Gemeinschaft zwischen Katholiken und Anglikanern, eigene kollektive Selbst- und Fremdbezeichnungen20, keine geteilte Tradition, keinen gemeinsamen Herkunftsmythos.
¾ Gleiche Rechte und Pflichten, rechtliche oder politische Gleichheit
scheiden aus offensichtlichen Gründen im kolonialen Kontext ebenfalls als
Referenzpunkte für die Konstruktion einer nationalen Homogenitätsfiktion
aus, denn das zentrale Merkmal kolonialer Herrschaft besteht eben darin,
Kolonisten gegenüber den Kolonisierten rechtlich, politisch, ökonomisch,
sozial oder kulturell zu privilegieren. Unter diesen Umständen taugen auch
gemeinsame Institutionen wie eine Verfassung oder ein Parlament nicht
20
Die gälische Bevölkerung bezeichnete sich selbst als ‚Gael’, die Kolonisten dagegen als ‚Gall’
(= Fremde), wobei sie zwischen normannischen Siedlern (‚Séan Gall’ = ‚alte Fremde’) und englischen Siedlern (‚Núa Gall’ = ‚neue Fremde’) unterschied. Ähnlich aufschlußreich sind in diesem
Zusammenhang die gälischen Bezeichnungen für Schotten (Albanach) und Engländer (Sasanach =
Sachsen), die gleichzeitig zur Bezeichnung der ethnischen wie der konfessionellen Zugehörigkeit
dienten, die Schotten also als Presbyterianer und die Engländer als Anglikaner auswiesen.
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als potentielle Integrationskerne, weil der Zugang zu diesen Institutionen
für Kolonisten und Kolonisierte grundsätzlich ungleich geregelt ist.
Aus diesen Gründen ist die Konstruktion einer gesellschaftlichen Integrationsinstanz wie ‚der Nation’ im kolonialen Kontext noch prekärer als ohnedies schon.
Um es mit einem Satz zusammenzufassen: Das Wesen einer kolonialen Gesellschaft ist fundamental durch ein hohes Ausmaß an Fragmentierung geprägt, die
der Genese eines Nationalismus – verstanden als eine Integrationsideologie, welche eines gesellschaftlichen Konsenses oder Solidaritätsempfindens bedarf oder
auf dessen Affirmation abzielt – potentiell eher hinderlich ist. Genau in dieser
Fragmentierung liegt der Grund für eine konflikttheoretische Fundierung der Analyse. Aufgrund der kolonialen Präfiguration ist die Entstehung eines freiwilligen
gesellschaftlichen Konsenses höchst unwahrscheinlich. Gleichzeitig ist die koloniale Lagerbildung von gesamtgesellschaftlicher Tragweite, weil sie tendenziell
alle gesellschaftlichen Bereiche erfaßt und situative, kleinräumigere Interessenkonflikte überformt. Sozialökonomische Gegensätze und politische Konflikte
werden auf diese Weise von den Zeitgenossen in einem kolonialen Bezugsrahmen
wahrgenommen, gedeutet und entschieden und können so eine distinktiv koloniale Gestalt annehmen.21 Auch die Beurteilung des cui bono wurde von Zeitgenossen in der Regel kolonial vorstrukturiert. Neue Gesetze werden nicht danach beurteilt, inwiefern sie zum Nutzen der Gesamtgesellschaft, sondern nur inwiefern sie
zum Nutzen der eigenen kolonialen Großgemeinschaft sind.22
21
Folgendes Beispiel mag diese Struktur verdeutlichen: In den 1790er Jahren kam es in den
Randgebieten Ulsters zu erheblichen agrarischen Unruhen, deren Ursache in einem beträchtlichen
Bevölkerungswachstum und einer daraus folgenden relativen Verknappung der Ressource Land
bestand. Die Grundherren reagierten auf diese Situation, indem sie die Pachten bis an die
Schmerzgrenze erhöhten und die Pachtbedingungen für Kleinpächter verschlechterten. Andernorts
hätte das zu einer Verschärfung des Klassengegensatzes zwischen Landbesitzern und Landpächtern und zu agrarischem Protest gegen die Landbesitzer geführt. Nicht so jedoch in Ulster. Hier
wurde der Konflikt von den Kleinpächtern kolonial und konfessionell gedeutet: Protestantische
Pächter sahen sich von der katholischen Konkurrenz in die Ecke gedrängt, die aufgrund eines
niedrigeren Lebensstandards schlechtere Pachtbedingungen akzeptieren konnte, und setzten sich
zur Wehr, indem sie Geheimbünde gründeten und die katholischen Pächter durch Drangsalierung
aus den als angestammt ‚protestantisch’ betrachteten Siedlungsgebieten Ulsters in den ‚katholischen’ Westen abzudrängen versuchten. Die katholischen Pächter setzten sich mit den gleichen
Mitteln zur Wehr und im Nu entspann sich eine auf die Randgebiete Ulsters begrenzte Auseinandersetzung, die Züge eines „ethnic cleansing“ annahm. Vgl. R. Kee, The Most Distressful Country
(The Green Flag, Bd. 1), Harmondsworth 1972, S. 43f., 57-61; J. Smyth, The Men of No Property,
Irish Radicals and Popular Politics in the Late 18th Century, Dublin 1992, S.46-50.
22
So beschwerten sich etwa die anglo-irischen Protestanten über das von England 1699 verhängte
Wollexportverbot mit der kolonial fundierten Begründung, daß davon vorwiegend die angloirische Gemeinschaft und insbesondere anglo-irische Wollweber betroffen seien. D. Dickson, New
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Unter solchen Rahmenbedingungen nimmt die Herstellung eines in der Zielperspektive gesamtgesellschaftlichen – also auch eines nationalen – Konsenses notwendigerweise die Gestalt einer Sammlungspolitik an. Im Zentrum dieser Sammlungspolitik steht die Frage, wem es gelingt, auf der Basis postulierter gemeinsamer Interessen oder zumindest ausreichender Zugeständnisse an die Partikularinteressen einzelner Gruppen – aber auch durchaus brachial, auf der Basis schierer
Einschüchterung und Repression – genug gesellschaftliche Gruppen um sich zu
sammeln, um „den eigenen [in diesem Fall: ‚nationalen’ – MR] Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen.“23 Der Verweis auf ‚Einschüchterung’ und ‚Repression’ deutet bereits an, wo das Zentrum einer solchen Sammlungspolitik zu
verorten ist – in der Sphäre der Macht. Der springende Punkt ist, daß Legitimationsstrategien wie etwa die Postulierung gemeinsamer Interessen zwar flankierend
als vertrauensbildende Maßnahme von Bedeutung sind24 und unter Umständen die
Überwindung von Lagern erleichtern können, daß es aber letztlich um die Machtfrage geht. Schließlich müssen gemeinsame Interessen nicht vorhanden sein, sondern nur vorläufig wechselseitig glaubhaft gemacht werden, schließlich müssen
Zugeständnisse nicht realiter gemacht, sondern vorerst nur glaubhaft für die Zukunft angekündigt werden. Somit hängt die Verwirklichung dieser Postulate und
Ankündigungen zunächst notwendig davon ab, ob die Macht vorhanden ist, sie
umzusetzen – und im zweiten Schritt davon, ob nach dem Machterwerb noch Bereitschaft besteht, die Absprachen einzulösen (was ggf. wieder Konsequenzen für
das Machtpotential einer solchen Allianz hat, weil die Gefahr einer Refragmentierung besteht). Mit einem Wort: Sammlungspolitik zielt grundsätzlich immer auf
Machtakkumulation ab, während der Zweck, zu dem das generierte Machtpotential eingesetzt werden soll, ebenso verhandelbar ist wie die Legitimation für den
Akkumulationsversuch situativ begründet. Daher ist die Genese eines Nationalismus im kolonialen Kontext – gleichviel wie die Referenzpunkte einer konkreten
nationalen Integrationsideologie gesetzt werden – stets eine politische Angelegenheit, wenn man in Anlehnung an WEBER unter ‚Politik’ „Streben nach MachtFoundations: Ireland 1660-1800, Dublin 1987, S. 48; J.C. Beckett, The Making of Modern Ireland, 1603-1923, London 1966, S. 156.
23
WG, S. 28: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen
Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“
24
‚Vertrauensbildende Maßnahmen’ implizieren aber notwendig, daß dieses Vertrauen zunächst
nicht existiert, sondern erst mühsam durch die Tat (d.h. die Einhaltung der vereinbarten Übereinkünfte) aufgebaut werden muß und daher an ihr in der Folgezeit immer zu messen ist.
39
anteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei
es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt“25
versteht.
Konstellationsanalyse: Konzeption und Umfang. Vor dem Hintergrund dieser
Erwägungen dient die Konstellationsanalyse dazu, der Fragmentierung der irischen Kolonialgesellschaft inhaltliche Plastizität zu verleihen. Welche antagonistischen Potentiale bauten sich in der irischen Gesellschaft auf, welche gegensätzlichen Lager formierten sich? Wie veränderten sich die Konturen der Ausgangskonstellation, welche Annäherungs- und Entfremdungstendenzen lassen sich beobachten? Welche Machtmittel brachten die gegnerischen Parteien unter ihre Kontrolle? Die Relevanz dieser Fragestellungen liegt darin, daß sie den unmittelbaren
Bedingungshintergrund für die Genese des republikanischen Elitennationalismus
in Irland und den direkten Argumentationszusammenhang für die Agitation irischer, republikanischer Nationalisten bildeten, deren Anfänge sich bis kurz nach
„Grattan’s Revolution“ von 1782 zurückverfolgen lassen. Aus diesem Grund bildet das Jahr 1782 den Endpunkt des Zeitraums, der in der Konstellationsanalyse
abgedeckt werden muß. Den Anfang macht dagegen das Jahr 1691, weil dies die
chronologische Zäsur zwischen der kompletten Etablierung der englischen Kolonialherrschaft in Irland im 17. und ihrer Ausübung im 18. Jahrhundert darstellt.26
Untersuchungsebenen. Aus Gründen der Darstellbarkeit und Übersichtlichkeit
werden die inneririschen, endogenen Entwicklungen in die vier Ebenen ‘politische Herrschaft’, ‘Wirtschaft’, ‘soziale Ungleichheit’ und ‘Kultur’ aufgefächert, wobei ‚Wirtschaft’ und ‚soziale Ungleichheit’ wegen ihrer offensichtlichen
Überlappungen zusammen diskutiert werden, um Redundanzen zu vermeiden.
Diese offensichtliche Anlehnung an das gesellschaftsgeschichtliche Konzept H.U. WEHLERS könnte den Anschein erwecken, daß es sich bei dieser Konstellationsanalyse um den Versuch handelt, eine allgemeine, irische Geschichte des 18.
Jahrhunderts zu schreiben.27 Nichts wäre weiter von den vergleichsweise bescheidenen Zielsetzungen des Autors entfernt: Es geht hier lediglich um eine pragma-
25
M. Weber, Politik als Beruf, in: Gesammelte Politische Schriften, hrsg. v. Marianne Weber,
München 1921, S.396-450. S. 397.
26
Diesem Konzept eines ‚langen’ 18. Jahrhunderts zwischen 1691 und 1800 folgen – wie schon
im Titel augenfällig wird – auch T.W. Moody/W.E. Vaughan (Hgg.), A New History of Ireland,
Bd. 4 (18th-Century Ireland, 1691-1800), Oxford 1986.
27
H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, München 19892, S. 7.
40
tisch motivierte Übernahme erprobter Kategorien, die helfen sollen, die Herangehensweise zu strukturieren und die Informationen übersichtlich zu ordnen.28
Wiederum wegen des kolonialen Kontextes kann sich die Konstellationsanalyse
jedoch nicht mit einer Untersuchung inneririscher Entwicklungen begnügen, sondern muß auch exogenen Faktoren Beachtung schenken. Ganz offensichtlich gilt
das für die Beziehungen Englands zu Irland, denn die Interventionen des kolonialen Mutterlands hatten beträchtliche Konsequenzen für die inneririschen Verhältnisse. Insofern muß Englands Irlandpolitik also unbedingt in die Betrachtung
integriert werden – zumal in diesem Aspekt die Grenze zwischen ‚Innen’ und
‚Außen’ verschwimmt und zu einer Standpunktfrage wird: Von der Warte des
britischen Empire betrachtet handelte es sich bei der Irlandpolitik um imperiale
Kolonial- und Innenpolitik, aus der irischen – insbesondere der irisch-nationalen –
Perspektive dagegen um Außenpolitik. Daher ist es allenfalls möglich, analytisch
zwischen diesen beiden Perspektiven sauber zu unterscheiden. Diesem Umstand
wird in der Konstellationsanalyse Rechnung getragen, indem der Bereich britischer Einflußnahme als prägender Faktor inneririscher Gesellschaftsentwicklung
der Diskussion der vier gesellschaftlichen Dimensionen zugeschlagen wird und
die Motive und Gründe, welche die britische Kolonialmacht zu ihrer spezifischen
Einflußnahme veranlaßten, als externe Faktoren in einem eigenen Kapitel behandelt werden.
Darüber hinaus sind mit der Amerikanischen und der Französischen Revolution zwei „Außenereignisse“ in die Konstellationsanalyse mitaufzunehmen, die für
die Selbstverortung und die Einschätzungen gesellschaftlicher Realität durch die
irischen Zeitgenossen nachweislich von besonderer Bedeutung waren.29 Hier entstanden Modelle und Präzedenzfälle, die in den Äußerungen und Argumenten
irischer Nationalisten und Radikaler immer wieder aufgegriffen und reflektiert
wurden. Wenn es also darum geht, unmittelbare Bedingungshintergründe und
28
Gleichwohl besteht kein Grund, die von Wehler entwickelten Definitionen der vier gesellschaftlichen Dimensionen – vgl. ebd., S. 10f. – zu ändern, sie sind beim Lesen der von ihm entlehnten Begriffe gleichsam mitzudenken.
29
Vgl. O.D. Edwards, The Impact of the American Revolution on Ireland, in: The Impact of the
American Revolution Abroad, Papers Presented at the Fourth Symposium, May 8 and 9, 1975,
Washington 1976, S. 127-159; M.R. O'Connell, Irish Politics and Social Conflict in the Age of the
American Revolution, Philadelphia 1965; C.J. Woods, Ireland and the French Revolution, in:
Éire-Ireland 7 (1973), S. 34-41; M. Elliott, Partners in Revolution, The United Irishmen and
France, New Haven 1982; L. Swords, The Green Cockade, The Irish in the French Revolution,
41
Argumentationszusammenhänge zu analysieren, dürfen diese beiden exogenen
Bezugspunkte inneririscher Entwicklung nicht unterschlagen werden.
Thematische Schwerpunktsetzungen der Konstellationsanalyse. Um dem Ausufern vorzubeugen und zu verhindern, wider Willen doch in den Ruch zu geraten, allgemeine Geschichtsschreibung treiben zu wollen, ist es notwendig, die
Konstellationsanalyse durch strikte Selektion nach der übergreifenden Fragestellung (nach den Entstehungsbedingungen des republikanischen Elitennationalismus) auszurichten und verstärkt solche Aspekte zu behandeln, die in diesem Kontext relevant sind. Angesichts des theoretischen Vorgriffs kann es nicht überraschen, daß sich dahinter primär eine Fokussierung auf die kolonialen Strukturen
der irischen Gesellschaft verbirgt. So wird sich etwa der Bereich ‘Politische Herrschaft’ vor allem auf politische Gruppenbildungsprozesse, auf das Regiment des
Kolonialregimes und die Entstehung oppositioneller Regungen gegen das koloniale Establishment konzentrieren. Im Feld ‘Wirtschaft’ wird die koloniale Wirtschaftsordnung und ihre Rückwirkungen auf die Sozialstruktur und interne Gruppenbildungsprozesse im Vordergrund stehen. In Hinsicht auf die ‘soziale Ungleichheit’ wird vor allem Wert auf die Entstehung sozialer Konfliktpotentiale
und ihre koloniale Überformung gelegt. Hier werden Agrarkonflikte von der Pauperisierung der ländlichen Unterschichten bis zur Landflucht als Ausdruck einer
kolonialen Fragmentierung der ländlichen Gesellschaft, die politisierenden Effekte der Migrationsströme vom Land in die Städte und vice versa, die Entstehung
des Bürgertums (insbesondere der neuen katholischen Mittelschicht) und das
spannungsgeladene, ebenfalls kolonial fundierte Verhältnis zwischen der überwiegend anglikanischen Großgrundbesitzerschicht und dem konfessionell heterogen zusammengesetzten kommerziellen Sektor aus Kaufleuten, Produzenten und
Unternehmern diskutiert. In der Domäne ‘Kultur’ werden schließlich Themen
aufgegriffen, die auf den ersten Blick einen disparaten Eindruck vermitteln, aber
ebenfalls durch die koloniale Zentralperspektive miteinander verbunden sind. In
diesem Teil geht es um die Alphabetisierung und Schulbildung der breiten Bevölkerung (als Voraussetzung für ihre etwaige Politisierung), den Einfluß der Kirchen, die Hochkultur als Manifestation des Herrschaftsanspruches der Kolonialelite, sowie die friktionsreiche Koexistenz verschiedener Kulturtraditionen, die
1789-1815, Dublin 1989; H. Gough/D. Dickson (Hgg.), Ireland and the French Revolution, Dublin 1990.
42
ihrerseits für die Teilhabe an nationalpolitischen Debatten und für die Schwierigkeiten einer nationalen Mobilisierung von Bedeutung waren. Mithin wird im kulturellen Feld auf zwei Ebenen – jener der staatlich-institutionalisierten Kultur
(Kirchen, Schulbildung) und jener der Kultur der ‚kleinen Leute’30 – argumentiert.
Auch die Untersuchung exogener Einflüsse wird auf die allgemeine Fragestellung
der Arbeit zugeschnitten. So wird etwa mit Bezug auf die Amerikanische und
Französische Revolution danach gefragt, welche kulturellen und politischen Impulse von diesen internationalen Großereignissen für die irische Gesellschaft ausgingen, wie etwa Ideen der beiden Revolutionen politische Debatten in Irland
beeinflußten. Zugleich ist nach den nationalpolitischen Handlungsmöglichkeiten
und
-barrieren zu fragen, die sich in Irland wegen der gesetzlichen und politi-
schen Rahmenbedingungen ergaben, die von der englischen Kolonialpolitik gesetzt wurden. Gemäß der gängigen Formel „Englands Schwierigkeit ist Irlands
Chance“ muß nicht zuletzt auch nach den Einflüssen internationaler und innerenglischer Konstellationen auf die nationalpolitischen Handlungsmöglichkeiten in
Irland gefragt werden: Wie wirkten sich etwa die wiederholten militärischen Konflikte zwischen England und Frankreich oder der Kolonialkrieg in Amerika auf
den politischen Handlungsspielraum in Irland aus, wie die Konflikte zwischen der
englischen Regierung und der englischen Reformbewegung? Welche Rolle spielten die Auseinandersetzungen zwischen der englischen Regierung und den englischen Katholiken? Anhand dieser Fragen verdeutlicht sich noch einmal, daß dem
englischen Einfluß auf die irischen Verhältnisse ein Sonderstatus innerhalb der
exogenen Einflußfaktoren zugestanden werden muß, der die geographische Nähe
der beiden Länder, ihre jahrhundertealten politischen, ökonomischen und kulturellen Beziehungen, vor allem aber ihre faktisch spätestens seit 1691 existierende
Kolonialverbindung reflektiert. Es ist also a priori davon auszugehen, daß amerikanische und französische Einflüsse in Irland während des 18. Jahrhunderts –
30
‚Kultur der kleinen Leute’ ist eine etwas holprige Übersetzung des angelsächsischen Terminus
‚popular culture’. Dennoch ist diesem Begriff vor der Alternative ‚Volkskultur’ wegen dessen
Nähe zur Lingua Tertii Imperii der Vorzug zu geben. Gemeint ist damit in Anlehnung an P. Burke
„the culture of the non-elite“, wobei Kultur als ein „system of shared meanings, attitudes, and
values, and the symbolic forms (performances, artefacts) in which they are expressed or embodied“ definiert wird. P. Burke, Popular Culture in Early Modern Europe, London 1978, S. ix.; vgl.
auch J.R.R. Adams, The Printed Word and the Common Man: Popular Culture in Ulster 17001900, Belfast 1987, S. 1-7 u. J.S. Donnelly Jr./K. A. Miller (Hgg.), Irish Popular Culture, 1650-
43
gesamtgesellschaftlich betrachtet – dem englischen Einfluß erkennbar nachgeordnet waren.
1850, Dublin 1998, S. xi-xxxi, wo unter direktem Rekurs auf Burke sein Konzept am irischen
Beispiel konkretisiert wird.
44
II. Die innerirische Dimension
1. Konfliktstrukturen englischer Kolonialherrschaft in Irland (1691-1782)
Während des 18. Jahrhunderts wurde der politische Bereich von zwei zentralen
Themenkomplexen beherrscht: der konfessionellen und der konstitutionellen Frage. Erstere drehte sich um die politische Monopolstellung der anglo-irischen Kolonialelite (Ascendancy)31 in Irland. Ihre Alleinherrschaft setzte die Ascendancy
mit Hilfe einer konfessionell gestaffelten Marginalisierung der anderen Bevölkerungsteile – der presbyterianischen Iren schottischer Herkunft und der katholischen Iren gälischer und normanno-irischer Herkunft – um, die zwar äußerlich
konfessionell legitimiert wurde, unterschwellig aber durch koloniale, machtpolitische Interessen geprägt war. Hinter der Etablierung und Absicherung der politischen Monopolstellung der Ascendancy, welche die Machtverteilung in der irischen Gesellschaft determinierte und somit entscheidend zur Genese einer gesellschaftliche Hierarchie zwischen den drei großen kolonialen Bevölkerungsgruppen
31
Der Begriff ‘Ascendancy’ ist ein zeitgenössischer anglikanisscher Kampfbegriff, der im Jahr
1792 vom Dubliner Stadtrat (Dublin Corporation) in einer Adresse an die Protestanten Irlands
erstmals verwendet wurde. Er bezeichnete ursprünglich eine Staatsauffassung, die von einem
anglikanischen Machtmonopol im irischen Staat und einer staatlichen Verbindung zwischen Irland
und Großbritannien ausgeht. Im Beschluß der Dublin Corporation von 1792 heißt es: "Resolved,
That we consider the Protestant Ascendancy to consist in A PROTESTANT KING OF
IRELAND, A PROTESTANT PARLIAMENT, A PROTESTANT HIERARCHY,
PROTESTANT ELECTORS AND GOVERNMENT, THE BENCHES OF JUSTICE, THE
ARMY AND THE REVENUE, Through all their Branches and Details, PROTESTANT; And this
system supported by a Connection with the PROTESTANT REALM OF BRITAIN." Zitiert nach
Catholics of Dublin, Proceedings at the Catholic Meeting of Dublin, duly convened on Wednesday, Oct. 31, 1792, at the Exhibition Room, Exchequer Str. With the letter of the corporation of
Dublin, to the Protestants of Ireland. Annexed is the Declaration Adopted by the General Committee, March 17, 1792, and subscribed by the Catholics of Ireland. Also the Letter and Plan of the
Sub-committee for the Appointment of delegates. Dublin (H. Fitzpatrick) 1792, S. 5. In der irischen Geschichtsschreibung hat sich überdies eingebürgert, den Begriff ‚Ascendancy’ auch retrospektiv und avant la lettre als Bezeichnung für die Trägerschicht dieser Staatsauffassung zu verwenden. Vgl. J.C. Beckett, Literature in English, 1691-1800, in: Moody/Vaughan, History of
Ireland 4, S. 424-470, S. 459; J.L. McCracken, Protestant Ascendancy and the Rise of Colonial
Nationalism, 1714-60, in: ebd., S. 105-122, S. 105-108; A. Helle, Ulster: Die blockierte Nation,
Nordirlands Protestanten zwischen britischer Identität und irischem Regionalismus (1868-1922),
Frankfurt/M. 1999, S. 19; J.G. Simms, Protestant Ascendancy, 1691-1714, in: Moody/Vaughan,
History of Ireland 4, S. 1-30, passim. In diesem Sinn stellt ‚Ascendancy’ sowohl ein Synonym für
den Begriff „Protestant Nation“ dar (verstanden als ‚politische Nation’, d.h. als die anglo-irische,
anglikanische Bevölkerungsgruppe mit politischen Partizipationsrechten) oder – sozial exklusiver
aufgefaßt – für ‚anglo-irische Kolonialelite’ (d.h. die anglo-irischen, anglikanischen Aristokraten,
Latifundienbesitzer, Parlamentarier und anderen Amts- und Würdenträger des anglo-irisch dominierten Staatsapparats und der anglikanischen Church of Ireland). Nachfolgend wird der Begriff
analytisch als Bezeichnung für die anglo-irische Kolonialelite verwendet.
45
in Irland beitrug, stand daher ein grundlegender Konfessionalisierungsprozeß der
politischen Herrschaft.
Im Gegensatz dazu ging es bei der konstitutionellen Frage um die Machtverteilung zwischen der Ascendancy und der britischen Kolonialmacht. Hier drehte sich
alles um die Frage, wem es von Rechts wegen zustand, welchen Teil der Souveränität in Irland auszuüben. Die Spannbreite dieses Konfliktfeldes erstreckte sich
von der verfassungstheoretischen Frage, ob Irland als eine dem britischen Reich
untergeordnete Kolonie oder als unabhängiges Königreich anzusehen sei, das lediglich vom englischen König in Personalunion mitregiert wurde, bis in die
kleinsten Verästelungen des Kolonialregimes, wo die Ascendancy mit den Repräsentanten der englischen Krone hartnäckig um die Kontrolle über Herrschaftsrechte und -aufgaben in Irland stritt. Die anglo-irische Kolonialelite befand sich
also – soviel kann jetzt schon festgehalten werden – in einer doppelten Frontstellung: Einerseits gegen die anderen Bevölkerungsgruppen in Irland selbst, die mit
der Ascendancy konkurrierten, und andererseits gegen das koloniale Mutterland,
gegen dessen Interventionen sich die Ascendancy zur Wehr setzen mußte, um ihr
Machtmonopol in Irland tatsächlich ausüben zu können.
Diese beiden Themenkomplexe waren unmittelbar miteinander und mit der endgültigen Durchsetzung der britischen Kolonialherrschaft in Irland am Ende des
17. Jahrhunderts verschränkt. Um sie verstehen zu können, muß man daher mindestens bis zum Frieden von Limerick (3.10.1691) zurückgreifen, der das Ende
des Stuart-Erbfolgekriegs (1689-1691) markierte.32
Dieser Krieg hatte eine europäische, eine englische und eine irische Bedeutungsdimension. Von europäischer Warte lediglich ein Nebenschauplatz der Auseinandersetzung zwischen Ludwig XIV. und der Großen Allianz um die Hegemonie in
Kontinentaleuropa, bestätigte der Ausgang des Krieges im britischen Bedeutungszusammenhang das Resultat der „Glorious Revolution“ von 1688.33 Im irischen
32
Zum Stuart-Erbfolgekrieg vgl. J.G. Simms, The Restoration and the Jacobite War (1660-1691),
in: T.W. Moody/F.X. Martin (Hgg.), The Course of Irish History, Cork 19872, S. 209-216. Älter,
aber dafür sehr viel ausführlicher: J.G. Simms, Jacobite Ireland, 1685-91, London 1969.
33
Vgl. Beckett, Making, S. 146; M. Maurer, Kleine Geschichte Irlands, Stuttgart 1998, S. 133f.
Bemerkung zum Begriff „Glorious Revolution“: Diese überhöhende Bezeichnung der Ereignisse
von 1688 stammt aus der Whig-Tradition, die in dem Arrangement von 1688 einen Fortschritt der
politischen und religiösen Freiheit zu erblicken glaubte. Vgl. M. Maurer, Kleine Geschichte Englands, Stuttgart 1997, S. 227f. Da es sich um einen zeitgenössischen Kampfbegriff handelt, dessen
faktischer Wahrheitsgehalt zweifelhaft ist, wird der Begriff nur verwendet, weil er sich allgemein
durchgesetzt hat. Zur Distanzierung werden Anführungszeichen verwendet.
46
Kontext – der hier ausschlaggebend ist – handelte es sich bei dem Krieg um eine
Auseinandersetzung zwischen den katholischen Gaelic-Irish und Old English auf
der einen und den protestantischen New English und Scotch-Irish, die mit einem
Sieg der protestantischen Partei endete.34 Die irischen Katholiken hatten gehofft,
daß eine Wiedereinsetzung Jakob Stuarts ihnen eine katholische Restauration bescheren würde, welche die Cromwell’schen Landenteignungen von 1652/53 revidieren würde.35 Nach ihrer Niederlage trat jedoch das Gegenteil ein: Die protestantischen Seite konnte nun – ohne Widerstand erwarten zu müssen – daran gehen, ihre neue Vormachtposition in Irland abzusichern und auf Dauer zu stellen.
a) Die Konfessionalisierung der politischen Herrschaft
Als Resultat des Stuarterbfolgekrieges standen sich in Irland zunächst zwei Gruppen gegenüber: Sieger und Besiegte. Hinter dem Begriff ‚Sieger’ verbarg sich
eine Allianz aus anglo-irischen Anglikanern und schottisch-irischen Presbyterianern, die sich erst im Laufe des 17. Jahrhunderts in Irland angesiedelt hatten. Die
‚Besiegten’ dagegen rekrutierten sich aus gälisch-irischen und normanno-irischen
Katholiken (Old English), die aber vom kolonialen Mutterland und den englischen
und schottischen Neuankömmlingen des 17. Jahrhunderts zunehmend als Einheit
wahrgenommen und behandelt wurden, weil beide Bevölkerungsgruppen katholisch waren und sich zusammen gegen die Ansiedlungsprogramme des 17. Jahrhunderts zur Wehr gesetzt hatten.36 Zu dieser Verschmelzung von gälischen Iren
und Old English in der Wahrnehmung der Sieger des Erbfolgekrieges gehörte
auch, daß sie die militärischen Auseinandersetzungen zwischen 1689 und 1691
nicht so sehr als Folgewirkung der „Glorious Revolution“ in Irland, sondern als
eine weitere katholische Rebellion interpretierten und eine Kontinuität zwischen
34
Bemerkung zur Terminologie: Hinter dem Begriff ‘Gaelic-Irish’ verbirgt sich die indigene
Bevölkerung Irlands, ‘Old English’ bezeichnet die katholischen, normanno-englischen Siedler, die
sich in Irland vor der englischen Reformation – dem Erlaß des Suprematsgesetzes von 1534 –
niederließen, mit ‘New English’ sind die anglikanischen Anglo-Iren gemeint, die während der
Ulster Plantation von 1608-10 nach Irland kamen, mit ‘Scotch-Irish’ alle Iren schottischer Herkunft und insbesondere die presbyterianischen Schotten, die sich ebenfalls im Zuge der Ulster
Plantation in Irland ansiedelten.
35
Kee, Most Distressful Country, S. 17.
36
Vgl. Boyce, Nationalism, S. 89f.
47
dem katholischen Aufstand von 1641 und dem Erbfolgekrieg sahen.37 Entscheidend ist, daß sich aus dieser Kontinuitätsannahme eine katholische Bedrohung für
die protestantische Bevölkerung Irlands konstruieren ließ,38 die zur Legitimation
sehr weitreichender, präventiver Gegenmaßnahmen ins Feld geführt werden konnte. Faktisch tat das anglo-irisch beherrschte Parlament jedoch mehr als zum
Schutz der protestantischen Bevölkerung notwendig gewesen wäre: Es nutzte die
Gunst der Stunde, um unter dem Deckmantel des Selbstschutzes ein konfessionelles Apartheidsystem zu installieren, das in der Folgezeit primär dazu diente, das
politische Machtmonopol der anglikanischen Minderheit zu zementieren. Daß das
Schutzargument zumindest teilweise vorgeschoben war ist bereits daran erkennbar, daß sich die Maßnahmen nicht allein gegen die katholische Bevölkerungsgruppe, sondern – allerdings in abgeschwächter Form – auch gegen die ehemaligen Verbündeten der Anglikaner im Erbfolgekrieg, die schottisch-irischen Presbyterianer, richteten.39 Außerdem ist es bezeichnend, daß sich die praktische Vollstreckung der Strafgesetze weniger auf die religiösen, als auf die politischen, ökonomischen und besitzrechtlichen Regelungen konzentrierte.40 Proselytische Absichten, wie sie einige Würdenträger der Church of Ireland anfangs verfolgten,
37
Bezeichnend sind hierfür die Gerüchte um einen ‚popish plot‘, die in Krisenzeiten regelmäßig
in der protestantischen Bevölkerung kursierten. Vgl. J. Lydon, The Making of Ireland, From Ancient Times to the Present, London 1998, S. 208.
38
Der faktische Gehalt der anglikanischen Bedrohungsthese ist mehr als zweifelhaft: Die überzeugten Jakobiten waren nach dem Frieden von Limerick in einem Massenexodus Jakob II. nach
Frankreich ins Exil gefolgt. Vgl. S. Scott, The French Revolution and the Irish Regiments in
France, in: Gough/Dickson, Ireland, S. 14-27, S. 14. Allein 12.000 jakobitische Soldaten verließen
Irland unmittelbar nach dem Friedensschluß von Limerick. Vgl. J.G. Simms, The Irish on the
Continent, 1691-1800, in: Moody/Vaughan, History of Ireland 4, S. 629-656, hier S. 630f. Lecky
spricht sogar von 14.000 und zitiert Abbé MacGeoghegan mit der Bemerkung, daß zwischen 1691
und 1745 allein 450.000 Iren in französischen Diensten gefallen seien. Lecky beeilt sich hinzuzufügen, daß diese Zahl vollkommen unglaublich sei, gibt aber andere Quellen an, welche die Zahl
sogar noch höher ansetzen. Vgl. W.E.H. Lecky, A History of Ireland in the 18th Century 1, London 1892 (Nachdr. New York 1969), S. 248f. und Anm. 3, S. 248. Es darf also als gesichert gelten, daß deutlich mehr als Zehntausend Jakobiten emigrierten. Überdies verhielten sich die irischen Katholiken während der jakobitischen Aufstände in Schottland (1715 und 1745) geradezu
demonstrativ ruhig. Vgl. Lecky, ebd., S. 142-144. Vgl. auch Lydon, ebd., S. 219, der die Gesamtzahl der irischen Katholiken, die in der franzöischen Armee dienten, mit bis zu 20.000 Mann
beziffert und für die 1720er und 1730er Jahre noch jährliche Rekrutierungsraten von ca. 1.000
Mann angibt.
39
M. Wall, The Penal Laws 1691-1760, in: G. O'Brien/T. Dunne (Hgg.), Catholic Ireland in the
18th Century: Collected Essays of Maureen Wall, Dublin 1989, S. 1-60, S. 5.
40
Vgl. ebd., S. 6, 18-20.
48
traten deutlich hinter das primäre Motiv der anglikanischen Herrschaftsabsicherung zurück.41
Die Marginalisierung der katholischen Bevölkerungsmehrheit. Als ‚Besiegte’
und als von den Anglikanern als ‚Erzfeind’ wahrgenommene Bevölkerungsgruppe, bekamen die irischen Katholiken die ganze Unerbittlichkeit der Kolonialelite
zu spüren. Durch die drakonischen Strafgesetze (Penal Laws) – ein Konglomerat
verschiedener anti-katholischer Gesetze, die nach englischen Vorbild42 zwischen
1695 und 1728 erlassen wurden – wurde die katholische Bevölkerungsmehrheit
politisch, ökonomisch, sozial und kulturell unterdrückt. W.E.H. LECKY (18381903), der Doyen der irischen Geschichtsschreibung über das 18. Jahrhundert,43
der als Anglo-Ire eines katholischen Bias unverdächtig ist, hat die Penal Laws als
Ausdruck einer „religiösen Klassentyrannei“44 bezeichnet und die Funktion der
Strafgesetze wie folgt umrissen:
So wie er tatsächlich ausgeführt wurde, wurde der Penal Code weniger durch
Fanatismus inspiriert als durch Habgier, er war weniger gegen die katholische Religion gerichtet als gegen den Besitz und den Fleiß der Katholiken.
Er sollte sie arm machen und arm halten, in ihnen jede Regung des Unternehmungsgeistes zerstören, sie zu einer servilen Kaste degradieren, die niemals hoffen konnte, ihren Unterdrückern wieder ebenbürtig zu werden.“45
Da die Strafgesetze alle Lebensbereiche der katholischen Bevölkerung betrafen,
ist es an dieser Stelle nicht angebracht, einen Aufriß aller Regelungen zu geben.
Sie werden uns im weiteren Verlauf der Arbeit noch häufiger begegnen. Hier
41
Dezidiert anderer Meinung ist in diesem Gesichtspunkt T. Bartlett, The Fall and Rise of the
Irish Nation, The Catholic Question, 1690-1830, Dublin 1992, S. 17-29, der diese Interpretation
als zu „oberflächlich“ und „simplizistisch“ bezeichnet und dafür plädiert, den anglikanischen
Missionierungswillen ernstzunehmen. Allerdings muß selbst er widerwillig einräumen, daß die
anglikanische Oberschicht kein Interesse an der massenhaften katholischen Konversion hatte (S.
27) und seine These, daß die Strafgesetze nicht durch eine zielgerichtete, anti-katholischen Absicht entstanden seien, sondern durch die Interaktion diverser Parteien, die zur Eskalation der
Strafgesetzgebung geführt hätte (S. 20), ist wenig überzeugend, denn die anti-katholische Strafgesetzgebung in Irland orientierte sich in der Tat am englischen Modell. Vgl. J.G. Simms, The Establishment of Protestant Ascendancy, 1691-1714, in: Moody/Vaughan, History of Ireland 4, S. 130, S. 16. Selbst wenn es also keine planmäßige Implementation der Strafgesetzgebung gab, die
angesichts der konstitutionellen Zustände in Irland in der Tat zweifelhaft ist, so ist sicher, daß es
einen breiten anti-katholischen Konsens gab, der von Anglo-Iren und Engländern gleichermaßen
getragen wurde.
42
Vgl. Wall, Penal Laws, S. 8; Simms, ebd.
43
Zu einem konzisen Überblick über Lecky als Historiker vgl. B. Stuchtey, Die Irische Historiographie im 19. Jahrhundert und Leckys Geschichtskonzeption, in: Comparativ 3 (1995), S. 83-98,
sowie ausführlicher in ders., W.E.H. Lecky (1838-1903), Historisches Denken und politisches
Urteilen eines anglo-irischen Gelehrten (Veröffentlichungen des DHI London, 41), Göttingen
1997.
44
Lecky, History of Ireland 1, S. 147.
49
werden jetzt nur diejenigen Passagen der Strafgesetze diskutiert, welche die politische Marginalisierung der Katholiken zur Folge hatten.
Die politisch relevanten Strafgesetze. Die Implementation anti-katholischer Gesetze begann bereits mit dem Zusammentritt des irischen Parlaments im Oktober
1692. In diesem Parlament saß bereits kein einziger katholischer Ire mehr, weil
die Abgeordneten des Ober- und Unterhauses seit Ende 1691 durch ein in England erlassenes, aber auch in Irland gültiges Gesetz dazu verpflichtet waren, einen
Eid abzulegen, in dem die weltliche Autorität des Papstes, die Transsubstantiationslehre und andere spezifisch katholische Doktrinen negiert wurden.46
Landenteignungen und politisches Gewicht. Das Parlament von 1692 ging umgehend daran, die Regelungen des Friedensvertrages von Limerick zu unterlaufen,
die in den Augen der anglikanischen Abgeordnetenschaft viel zu mild waren. Die
Delegierten insistierten, Enteignungsmaßnahmen gegen katholische Jakobiten
auszudehnen und die von Wilhelm III. bereits zugesicherte freie Religionsausübung für Katholiken rückgängig zu machen.47 Mit beiden Anliegen konnten sie
sich 1697 durchsetzen, aber für den politischen Bereich ist nur die Ausweitung
der Land-enteignungen wichtig: Infolge der ‚Williamite confiscations‘ ging der
Anteil des katholischen Landbesitzes von 22 % (im Jahr 1688) auf 14 % (im Jahr
1703) zurück.48 Da das aktive Wahlrecht an Landbesitzqualifikationen gebunden
war,49 wurde mit diesen Enteignungen der politische Einfluß der Katholiken fast
halbiert und die numerische Mehrheit der Katholiken endgültig in eine unbedeutende Besitzminderheit überführt. Die anglikanische „Rachsucht“ – wie die Lordrichter in Dublin die Stimmung des Parlaments 1692 beschrieben50 – war damit
jedoch noch nicht befriedigt. Durch die Einführung geeigneter Erbgesetze in den
„Popery Acts“ von 1704 und 1709 gelang es der Ascendancy sicherzustellen, daß
45
Ebd., S. 152. (meine Übersetzung)
Vgl. Maurer, Geschichte Irlands, S. 141; Beckett, Making, S. 151; Lydon, Making, S. 219;
Dickson, New Foundations, S. 40.
47
Vgl. Beckett, ebd., S. 151, J.I. McGuire, The Irish Parliament of 1692, in: T. Bartlett/D.W.
Hayton (Hgg.), Penal Era and Golden Age, Essays in Irish History, 1690-1800, Belfast 1979, S. 131, S. 3, 6, 15-17.
48
Vgl. Simms, Establishment, S. 12; M. Wall, The Age of the Penal Laws (1691-1778), in:
Moody/Martin, Course, S. 217-231, S. 219f., Lydon, Making, S. 223.
49
S.J. Connolly, The Oxford Companion to Irish History, Oxford 1998, S. 205.
50
McGuire, Irish Parliament, S. 3.
46
50
sich 1778 nur noch 5 % des Landbesitzes in katholischen Händen befand – mit
entsprechenden Konsequenzen für das politisches Gewicht der Katholiken.51
Ausschluß der Katholiken aus öffentlichen und politischen Ämtern. Der nächste Schritt der Ascendancy zielte darauf ab, Katholiken aus allen öffentlichen und
politischen Ämtern sowie aus dem Militär fernzuhalten. Hierzu diente die Einführung des Sacramental Test von 1704, der vorsah, daß nur diejenigen Personen ein
öffentliches Amt bekleiden durften, die zuvor einen Treueschwur auf die Krone
geleistet und das Abendmahl nach anglikanischem Ritus gefeiert hatten. Dadurch
wurde zum einen gewährleistet, daß Katholiken nicht in den Stadträten (Corporations) sitzen konnten – was insofern auch direkte Auswirkung auf die politische
Partizipation hatte, als die Stadträte in 55 der 117 Wahlbezirke (den Corporation
Boroughs) bestimmten, wer das aktive Wahlrecht erhielt.52 Mit diesem Schritt
wurden die Katholiken also nicht nur aus der kommunalen Selbstverwaltung ausgeschlossen, sondern überdies auch von der Wahl von mehr als einem Drittel der
Abgeordneten des irischen Unterhauses.53 Zum anderen wurde so sichergestellt,
daß Katholiken in der Verwaltung, der Judikative und Exekutive keinen Einfluß
nehmen konnten. Die Entfernung aus dem Militär erreichte die Ascendancy
schließlich dadurch, daß sie Katholiken verbot, Waffen zu besitzen.54 Das Haus
eines Katholiken konnte jederzeit auf Anweisung eines Sheriffs, Richters oder
Bürgermeisters nach Waffen durchsucht werden und wenn auch nur eine verrostete alte Vogelflinte entdeckt wurde, bekam der betreffende Katholik eine Geldoder Gefängnisstrafe, wurde ausgepeitscht oder mußte an den Pranger.55
Wahlverbot für Katholiken. Zur Abrundung der politischen Marginalisierung
der katholischen Bevölkerung fehlte jetzt nur noch ein generelles Wahlverbot,
denn unter günstigen Bedingungen gelang es immer noch einigen wenigen katholischen Adeligen und Großgrundbesitzern, in einzelnen Grafschaften die Wahler-
51
Vgl. Wall, Age, S. 220.
Connolly, Companion, S. 205.
53
Im irischen Unterhaus saßen 300 Abgeordnete, von denen jeweils zwei von den 32 Grafschaften, den 117 Wahlbezirken und vom Trinity College gewählt wurden. Durch den Ausschluß vom
aktiven Wahlrecht in den Corporation Boroughs waren die Katholiken von der Wahl von 110
Abgeordneten (= 36, 67 % der gesamten Abgeordnetenschaft) ausgeschlossen. Vgl. Connolly,
Companion, S. 205.
54
Lecky, History of Ireland 1, S, 146.
55
Ebd.
52
51
gebnisse mit Hilfe der Wahlberechtigten ihrer Güter zu beeinflußen.56 Per Gesetz
vom 6.5. 1728, das den Katholiken nun auch das aktive Wahlrecht entzog, wurde
hier ein Riegel vorgeschoben.57
Damit war die umfassende politische Marginalisierung der katholischen Bevölkerung abgeschlossen: Alle Bereiche des öffentlichen Lebens – Legislative, Exekutive, Judikative, Administration, Militär – waren „katholikenfrei“ und befanden
sich fest in der Hand der anglikanischen Kolonialoligarchie. Das auffälligste
Merkmal dieses Prozesses besteht darin, daß die Kolonialelite die Marginalisierung der Katholiken weniger durch direkte Verbote als vielmehr über einen Umweg – durch die Errichtung konfessioneller Barrieren – ins Werk setzte. Einerseits
ließ dieses Vorgehen den irischen Katholiken prinzipiell immer den Ausweg offen, sich der Strafgesetzgebung durch Konversion entziehen, andererseits machte
aber just dieser Gesichtspunkt die Perfidie des konfessionellen Apartheidsystems
aus: Es setzte gläubige Katholiken der ständigen Versuchung aus, ihr Seelenheil
gegen weltliches Vorankommen einzutauschen. Die grundsätzliche Hypokrisie
der Ascendancy bestand darin, die katholische Bevölkerung erst politisch zu marginalisieren – in der Hoffnung, daß sie größtenteils bei ihrem Glauben bleiben
würden, weil eine katholische Massenkonversion das koloniale Machtmonopol
der Ascendancy zum Einsturz gebracht hätte – und ihnen anschließend achselzuckend zu erklären, daß sie an ihrer Situation letztlich selbst schuld seien, da sie
doch die Möglichkeit zur Konversion hätten.
Die politische Degradierung der Dissenter58. Im Anschluß an den StuartErbfolgekrieg differenzierte sich der duale Antagonismus zwischen ‚Siegern’ und
‚Besiegten’ bald zu einer dreifachen Frontstellung aus, da die Ascendancy ihre
presbyterianischen Verbündeten in Ulster, die Dissenter, Schritt für Schritt zu
Kolonisten zweiter Klasse degradierte.59 Der Konflikt zwischen Presbyterianern
und Anglikanern hatte – im Gegensatz zum katholisch-protestantischen Gegensatz
56
J.L. McCracken, The Political Structure, 1714-60, in: Moody/Vaughan, History of Ireland 4, S.
57-83, S. 77.
57
J.E. Dogherty/D.J. Hickey, A Chronology of Irish History since 1500, Dublin 1989, S. 74;
Dickson, New Foundations, S. 73.
58
‘Dissenter’ (wörtlich: „Abweichler“) ist ein anglikanischer Sammelbegriff für alle protestantischen Glaubensgemeinschaften, die nicht mit den Doktrinen der anglikanischen Staatskirche übereinstimmten. In Irland stellt der Begriff gegen Ende des 18. Jahrhunderts schlicht ein Synonym für
‚schottisch-irischer Presbyterianer’ dar. Vgl. Connolly, Companion, S. 149f.
52
– nichts mit dem Krieg von 1686-1691 zu tun: Hier handelte es sich um eine Auseinandersetzung zwischen zwei Kolonistengruppen um die koloniale Hegemonie.
Der Hintergrund dafür war folgender: Wegen einer ökonomischen Krise in
Schottland wanderten in der letzten Dekade des 17. Jahrhunderts mehr als 50.000
schottische Familien ins benachbarte Ulster aus, wo durch die Enteignung katholischer Jakobiten Farmland zu günstigen Konditionen zu haben war. Durch diesen
Immigrationsschub entwickelte sich Ulster zu einem Bollwerk der schottischirischen Bevölkerung, die überwiegend presbyterianisch war. Durch die Einwanderung näherte sich die presbyterianische der anglo-irischen Bevölkerung numerisch immer weiter an und begann daher der anglo-irischen Vormachtstellung
gefährlich zu werden. 60 Erschwerend kam hinzu, daß die presbyterianische Kirche der anglikanischen institutionell überlegen war, daß der regionale Zusammenhalt der Presbyterianer größer war als derjenige der Anglikaner, die – vom
zentralen Siedlungsgebiet in der Pale61 abgesehen – über das ganze Land verstreut waren, und daß die Presbyterianer wegen ihrer Kontakte nach Schottland
und zu den englischen Whigs auch als politische Gegner nicht zu unterschätzen
waren.62 Da sie überdies die Forderung erhoben, daß – dem schottischen Beispiel
folgend – die anglikanische Kirche zugunsten einer prinzipiellen Gleichstellung
mit der presbyterianischen Kirche vom Staat getrennt werden sollte,63 stellten sie
in zweifacher Hinsicht eine Gefahr für das anglikanische Kolonialregime dar:
Zum einen bedrohte ihre numerische Stärke unmittelbar die Machtbasis der Ascendancy, zum anderen attackierte ihre Forderung nach Gleichstellung die legitimativen Grundfesten des „Ascendancy interest“, die axiomatisch von einer untrennbaren Einheit vom irischen Staat und der anglikanischen Kirche ausging.64
59
Wall, Penal Laws, S. 5.
Simms, Establishment, S. 23; J.L. McCracken, The Social Structure and Social Life, 1714-60,
in: Moody/Vaughan, History of Ireland 4, S. 31-56, S. 39f.
61
‘The Pale’: Gebiet zwischen Dublin und den Wicklow Mountains im Süden, dem Lough Owel
im Westen und Dundalk im Norden, etwa deckungsgleich mit dem unter Geographen geläufigen
Begriff des „östlichen Dreiecks“ (eastern triangle), einer weniger regenreichen, fruchtbaren Gegend ohne Moore und Gebirge, die Ausgangspunkt für alle Eroberungsversuche in Irland – von
den Kelten über die Wikinger und Normannen bis zu den Engländern – war. Vgl. J.H. Andrews, A
Geographer’s View of Irish History, in: Moody/Martin, Course, S. 17-29, S. 19-21; Connolly,
Companion, S. 424f.
62
McCracken, Social Structure, S. 39-41; Zwischen 1707 und 1716 stieg parallel die Anzahl der
presbyterianischen Gemeinden um 30 Prozent. Vgl. Dickson, New Foundations, S. 57.
63
Simms, Establishment, S. 22.
64
Dabei rückte die anglikanische Propaganda die Dissenter in die Nähe der Katholiken: Beide
Konfessionen verträten die Doktrin, daß es ein Gott gegebenes Recht gebe, häretische Herrscher
60
53
Entsprechend schnell einigten sich die anglikanischen Kirchenfürsten und Großgrundbesitzer, die beiden Säulen der Ascendancy, daß den presbyterianischen
Wünschen nach mehr Autonomie ein Riegel vorgeschoben werden müsse.65 In der
Regierungszeit Königin Annes (1702-1714), die dem Dissent ebenfalls nicht
wohlgesonnen war,66 kam ihnen dabei zugute, daß auch Großbritannien nicht zugunsten der Presbyterianer intervenierte.
Der Sacramental Test. Analog zur Marginalisierung der Katholiken griff die
Ascendancy zunächst die politische Partizipationsrechte der Presbyterianer an und
versuchte, ihnen jeden Weg zur aktiven öffentlichen Einflußnahme zu versperren.
Durch die Einführung des Sacramental Test von 1704 gelang ihnen das umfassend: Niemand durfte fürderhin ein politisches Amt bekleiden, ohne zuvor das
Abendmahl nach anglikanischem Ritus empfangen zu haben und beim Treueeid
die Bibel geküßt zu haben. Beides war mit presbyterianischen Vorstellungen nicht
zu vereinbaren67 und so waren die Presbyterianer – wie die Katholiken – von allen
öffentlichen Ämtern automatisch ausgeschlossen. Nach demselben Muster erfolgte der Ausschluß aus den Stadträten (und damit – wie bereits bekannt – von der
Wahl von mehr als einem Drittel der Abgeordneten des Unterhauses).68 Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, daß die Petition, auf die hin das irische Unterhaus entschied, daß die Sacramental Tests auch für die Ämter im Stadtrat gelten sollten, von Anglikanern aus Belfast, dem Zentrum des presbyterianischen
Siedlungsgebiets, eingereicht wurde. Hier ging es also ganz offensichtlich darum,
den Presbyterianern in ihrem ureigensten Gebiet eine rein anglikanische Stadtverwaltung vor die Nase zu setzen. Zu allem Überfluß minimierten auch die auf
Landbesitz beruhenden Wahlqualifikationen den Einfluß der Presbyterianer, die
vorwiegend Pächter und Kaufleute waren.69 Obwohl sie also – im Gegensatz zu
abzusetzen. Vgl. T.C. Barnard, Identities, Ethnicity and Tradition among Irish Dissenters c. 16501750, in: K. Herlihy (Hg.), The Irish Dissenting Tradition, 1650-1750, Dublin 1995, S. 29-48, S.
32.
65
Bartlett, Fall, S. 31.
66
Vgl. J.G. Simms, The Making of a Penal Law (2 Anne, c. 6), in: IHS 12, 46 (1960), S. 105-118;
P. Brooke, Ulster Presbyterianism, The Historical Perspective, 1610-1970, Dublin 1987, S. 66f.
67
Vgl. P. Tesch, Presbyterian Radicalism, in: Dickson, United Irishmen, S. 33-48, S. 44. Der
Sacramental Test wurde erst im Zuge von Grattan’s Revolution im Jahr 1782 wieder aufgehoben.
68
McCracken, Social Structure, S. 40.
69
In den Grafschaften Antrim, Down und Tyrone (den presbyterianischen Kernsiedlungsgebieten)
gab es nach einer pro-presbyterianischen Quelle von 1751 nicht mehr als 60 Landbesitzer, deren
Einkommen sich per capita zwischen 200 und 1.400 £ bewegte. Und selbst wenn es sich dabei
nicht um eine Übertreibung handelt, so waren die Einkommen im Vergleich alles andere als be-
54
den Katholiken – weder vom aktiven noch vom passiven Wahlrecht per se ausgeschlossen wurden, gelang es der Ascendancy, auf dem Umweg über die Tests sicherzustellen, daß die Dissenter im öffentlichen Leben keine zentrale Rolle spielten.
Maßnahmen gegen die presbyterianische Kirche. Zweitens richteten sich die
Attacken der Ascendancy gegen die presbyterianische Kirche und Konfession.
Wie die Katholiken wurden auch die Dissenter gezwungen, durch die Zahlung
von Tithes (Zehntabgaben) an die anglikanische Kirche ein aus ihrer Perspektive
heterodoxes Kirchenregiment zu finanzieren.70 Gleichzeitig blockierten die anglikanischen Kirchenfürsten im irischen Oberhaus wiederholt Versuche, ein Tolerierungsgesetz für die Dissenter durchzusetzen, das sich im Rahmen des englischen
Toleration Act von 1689 bewegte. Erst unter britischem Druck – Georg I. verfolgte gegenüber den Dissentern eine deutlich mildere Politik als seine Amtsvorgängerin Anne – wurde im irischen Parlament 1719 ein Tolerierungsgesetz verabschiedet, das den Dissentern das Recht auf freie Religionsausübung prinzipiell
zugestand.71 Wie widerwillig dieses Recht jedoch gewährt wurde, läßt sich deutlich daran ablesen, daß religiöse Restriktionen bezüglich des presbyterianischen
Heirats- und Bestattungsritus trotz dieses Gesetzes bis in die 1730er Jahre fortbestanden.72 Auch sonst ließ die Ascendancy keine Gelegenheit aus, um die presbyterianische Religionsausübung zu behindern. So war es etwa Usus in Pachtverträgen zwischen presbyterianischen Pächtern und anglikanischen Landbesitzern expressis verbis festzuhalten, daß auf dem gepachteten Land keine Bethäuser errichtet werden durften.73
Regium Donum. Darüber hinaus versuchte die Ascendancy auch, das Regium
Donum, einen bescheidenen jährlichen Beitrag der Krone zur Bezahlung presbyterianischer Prediger, der 1672 von Karl II. eingeführt worden war, abzuschaffen.74
Seit es von Wilhelm III. – gegen den Widerstand der Ascendancy – auf 1.200 £
eindruckend. Vgl. ebd., S. 40. Ähnlich niedrige Zahlen finden sich für die 1720er Jahre auch bei
Barnard, Identities, S. 35.
70
J.L. McCracken, The Ecclesiastical Structure, 1714-60, in: Moody/Vaughan, History of Ireland
4, S. 84-104, S. 101; Wall, Penal Laws, S. 5.
71
Dickson, New Foundations, S. 74f.
72
R. Foster, Modern Ireland, 1600-1972, Harmondsworth 1988, S. 157; McCracken, Ecclesiastical Structure, S. 101.
73
McCracken, ebd., S. 101.
74
Connolly, Companion, S. 477. Der Betrag des Regium Donum belief sich ursprünglich auf 600
£ p.a. Vgl. Beckett, Making, S. 132.
55
p.a. aufgestockt worden war,75 stand es fortwährend im Kreuzfeuer der Kritik.
Anglikanische Kirchenfürsten beschuldigten die Presbyterianer, sie mißbrauchten
das Geld zum Aufbau neuer Gemeinden, machten also mit anglikanischem Geld
der anglikanischen Kirche Konkurrenz. Das irische Unterhaus beschloß 1703, es
handele sich beim Regium Donum um eine „entbehrliche“ Leistung des Staates.76
1714 gelang es der Ascendancy sogar, für kurze Zeit die Abschaffung des Regium
Donum durchzusetzen.77 Dieser Schritt war weniger von finanzieller, als vielmehr
von politischer Bedeutung: Im Schnitt entfielen vom Regium Donum auf jeden
presbyterianischen Prediger in Ulster 11 £ p.a., aber zugleich war es das Symbol
der Legitimität des Dissent in Irland.78 Daher kam die zwischenzeitliche Abschaffung einem enormen Affront der presbyterianischen Bevölkerung gleich, den die
Ascendancy sich gleichwohl glaubte leisten zu können, weil sie davon ausging,
daß die presbyterianische Bevölkerung im Fall einer Auseinandersetzung mit der
katholischen Bevölkerung aus Furcht vor einer katholischen Restauration dennoch
fest an ihrer Seite stehen würde, so daß sich strategische Rücksichtnahmen erübrigten.79
Nach dem Regierungsantritt Georgs I. wollte man sich in Großbritannien auf dieses gewagte Spiel offensichtlich nicht einlassen: Das Regium Donum wurde jedenfalls umgehend wieder eingeführt, 1718 sogar auf 2.000 £ p.a. aufgestockt und
1719 das bereits erwähnte Tolerierungsgesetz gegen den Widerstand der Ascendancy durchgedrückt.80 Diese Vorgehensweise ist als deutliches Indiz dafür zu
werten, daß die britische Seite eine Schwächung der protestantischen Bevölkerung in Irland durch interne Konflikte nach Möglichkeit vermeiden wollte.81 Mit
diesem Einlenken waren die anglikanisch-presbyterianischen Beziehungen jedoch
nicht mehr zu kitten – zu deutlich erkennbar war der Widerwille, mit dem die
Anglikaner – erst auf britischen Druck hin – Zugeständnisse gemacht hatten, zu
75
Beckett, ebd., S. 160.
Simms, Establishment, S. 25, McCracken, Ecclesiastical Structure, S. 84, 86, 101.
77
Dickson, New Foundations, S. 59.
78
McCracken, Ecclesiastical Structure, S. 100, A.T.Q. Stewart, The Narrow Ground, Aspects of
Ulster, London 1977, S. 93.
79
Bartlett, Fall, S. 32; Foster, Modern Ireland, S. 158.
80
Das Regium Donum blieb auch im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts ein Appeasementinstrument des Kolonialregimes. Es war kein Zufall, daß es ausgerechnet nach „Grattan’s
Revolution“ 1784 auf insgesamt 3.100 £ p.a. und 1792, als der Reformkongreß in Dungannon
tagte, nochmals auf 5.000 £ p.a. aufgestockt wurde. Dahinter stand ganz eindeutig der Versuch,
das Wohlwollen und die Loyalität der Dissenter zu gewinnen. Stewart, Narrow Ground, S. 92f.
76
56
groß die Enttäuschung der Presbyterianer über das Verhalten der ehemaligen
Bundesgenossen (zumal die Gesetze, welche die politische Marginalisierung der
Dissenter zur Folge hatten, weiterhin Gültigkeit behielten). Die politische Entfremdung zwischen der anglikanischen und der presbyterianischen Bevölkerung
wurde somit zum fait accompli, zu einer festen Größe im politischen Tagesgeschäft.
Katholische Reaktionen auf die Marginalisierung. Die irischen Katholiken
waren nach ihrer Niederlage zunächst nicht in der Lage, Widerstand gegen die
Strafgesetze zu leisten. Zum einen war der politisch aktive Teil der katholischen
Bevölkerung überwiegend aufs europäische Festland geflohen, zum anderen verbot sich offener Widerstand auch aus Furcht vor weiteren Repressionsmaßnahmen. Die Rapparees – katholische Jakobiten, die eine Brigantenexistenz in Irland
einer Flucht nach Frankreich vorgezogen hatten – stellten Magistrate und Landbesitzer zwar vor allem im Westen und Südwesten Irlands punktuell vor Probleme,
verursachten aber aufs Ganze gesehen wenig Schaden.82 Ernsthafter, prinzipieller
Widerstand gegen die Strafgesetze war von dieser Seite jedenfalls nicht zu gewärtigen.
Lediglich in einem Punkt läßt sich feststellen, daß Katholiken auch zur Hochzeit
der Strafgesetzgebung kurz nach der Wende zum 18. Jahrhundert Widerstand leisteten: Gegen die Verfolgung des katholischen Klerus. Ungeachtet der Gefahr, die
dies mit sich brachte, wurden katholische Bischöfe und Priester vor dem Zugriff
der Behörden geschützt, mit Kost, Logis und Geld versorgt.83 Gelegentlich nahm
der Schutz des katholischen Klerus auch gewaltsame Formen an: Ein katholischer
Bischof wurde 1703 von fast 300 bewaffneten Katholiken aus dem Gefängnis
befreit und die ‚Priesterjäger’ – von der Ascendancy gedungene Denunzianten
(u.a. auch exkommunizierte katholische Priester), die untergetauchte Kleriker
aufspürten und gegen Prämien an die Behörden verrieten – konnten sich ihres
Lebens nicht mehr sicher sein, wenn sie von Katholiken erkannt wurden.84
81
Foster, Modern Ireland, S. 157.
Simms, Establishment, S. 9; Beckett, Making, S. 150, 176.
83
P.J. Corish, The Catholic Community in the 17th and 18th Centuries, Dublin 1981, S. 77, 83;
Wall, Penal Laws, S. 24f.
84
Wall, Penal Laws, S. 11, 25-27, 33; Dickson, New Foundations, S. 57.
82
57
Abgesehen von diesen wenigen Ausnahmen bemühte sich die katholische Bevölkerung jedoch durch alle sozialen Schichten hindurch darum, sich entweder mit
den Regelungen der Strafgesetzgebung zu arrangieren – oder sie zu unterlaufen,
wenn sich dies bewerkstelligen ließ, ohne Aufsehen zu erregen. Die religiösen
Regelungen der Strafgesetzgebung wurden stillschweigend ignoriert (was sich
etwa deutlich am Wallfahrtswesen ablesen läßt)85, die Religion wurde – übrigens
von den Behörden, die sich damit zufrieden gaben, daß die Katholiken öffentlich
nicht in Erscheinung traten, weitgehend toleriert – insgeheim weiter ausgeübt.86
Erleichtert wurde diese Strategie dadurch, daß die Ascendancy an der Umsetzung
der religiösen Teile der Strafgesetzgebung wenig interessiert war bzw. sie administrativ nicht bewältigen konnte.87 Jenseits von Glaubensfragen machten die katholischen Bischöfe und Adeligen jedoch ihren ganzen Einfluß geltend, um die
katholischen Unterschichten ungeachtet ihrer jakobitischen Sympathien zu ostentativem Wohlverhalten zu bewegen und ließen keine Gelegenheit aus, um ihre
Kooperationsbereitschaft gegenüber dem Kolonialregime zu demonstrieren und so
wieder an politischem Handlungsspielraum zu gewinnen.88 Um die Jahrhundertmitte war die katholische Kirchenhierarchie wieder vollständig intakt89 und die
enteigneten, von Landbesitz– und Berufsverboten geplagte katholische Mittelund Oberschicht hatte sich andere Einkommensquellen erschlossen, indem sie auf
dem Land als Verwalter und Agenten der ‚neuen’, anglikanischen Landbesitzer
fungierten oder sich im Handel etablierten.90
Aufgeklärter Katholizismus. Parallel dazu machte sich um die Jahrhundertmitte
auch in der katholischen Intelligenz sachte eine Aufbruchstimmung breit. Vor
allem zwei katholische Autoren – Charles O’Conor von Belanagare und Dr. John
Curry – begannen, gegen die anglikanischen Wahrnehmung der katholischen Be-
85
Wall, ebd., S. 52f.
Corish, Catholic Community, S. 83-85.
87
Wall, Penal Laws, S. 18-25, Stewart, Narrow Ground, S. 103f.
88
M. Wall, Catholic Loyalty to King and Pope in 18th Century Ireland, in: O'Brien/Dunne (Hgg.),
Catholic Ireland in the 18th Century: Collected Essays of Maureen Wall, Dublin 1989, S. 107-114.,
S. 109; Corish, Catholic Community, S. 122; Boyce, Nationalism, S. 124.
89
Wall, Penal Laws, S. 29f.
90
M Wall, The Rise of a Catholic Middle Class in 18th Century Ireland, in: O'Brien/Dunne,
(Hgg.), Catholic Ireland in the 18th Century: Collected Essays of Maureen Wall, Dublin 1989, S.
73-84; M. Wall, Catholics in Economic Life, in: O'Brien/Dunne, (Hgg.), Catholic Ireland in the
18th Century: Collected Essays of Maureen Wall, Dublin 1989, S. 85-92; K. Whelan, An Underground Gentry? Catholic Middlemen in 18th Century Ireland, in: ders., Tree, S. 3-56; L.M. Cullen, The Emergence of Modern Ireland, 1600-1900, New York 1981, S. 99f.
86
58
völkerung anzuschreiben. Das Ziel ihres geschichtsrevisionistischen Projekts war,
den Stillstand in den katholisch-anglikanischen Beziehungen zu durchbrechen,
indem sie versuchten, die katholische Bevölkerung vom Revanchismusverdacht
zu entlasten und glaubhaft zu machen, daß Katholizismus und Loyalität zu einem
protestantischen Herrscherhaus sich nicht gegenseitig ausschlossen.91 Es war kein
Zufall, daß diese Schriften, die einer Distanzierung vom Jakobitismus und einer
katholischen Anerkennung der „Glorreichen Revolution“ gleichkamen, erst nach
dem gescheiterten Stuart-Aufstand von 1745/46 erschienen, als Cumberlands
Greueltaten die letzte Hoffnung auf eine Stuart-Restauration endgültig zunichte
machten.92 Dem anglikanischen Vorurteil, Katholiken seien per se incapax libertatis, setzten O’Conor und Curry in ihren historischen Studien die These entgegen, daß irische Katholiken entscheidende Beiträge zur Entwicklung der zivilen
Freiheiten Großbritannien und Irlands geleistet hätten und entwarfen ein Bild der
vorkolonial-gälischen Gesellschaft, welches diese als Hort konstitutioneller Freiheiten erscheinen ließ.93 Obendrein distanzierten sich diese aufgeklärten Katholiken von der weltlichen Autorität des Papstes.94 Gerade in diesem Gesichtspunkt
läßt sich der Unterschied des aufgeklärten Katholizismus zur Haltung der katholischen Oberschicht aus Adel und Klerus ermessen, die zwar immer ihre politische
Loyalität betonten, sich aber weigerten, öffentlich von Glaubenssätzen abzugehen.
O’Conor drängte in seinen Schriften nun darauf, daß den Katholiken durch Ablegen eines Eides die Gelegenheit gegeben würde, sich von solchen Doktrinen zu
distanzieren, die von anglikanischer Seite als Legitimation für die Exklusion der
katholischen Bevölkerung verwendet wurden.95 Das Ergebnis war, daß 1775 60
katholische Kaufleute und Händler aus Dublin in King’s Bench diesen Eid – gegen den Widerstand der katholischen Würdenträger – freiwillig ablegten, worauf
sich der politisch aktive Teil der katholischen Bevölkerung in Juroren und NonJuroren aufspaltete. Auf der Seite der Non-Juroren standen die katholischen Kir91
M. Wall, The Position of Catholics in Mid-Eighteenth Century Ireland, in: O'Brien/Dunne,
(Hgg.), Catholic Ireland in the 18th Century: Collected Essays of Maureen Wall, Dublin 1989, S.
93-101, S. 94.
92
Zu den Veröffentlichungsdaten der in diesem Zusammenhang relevanten Schriften O’Conors
und Curry vgl. J.R. Hill, Popery, Civil and Religious Liberty: The Disputed Lessons of Irish History, 1690-1812, in: P & P 118 (1988), S. 96-129, Anm. 45-47; zu Cumberlands ‘Wirken’ vgl. M.
Lynch, Scotland – A New History, London 19922, S. 338f.
93
Hill, ebd., S. 105.
94
Ebd., S. 104.
95
Wall, Loyalty, S. 101-111.
59
chenfürsten und der Großteil des eng mit der Kirche kooperierenden katholischen
Adels, auf der Seite der Juroren aufgeklärte Katholiken aus Wirtschaftsbürgertum
und Intelligenz sowie ein paar adelige und klerikale Dissidenten.96
Das Catholic Committee. Die zweite Neuentwicklung, die der aufgeklärte Katholizismus brachte, war die politische Organisation der irischen Mittelstandsund Oberschichtskatholiken. Auch hier waren O’Conor und Curry mit der Hilfe
Thomas Wyse’ aus Waterford federführend tätig: 1760 gründeten sie das Catholic
Committee, das für sich in Anspruch nahm, die Interessen ‚aller‘ irischen Katholiken (d.h. de facto des katholischen Bürgertums, Adels und Klerus) zu vertreten.97
Ursprünglich eine Hilfsorganisation und Koordinationsinstanz für lokale Versuche der Katholiken neue Rechte zu erkämpfen bzw. alte Rechte zu verteidigen,
entwickelte sich das Komitee bis Mitte der 1780er Jahre zu einem veritablen katholischen Gegenparlament,98 das die Ascendancy mit zunehmendem Argwohn
und mit Sorge betrachtete, weil es ihren politischen Alleinvertretungsanspruch in
Frage stellte. Analog zur Spaltung in Juroren und Non-Juroren lassen sich auch im
Catholic Committee zwei Lager ausmachen: Auf der einen Seite die ,alte‘ katholische Elite aus Adel und Klerus um Lord Kenmare und den Erzbischof von Dublin,
Dr. Troy, die eine geduldige Petitions- und Loyalitätspolitik verfolgten (in der
Hoffnung, daß ihr Wohlverhalten mit der Wiederzulassung in die politische Elite
belohnt würde) und auf der anderen Seite der relativ ,junge‘ katholische Mittelstand um O’Conor und Curry, der auf eine entschlossenere Gangart drang und
eine prinzipielle Emanzipation der katholischen Bevölkerung, die Beseitigung
britischer Handelsinterventionen sowie die Ausweitung der politischen Partizipation auf den Mittelstand forderte. Dadurch ergaben sich zwar einerseits Berührungspunkte zwischen dieser letztgenannten Fraktion und anderskonfessionellen,
reformorientierten Gruppierungen, anderseits setzte diese Entwicklung einen
Fragmentierungsprozeß in der politisch aktiven katholischen Bevölkerung in
Gang. Dadurch daß aufgeklärte Katholiken durch ihre Distanzierung von Rom
neue, offensivere Handlungsmöglichkeiten erschlossen, zerbrach gleichzeitig die
96
Ebd., S. 113.
M. Wall, Government Policy Towards Catholics During the Viceroyalty of the Duke of Bedford, 1757-61, in: O'Brien/ Dunne (Hgg.), Catholic Ireland in the 18th Century: Collected Essays
of Maureen Wall, Dublin 1989, S. 103-106., S. 104; M. Wall, John Keogh and the Catholic Committee, in: ebd., S. 163-170., S. 164-167.
98
Vgl. R. D. Edwards (Hg.), The Minute Book of the Catholic Committee, 1773-92, in: Archvium
Hibernicum 9 (1942), S. 3-172, passim. (Fortan zitiert als MBCC)
97
60
Geschlossenheit in der katholischen Bevölkerung, die durch den repressiven
Druck entstanden war, der von der Strafgesetzgebung ausging. Mit einem Mal
kamen schichtspezifische Partikularinteressen zum Vorschein, die sich in Strategiekontroversen und Ausbruchsversuchen einzelner Lager aus der von der Ascendancy kreierten katholischen ‚Zwangsgemeinschaft’ niederschlugen.99 Die Formen des katholischen Widerstands gegen die Unterdrückung der Ascendancy diversifizierten sich in der zweiten Jahrhunderthälfte ebenso wie sich die katholische Bevölkerung intern differenzierte. Am Ende dieses Prozesses standen sich
drei distinkte katholische Gruppen gegenüber: die alte katholische Elite, der neue
katholische Mittelstand – und die katholischen Unterschichten auf dem Land, die
von diesen Neuorientierungen abgekoppelt weiter ihre jakobitische Loyalität
pflegten und in den politischen Überlegungen der beiden ersten Gruppen bestenfalls eine strategische Rolle spielten, sonst aber komplett abgehängt wurden.
Presbyterianische Reaktionen auf die Marginalisierung. Die Reaktionen der
Dissenter auf die Marginalierung durch die Ascendancy weisen eine größere Variationsbreite auf als die katholische. Dafür gibt es mehre Gründe. Erstens waren
die Dissenter in einer besseren Ausgangsposition als die Katholiken: Die Animosität der Ascendancy gegenüber den Dissentern war weniger ausgeprägt,100 die
anglikanischen Repressionsmaßnahmen – wie wir bereits gesehen haben – weniger umfassend und ihr politischer Handlungsspielraum entsprechend größer. Sie
konnten zumindest öffentlich für ihre Rechte eintreten, ohne damit neue Repressionen zu provozieren. Zweitens bildeten die Dissenter in Ulster eine distinkte, regional verankerte Sondereinheit in der irischen Gesellschaft: Ulster war – mit
Ausnahme Dublins – die am stärksten prosperierende Region Irlands, die Sozialstruktur war egalitärer als sonstwo in Irland, die Bildungsstandards höher und die
presbyterianische Kirche hatte laut PETER BROOKE in Ulster gleichsam den Charakter einer ‚Nationalkirche‘.101 Dieser spezielle Status muß nicht notwendiger-
99
Vgl. vor allem die Kenmare-Troy Affäre von 1791 in: Wall, Keogh, S. 166f; verkürzt dagegen
bei Boyce, Nationalism, S. 123f.
100
T.C. Barnard, The Government and Irish Dissent, 1704-1780, in: K. Herlihy (Hg.), The Politics of Irish Dissent, 1650-1800, Dublin 1997, S. 9-27, S. 12f., 17f.
101
J.C. Beckett, Introduction, 18th Century Ireland, in: Moody/Vaughan, History of Ireland 4, S.
x-lxiv, S. lx; Brooke, Ulster Presbyterianism, S. 112; McCracken, Social Structure, S. 39f.; Tesch,
Radicalism, S. 37, 40f.
61
weise zur Ausbildung einer regionalen Identität geführt haben,102 aber er erleichterte zumindest die Abkapselung der Dissenter von der restlichen irischen Gesellschaft und die Entstehung einer kritischen, z.T. radikal-oppositionellen Haltung
gegenüber der Ascendancy, die gleichwohl nicht von der gesamten presbyterianische Bevölkerung geteilt wurde.103 Das hing wiederum damit zusammen, daß drittens durch die anglikanische Religionspolitik, welche die Etablierung der anglikanischen Kirche als Staatskirche zum Ziel hatte, in den presbyterianischen Kongregationen eine Grundsatzdiskussion über das Verhältnis von Staat und Kirche
und über die Frage ausgelöst wurde, inwieweit die Staatsgewalt überhaupt berechtigt sei, in die religiösen Angelegenheiten der Bevölkerung einzugreifen.104 Das
Ergebnis dieser Debatten, die eine deutliche Tendenz zur Verselbständigung und
politischen Radikalisierung aufwiesen, waren mehrere Schismen, die einerseits
Debatten, die in der schottischen Kirk und der presbyterianischen Kirche Englands geführt wurden, und andererseits spezifische Vorbehalte der nordirischen
Dissenter gegenüber der Ascendancy reflektierten.
Zunächst argumentierten die Dissenter jedoch politisch: In einer Adresse an Königin Anne protestierten presbyterianische Prediger gegen den Test Act von 1704
und beriefen sich dabei auf ihre stets unter Beweis gestellte Loyalität gegenüber
der Krone.105 Das war der Auslöser für eine polemische Auseinandersetzung zwischen einem anglikanischen und zwei presbyterianischen Autoren in Ulster, die
im presbyterianischen Teil der Öffentlichkeit von Anfang an hohe Wellen schlug:
1709 und 1712 veröffentlichte der anglikanische Vikar William Tisdall aus Belfast zwei Flugschriften, in denen er den Presbyterianern vorwarf, sie seien dezidierte Gegner der Monarchie und hätten sich nach 1688 illoyal verhalten.106 Die
Antwort ließ nicht lange auf sich warten: 1713 publizierten zwei presbyterianische Prediger – John McBride und James Kirkpatrick – Flugschriften, in denen sie
102
So die Annahme von Brooke, ebd., 63f., 112; Tesch, ebd., S. 37. In geradezu grotesker Weise
als ‚Volkscharakter’ überzeichnet auch bei Stewart, Narrow Ground, S. 83.
103
Foster, Modern Ireland, S. 157.
104
Tesch, Radicalism, S. 37-39.
105
Die Substanz dieser Behauptung ist höchst zweifelhaft, denn schließlich hatten der Großteil
der Presbyterianer im Erbfolgekrieg nicht die Seite des rechtmäßigen Stuartkönigs ergriffen.
Selbst wenn man Jakob II. nach der „Glorreichen Revolution“ und seiner Flucht nicht mehr als
englischen König anerkennen mochte, war er dennoch verfassungsgemäß der irische Souverän.
Vgl. Stewart, Narrow Ground, S. 63.
106
Brooke, Ulster Presbyterianism, S. 68 u. wörtlich wie Brooke (aber ohne Zitat!) Tesch, Radicalism, S. 34f.
62
den Dissent gegen Tisdalls Vorwürfe verteidigten.107 Beide wiesen die These weit
von sich, daß die Kirk Autorität über die weltlichen Magistrate beanspruche, sprachen sich aber gleichzeitig dafür aus, das individuelle Gewissen zur letzten Instanz in Glaubensfragen und Fragen der Zugehörigkeit zur anglikanischen oder
presbyterianischen Kirche zu machen.108 Obendrein reklamierten sie ein Widerstandsrecht des gemeinen Mannes gegenüber der staatlichen Autorität, sofern diese gegen den „erklärten Willen der Obersten Göttlichen Gewalt“ („declared will
of the Supreme Divine Power“) verstoße, ließen aber offen, wer diesen „erklärten
Willen“ autoritativ festlegen könne.109 Der Sprache und dem Inhalt nach lagen
diese Thesen sehr nahe an kontraktheoretischen Überlegungen, wie sie John Locke angestellt hatte. Die politische Botschaft, die implizit hinter diesen Ideen
stand, ohne explizit formuliert zu werden, war, daß es an Willkürherrschaft grenze, wenn eine Bevölkerungsgruppe aufgrund ihrer nur vor Gott zu verantwortenden Gewissensentscheidung für den Dissent von der politischen Partizipation ausgeschlossen wird. Obwohl beide immer dafür plädierten, daß jedermann der weltlichen Obrigkeit – ungeachtet seiner religiösen Überzeugungen – stets Gehorsam
und Respekt zu zollen habe, konnte zumindest McBride seine eigene Mißachtung
vor den Repräsentanten dieser Obrigkeit nur schwer verbergen:
„Bevor man uns wegen der Zurückweisung des Eides auf gekrönte Häupter
der mangelnden Loyalität verdächtigt – obwohl sie tot und verrottet sind –,
soll ihnen lieber aller angebrachte Respekt zuteil werden.“110
Kirkpatrick ging sogar noch weiter, indem er für die Presbyterianer ein besonders
ausgeprägtes Freiheitsbewußtsein reklamierte:
„Die kirchliche Konstitution des Presbyteriums stellt so effektive Gegenmittel gegen die Usurpation und Ambition des Klerus zur Verfügung und legt
eine solche Grundlage für die Freiheit des Individuums in Kirchenfragen,
daß in den Menschen auch ganz natürlich eine Aversion gegen alle Tyrannei
und Unterdrückung im Staat entsteht.“111
Hier wird augenfällig, daß es unter den Presbyterianern in Ulster keineswegs an
Selbstbewußtsein mangelte, um der Ascendancy entgegenzutreten. Davon abgesehen ist die Bedeutung der Flugschriften McBrides und Kirkpatricks auch sonst
schwerlich zu hoch zu veranschlagen: Sie sind perfekte Beispiele dafür, wie Reli107
Zum Verlauf und Inhalt der Tisdall-McBride/Kirkpatrick-Kontroverse vgl. Brooke, Ulster
Presbyterianism, S. 68-72.
108
Ebd., S. 69; Tesch, Radicalism, S. 35.
109
Brooke, ebd., S. 68, Zitat ebd.
110
Zitiert nach ebd., S. 70. (meine Übersetzung)
63
gion und Politik in der presbyterianischen Tradition als zwei Seiten einer Medaille wahrgenommen wurden, wie man von Kirchenfragen in Kürze bei Grundproblemen der politischen Philosophie wie der Frage des Widerstandsrechts landete,
wie nahe sich Presbyterianismus und die Whig-Ideologie standen.112 Im Kontext
der vorliegenden Arbeit ist aber von noch größerer Bedeutung, daß die von Kirkpatrick und McBride ausgebreiteten Argumente ab den 1780er Jahren in den
Schriften oppositioneller Presbyterianer eine Renaissance erlebten.113 Diese Autoren bereiteten den Weg für radikale presbyterianische Geistliche wie Samuel Barber oder William Steel Dickson, die in den 1790er Jahren im Umfeld der United
Irishmen aktiv waren.114
Die Schismen innerhalb der presbyterianischen Kirche sind aus mehreren Gründen bemerkenswert. Einerseits zeigen sie die kulturellen Einflüsse des englischen
und schottischen Dissent auf die presbyterianische Bevölkerung in Nordirland,
andererseits hatte jede dieser Abspaltungen irlandspezifische Konsequenzen, die
vor allem darin bestanden, daß eine zunehmend feindliche Haltung gegenüber
dem Staat eingenommen wurde – und zwar ungeachtet der Tatsache, ob es sich
um fundamentalistisch-puristische oder liberale Abspaltungen handelte.
Die erste Abspaltung von der Synode von Ulster erfolgte durch den liberalen Flügel des Dissent. Die Synode verlangte von ihren Gläubigen zusätzlich zur Befolgung des Gebots ‚sola scriptura’ die Anerkennung der Westminster Confession of
Faith.115 Einige presbyterianische Prediger verwahrten sich dagegen: Es sei ein
Übergriff der Synode auf die Glaubensfreiheit des Individuums. 1719 veröffentlichte Reverend John Abernethy aus Antrim eine Predigt mit dem Titel „Religious
Obedience Founded on Personal Perusasion“, in der diese Position ausführlich
dargelegt ist.116 Die heftigen Auseinandersetzungen in England um diese Frage
111
Zitiert nach Tesch, Radicalism, S. 35. (meine Übersetzung)
Vgl. hierzu auch A.T.Q. Stewarts Polemik zum Nexus zwischen religiöser Überzeugung und
politischen Orientierungen in der presbyterianischen Gemeinschaft. Stewart, Narrow Ground, S.
83.
113
Brooke, Ulster Presbyterianism, S. 71; Tesch, Radicalism, S. 36.
114
Vgl. exemplarisch B. Clifford (Hg.), Scripture Politics, Selections from the Writings of William Steel Dickson, the Most Influential United Irishman of the North, Selected and Introduced by
B.C., Belfast 1991; Tesch, Radical Presbyterianism, S. 46ff.
115
Die Westminster Confession wurde 1647 von der Synode von Westminster als dogmatische
Grundlage für alle presbyterianischen Gruppierungen formuliert.
116
Zur Abernethy-Kontroverse vgl. Brooke, Ulster Presbyterianism, S. 81-83.
112
64
vor Augen, vermied es die Synode, einen Konfrontationskurs einzuschlagen.117
Der Streit konnte dennoch erst nach vielem Hin und Her 1725/26 dadurch beigelegt wurden, daß die sogenannten „Nicht-Subskribenten“ institutionell von der
Synode getrennt wurden und im Presbyterium von Antrim zusammengefaßt wurden.118 Hier setzten sich die Diskussionen fort, die bereits 1705 mit der Gründung
der Belfast Society, eines Debattierklubs liberal-presbyterianischer Prediger, begonnen hatten.119 In der Gruppe der Nicht-Subskribenten oder Anhänger des ‚New
Light’, wie sie auch genannt wurden, waren die Vorbehalte gegenüber staatlichen
Eingriffen in Glaubensfragen und konfessionell fundierter Diskriminierung besonders ausgeprägt, in ihren Kreisen machte sich der Einfluß der schottischen
Aufklärung besonders stark bemerkbar.120 Insbesondere der irisch-schottische
Moralphilosoph Francis Hutcheson (ein Lehrer Adam Smiths), der politische und
soziale Angelegenheiten als moralische Fragen auffaßte und die Errichtung einer
gerechten politischen Ordnung als vorrangiges gesellschaftliches Ziel begriff,
wurde hier rezipiert.121 Hutcheson war zugleich auch ein dezidierter Verfechter
des Widerstandsrechts gegen eine ungerechte Regierung.122 Es überrascht daher
nicht, daß gerade Prediger des New Light eine prominente Rolle in der regimekritischen Opposition der 1780er und 1790er Jahre spielten.
Auf der anderen, fundamentalistischen Seite spalteten sich um die Jahrhundertmitte – ebenfalls dem schottischen Modell folgend – die sogenannten Sezessionisten (Seceders) von der Synode ab. In Schottland war die Sezession eine Art „Zurück-zum-religiösen-Ursprung“-Bewegung gewesen, in Irland richtete sie sich
zusätzlich auch gegen die Synode von Ulster, deren Kirchenpolitik als zu lax kritisiert wurde.123 Gemäß der anti-episkopalen Tradition des Dissent betrachteten
die Sezessionisten überdies die anglikanische Kirche als ‚unprotestantisch’ und
rückten sie wegen ihrer prälatischen Struktur in die Nähe der katholischen Kir117
Ebd., S. 83.
Tesch, Radicalism, S. 38.
119
Brooke, Ulster Presbyterianism, S. 81.
120
Ebd., S. 82; I. McBride, William Drennan and the Dissenting Tradition, in: Dickson, United
Irishmen, S. 49-61., S. 53.
121
McBride, ebd., S. 57-60; Tesch, Radicalism, S. 38.
122
„Wenn die gemeinsamen Rechte der Gemeinschaft in den Staub getreten werden ... dann hat
der Regierende, da er das in ihn gesetzte Vertrauen offensichtlich verrät, sich aller Macht begeben,
mit der er ausgestattet wurde. In jedem Regierungssystem haben die Menschen das Recht, sich
selbst gegen Machtmißbrauch zur Wehr zu setzen.“ Zitiert nach Tesch, ebd., S. 38. (meine Übersetzung)
118
65
che.124 Die politische Weiterung dieser Position bestand darin, daß sie auch dem
Staat, der eine solche Kirche förderte, ablehnend gegenüberstanden. Der Staat
nahm das zur Kenntnis und reagierte: Bis 1784 waren sezessionistische Prediger
ausdrücklich vom Regium Donum ausgenommen.125 Die fundamentalistische Opposition der Sezessionisten wurde jedoch noch einmal von den sich in den 1760er
Jahren abspaltenden Reformierten Presbyterianern (Covenanters) übertroffen,
welche die Kritik an der episkopalen Struktur der anglikanischen Kirche zum
Ausgangspunkt dafür nahmen, nicht nur den Staat, sondern sogar die „Glorreichen Revolution“ nicht anzuerkennen, weil dadurch in England und Irland episkopale Staatskirchen entstanden waren.126
Folgende Aspekte sind zusammenfassend festzuhalten: Die presbyterianische Bevölkerung legte aufgrund der Marginalisierung durch die Ascendancy und der
Eigenheiten ihrer Konfession eine gewisse Tendenz zur Abkapselung gegenüber
der Kolonialgesellschaft an den Tag.127 Insbesondere von den Rändern des Dissent – weniger von der Synode von Ulster – wurde aus diametral entgegengesetzten Motive scharfe Kritik am anglikanisch dominierten Staat laut. Die Themen der
sehr kontrovers geführten Debatten innerhalb der presbyterianischen Gemeinschaft bereiteten den Boden für die Auseinandersetzungen ab der zweiten Hälfte
der 1770er Jahre. Dank der vorsichtigen Politik der Synode schlugen die internen
presbyterianischen Gegensätze nicht in einen offenen Konflikt zwischen den einzelnen Lagern um: Man stritt sich, spaltete sich auch, aber es floß kein Blut. Die
radikale und die moderate Opposition gegen die Ascendancy äußerte sich lebhaft
in Pamphleten und Predigten, es wurde jedoch keine institutionelle Basis für konzertiertes Handeln geschaffen (wie bei den Katholiken). Daher darf man sich von
der regimekritischen Rhetorik presbyterianischer Autoren auch nicht täuschen
lassen: Der Tonfall war deutlich schärfer als bei den Katholiken, aber in den
Kernfragen – Abschaffung des Sacramental Test, vollständige Anerkennung der
presbyterianischen Kirche, politische Teilhabe – erzielten sie ebenfalls keine Erfolge. Insofern hatte der regionalistische Affekt – diese nordirische Variante des
„Mir san mir“ – auch durchaus kompensatorischen Charakter: Bis zum letzten
123
Connolly, Companion, S. 504.
Tesch, Radicalism, S. 39.
125
Ebd.
126
Ebd., S. 40.
127
Brooke, Ulster Presbyterianism, S. 106.
124
66
Drittel des 18. Jahrhunderts konzentrierten sich die presbyterianischen Aktivitäten
viel mehr darauf die Provinz Ulster zum ‚Musterländle’ zu machen als auf aktiven
Widerstand gegen die Ascendancy. Der Unmut über und die Entfremdung von der
Kolonialelite waren durchaus vorhanden, aber die Gelegenheit und praktikable
Wege zum Erfolg fehlten ebenso wie eine organisatorische Plattform.
Gründe für die Konfessionalisierung der Politik. Vergleicht man die politische
Marginalisierung der Katholiken und der Dissenter miteinander, dann legen die
Gemeinsamkeiten – die Parallelität der Maßnahmen, die von der Ascendancy gegen die anderen, potentiell oder tatsächlich konkurrierenden Bevölkerungsgruppen eingeleitet wurden, aber auch das grundlegende Motiv für diese Maßnahmen,
nämlich die Absicherung des anglikanischen Machtmonopols – nahe, beide als
komplementäre Teile desselben Konfessionalisierungsprozesses der politischen
Sphäre aufzufassen. Demgegenüber tritt der wesentliche Unterschied, die konfessionelle Staffelung der Marginalisierungsmaßnahmen, die von einer relativen
(Dissenter) bis zu einer totalen Marginalisierung (Katholiken) reichte, deutlich
zurück, zumal diese aus dem von der Ascendancy antizipierten, spezifischen Bedrohungspotential der anderen Bevölkerungsgruppe plausibel zu erklären sind.
Dafür daß von den Katholiken die größere Gefahr ausging, sprach aus anglikanischer Perspektive nicht nur deren numerische Stärke, sondern auch die Erfahrungen des Aufstands von 1641 und des Erbfolgekrieges von 1689-91. Entsprechend
rigoros griff die Ascendancy durch, während sie sich mit Sicht auf die Dissenter
damit zufriedengab sicherzustellen, daß diese keine unmittelbare Bedrohung für
das ‚Protestant Establishment’ (also das anglikanische Machtmonopol und die
Verbindung zwischen dem Staat und der anglikanischen Staatskirche) darstellten
– ohne ihnen dafür summarisch alle politischen Partizipationsrechte zu entziehen.
Damit ist jedoch noch nicht erklärt, warum die Ascendancy ausgerechnet die Konfession als Distinktionskriterium heranzog, um ihre Position abzusichern. Wie
folgende Übersicht potentieller Distinktionskriterien zeigt, war die Religionszugehörigkeit als Differenzbestimmung keineswegs alternativlos:
67
Bezeich-
Konfession:
Sprache:
Ethnisch:128
Regional: Politisch:
Kolonial:
römisch-
Gälisch
Irisch
Connacht, Tory
Alte & neue Kolo-
Munster
(Jakobiten)
nisierte
Munster,
Tory
Alte Kolonisten &
Leinster
(Jakobiten)
neue Kolonisierte
Leinster
Whig
Neue
nung:
“Irish”
katholisch
“Old
römisch-
English”
katholisch
“New
anglikanisch
Yola
Englisch
Normannisch
Englisch
English”
“Scotch-
presbyteria-
Lowland
Irish”
nisch
Scots
Schottisch
Kolonisten
(The Pale) (Oranier)
(1. Klasse)
Ulster
Whig
Neue
(Oranier)
(2. Klasse)
Kolonisten
Wie deutlich zu sehen ist, wäre auch eine Klassifikation entlang ethnischer, linguistischer, regionaler, politischer oder – ganz offen – entlang kolonialer Grenzlinien möglich gewesen. Um so erstaunlicher ist, daß andere Klassifikationskriterien vielfach stillschweigend mitgedacht worden sein mögen, aber nicht einmal
flankierend zu Abgrenzungszwecken Verwendung fanden. Zur Begründung könnte man nun allgemeine, pragmatische Argumente anführen, etwa daß die Konfession eine stabilere Markierung und leichter zu handhaben gewesen sei als andere
Klassifikationsmerkmale, und daß überhaupt die ethnische Herkunft und die
Sprache erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, während des Voranschreitens des
inneren Nationsbildungsprozesses, zu wichtigen Unterscheidungskriterien avancierten, während – unter Verweis auf konfessionelle Diskriminierung in Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden, dem Heiligen Römischen Reich und anderen europäischen Ländern – im 18. Jahrhundert die Konfession offenbar ein allgemein anerkanntes, auch politisches Exklusionskriterium darstellte.129 Das ist
alles richtig, erklärt aber immer noch nicht die Ausschließlichkeit, mit der die
Konfession in Irland von der Ascendancy zur Klassifikationsbasis erhoben wurde.
Zusätzlich zu den pragmatischen Gründen für diese Wahl müssen zwei weitere
Gesichtspunkte ins Feld geführt werden, um die Hervorhebung der Konfession
verstehen zu können. Der eine Aspekt ist die enorme historische und emotiona128
An dieser Stelle ist es sinnvoll, den Hinweis T.C. Barnards aufzugreifen, daß man ethnische
Kategorien in diesem Zusammenhang nicht als strikt getrennte „Rassen“ im biologischen Sinn
auffassen darf, sondern nur als ethnische Selbst- und Fremdbezeichnungen: „In Ireland, ethnicity
hardly reflects unpolluted gene pools of Gaels, English, Welsh and Scots, but comprehends mongrel populations.“ Vgl. Barnard, Identities, S. 29.
129
J.C. Beckett, The Anglo-Irish Tradition, Belfast 1976, S. 37; Boyce, Nationalism, S. 97.
68
le Aufladung der Konfessionszugehörigkeit in Irland. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts hatten sich die katholische und die protestantische130 Bevölkerung Irlands dreimal in blutigen Aufständen und Bürgerkriegen feindlich gegenübergestanden: 1595-1603, 1641-1650 und 1689-1691. Konfessionelle Massaker, Greueltaten, umfangreiche Enteignungen und massive Vertreibungsmaßnahmen waren
stets Begleiterscheinungen dieser Auseinandersetzungen. Vor dem Hintergrund
solcher Erfahrungen nimmt es nicht wunder, daß weder die anglikanische noch
die katholische Seite die Konfession als bloße Glaubensangelegenheit betrachten
konnten. Mit Verweis auf unterschiedliche historische Referenzpunkte – auf anglikanischer Seite die Massaker von 1641/42 und auf katholischer die Greueltaten
Cromwells in Drogheda und Wexford 1649/50 – waren beide Seiten zu Beginn
des 18. Jahrhunderts von den exterminatorischen Zielen der Gegenseite überzeugt.131 Daher rührte die Tendenz zur Dämonisierung der gegnerischen Partei.
Das hilft zu verstehen, warum die Ascendancy nicht nur einfach ihr Machtmonopol verteidigte, sondern so unnachgiebig auf der anglikanischen Legitimationsbasis des Kolonialregimes beharrte. Diese kompromißlose Haltung reflektierte sowohl ihren Durchhaltewillen wie ihre fundamentale Unsicherheit als koloniale
Minderheit gegenüber einer erdrückenden, als feindlich wahrgenommenen katholischen Übermacht. In der Tat ist das retrospektiv oft paranoid anmutende Verhalten der Ascendancy besser nachzuvollziehen, wenn man es als Folge einer ‚Belagerungsmentalität‘ betrachtet, welche die Kehrseite zu LECKYs Diktum von der
„Klassentyrannei“ darstellt: Das Apartheidsystem der Ascendancy beruhte nicht
ausschließlich auf machiavellistischem Machtkalkül, sondern zumindest in zweiter Linie auch schlicht auf Furcht. Diese Feststellung darf allerdings nicht als
Rechtfertigung der Ascendancy mißverstanden werden, denn die Furcht wurde in
der anglikanischen Gemeinschaft gezielt wachgehalten, ritualisiert und von der
Ascendancy zur Absicherung ihrer Position auch instrumentalisiert, um zu ihrem
Vorteil einen gesamtprotestantischen Konsens herbeizuführen bzw. sogar zu erzwingen.132
130
Der Begriff ‚protestantisch’ umfaßt den anglikanischen und den presbyterianischen Bevölkerungsteil.
131
Vgl. Stewart, Narrow Ground, S. 64-66; Smyth, Men, S. 49.
132
Vgl. hierzu J.R. Hill, National Festivals, the State and 'Protestant Ascendancy' in Ireland,
1790-1829, in: IHS 93 (1984), S. 30-51, S. 31-35.
69
Darüber hinaus muß die konfessionelle Fundierung politischer oder (mit Bezug
auf die irischen Katholiken) gesellschaftlicher Exklusion im Kontext der Entstehung eines nationalen Gemeinsamkeitsglaubens in England betrachtet werden, der
für die anglo-irische Gemeinschaft in Irland aus naheliegenden Gründen Modellcharakter hatte. Hier geht es um die politische Aufladung der Konfession. Dieser Prozeß begann schon in der Regierungszeit Elisabeths I. während der Auseinandersetzungen zwischen England und Spanien. Bereits 1598 identifizierte so Sir
Francis Hastings in einem Pamphlet den Protestantismus mit englischem Nationalismus und behauptete, daß nur englische Protestanten „wahre Engländer“ seien,
während Katholiken lediglich in „England geborene Subjekte“ darstellten, deren
Loyalität gegenüber einem katholischen Gegner wie Spanien höchst zweifelhaft
sei.133 Auf die gleiche Auffassung rekurrierten die Anglo-Iren, wenn sie sich
selbst als „true-born Englishmen“134 bezeichneten und ihre Konfession als ultimativen Beleg ihrer ‚Englischheit’ vor sich her trugen, während sie die irischen Katholiken summarisch als incapax libertatis und als ,Papisten‘ (vulgo: als fünfte
Kolonne des Vatikans) ansahen.135 Die Konfessionalisierung der Politik in Irland
reflektierte somit den englischen Präzedenzfall, wo die Aufwertung der Konfession zu einem zentralen Erklärungsmoment für Frontstellungen in der Restaurationszeit – diesmal aber mit einem innergesellschaftlichen Schwerpunkt – erneut an
Aktualität gewann und wo auch die Verteidigungsmetaphorik, die für die angloirische Rhetorik ebenfalls charakteristisch ist, in Erscheinung trat.136 Durch eine
Art kolonial-insularen Ideentransfers wurde also der Konfessionalisierung der
Politik in Irland zusätzlich Vorschub geleistet.
133
H. Scherneck, Außenpolitik, Konfession und nationale Identitätsbildung in der Pamphletistik
des elisabethanischen England, in: H. Berding (Hg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2, Frankfurt/M. 19962, S.
282-300, passim, Zitat S. 298.
134
R.B. McDowell, Irish Public Opinion, 1750-1800, London 1944, S. 21f.
135
K. Whelan, The Republic in the Village: The United Irishmen, the Enlightenment and Popular
Culture, in: ders., Tree, S. 59-96, S. 60; vgl. auch L. Colley, Britishness and Otherness: An Argument, in: M. O'Dea/K. Whelan (Hgg.): Nations and Nationalisms: France, Britain, Ireland and the
18th Century Context, Oxford 1995, S. 61-77.
136
F. Wieselhuber, Entwürfe englischer nationaler Identität in Pamphleten der Restaurationszeit,
in: H. Berding (Hg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, Studien zur Entwicklung des
kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2, Frankfurt/M. 19962, S. 301-322, S. 314-318.
70
b) Konstitutionelle Theorie und Praxis in Irland 1691-1782: Anglo-irischer
Souveränitätsanspruch und britisches Kolonialmanagement
Nachdem die Untersuchung der Konfessionalisierung der politischen Sphäre über
die Machtverteilung und die Antagonismen zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen in Irland Aufschluß gegeben hat, können wir uns nun der Rivalität
zwischen der Kolonialmacht Großbritannien und der Ascendancy, zuwenden. Am
zielsichersten läßt sich dieser Aspekt behandeln, wenn man sich auf die Verfassungs-theorie und -wirklichkeit konzentriert, denn dieser Bereich kann mit Fug
und Recht als Kristallisationspunkt der britisch-irischen kolonialen Herrschaftsund Machtbeziehungen bezeichnet werden, so daß sich an dieser Stelle die Auseinandersetzungen zwischen der Ascendancy und dem britischen Kolonialapparat in
Irland besonders gut verfolgen lassen. Darin ging es im Kern um die Frage, welche britischen Interventionen in Irland legitim waren, wie groß die britische Kontrolle über Irland sein durfte. Der britische Kolonialapparat verfolgte dabei das
Interesse, eine möglichst große Kontrolle über das als Kolonie betrachtete Irland
auszuüben, während die Ascendancy eine möglichst umfassende Souveränität für
das verfassungstheoretisch unabhängige Königreich Irland forderte.
Bevor wir jedoch damit beginnen können, gestaffelt nach den drei Verfassungsgewalten, nach der konkreten Machtverteilung zwischen der Ascendancy und dem
britischen Kolonialapparat sowie ihren Verschiebungen und Fluktuationen im
Verlauf des 18. Jahrhunderts zu fragen, muß einleitend noch kurz auf den Hybridcharakter des irischen Staates eingegangen werden, um beim Leser ein Problembewußtsein für die spezifischen Tücken der irischen Verfassung zu wecken. Dabei
ist es hilfreich, ab und zu einen Blick auf die englische Verfassung zu werfen, die
der irischen aus naheliegenden Gründen zwar oftmals sehr ähnlich sieht, sich aber
gleichzeitig in wesentlichen Aspekten grundlegend von ihr unterscheidet.
Der Hybridcharakter des irischen Staats. Theoretisch und aus anglo-irischer
Sicht war Irland im 18. Jahrhundert ein unabhängiges Königreich, das mit Großbritannien nur dynastisch verbunden war, weil es in Personalunion vom britischen
Monarchen regiert wurde. Praktisch und aus britischer Perspektive stellte es jedoch wenig mehr als eine Kronkolonie dar, der einige Sonderrechte eingeräumt
worden waren. Aus diesem Hiatus zwischen Verfassungstheorie und Regierungsund Verwaltungspraxis ergaben sich eine Reihe von konstitutionellen Schwierig71
keiten, die im Laufe des 18. Jahrhunderts immer wieder für Konfliktstoff sorgten.
An vorderster Stelle ist hier zu nennen, daß Irland – als ‚unabhängiges‘ Königreich – zwar über ein eigenes Parlament verfügte, welches aber dem britischen
Parlament in Westminster untergeordnet war, worin sich der koloniale Status Irlands widerspiegelt. Im irischen Oberhaus saßen englische Adelige, die zugleich
irische Adelstitel trugen, im irischen Unterhaus Abgeordnete englischer Herkunft,
selbst die Bischöfe der Church of Ireland waren mehrheitlich Engländer. Außerdem verfügte Irland zwar über eine eigene Exekutive, Administration und Judikative, aber die höchsten Staatsämter waren durch die Bank fest in britischer Hand.
Die Folge war ein strukturell angelegter Interessen- und Loyalitätskonflikt: Wie
konnte man hoffen, irische gegenüber britischen Interessen durchzusetzen, wenn
die Reihen der Repräsentanten „irischer“ (im Klartext also: Ascendancy-) Interessen von Briten mit britischen Loyalitäten und Interessen durchsetzt waren? An
Gelegenheiten, bei denen irische und britische Interessen in Widerspruch zueinander standen, mangelte es nicht – in der Steuerpolitik, der Wirtschafts- und Handelspolitik, der Außen- und Militärpolitik.
Erschwerend kam hinzu, daß die beiden Königreiche nicht auf der gleichen konstitutionellen Entwicklungsstufe standen, weil in Irland die „Glorreiche Revolution“ folgenlos blieb: In Irland gab es keine Bill of Rights,137 keinen Habeas Corpus Act. Das bedeutet nicht nur, daß es um die Individualrechte in Irland deutlich
schlechter bestellt war als in Großbritannien, sondern auf der staatlichen Ebene
auch, daß das irische Parlament nicht seine Zustimmung für ein stehendes Heer
geben mußte, daß der Monarch in Irland ohne parlamentarische Zustimmung gewisse Steuern erheben konnte und daß er die Rechtskraft von Gesetzen eigenmächtig aussetzen konnte.138 Auch die Regelungen des englischen Triennial Act
von 1694 und des Act of Settlement von 1701 kamen in Irland nicht zum Tragen:
Irische Richter bekleideten ihre Ämter so lange wie sie das Wohlgefallen des Königs besaßen („durante bene placito regis“, nicht: „quam diu se bene gesserint“)
und die Legislaturperiode des Parlaments blieb in Irland noch bis 1768 an die Re-
137
Der Versuch des irischen Parlaments, die Bill of Rights 1695 in Irland einzuführen, scheiterte
am Widerstand der Krone. Vgl. E. M. Johnston, Great Britain and Ireland 1760-1800, A Study in
Political Administration, Westport (Ct.) 1963, S. 12.
138
Der Monarch verfügte in Irland über erbliche Einkünfte, die sich der Kontrolle durch das Parlament entzogen und die Anfang des 18. Jahrhunderts ungefähr zwei Drittel der gesamten Steuereinkünfte ausmachten. Ebd., S. 10, 13.
72
gierungszeit des Monarchen gebunden.139 Bis 1793 mußten irische Abgeordnete
darüber hinaus – wie es der Act of Settlement von 1701 vorsah – ihre Parlamentssitze nicht aufgeben, wenn sie von der Krone auf Posten in der Verwaltung, der
Exekutive oder Judikative befördert wurden. Das alles zeigt, daß die monarchische Prärogative in Irland ungleich mächtiger war als in Großbritannien: In Irland
konnte der Monarch relativ frei schalten und walten, während in Großbritannien
der Einfluß des Parlaments entscheidend war. Die Folge dieses konstitutionellen
Ungleichgewichts zwischen Irland und Großbritannien war, daß der latente Konflikt zwischen britischer Krone und britischem Parlament seinen langen Schatten
auch über Irland warf: Aus Furcht, die Krone werde ihren größeren irischen
Handlungsspielraum zum Nachteil des britischen Parlaments geltend machen,
verfolgte Westminster die politischen Vorgänge in Irland äußerst mißtrauisch.
Das erklärt auch, warum gerade Westminster Souveränitätszugeständnissen an das
irische Parlament in der Regel dezidiert ablehnend gegenüberstand: Jede Lockerung der Kontrolle des britischen Parlaments über die irische Schwesterinstitution
wurde automatisch als gefährlicher Machtzuwachs des irischen (und damit: britischen) Monarchen interpretiert.
α) Die irische Exekutive. Da der Monarch nicht in Irland residierte, wurde das
Land von einem Statthalter, dem Lord Lieutenant, regiert. Dieses Amt, das im 18.
Jahrhundert von einer Reihe prominenter englischer Adeliger bekleidet wurde,
war von zentraler Bedeutung: Es beinhaltete nicht nur die Kontrolle über die gesamte Exekutive des irischen Staates, sondern auch die Wahrung der britischen
Interessen im irischen Parlament (also vor allem die Bewilligung von zusätzlichen
Steuern sowie die Unterdrückung unliebsamer bzw. die sichere Verabschiedung
erwünschter Gesetzentwürfe) – und zwar in einem solchen Umfang, daß der Lord
Lieutenant von Zeitgenossen eher als Teil der Legislative, denn als Kopf der Exekutive wahrgenommen wurde.140 Von einer Trennung der Gewalten kann hier also
gar nicht die Rede sein: Der Lord Lieutenant war nicht nur der Chef des britischen
139
1768 erlangte in Irland der Octennial Act Gültigkeit, der vorsah, daß mindestens alle acht
Jahre Parlamentswahlen stattfinden mußten. In Großbritannien war man mit dem Triennial Act
von 1694, der alle drei Jahre Parlamentswahlen vorsah, sechzig Jahre früher bereits fortschrittlicher gewesen. Für England vgl. Maurer, Geschichte Englands, S. 232f. Für Irland vgl. Dogherty,
Chronology, S. 81.
140
McCracken, Political Structure, S. 60.
73
Kolonialapparats in Dublin Castle, er war auch der Hauptrepräsentant britischer
Interessen in der irischen Legislative.
Trotzdem war das Amt alles andere als attraktiv: Die Berufung in diese Position
galt – salopp formuliert – als politischer ‘Trostpreis’.141 Ein Statusgewinn war
damit jedenfalls nicht verbunden. Außerdem war die Stellung unsicher: Der Lord
Lieutenant hing unmittelbar vom Wohlwollen des britischen Kabinetts ab, so daß
politische Fluktuationen dort in der Regel zu seiner Ablösung führten. Aus diesen
Gründen kümmerten sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Amtsinhaber so wenig wie möglich um ihre Obliegenheiten und beriefen das Parlament
lediglich sechs bis acht Monate alle zwei Jahre ein. Nur während dieser kurzen
Legislaturperioden hielten sich die Lord Lieutenants überhaupt in Dublin auf.
Das „Undertaker“-System. Zwischen diesen vizeköniglichen ‘Stippvisiten’ ruhte die Kontrolle der Amtsgeschäfte in den Händen der Lords Justices. Ursprünglich waren diese Lordrichter dem Lord Lieutenant direkt verantwortlich, erhielten
aber nach 1725 mehr politischen Handlungsspielraum. Allmählich bürgerte sich
die Praxis ein, den Primas der Church of Ireland, den Lordkanzler und den Präsidenten des irischen Unterhauses zu Lordrichtern zu ernennen. Der Primas und der
Lordkanzler – bis 1760 wurden diese beiden Ämter nur von Engländern bekleidet142 – vertraten die britischen, der Präsident als einflußreichste Figur im irischen
Unterhaus die anglo-irischen Interessen. Dank ihrer Kenntnisse der politischen
Verhältnisse vor Ort, ihrer hervorragenden Verbindungen zur Ascendancy und
ihrer Patronagemöglichkeiten avancierte dieses Triumvirat bald zum tatsächlichen
Herrschaftszentrum in Irland: Es begann, dem Lord Lieutenant die Entscheidungen zu diktieren.143 Gleichzeitig konkurrierten sie miteinander um die einflußreichste Position im Parlament und um die größte Klientel – auf Kosten königlicher Patronagegelder, die sie vom Lord Lieutenant im Gegenzug für die Verabschiedung gewünschter Gesetze erpreßten, um sie dann an ihre Gefolgsleute zu
verteilen. Bereits in den 1750er Jahren wurde dagegen von britischer Seite Widerspruch laut. 1765 riet der britische Kronrat dem König schließlich, auf eine Residenzpflicht des Lord Lieutenant in Irland zu insistieren, um das Undertaker141
Foster, Modern Ireland, S. 227.
McCracken, Political Structure, S. 66.
143
Beckett, Making, S 191. Insbesondere der Primas Hugh Boulter und sein Nachfolger George
Stone, die beide fast 20 Jahre im Amt waren, und der Präsident Henry Boyle, der über 30 Jahre
142
74
System zu beseitigen und die britische Kontrolle wiederherzustellen.144 Eine Änderung trat jedoch erst im August 1767 mit der Ernennung Lord Townshends zum
Lord Lieutenant ein. Townshend, der den Auftrag hatte, die Aufstockung der irischen Armee von 12.000 auf 15.000 Mann durchzusetzen, geriet sofort mit den
neuen starken Männern – Präsident Ponsonby, Lord Shannon und John HelyHutchinson – aneinander: Die Undertaker versuchten, weitere Zugeständnisse
auszuhandeln und neue Protegés in hochdotierte Positionen zu hieven. Die britische Regierung lehnte dies jedoch ab. Townshend mußte deshalb im irischen Parlament 1768 und 1769 empfindliche Abstimmungsniederlagen hinnehmen, weil
die Undertaker mit ihrer Stimmenmehrheit in die Opposition gingen. Diese Erfahrung überzeugte ihn von der Notwendigkeit, sich ständig in Irland aufzuhalten,
um eine tragfähige Regierungsmehrheit im irischen Parlament aufzubauen. Ende
1769 überspannten Ponsonby und Shannon den Bogen und boten so Townshend
eine Gelegenheit zurückzuschlagen: Prompt wurden sie ihre Ämter enthoben,
zusammen mit einem halben Dutzend der Oppositionsführer aus dem irischen
Kronrat (Privy Council) entlassen und ihre Gefolgschaft büßte ihre Stellen und
Pensionen ein, die an regierungstreue Parlamentarier neu verteilt wurden.145
Folgen der Beseitigung des Undertaker-Systems. Die permanenten Residenz des
Lord Lieutenant in Irland zog eine Reform des Verwaltungsstabs nach sich. Die
Position des Chief Secretary, des wichtigsten Zuarbeiters des Lord Lieutenant,
wurde erheblich aufgewertet, weil dieser nun Aufgaben übernahm, die vorher von
den Sekretären der Lordrichter wahrgenommen wurden, und weil er für die Kommunikation mit dem Kabinett in London zuständig war, die mit der Residenzpflicht des Lord Lieutenant drastisch an Bedeutung gewann. Da diese Aufgabe
wegen ihres Umfangs und der langen Kommunikationswege jedoch zuviel Zeit in
Anspruch nahm und den Chief Secretary von seinen anderen Amtsgeschäften abzulenken drohte, wurde ihm ein „Resident Secretary“ zur Seite gestellt, der in
London angesiedelt sein mußte und dessen Aufgabe darin bestand, dafür zu sorgen, daß die Kommunikation zwischen dem Kabinett und dem Lord Lieutenant
reibungslos funktionierte.
das Amt des Lordrichters ausübte, bauten ihre Machtposition bis weit über die Schmerzgrenze der
Lord Lieutenants aus. Vgl. Beckett., Making, S. 192-194; McCracken, ebd., S. 62-63.
144
McCracken, ebd., S. 63.
145
Vgl. Beckett, Making, S. 200-202. Ponsonbys Position war derart untergraben, daß er 1771
aus freien Stücken vom Amt des Parlamentspräsidenten zurücktrat.
75
In London nahm man die wachsende Bedeutung des Chief Secretary sehr genau
wahr. In dem Maße wie die Position zu einer Erprobungsstelle für höhere diplomatische Ämter avancierte, versuchte London die Stellenbesetzung zu kontrollieren. War der Chief Secretary am Anfang des Jahrhunderts allein vom Lord Lieutenant ausgewählt worden – in der Regel handelte es sich um einen Intimus oder
sogar Verwandten des Lord Lieutenant, dem er absolutes Vertrauen schenken
konnte –, so schlug im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts das britische Kabinett
dem Lord Lieutenant geeignete Personen vor. Allerdings war es nicht möglich,
ganz auf das Plazet des Lord Lieutenant zu verzichten, denn wenn die Chemie
zwischen dem britischen Statthalter und seinem Adlatus nicht stimmte, war die
Kontrolle über das irische Parlament gefährdet.
Darüber hinaus bedeutete die Residenz des Lord Lieutenant in Irland eine Zunahme der Repräsentativ- und Hofhaltungspflichten. Entsprechend wurde
Dublin Castle zu einem Königshof en miniature umgewandelt – mit einschneidenen Konsequenzen für die finanzielle Attraktivität des Statthalteramtes: Die Hofhaltung in Dublin verursachte solche Kosten, daß das zuletzt mit 20.000 £ dotierte
Amt zu einem Zusatzgeschäft wurde.146 Andererseits eröffnete die Hofhaltung in
Irland dem Statthalter neue Patronagemöglichkeiten, so daß er weitere Personen
an sich binden konnte.147
Fazit. Während des gesamten 18. Jahrhunderts stellte die irische Exekutive also
die britische Bastion in Irland dar. Ihr Chef war das Oberhaupt des britischen Kolonialapparats, der als Hauptrepräsentant britischer Interessen auch deutlich in die
irische Legislative eingriff. Die britischen Bestrebungen, ihre Kontrolle über Irland mit Hilfe der Exekutive auszuweiten, läßt sich in drei Phasen unterteilen. Der
Zeitraum zwischen 1691 und der Krise der frühen 1720er Jahre, als das irische
Parlament vorübergehend gänzlich der britischen Kontrolle entglitt,148 war von
einer gewissen Nachlässigkeit bei der Vertretung britischer Interessen in Irland
gekennzeichnet: Der Lord Lieutenant war in der Regel absent, seine Stellvertreter,
146
Lord Temple, der das Amt zwischen September 1782 und Juni 1783 innehatte, schrieb an
seinen Nachfolger, den Duke of Rutland, daß er mindestens 15.000 £ p. a. zusätzlich zu seinem
Gehalt benötigt hätte und daß man diese Summe als privates Opfer einkalkulieren müsse. Vgl.
Johnston, GB & Ireland, S. 19f.
147
Das erklärt auch, warum viele Haushaltsmitglieder entweder selbst Abgeordnete des irischen
Unterhauses waren oder aus der nächsten Verwandtschaft von Abgeordneten stammten. Vgl. ebd.,
S. 21f.
76
die Lord Justices, mit zu wenig Kompetenzen ausgestattet, um an seiner Stelle die
Regierungsgeschäfte auch in Krisenzeiten effizient führen zu können. Durch die
Erfahrungen der 1720er Jahre eines Besseren belehrt, wurde zwischen 1725 und
1767 darauf geachtet, daß die Lord Justices nur aus dem Kreis solcher Personen
rekrutiert wurde, die auch ohne dieses Amt bereits über beträchtliches politisches
Gewicht (Macht, Beziehungen und Einfluß) verfügten. Durch diese Verstetigung
und Ausrichtung der Ernennungspraxis wurde zwar die Machtbasis der Lord Justices deutlich vergrößert, aber damit konnte sichergestellt werden, daß die delegierte Macht auch tatsächlich im britischen Interesse zum Einsatz kam. Das Undertaker-System zeigte vielmehr deutliche Tendenzen zur Verselbständigung, die
Lord Justices handelten zunehmend eher als eigenständige ‚Powerbroker‘, denn
als Sachwalter britischer Interessen. Das Ergebnis war, daß die Umsetzung britischer Interessen immer wieder und immer teurer erkauft werden mußte. Erst mit
den von Townshend ab 1768/9 durchgesetzten Veränderungen wurde dieser
Mißstand abgestellt: Der Kolonialapparat wurde reformiert, die Ascendancy verlor den Einfluß auf die Exekutive und Administration, den sie mittels der Undertaker ausgeübt hatte. Die britische Autorität war damit nicht nur wiederhergestellt, sondern tatsächlich ausgebaut worden. Hierin ist auch der Grund dafür zu
suchen, daß die legislative Unabhängigkeit des irischen Parlaments, die in „Grattan’s Revolution“ von 1782 erkämpft wurde, keine dramatischen Folgen für die
Herrschaft in Irland nach sich zog: Die britische Exekutive in Irland war stark
genug, um durch ihr koloniales Machtmanagement den Kontrollverlust aufzufangen, der aus der Abschaffung von Poynings’ Law und vom Declaratory Act resultierte. Gleichzeitig wurde damit das Amt des Lord Lieutenant aus britischer Sicht
noch einmal aufgewertet: Ab 1782 hing der Erfolg der Kolonialherrschaft unmittelbar vom politischen Geschick des Lord Lieutenant und seines Stabes ab.
β) Die irische Judikative. Wie in der Exekutive lassen sich auch in der Judikative aktive Bestrebungen der britischen Seite erkennen, ihre Kontrolle auszubauen.
Dabei ist signifikant, daß die Kolonialmacht nicht die komplette Macht über den
Ju-stizapparat an sich zu ziehen versuchte, sondern sich darauf beschränkte, durch
die jurisdiktionelle Entmachtung des irischen Oberhauses und ihre Stellenbeset148
Damit ist Wood’s Halfpence Crisis (1722-1725) gemeint, die im weiteren Verlauf der Arbeit
noch detaillierter behandelt wird. Zum Verlauf der Affäre vgl. Beckett, Making, S. 165f.
77
zungspolitik strategisch wichtige Punkte des Justizapparats auf der staatlichen
Ebene zu besetzen. Auf diese Weise blieb der britischen Seite in wichtigen
Rechtsfragen immer die Möglichkeit der Einflußnahme, ohne daß sie diese in jedem Fall ausübte oder ausüben mußte. Die niedrigere Rechtsprechung auf der
lokalen und munizipalen Ebene blieb in der Hand der Ascendancy. Auf der regionalen Ebene, wo die Assizengerichtsbarkeit als eine Art Scharnier zwischen staatlicher Rechtsprechung von oben und lokaler Rechtsprechung von unten fungierte,
trafen beide Seiten aufeinander, wobei die rechtliche Entscheidungsfällung der
britischen Seite vorbehalten blieb, während die Ascendancy bestimmte, welche
Fälle überhaupt in den Assizen verhandelt wurden. Das Terrain war also fein säuberlich zwischen der anglo-irischen Kolonialelite und der Kolonialmacht aufgeteilt. Dieses Arrangement war zum beiderseitigen Vorteil: Lokale Rechtstreitigkeiten konnte die Ascendancy unter sich regeln, ohne daß sich die Kolonialmacht
einmischte, während die britische Seite sich das letzte Wort in Rechtsangelegenheiten von staatlicher oder konstitutioneller Tragweite vorbehielt.
Die jurisdiktionelle Entmachtung des irischen Oberhauses. Das irische Rechtsprechungssystem war dem englischen Modell nachempfunden. Auf staatlicher
Ebene gab es fünf übergeordnete Gerichtshöfe, die in Dublin angesiedelt waren:
Chancery, King’s Bench, Common Pleas, Court of the Exchequer und das Prärogativgericht. Drei der fünf Gerichtshöfe – nämlich King’s Bench, Common Pleas
und der Court of Exchequer – waren Common-Law-Gerichte, die sich mit straf-,
zivil- und steuerrechtlichen Angelegenheiten befaßten. Für die Common-LawGerichte und den Court of Chancery bildete der Court of the Exchequer Chamber
die erste Berufungsinstanz, der sich aus den Obersten Richtern der untergeordneten Instanzen sowie dem Obersten Schatzmeister und dem Vizeschatzmeister des
Exchequer zusammensetzte. Das Prärogativgericht, daß sich mit rechtlichen Fragen außerhalb des vom Common Law definierten Rechtsraums auseinandersetzte,
hatte seine eigene Berufungsinstanz im Court of Delegates in Chancery. Die oberste Appellationsinstanz war schließlich bis 1720 das irische Oberhaus.
Über diese juristische Funktion des irischen Oberhauses entstand 1719 ein Verfassungskonflikt zwischen dem irischen und dem britischen Parlament: Unter Berufung auf Poynings’ Law von 1494 reklamierte Westminster für sich das Recht,
in irischen Rechtsstreitigkeiten als oberste Berufungsinstanz zu fungieren. Der
Hintergrund dieser Forderung war, daß das britische Parlament nach einer Gele78
genheit für eine Machtdemonstration suchte, die zwei Adressaten galt: Einerseits
dem irischen Parlament, dem gegenüber noch einmal der Suprematsanspruch
Westminsters deutlich gemacht werden sollte, und andererseits dem Monarchen,
dem die Kontroll- und Einflußmöglichkeiten des britischen Parlaments in Irland
warnend vor Augen gehalten werden sollten.
Der Rechststreit Sherlock vs. Amnesley von 1719 bot eine passende Gelegenheit
diesen Streit auszufechten: Das britische Oberhaus hob eine zuvor getroffene Entscheidung der irischen Schwesterinstitution auf, gab der unterlegenen Partei recht
und wies den irischen Court of Exchequer an, sein Urteil auszuführen. Die irischen Lords protestierten gegen diesen Affront, weigerten sich das Urteil des britischen Oberhauses anzuerkennen und petitionierten beim König um Intervention
gegen diesen Übergriff.149 Dadurch bekam die Affäre zusätzlich den Anstrich
eines Konflikts zwischen dem britischen Parlament und der Krone und das verhärtete die Position des britischen Parlaments zusätzlich. Westminster ließ sich auf
keine Diskussionen ein, sondern goß seine Ansprüche in Gesetzesform: 1720 verabschiedete es ein Gesetz „for the better securing the dependency of the kingdom
of Ireland on the crown of Great Britain”, welches besagte, daß das britische Parlament berechtigt sei, Gesetze zu verabschieden, die auch für Irland Gültigkeit
haben sollten und daß das britische Oberhaus die oberste juristische Instanz Irlands sei.150 Dieser sogenannten Declaratory Act (6 Geo. I) räumte alle Zweifel
am Status des irischen Parlaments, die nach Poynings’ Law noch bestanden, ein
für allemal aus. Erst nach der Abschaffung dieses Gesetzes, das bis zu „Grattan’s
Revolution“ von 1782 Gültigkeit behielt, kehrte die jurisdiktionelle Souveränität
nach Irland zurück (nur um mit dem Act of Union von 1800 wieder an das Oberhaus des Vereinigten Königreichs von England, Schottland und Irland delegiert zu
werden).
Die Besetzungspolitik der obersten Richterstellen. Hatte das britische Parlament mit der Entmachtung des irischen Oberhauses seinen Einfluß über die iri149
Für eine ausführliche Darstellung der Sherlock vs. Amnesley-Affäre vgl. Lecky, History of
Ireland 1, S. 447f.
150
Beckett, Making, S. 164. Zum Wortlaut des Declaratory Act vgl. E. Curtis/R.B. McDowell
(Hgg.), Irish Historical Documents, 1172-1922, London 1943, S. 186: ”And be it further declared
and enacted … that the house of lords of Ireland have not, nor of right ought to have, any jurisdiction to judge of, affirm or reverse any judgement, sentence or decree, given or made in any court
within the said kingdom [Irland – MR], and that all proceedings before the said house of lords,
upon any such judgement, sentence or decree, are, and are hereby declared to be utterly null and
void to all intents and purposes whatsoever.”
79
sche Judikative ausgedehnt, so wurde die zweite Art britischer Einflußnahme auf
den irischen Justizapparat, die Besetzung der obersten Richterstellen, vom Monarchen und seinem Statthalter in Irland kontrolliert. Um zu verstehen, was bei
der Besetzung dieser Richterstellen auf dem Spiel stand, lohnt es sich, kurz die
Aufgabenbereiche der obersten Richter, die an den fünf Gerichtshöfen des irischen Supreme Court tätig waren, Revue passieren zu lassen. Neben ihrer juristischen Kerntätigkeit in den Common-Law-Gerichtshöfen und dem Court of Exchequer waren sie unmittelbar an der Gesetzgebung beteiligt: Zum Teil hatten sie
Sitze im irischen Parlament und dem irischen Kronrat, wo sie direkt und aktiv in
politische Entscheidungsprozesse involviert waren.151 Durch die Ausarbeitung
juristischer Gutachten und Gesetzesvorlagen spielten sie auch indirekt eine große
Rolle in der Legislative. Von einer Trennung der Gewalten kann also auch hier
keine Rede sein. Zusätzlich waren sie für die zivil- und strafrechtliche Rechtsprechung auf der Grafschaftsebene zuständig. Zweimal pro Jahr bereisten sie die fünf
Gerichtsbezirke Irlands, um in den Hauptstädten der 32 Grafschaften die Assizen
abzuhalten. Während der Assizen fungierten die Richter jedoch nicht nur als Juristen, sondern auch als Verwaltungsbeamte der Krone, denn bevor die eigentlichen Gerichtsverhandlungen begannen, wurden sogenannte „Sessions of presentment“ abgehalten, in denen die Grand County Juries den Richtern ihre Vorschläge zu öffentlichen Bauvorhaben vorlegten, um sie von ihnen absegnen zu lassen.
Die Richter verfaßten anschließend umfangreiche Berichte über die Sessions of
Presentment und den allgemeinen Zustand der Grafschaften, die sie an das Sekretariat des Lord Lieutenant in Dublin Castle weiterreichten.152
Angesichts einer solchen Aufgabenvielfalt erschließt sich die fundamentale Bedeutung, die der Besetzung dieser Posten zukam, von selbst. Daß die Richter überdies keinerlei parlamentarischer Kontrolle unterlagen, machte diese Posten
politisch doppelt wertvoll. Entsprechend bemühte sich die Krone insbesondere in
den ersten zwei Dritteln des 18. Jahrhunderts erfolgreich darum, diese strategisch
außerordentlich wichtigen Ämter soweit wie möglich mit Engländern zu besetzen:
Von 1725 bis 1760 waren alle Lordkanzler, drei Chief Justices des Court of
151
Die Chief Justices von King’s Bench und Common Pleas, sowie der Lordkanzler des Court of
Chancery hatten Sitze im Privy Council. Vgl. McCracken, Political Structure, S. 69. Richter mit
Adelstiteln saßen im irischen Oberhaus, die anderen konnten Sitze im Unterhaus innehaben.
152
Ebd., S. 79.
80
Common Pleas und drei Chief Barons des Court of Exchequer Engländer.153 Die
Feststellung, daß die oberste Rechtsprechung fest in britischer Hand war, ist also
nicht übertrieben.
Die niedere Rechtsprechung als Residuum der Ascendancy. Anders dagegen
präsentiert sich die Situation in der niederen Rechtsprechung bis zur Baronieebene. Die vierteljährlich unter dem Vorsitz eines Friedensrichters stattfindenen
Quarter Sessions und die lokalen Gerichtshöfe der Städte, Gutshöfe oder Kirchspiele wurden allesamt durch lokale Honoratioren kontrolliert. Der High Sheriff,
der die Grand County Juries aus der Gruppe der Grafschaftshonoratioren nach
Proporzüberlegungen eigenständig zusammenstellte, wurde zwar de jure vom
Lord Lieutenant, de facto aber von den lokalen Magnaten gewählt, die Friedensrichter waren ebenfalls Repräsentanten dieser Oberschicht. Pikanterweise waren
es aber just diese Grand Juries, die darüber entschieden, welche Fälle überhaupt
vor die Assizen und damit vor die höhere (britisch dominierte) Gerichtsbarkeit
bzw. vor die (anglo-irisch dominierten) Quarter Sessions gelangten. Damit verfügte die anglo-irische Ascendancy über einen wirksamen jurisdiktionellen Filter
und einen überaus effektiven Zugang zu Rechtsmitteln, der sich zum Nachteil
derjenigen auswirkte, die aus konfessionellen (oder sozialen) Gründen in diesem
System über keine Lobby verfügten.154
γ) Die irische Legislative. Die Legislative war der sensibelste Bereich der irischen Verfassung im 18. Jahrhundert, in dem die Kluft zwischen konstitutionellem Anspruch und Verfassungswirklichkeit am deutlichsten zutage trat. Obwohl
Irland über ein eigenes Parlament verfügte, war dessen Souveränität im Vergleich
zur britischen Schwesterinstitution deutlich eingeschränkt, so daß es sich im Prinzip um ein nachgeordnetes Legislativorgan handelte. Um die spezifischen Machtund Interessenkonstellationen in der irischen Legislative verstehen zu können, ist
es zunächst notwendig, die Charakteristika des irischen Parlaments herauszuarbeiten und einen Überblick über seine komplexe Funktionsweise zu geben. Erst im
153
Ebd., S. 66.
Vgl. Lecky, History of Ireland 1, S. 147: “(…)The law gave the Protestant the power of inflicting on the Catholic intolerable annoyance. (…) even under the most extreme wrong it was hopeless for him [den Katholiken – MR] to look for legal redress. All the influence of property and
office was against him, and every tribunal to which he could appeal was occupied by his enemies.”
154
81
Anschluß daran kann damit begonnen werden, Konfliktlinien und Interessenkonstellationen zu rekonstruieren.
Das irische Oberhaus. Wie die britische Schwesterinstitution bestand das irische
Parlament aus zwei Kammern, dem House of Lords (Oberhaus) und dem House of
Commons (Unterhaus). Im Oberhaus saßen 22 geistliche Herren155 und eine variierende Anzahl weltlicher Lords. Die Fluktuation in der Anzahl der Lords ist im
wesentlichen auf zwei Gründe zu rückzuführen: Den Absentismus156 zahlreicher
Aristokraten, der insbesondere während der ersten Jahrhunderthälfte stark ausgeprägt war, und eine auffällige Welle neuer Erhebungen in den Adelsstand seit den
1750er Jahren.157 Aufgrund des Absentismus weltlicher Lords wurde das Oberhaus während der ersten Jahrhunderthälfte über weite Strecken von der kleinen,
aber einträchtigen Gruppe der anglikanischen Bischöfe kontrolliert. Da der Stuhl
des Primas der Church of Ireland und ungefähr zwei Drittel der anglikanischen
Bischofsstühle während des 18. Jahrhunderts von Engländern besetzt wurden, war
das Oberhaus während der ersten Jahrhunderthälfte also nicht nur eine Bastion der
Interessen der anglikanischen Kirche, sondern auch der englischen Interessen.158
Die Erhebungen in den Adelsstand verstärkten die anglophile Tendenz des Oberhauses: Die neuen Lords erhielten ihre Adelstitel allesamt entweder weil sie sich
155
Die Gruppe der geistlichen Lords setzte sich aus den vier Erzbischöfen und 18 Bischöfen der
Church of Ireland zusammen. Das galt solange, bis durch den Church Temporalities Act (Ireland)
von 1833 die Anzahl der Erzbischofs- und Bischofsstühle um die Hälfte reduziert wurde. Vgl.
Connolly, Companion, S. 93.
156
Vor allem in der ersten Jahrhunderthälfte gab es eine Reihe von sogenannten Absentee Lords,
die ihren Wohnsitz in England hatten, weil sie dort entweder einen Großteil ihrer Besitzungen
hatten oder weil sie es vorzogen, sich in den südenglischen Bädern oder in London aufzuhalten.
Zwischen 1727 und 1760 verzichteten deshalb allein 66 Adelige darauf, ihren angestammten Platz
im Oberhaus einzunehmen. Vgl. McCracken, Political Structure, S. 72. In der öffentlichen Meinung standen Absentee Lords als eine parasitäre Klasse da, die der irischen Gesellschaft Kapital
entzogen und ihre Güter vernachlässigten. Diese Kritik erhielt 1729 durch Thomas Priors A List
of the Absentees of Ireland, and the Yearly Value of Their Estates and Incomes Spent Abroad
neue Nahrung. Vgl. Connolly, Companion, S. 3
157
Allein zwischen 1767 und 1785 wurde 50 neue Adelstitel vergeben. Vgl. Johnston, GB &
Ireland, S. 257. Bei den Empfängern handelte es sich in der Regel um Abgeordnete des irischen
Unterhauses, die sich durch ihr ‚kooperatives’ Abstimmungsverhalten einen Adelstitel ‚verdient’
hatten, um britische Unterhausabgeordnete mit irischen Verbindungen oder um einflußreiche
Magnaten, die von der Krone mit einem Adeltitel dazu ‚bewegt’ werden sollten, ihren Einfluß
zugunsten der Kolonialregierung geltend zu machen. Vgl. McCracken, ebd., S. 72. Nach Johnston,
ebd., S. 257, gingen von den 50 neuen Adelstiteln, die zwischen 1767 und 1785 geschaffen wurden, 32 an irische Unterhausabgeordnete, 14 an britische Unterhausabgeordnete sowie zwei an
den Primas der Church of Ireland und den Lordkanzler.
158
Im 18. Jahrhundert wurden 239 Engländer, aber nur 101 Anglo-Iren als anglikanische Bischöfe eingesetzt. Vgl. E. M. Johnston, Problems Common to Both Protestant and Catholic Churches
in 18th Century Ireland, in: O. MacDonagh u.a. (Hgg.), Irish Culture and Nationalism, 1750-1950,
London 1983, S. 14-39, S. 15.
82
im Unterhaus um die Krone verdient gemacht hatten oder weil die Krone ihre
Kooperation erkaufen wollte. Die inflationäre Vergabe neuer Adelstitel dient also
im Prinzip nur dazu, die Kontrolle des Kolonialapparats über das irische Parlament zu gewährleisten.
Entsprechend dieser Zusammensetzung war das irische House of Lords bloß ein
blasses Abbild seines britischen Gegenstücks:159 Da seine Mitglieder entweder
Engländer waren, auf der Pensionsliste der Krone standen oder ihre Ämter britischer Protektion verdankten, hatte der Lord Lieutenant von dieser Seite wenig
Opposition zu befürchten. Seiner jurisdiktionellen Funktion durch den Declaratory Act von 1720 beraubt, beschränkte sich die tatsächliche Bedeutung des Oberhauses auf den Einfluß, den seine Mitglieder über die Zusammensetzung des Unterhauses ausübten.160 Dieser aber war beachtlich: Von den 234 BoroughAbgeordneten des Unterhauses stammte etwa die Hälfte aus Wahlbezirken, die
von den geistlichen und weltlichen Herren kontrolliert wurden.161
Das irische Unterhaus bestand aus 300 Abgeordneten, von denen jeweils zwei
die Wählerschaft einer der 32 irischen Grafschaften, der 117 Boroughs (Wahlbezirke, die in der Regel einem Grundbesitzer oder einer Stadtkorporation gehörten)
sowie des Trinity College in Dublin repräsentierten. Das aktive Wahlrecht war in
den einzelnen Wahlbezirken höchst unterschiedlich geregelt.162 Zum Teil repräsentierten die Abgeordneten daher effektiv nur eine Handvoll Wähler. Insgesamt
ging die Tendenz im 18. Jahrhundert dazu, gerade in den Boroughs die Anzahl der
Wähler durch eine restriktive Praxis bei der Ernennung von Freisassen und durch
die Aufstellung neuer Besitzqualifikationen weiter zu reduzieren.163 Dahinter
stand das Bestreben der Grundbesitzer und kommunalen Honoratioren, den Wahlausgang in einem Borough bestimmen zu können: Je geringer die Zahl der Wähler
159
Johnston, GB & Ireland, S. 206.
McCracken, Political Structure, S. 72.
161
Ebd.
162
In den Grafschaften bildeten die sogenannten Freeholder mit einem Einkommen aus eigenem
Grund und Boden von mindestens 40 Shilling p.a. den Kern der Wählerschaft. Hierbei dürfte es
sich vor 1793 um etwa 60.000 Menschen gehandelt haben (bei einer Gesamtbevölkerung, die
1767 bereits bei etwa 3,5 Mio. Menschen lag und in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts rasant
weiter stieg). Vgl. ebd., S. 74 u. McCracken, Social Structure, S. 31. In den Städten waren in der
Regel nur die 12 oder 13 Mitglieder des Stadtrats (Corporation) wahlberechtigt. In den sogenannten Freemen Boroughs durften die Mitglieder der Corporation und die Freemen wählen, die der
Grundbesitzer unter seinen Pächtern nach Belieben aussuchte. Andernorts durften alle drei Gruppen wählen, während in den Manor Boroughs (Gutshofwahlbezirke) nur der Gutsbesitzer und
seine Freeholder wählen durften. Vgl. McCracken, Political Structure, S. 74.
160
83
war, um so leichter waren sie zu kontrollieren und um so mehr Gewicht erhielten
die Stimmen der Latifundienbesitzer.
Der Wahlmanipulation durch die Großgrundbesitzer waren ohnehin wenig Grenzen gesetzt. Weil die Wahlen öffentlich waren, hatten sie von der Bestechung bis
zur Einschüchterung der von ihnen ökonomisch abhängigen Pächter jede Möglichkeit zur Wahlbeeinflussung. Die Großgrundbesitzer wählten zudem auch die
Sheriffs und Constables, die bei Wahlen als Wahlhelfer und Stimmenauszähler
fungierten. Wenn alle Stricke rissen, konnten die Grundbesitzer schließlich durch
die Schaffung fiktiver Freeholds die Anzahl der Wähler kurzfristig so erhöhen,
daß ihr Wunschkandidat das Rennen machte.164 Gegen den Einfluß zweier großer
Landbesitzer war daher in einer Grafschaft kaum eine Wahl zu gewinnen und in
den kleinen Boroughs wurde der Wahlausgang schlicht von einem Großgrundbesitzer festgelegt.
Diese Wahlpraxis schlug sich in niedrigen Fluktuationen in der Abgeordnetenschaft nieder. Bis 1768 waren Neuwahlen ohnehin nur fällig, wenn ein neuer
Monarch den Thron bestieg – so daß ein Parlament unverändert die 33jährige Regierungszeit Georgs II. begleitete –, aber selbst nach der Einführung des Octennial Act von 1768, der zumindest alle acht Jahre Neuwahlen vorsah, hielten sich die
Veränderungen in engen Grenzen: Die Parlamentswahlen von 1768, 1776 und
1783 zeigen, daß in der Regel zwei Drittel der alten Abgeordneten auch wieder im
neu gewählten Parlament saßen.165 Diese Wahlergebnisse sind als Indiz dafür zu
werten, wie umfassend die Großgrundbesitzer die Wahlen kontrollierten, wie sicher sie ihre Kandidaten durchsetzen konnten.
Die Zusammensetzung der Abgeordnetenschaft wurde zu allem Überfluß auch
noch dadurch zementiert, daß ein Abgeordnetensitz im Parlament bis 1793 nur
durch den Tod des bisherigen Amtsinhabers, seinen Ausschluß aus dem Parlament, seine Beförderung in den Adelsstand oder seinen Eintritt in ein Kloster vakant wurde. Der offenkundige Interessenkonflikt eines Abgeordneten, der gleichzeitig von der Krone eine Pension erhielt, war ebensowenig ein Grund für Nach-
163
Vgl. McCracken, Political Structure, S. 74.
Für eine erschöpfende Behandlung der Wahlmanipulationen vgl. J.L. McCracken, Irish Parliamentary Elections, 1727-1768, in: IHS 5, 19 (1947), S. 209-230.
165
1768 kehrten 67% der alten Abgeordneten ins Parlament zurück, 1776 64% und 1783 66%.
Vgl. Johnston, GB & Ireland, S. 212.
164
84
wahlen wie die ständige Absenz des Abgeordneten. Damit waren der Ämterhäufung166 und der Parteilichkeit Tor und Tür geöffnet.
Die personelle Zusammensetzung der Abgeordnetenschaft. Die personelle
Beschaffenheit der Abgeordnetenschaft im Unterhaus reflektierte die Wahlpraxis
und damit die Hegemonie der Ascendancy. Das Gros der Abgeordneten bestand
aus Großgrundbesitzern, wobei zwischen der Verwandtschaft anglo-irischer
Hochadeliger, die selbst im Oberhaus saßen, und den „independent country gentlemen“ unterschieden werden muß. Der Hochadel versuchte aus Versorgungsgründen oder um deren Weg für die Erhebung in die Position eines Peers zu ebnen seine Verwandtschaft im Unterhaus zu plazieren.167 Angesichts solcher Zustände verwundert es nicht weiter, daß die großen anglo-irischen Familien wie die
Fitzgeralds, Boyles, Ponsonbys, Skeffingtons oder Beresfords untereinander sofort politische Grüppchen bildeten, die auf Familienbeziehungen und abneigungen zumindest ebenso beruhten wie auf ihren politischen Interessen.168
Unterhalb des Hochadels waren die „independent country gentlemen“ angesiedelt. Dabei handelte es sich um die anglo-irische Junkerschaft, die allesamt vehemente Verfechter der ‚protestant Ascendancy’ (also der Dominanz der angloirischen Kolonialelite) waren und alles daran setzten, den politischen Status quo
und die Verbindung zu Großbritannien aufrechtzuerhalten. Da beides untrennbar
mit der Thronfolge der Hannoveraner zusammenhing, bezeichneten sie sich selbst
als Whigs, aber das bedeutete in diesem Kontext nicht viel: Hinter einer solchen
Bezeichnung verbarg sich im irischen Parlament während des 18. Jahrhunderts
bestenfalls eine gewisse Loyalität, selten ein politisches Programm.169
166
Ein herausragendes Exempel für eine solche Ämterhäufung bietet John Hely-Hutchinson
(1724-94), der von 1761 bis 1794 ununterbrochen einen Parlamentssitz hatte. Seit 1774 war er
Provost des Trinity College (2.000 £ p.a.) und versuchte den universitären Wahlbezirk in einen
Familienwahlbezirk umzuwandeln. Außerdem war er irischer Staatssekretär (1.800 £ p.a.). Mit
seinen drei Söhnen zusammen hatte er das Amt eines Customer of Strangford inne (noch einmal
1.000 £ p.a.). Einen seiner Söhne hiefte er auf die Stelle eines Kornets, der zweite erhielt eine
Pfründe, die 800 £ p.a. wert war. Auch die weitere Familie wurde versorgt: Ein Schwager war
Kontrollbeamter beim Board of Public Works (300 £ p.a.), ein anderer Hafenaufseher in Dublin
(500 £ p.a.). Hely-Hutchinson war sicherlich ein außergewöhnlich umtriebiger ‚Postenakkumulateur’, aber beileibe nicht der einzige. Vgl. ebd., S. 227.
167
In der Wahl von 1768 beispielsweise gelang es dem Duke von Leinster, den Earls von Carrick,
Hertford, Arran, Antrim, Altamont und Lord Belvidere ihre Erben ins Unterhaus zu bringen. Den
Vogel schoß aber wohl der Earl von Tyrone ab, der in der gleichen Wahl einen Bruder, fünf
Schwäger und nicht weniger als 14 Vettern im Unterhaus unterbrachte. Vgl. ebd., S. 217.
168
Ebd., S. 216f.
169
“[T]he reasons why men went into parliament represented a world of visceral interestes rather
than ideological principles.” Vgl. Foster, Modern Ireland, S. 226; Dickson, New Foundations. S.
85
Die dritte große Gruppe im Unterhaus bestand schließlich aus den wichtigsten
Amtsinhabern der Administration und Exekutive sowie deren Gefolge aus
Pensionären170 der Krone. Die vierte Abgeordnetengruppe bestand aus Juristen,
von denen einige berechtigte Hoffnungen hegen konnten, auf diesem Weg eine
Karriere in der Judikative oder Administration machen zu können, da auch Richterstellen aufgrund parlamentarischer ‚Meriten’ vergeben wurden.171 Für die
Mehrheit der Juristen im Parlament gilt das jedoch nicht, sie fungierten eher als
minder wichtige Placemen (Pensionäre und Stimmenbeschaffer) der Krone.172
Abgerundet wurde das Bild durch einige Offiziere, die in der Regel gleichzeitig
zu den independent gentlemen zählten und die ihr Interesse vor allem darauf richteten, Gouverneursposten in den großen Städten wie Cork oder Galway für sich an
Land zu ziehen.173 Auffällig ist die Unterrepräsentation des kommerziellen
Sektors, welche die untergeordnete Bedeutung dieses Bereichs in einer vorwiegend agrarischen Gesellschaft widerspiegelt: Von den irischen Bankiers war nur
die La Touche Familie174 kontinuierlich im Unterhaus präsent und insgesamt – so
schätzt EDITH M. JOHNSTON – hat es zwischen 1760 und 1800 nicht mehr als 30
Abgeordnete mit einem kommerziellen Hintergrund im irischen Unterhaus gegeben.175
Zusammenfassend läßt sich also festhalten, daß das irische Parlament – selbst
nach zeitgenössischen Maßstäben – kein repräsentatives Legislativorgan, sondern
56. Zu dieser Gruppe gehörten etwa die O’Neills aus Antrim, die Ogles aus Wexford, die
O’Briens aus Clare oder die Stewarts aus Tyrone, um nur einige der wichtigsten Namen aus dieser
Gruppe zu nennen – alles Familien mit großem Einfluß in einzelnen Grafschaften, die in der Regel
entweder diese Grafschaften, den Grafschaftswahlbezirk (county borough) oder aber zumindest
einen Wahlbezirk innerhalb ihrer Grafschaft repräsentierten. Vgl. Johnston, ebd., S. 217-226.
170
Man schätzt, daß im 18. Jahrhundert etwa ein Drittel der Abgeordneten des Unterhauses finanzielle Leistungen von der Krone bezog. Vgl. Kee, Most Distressful Country, S. 31.
171
John Toler (1745-1831) z.B. brachte es auf diese Weise erst zum zweiten, dann zum ersten
Kronanwalt und schließlich zum Obersten Richter der Common Pleas, bevor ihm sein willfähriges
Verhalten bei den Verhandlungen um die Union im Jahr 1800 den Titel eines Barons von Norbury
eintrug. Vgl. H. Boylan, A Dictionary of Irish Biography, Dublin 1988, S. 383.
172
Johnston, GB & Ireland, S. 240.
173
Ebd., S. 240f.
174
Der Stammvater der hugenottischen La Touche Bankiersdynastie, David Digges La Touche,
war in den 1690er Jahren nach Dublin gekommen, wo er 1716 die erste Dubliner Bank eröffnete.
Die Bank blieb über fünf Generationen und 154 Jahre ein Familienbetrieb, bevor sie 1870 von der
Bank of Munster absorbiert wurde. Sein Sohn David Jr. verwendete die Gewinne der Bank zu
umfangreichen Landkäufen, bevor sich sein Enkel, David III., 1761 den Parlamentssitz von Dundalk und schließlich den Wahlbezirk von Newcastle (Grafschaft Dublin) kaufte. David III. war
auch maßgeblich an der Gründung der Bank of Ireland 1783 beteiligt. Vgl. D. Dickson/R. English,
The La Touche Dynasty, in: D. Dickson (Hg.), The Gorgeous Mask, Dublin 1700-1850, Dublin
1987, S. 17-30, hier: S. 13, 21-23.
86
eine Interessenvertretung der anglikanischen, anglo-irischen Oligarchie war, die
es als Aushandlungsforum für ihre eigenen Interessen, die Interessen der Sippe
und ihrer Klientel bzw. ihres Patrons verwendete. Zugleich bildeten die Mitglieder des Unterhauses eine sozial relativ und konfessionell vollständig homogene
Gruppe, die eindeutig von den anglikanischen Großgrundbesitzern dominiert
wurde.
Die Lobbies im Parlament. Angesichts dieser personellen Zusammensetzung
überrascht es nicht, daß im Parlament für grundsätzliche ideologische Auseinandersetzungen kaum Raum vorhanden war: Alle Parlamentarier saßen – salopp
formuliert – im selben Boot. Daher blieb auch die Bildung stabiler politischer
Lager, Flügel oder Parteien aus. Die Mehrheitsverhältnisse formierten sich buchstäblich in jeder politischen Frage neu, Partikular- und Individualinteressen fanden sich zu neuen Bündnissen zusammen, nur um schon beim nächsten Tagesordnungspunkt wieder zu zerfallen und sich neu anzuordnen. Das ganze Arrangement
verweigert sich klassischen Kategorisierungen wie man sie aus der Geschichte des
britischen Parlamentarismus des gleichen Zeitraums kennt: Weder die Unterscheidung zwischen Tories und Whigs, noch die Dichotomie von Country und
Court greift im irischen Kontext richtig.176 ROY FOSTER hat diese Sackgasse elegant überwunden, indem er die Regierungsfraktion und die Opposition im Parlament – in ihrer Relation zum britischen Machtzentrum in Irland – als die ‚Parteien’ der „Ins“ und „Outs“ bezeichnet hat.177 Nur mit so einem flexiblen Modell,
das die jeweilige Mehrheit im Unterhaus einer kurzlebigen, flatterhaften Mode
gleich als „Ins“ charakterisiert, kann man hoffen, der beträchtliche politischen
Fluktuationen im Parlament Herr werden.
Fehlten prinzipielle politische Ausrichtungen, so sind andererseits Schwerpunkte
partikularer Interessenorientierung, die sich in konkreten Einzelfällen immer wieder gegenseitig überlagern konnten, durchaus zu entdecken. Die Bündnisbildung
und Mehrheitsbeschaffung im Unterhaus war also auch nicht vollkommen beliebig, sondern folgte einer losen, situativen Logik, die auf der Ausbildung von Lobbies („interests“) beruhte. Die episkopale Gruppe im Oberhaus und die von ihr
abhängigen Abgeordneten im Unterhaus konstitutierten zusammen ein „church
175
Johnston, GB & Ireland, S. 246.
Beckett, Making, S. 163; Dickson, New Foundations, S. 56.
177
Foster, Modern Ireland, S. 226.
176
87
interest“, das stets gegen potentielle Eingriffe in das anglikanische Kirchenregiment (insbesondere gegen Veränderungen bei den Tithes, den Zehntzahlungen)
Widerstand leistete. Die Grundbesitzer von den Erben des schwerreichen Hochadels bis zum letzten „half-mounted gentleman“178 kooperierten immer, wenn es
galt, steuerliche Belastungen vom Grundbesitz fernzuhalten und statt dessen dem
Handel aufzubürden. Sie bildeten das „landed interest“. Ihre gleichsam natürlichen Gegner, die wenigen Repräsentanten des Handels- und des Finanzkapitals,
machten entsprechend das „commercial interest“ aus. Die Castle-Fraktion um den
Lord Lieutenant (bzw. im Parlament: um den Chief Secretary) konstituierte das
Rückgrat des „English interest“, die nach Bedarf mit Pensionären und anderen
Protegés zahlenmäßig aufgestockt werden konnte. Diese Lobby kann zugleich
auch am ehesten als eine irische Adaption der Court-Fraktion britischen Vorbilds
verstanden werden.179 Dem „English interest“ stand das „Irish interest“ (im Klartext: ‚Ascendancy interest‘) gegenüber, dessen Zentrum von den „independent
country gentlemen“ gebildet wurde, die mißtrauisch darüber wachten, daß die
britische Seite die Privilegien der Kolonialelite nicht anrührte, zugleich aber eisern an der Verbindung zu Großbritannien festhielten, die ihnen die Ausübung
dieser Vorrechte überhaupt erst ermöglichte. Gegen katholische oder presbyterianische Forderungen nach politischer Partizipation oder gegen republikanische
Ansprüche auf eine ‚angemessene’ oder – um Edmund Burkes berühmten Ausdruck zu verwenden – zumindest „virtuelle“ Repräsentation180 schlossen sich
„church interest“, „landed interest“ und „commercial interest“ zur „Ascendancy
interest“ zusammen, die das Machtmonopol der anglo-irischen, anglikanischen
Kolonialelite verteidigte. Die Entstehung einer ähnlichen Koalition läßt sich bei
Übergriffen des britischen auf das irische Parlament beobachten – wie etwa den
Declaratory Act von 1720 oder während der Regentschaftskrise von 1788/89 –
178
Der Begriff ist zeitgenössisch und stammt aus der Feder Sir Jonah Barringtons (1760-1834).
Bezeichnet wurde damit in etwa das irische Pendant des ostelbischen ‚Krautjunkers’. Vgl. J.
Carty, (Hg.), Ireland From Grattan's Parliament to the Great Famine (1783-1850) – A Documentary Record, Dublin 1952, S. 123.
179
Foster, Modern Ireland, S. 227.
180
„Virtual representation is that in which there is a communion of interest and a sympathy in
feeling and desire between those who act in the name of any description of people and the people
in whose name they act, though the trustees are not actually chosen by them” Vgl. E. Burke an Sir
Hercules Langrishe, 1792, in: M. Arnold (Hg.), Irish Affairs, Edmund Burke, With a new introduction by Conor Cruise O’Brien, London 1988, S. 206-278, S. 263 (Neuauflage von Ed. Burke –
Letters, Speeches and Tracts on Irish Affairs von 1881).
88
nur, daß die Allianz dann wahlweise unter den Bezeichnungen „Irish“, „national“
oder „Patriot interest“ auftrat.181
Das allgemeine Muster der Lobbybildung läßt sich aus diesen Beispielen leicht
herausdestillieren: Es ist ein defensives Bündnisbildungsmuster, das dann griff,
wenn der politische Status quo und die Verwirklichung der eigenen Interessen
gefährdet war. Die Außengrenzen der Bündnisfähigkeit jeder Lobby wurde durch
die konfligierenden Interessen anderer Lobbies abgesteckt. Dieser Politikstil verfolgte ein einfaches Ziel: Im eigenen Beritt nach Möglichkeit alle Veränderungen
abzublocken und in anderen Bereichen zum eigenen Nutzen Wandel herbeizuführen. Kumulativ führt eine solche Strategie zu wechselseitiger Blockade und Stagnation – und genau das war in Irland während des 18. Jahrhunderts der Fall. Keine
wichtige politische Veränderung konnte herbeigeführt werden, ohne daß sie zuvor
von außen durch eine außergewöhnliche Krisen- oder Konfliktsituation induziert
wurde.
Die eingeschränkte legislative Funktion des irischen Parlaments. Daß die Ascendancy einen solchen Aufwand betrieb, um das Parlament zu majorisieren, steht
auf den ersten Blick in krassem Gegensatz zu dem Befund, daß der Handlungsspielraum dieser Institution durch Poynings’ Law von 1494 und der bereits erwähnt Declaratory Act von 1720 erheblich eingeschränkt wurde.
Poynings’ Law besagte in nuce, daß der englische Statthalter und der irische
Kronrat den Monarchen von den Gesetzesvorhaben, mit denen sich das irische
Parlament beschäftigen sollte, unterrichtet und seine Genehmigung – in Absprache mit dem englischen Kronrat – erhalten haben mußten, bevor das irische Parlament einberufen werden konnte.182 Praktisch bedeutete dies, daß der Lord Lieu181
Hierbei ist zu beachten, daß sich der „Patriotismus“ bzw. „Nationalismus“ nur auf die ‚politische Nation’ der im Parlament repräsentierten irischen Bevölkerung bezog (also de facto auf die
Ascendancy). Dieses sozial und konfessionell höchst exklusive Modell eines kolonial-angloirischen „Nationalismus“ kann sich also nicht als Nationalismus in der modernen Bedeutung des
Wortes qualifizieren, denn dazu bedürfte es einer Massenbasis in der Bevölkerung, worüber der
sogenannte „koloniale Nationalismus“ nie verfügt hat. Autoritativ hierzu Langewiesche, Nation/Forschungsstand, S. 200-204. Nationalismustheoretisch betrachtet stellt dieser Begriff also
lediglich eine irreführende Chimäre dar. J.G. Simms, der den Begriff prägte, hat in seinem Werk
Colonial Nationalism 1698-1776, Molyneux's "The Case of Ireland ... Stated", Cork 1976, S. 9
den konzeptionellen Gehalt des Begriffs mit folgenden Worten umrissen: „Colonial nationalism is
a convenient term for the demand of domestic self-government within an imperial framework.“
Zur Kritik an diesem Begriff vgl. Boyce, Nationalism, S. 107.
182
Zum genauen Wortlaut von Poynings’ Law vgl. Curtis, Irish Hist. Documents, S. 83: „(...) no
parliament be holden hereafter in the said land [Irland – MR], but at such season as the king’s
lieutenant and council there first do certify the king, under the great seal of that land, the causes
and considerations, and all such acts as them seemeth should pass in the same parliament, and
89
tenant zusammen mit dem irischen Kronrat darüber entschied, wann es opportun
war, ein Parlament einzuberufen, denn es lag allein in ihren Händen, beim Monarchen in dieser Angelegenheit vorstellig zu werden. Dieser Umstand erklärt, warum das irische Parlament alle zwei Jahre im Schnitt bloß sechs bis acht Monate
tagte – der britische Kolonialapparat hat an einer größeren parlamentarischen Aktivität gar kein Interesse.
Darüber hinaus hatte das von Poynings’ Law vorgesehene Verfahren aber auch
erhebliche Nachteile für den legislativen Handlungsspielraum des irischen Parlaments. Anstatt den üblichen Weg der Gesetzgebung beschreiten zu können,183
konnte das Parlament dem irischen Kronrat lediglich Gesetzvorschläge (Heads of
Bills) präsentieren. Der irische Kronrat konnte solche Vorschläge einkassieren
oder nach Belieben umformulieren und reichte ihn anschließend an den britischen
Kronrat weiter, der noch einmal die gleichen Interventionsrechte hatte. Der von
beiden Kronräten beratene und u.U. veränderte Gesetzesvorschlag kehrte dann
unter dem großen Siegel Englands als Gesetzentwurf ins irische Parlament zurück, wo die Abgeordneten nur eine Wahl hatten: Entweder lehnten sie den (englischen) Entwurf komplett ab oder sie nahmen ihn vollständig an. Realiter besaß
das irische Parlament also eher eine Art legislatives Vetorecht als eine genuin
gesetzgebende Souveränität.
Damit nicht genug, interpretierte Westminster Poynings’ Law dahingehend, daß
die irische Schwesterinstitution ihm untergeordnet sei und daß dementsprechend
das britische Parlament Gesetze verabschieden dürfe, die auch für Irland bindend
waren. Da es in dieser Frage wiederholt zu anglo-irischen Protesten gekommen
war, schrieb Westminster im Declaratory Act von 1720, der Poynings’ Law im
Prinzip nur ergänzte, den untergeordneten Status des irischen Parlaments endgültig fest.184 Durch den Declaratory Act verminderten sich die legislativen Kompe-
such causes, considerations, and acts, affirmed by the king and his council to be good and expedient for that land, and his licence thereupon, as well in affirmation of the said causes and acts, as to
summon the said parliament, under his great seal of England had and obtained; that done, a parliament to be had and holden after the form and effect afore rehearsed: and if any parliament be
holden in that land [Irland – MR] hereafter, contrary to the form and provision aforesaid, it be
deemed void and of none effect in law.”
183
Das will heißen: erste Lesung, zweite Lesung, ggf. Vermittlungsausschuß und dritte Lesung.
Vgl. Beckett, Making, S. 154.
184
Für den Wortlaut der entscheidenden Passagen des Declaratory Act vgl. Curtis, Irish Hist.
Documents, S. 188: “(…) be it declared ... that the said kingdom of Ireland hath been, is and of
right ought to be, subordinate unto and dependent upon the imperial crown of Great Britain, as
being inseparably united and annexed thereunto, and that the king’s majesty, by and with the ad-
90
tenzen des irischen Parlaments noch einmal beträchtlich: Gegen die Gesetze, die
in Westminster für Irland als bindend erklärt wurden, verfügte das irische Parlament nicht einmal über ein Vetorecht.
Das Parlament als Distributionsmaschinerie. Obwohl auch das Budgetrecht des
irischen Parlaments durch die erblichen Steuereinkünfte der Krone beschnitten
wurde, war es die Bewilligung von Steuergeldern, die dem irischen Parlament
seine Daseinsberechtigung und den Sitzen im Parlament ihre große Attraktivität
verlieh. Die erblichen Einkünfte der Krone reichten nämlich bereits ab 1715 nicht
mehr zur Kostendeckung aus, so daß die Regierung gezwungen war, Kredite aufzunehmen. Während des 18. Jahrhunderts stieg die irische Staatsverschuldung so
auf die enorme Summe von knapp 9,5 Mio. £ im Jahr 1797 an.185 Mit der Verschuldung wuchs der Druck, durch zusätzliche Steuern neue Finanzmittel zu akquirieren. Diese Abgaben mußten jedoch alle zwei Jahre vom Parlament erneut
genehmigt werden und exakt darin lag – aus britischer Sicht – die Raison d’être
der Institution.
Die Bewilligung zusätzlicher Steuern war zugleich jedoch auch Teil des Finanzproblems, denn die Zustimmung zu den von Lord Lieutenant vorgelegten Steuergesetzvorlagen (Money Bills) ließen sich die Abgeordneten teuer vergüten – mit
Adelstiteln, Pensionen und Ämtern. Genau deshalb unternahm die Ascendancy
solche Anstrengungen, um Sitze im Parlament zu ergattern. Es ging um beträchtliche Summen: Lord Lieutenant Townshend schätzte 1769, daß die Undertaker
alle zwei Jahre mindestens 100.000 £ in Form von Posten und Pensionen unter
ihren Anhängern verteilten.186 1776 errechnete Chief Secretary Blaquiere, daß die
parlamentarische Bewilligung des Abzugs von 4.000 Soldaten aus Irland, die in
den amerikanischen Kolonien benötigt wurden, die Regierung etwa 10.000 £ in
Pensionen und mehr als 20 Adelstitel kosten würde.187 Ebenfalls bezeichnend ist,
daß 1793 die langsame Reduzierung der Pensionsliste auf einen Umfang von
80.000 £ p.a. als großer Erfolg gefeiert wurde, der Einsparungen von ca. 30.000 £
vice and consent of the lords spiritual and temporal, and commons of Great Britain in parliament
assembled, had, hath, and of right ought to have full power and authority to make laws and statutes of sufficient force and validity to bind the kingdom and the people of Ireland.”
185
Zum Vergleich: Das irische Steueraufkommen lag 1797 bloß bei 1,9 Mio. £. Im selben Jahr
betrugen allein die fälligen Zinsen knapp 50.000 £ mehr als die erblichen Einkünften der Krone,
die sich auf 650.000 £ beliefen! Vgl. Johnston, GB & Ireland, S. 98.
186
Ebd., S. 211.
187
Beckett, Making, S. 209.
91
erzielen sollte.188 Vor dem Hintergrund solcher Zahlen ist schwerlich zu bestreiten, daß das irische Parlament zunächst eine finanzielle Alimentations- und Distributionsmaschinerie für die Parlamentarier und die Krone war. Wie auf einem
Bazar feilschten im Parlament die Ascendancy und Dublin Castle um ihre jeweiligen Anteile am Staatskuchen. Das rief nicht selten die Empörung der Kolonialbeamten hervor: Voller Verachtung bezeichnete Lord Lieutenant Rutland 1785 die
Abgeordneten als eine „Rasse von Harpyien und Plünderern“ und Lord Lieutenant
Cornwallis, der 1799 mit den Vorverhandlungen für die staatliche Union zwischen Irland und Großbritannien befaßt war, notierte in einem Brief, seine Beschäftigung sei zur Zeit höchst unangenehm, da er mit dem „korruptesten Menschenschlag unter der Sonne“ zu verhandeln habe.189
Die Entrüstung der britischen Statthalter über den Nepotismus der irischen Parlamentarier ist einerseits nachvollziehbar, entbehrt andererseits aber nicht einer gewissen Ironie. Schließlich hatte der britische Kolonialapparat die Korruption des
Parlaments zu einem integralen Bestandteil kolonialer Herrschaftsausübung in
Irland und zu seinem wichtigsten Steuerungsinstrument bei der Kontrolle und
Lenkung des Parlaments gemacht. Darüber hinaus stand die Korruption aber auch
in unmittelbarem Zusammenhang mit der konstitutionellen Entmachtung des irischen durch das britische Parlament. Seine ureigenste Funktion – die Gesetzgebung – konnte das irische Parlament unter den dargelegten Bedingungen nur sehr
eingeschränkt wahrnehmen.190 Dieser Zustand begünstigte zumindest, daß die
Institution zu einem Ort des Pfründeschachers verkam. Insofern war die Korruption, über die sich diverse Lord Lieutenants bitter beklagten, ebenso hausgemacht
wie das koloniale Herrschaftssystem, das dieser Korruption notwendig bedurfte.
δ) Die doppelte Opposition gegen das Kolonialregime. Die eben beschriebene
Machtverteilung zwischen der Ascendancy und der britischen Kolonialmacht zog
von zwei Seiten Kritik auf sich. Auf der einen Seite von der Ascendancy selbst,
die mit den britischen Konditionen unzufrieden war und auf der anderen Seite von
der anglikanischen Peripherie – den ‚Outs’ inner- und außerhalb des Parlaments,
188
Lecky, History of Ireland 3, S. 182. Vgl. auch Johnston, GB & Ireland, S. 97.
Vgl. Johnston, ebd., S. 232; J. Killen (Hg.), The Decade of the United Irishmen, Contemporary
Accounts, 1791-1801, Belfast 1997, S. 175.
189
92
die von den Fleischtöpfen ausgeschlossen waren und ohnmächtig zusehen mußten, wie sich die Ascendancy die Taschen füllte.
Die defensive Opposition innerhalb der Ascendancy. Die Opposition innerhalb
der Ascendancy war so begrenzt wie ihr Handlungsspielraum: Da sie zur Bewahrung ihrer Stellung in Irland auf die Unterstützung der Kolonialmacht angewiesen
waren, stellten sie nie die enge konstitutionelle Verbindung zwischen Irland und
Großbritannien, sehr wohl aber die von britischer Seite diktierten Konditionen
dieser Verbindung in Frage, die sie als Übergriff auf ihre althergebrachten Rechte
als den Briten rechtlich prinzipiell gleichgestellte Subjekte der Krone betrachteten. In ihrer Opposition kam das Grunddilemma anglo-irischer Existenz in Irland
zum Ausdruck – zwischen der Scylla irisch-katholischer Bedrohung und der Charybdis britischer Bevormundung gefangen zu sein. Vor allem gegenüber der britischen Bevormundung war der Handlungsspielraum der Ascendancy jedoch beschränkt: Soweit wie möglich obstruierte die Ascendancy zwar gegen den britischen Einfluß in Irland, hütete sich aber eine Eskalation zu provozieren. Nur anläßlich neuer britischer Übergriffe wie dem Declaratory Act von 1720 oder
Wood’s Halfpence Crisis von 1722-25 schlugen das latente Konkurrenzverhältnis
und die Spannungen zwischen Ascendancy und britischer Kolonialmacht in einen
offenen Schlagabtausch um.
Vordenker der Opposition innerhalb der Ascendancy: Molyneux und Swift.
Britische Exportverbote bzw. Einfuhrzölle auf irische Wollfabrikate, die 1699
zum Schutz der englischen Wollstoffproduzenten eingeführt wurden, bildeten den
Hintergrund der ersten Auseinandersetzung zwischen der Ascendancy und Großbritannien nach dem Stuart-Erbfolgekrieg.191 Im Kern handelte es sich bei dieser
Kontroverse jedoch nicht um einen ökonomischen, sondern um einen politischen
Konflikt.192 Die Empörung der Ascendancy entzündete sich zum einen daran, daß
von dieser protektionistischen Maßnahme vor allem Anglo-Iren in den anglikani-
190
„It is utterly impossible that Office in Ireland can confer the Power of doing Good, no office
with us being in any Degree Ministerial.” Lord Charlemont an Henry Flood, 13.4.1775. Zitiert
nach Johnston, ebd., S. 226.
191
Connolly, Companion, S. 600.
192
Die wirtschaftlichen Folgewirkungen des britischen Verbots waren marginal: Zwar emigrierten unmittelbar nach dem Exportverbot etwa 800 Wollweberfamilien aus Südmunster, dem Kerngebiet der Wolltuchproduktion, aber die betroffenen Regionen erholten sich rasch von dem Schlag
und kompensierten die Einbußen, indem sie sich auf die Herstellung von Wollgarn für den Export
und die Produktion von Tuchstoffen für den irischen Markt verlegten. Vgl. Dickson, New Foundations, S. 48f.
93
schen Städten der Grafschaften Cork, Waterford und Dublin betroffen waren, so
daß sich die Intervention aus anglo-irischer Sicht wie ein Schlag der kolonialen
Schutzmacht gegen die englische Kolonie in Irland ausnahm.193 Ausschlaggebend
für das Ausmaß des Protestes war jedoch, daß der von Westminster erlassene
Woolen Act die Frage nach dem konstitutionellen Status Irlands eindeutig mit einer Unterordnung Irlands unter die legislative Autorität des britischen Parlaments
beantwortete. Einen zentralem Stellenwert in der Kontroverse, die sich daraufhin
zwischen britischen und anglo-irischen Pamphletschreibern entspann, nahm eine
Veröffentlichung des anglikanischen Philosophen William Molyneux194 aus dem
Jahr 1698 ein, die den Titel „The Case of Ireland’s Being Bound by Acts of Parliament in England, Stated“ trug. Das Werk fand reißenden Absatz: Schon vor der
Jahrhundertmitte hatte es mindestens sechs Auflagen und bei passender Gelegenheit – wie etwa der Verabschiedung des Declaratory Act im Jahr 1720 – wurde es
sofort wieder neu aufgelegt.195 Molyneux vertrat darin die These, daß das englische Parlament nicht für Irland legislativ tätig werden könne, weil Irland keine
englische Kolonie, sondern ein unabhängiges Königreich sei.196 Diese These begründete er mit historischen, verfassungsrechtlichen und naturrechtlichen Argumenten. Historisch argumentierte er, daß Irland niemals von England erobert
worden sei und daß Irland von Heinrich II. im 12. Jahrhundert ein unabhängiges
Parlament gewährt worden sei.197 Unter Rückgriff auf den 1692 neu veröffentlichten Modus tenendi parliamentum in Hibernia beschwor er außerdem die Tradition
der legislativen Unabhängigkeit Irlands.198 Verfassungsrechtlich argumentierte er,
daß es „seit 500 Jahren“ Usus sei, daß nur diejenigen in England verabschiedeten
Gesetze in Irland Gültigkeit erlangten, die zuvor von einem irischen Parlament
193
Vgl. ebd., S. 48; auch Beckett, Making, S. 156.
William Molyneux (1656-1698): Anglikanischer Philosoph und Naturwissenschaftler, in Dublin geboren, studierte Jura am Trinity College in Dublin, praktische Ausbildung am Middle
Temple in London; verfügte über ausreichende Mittel, um nicht praktizieren zu müssen, beschäftigte sich stattdessen mit philosophischen, optischen und astronomischen Studien; erster Sekretär
der 1684 gegründeten Dublin Philosophical Society, der Vorläuferin der Royal Irish Academy;
während des Erbfolgekrieges 1689-91 verließ er aus Furcht vor anti-protestantischen Ausschreitungen Irland und hielt sich in Chester auf, wo er sich mit John Locke anfreundete; nach seiner
Rückkehr zum Abgeordneten des Trinity College im irischen Unterhaus gewählt, wo er von 169295 und 1697/8 saß; publizierte 1698 das Traktat „The Case of Ireland ..., Stated“; erkrankte auf
der Rückkehr von einem Besuch bei Locke und verstarb am 11.10.1698.
195
J.R. Hill, Popery, S. 101; McCracken, Protestant Ascendancy, S. 111.
196
Foster, Modern Ireland, S. 161.
197
Simms, Colonial Nationalism, S. 29f.
198
Ebd., S. 30; ders., Establishment, S. 5.
194
94
bestätigt worden seien. 199 Im naturrechtlichen Teil seiner Argumentation berief er
sich schließlich direkt auf Lockes Two Treatises on Government von 1690. Es sei
unangemessen, von Irlands Bevölkerung die Unterordnung unter Gesetze zu verlangen, zu denen sie nicht ihre Zustimmung gegeben habe: „Ich habe keine andere
Vorstellung von Sklaverei als die, an ein Gesetz gebunden zu sein, dem ich nicht
zugestimmt habe.“200 Diese Vorstellung entspricht Lockes Konzept des „government by consent“.201 Wenn englische Gesetze für Irland Gültigkeit haben sollten,
so fuhr er fort, müßte die irische Bevölkerung im englischen Parlament repräsentiert sein – „aber dies ist ein Glück, das wir kaum erhoffen dürfen.“202
Aufgegriffen und ausgebaut wurden die Molyneux’schen Gedanken von Jonathan
Swift Mitte der 1720er Jahre in den Drapier’s Letters. Swift verfaßte diese anonymen Fortsetzungsbriefe vor dem Hintergrund des Declaratory Act und der sogenannten Wood-Affäre. Dazu muß man wissen, daß 1722 ein Unternehmer aus
Wolverhampton namens William Wood ein königliches Patent erwarb, daß ihm
gestattete, im Wert von 100.000 £ Kupfermünzen für Irland auszuprägen.203 Die
Vergabe des Patents wurde von außerordentlich dubiosen Umständen begleitet –
unter anderem kursierte das Gerücht, Wood habe das Patent nur erhalten, weil er
eine Mätresse des britischen Monarchen mit 10.000 £ bestochen hatte – und verursachte heftige Proteste in Irland. Obwohl die von höchsten irischen Stellen vorgebrachten Bedenken gegen das neue Geld – der intrinsische Wert der neuen
Münze sei zu gering, Woods Profite aus dem Patent exzessiv204 – zwar an sich
schon schwerwiegend genug waren, war der Hintergrund der irischen Proteste
eigentlich kein fiskalisch-monetärer, sondern ein politischer. Die Gereiztheit,
welche die Debatte um Wood’s Halfpence erfaßte, rührte daher, daß das irische
Parlament bei der Entscheidung über die Vergabe des Patents übergangen worden
war.205 Woods Münze bot daher einen willkommenen Anlaß für eine politische
199
Simms, Colonial Nationalism, S. 32-34; Dickson, New Foundations, S. 47. Präzedenzfälle, die
dieser These diametral entgegenstanden, wie das englische Gesetz von 1691, mit dessen Hilfe die
Katholiken aus dem irischen Parlament entfernt wurden, unterschlug er allerdings geflissentlich.
200
Simms, ebd., S. 35.
201
Ebd., S. 31; J. Locke, Über die Regierung (Reclam Ausg. d. Second Treatise on Government)
Stuttgart 1983, S. 73-76; H.T. Dickinson, Liberty and Property, Political Ideology in 18th Century
Britain, London 1977, S. 60f.
202
Simms, Colonial Nationalism, S. 35.
203
Zur Wood Affäre vgl. Connolly, Companion, S. 598.
204
McCracken, Protestant Ascendancy, S. 111.
205
Beckett, Making, S. 165, Dickson, New Foundations, S. 66.
95
Kraftprobe zwischen der Ascendancy und dem britischen Parlament um den Declaratory Act von 1720. Entsprechend harsch waren die Reaktionen in Irland:
Während die verunsicherte Bevölkerung sich weigerte, die Münze als Zahlungsmittel zu akzeptieren und es in Dublin zu Demonstrationen kam, legten die Steuerkommissare formalen Protest ein, weigerten sich die Finanzbehörden die Münze
in ihrer Rechnungsführung zu berücksichtigen. 206 Beide Häuser des Parlaments
petitionierten beim König und erwiesen sich den üblichen Kompensationsmechanismen gegenüber als resistent.207 In dieser Situation erschienen 1724-25 Swifts
Drapier’s Letters und brachten das Faß zum Überlaufen.
Vordergründig nahm Swift in diesen Pamphleten ebenfalls die Wood-Affäre aufs
Korn.208 Tatsächlich benutzte er diese Affäre jedoch lediglich als Aufhänger, um
die Grundlagen der irisch-britischen Beziehungen zu diskutieren und die Legitimationsbasis für britische Interventionen in Irland zu kritisieren. Mit direkter Bezugnahme auf den „berühmten Mr. Molineux“ gelangte Swift zu dem Schluß, daß
es keine Statuten gebe, in denen Irland seine konstitutionelle Unabhängigkeit aufgegeben hätte.209 Aggressiv geißelte er den Charakter der britischen Interventionen in Irland, schalt sie eine einzig auf Waffengewalt und Bestechung beruhende
Versklavung und proklamierte auf der Basis Locke’scher Theoreme die Gleichstellung der Anglo-Iren mit den Briten:
„Tatsächlich ist alle Regierung ohne die Zustimmung der Regierten die wahre Definition von Sklaverei. (...) Nach dem Gesetz Gottes, der Natur, der Nationen und Eures eigenen Landes seid ihr und sollt ihr genau so ein freies
Volk sein wie eure Brüder in England.“210
Swifts Fortsetzungsbriefe fanden ebenso reißenden Absatz wie vor ihm Molyneuxs Schrift: Allein vom ersten Drapier’s Letter wurde innerhalb eines Monats
nach der Publikation 2.000 Exemplare abgesetzt, die anderen erreichten ebenfalls
in kurzer Zeit mehrere Auflagen.211 Auch die Dubliner Presse erhielt durch die
Wood-Affäre Auftrieb.212
206
McCracken, Protestant Ascendancy, S. 113; Beckett, ebd., S. 165.
Connolly, Companion, S. 598.
208
Beckett, Making, S. 165f.
209
J. Swift, The Drapier’s Letters and Other Works 1724-1725, Hrsg. v. H. Davis, Oxford 1966,
S. 63.
210
Ebd.
211
Dickson, New Foundations, S. 68.
212
Foster, Modern Ireland, S. 183.
207
96
Britische Gegenmaßnahmen – etwa den Drucker der Drapier’s Letters juristisch
zur Verantwortung zu ziehen213 – blieben bereits im Ansatz stecken. Das Parlament geriet vorübergehend komplett außer Kontrolle, selbst die Lordrichter versagten ihre Unterstützung.214 Der Aufruhr legte sich erst nachdem 1725 Wood das
Patent entzogen worden war. Zur Besorgnis der britischen Statthalter hatte sich
jedoch in der Wood-Affäre herausgestellt, daß es Situationen gab, die weit genug
von konfessionellen Antagonismen entfernt waren und die Allgemeinheit so direkt betrafen, daß eine anti-britische Opposition in Irland zustande kommen konnte, die sich durch alle Schichten und Lager zog.
Molyneuxs und Swifts Beitrag zur Oppositionsbildung. Molyneuxs Bedeutung
lag vor allem in der Kompilation historischer, verfassungsrechtlicher und naturrechtlicher Argumente für die konstitutionelle Souveränität Irlands, die – wie
Swifts Beispiel schon angedeutet hat – genug Munition für nachfolgende Regimekritiker boten. Darüber hinaus ist signifikant, daß seine Argumente allgemein
genug waren, um Ansatzpunkte für die Legitimation einer anti-britischen oder
einer anti-Ascendancy Opposition, für eine moderat-konstitutionelle bis hin zu
einer radikal-separatistischen Opposition zu bieten. Obwohl Molyneux selbst
primär
die
Verteidigung
der
konstitutionellen
„Geburtsrechte“
der
englischstämmigen Subjekte in Irland beabsichtigte:215 Gerade seine historischen
Exkurse nahmen eine neue, distinktiv irische Couleur an. Er reklamierte nicht nur
als Engländer die angestammten Rechte, die für alle ‚true-born Englishmen’
diesseits und jenseits der Irischen See gelten sollten, sondern legitimierte als Ire
anglo-irische Ansprüche mit der Geschichte des irischen Parlaments. Auf dieser
Basis ließ sich jedoch potentiell auch die Beseitigung von Poynings’ Law und
sogar die Sezession Irlands von Großbritannien rechtfertigen. Das erklärt seine
Beliebtheit
als
Referenzpunkt
so
unterschiedliche
Ziele
verfolgender
Oppositioneller wie Charles Lucas, Henry Grattan oder Theobald Wolfe Tone.
Swifts Bedeutung dagegen lag eher darin, daß er Molyneuxs Ideenhaushalt popularisierte und polemisch zuspitzte. Nimmt man die Verkaufszahlen und die besorgte Reaktion des Kolonialapparats auf seine Schriften als Indikatorgrößen,
dann war dieses Unterfangen offensichtlich erfolgreich. Ungeachtet der schärferen
213
Swift selbst konnte nicht belangt werden, weil ihm nicht nachzuweisen war, daß er hinter den
Veröffentlichungen und dem Pseudonym „Drapier“ steckte. Dickson, New Foundations, S. 69.
214
McCracken, Protestant Ascendancy, S. 112-114; Beckett, Making, S. 187.
97
Rhetorik ist aber auch Swifts Kritik als defensiv und begrenzt einzustufen, denn er
richtete sich nicht – wie der Titel seines dritten Drapier’s Letter „To the whole
people of Ireland“ zunächst anzudeuten scheint – an die gesamte irische Bevölkerung, sondern nur an den anglo-irischen Bevölkerungsteil, den er – wie vor ihm
schon Molyneux – als „das irische Volk“ auffaßte.
An dieser Stelle deutet sich die strukturelle Rechtfertigungsproblematik an, die
für jede anglo-irische Opposition gegen die britische Kolonialmacht im 18. Jahrhundert charakteristisch war. Zwei Fragen mußten plausibel beantwortet werden:
1. Wie konnte der koloniale Status Irlands zum Zweck einer Machterweiterung
der Ascendancy in Zweifel gezogen werden, ohne damit gleichzeitig die Legitimation für die herausragende Stellung der Kolonialelite innerhalb der irischen Gesellschaft zu gefährden? 2. Wie konnte man auf der Basis des Naturrechts und der
Locke’schen Kontrakttheorie die Gleichstellung der anglo-irischen mit den englischen Subjekten der Krone einfordern, ohne den politisch marginalisierten Presbyterianern und Katholiken die selben Chancen zur Gleichstellung mit der anglikanischen Bevölkerungsgruppe einräumen zu müssen?
Molyneux selbst versuchte diesen unangenehmen Fragen mit der unverfrorenen
Behauptung zu begegnen, daß die irische Bevölkerung mehrheitlich aus den Abkömmlingen von Engländern und Britanniern bestehe, während die authochthonen
Iren nicht mehr als ein Promille der irischen Bevölkerung repräsentierten.216 Mit
diesem Kunstgriff, der die katholische Bevölkerung gleichsam forteskamotierte,
läutete Molyneux die Geburtsstunde der „Protestant Nation“217 ein: Um die Legitimität der anglo-irischen Ansprüche glaubhaft zu machen, stilisierte er den mit
politischen Partizipationsrechten ausgestatteten Teil der anglo-irischen Bevölkerung zum ‚irischen Volk’ hoch. Swift schloß sich hierin – wie wir bereits gesehen
215
Dickson, New Foundations, S. 47; Hill, Popery, S. 101f.
Foster, Modern Ireland, S. 161; Boyce, Nationalism, S. 105.
217
Unter der Voraussetzung, daß man die ‚Protestant Nation’ lediglich als dezeptive Legitimationskonstruktion auffaßt, stellt der Begriff nichts anderes dar als ein Synonym für den Begriff
‚Ascendancy’. Diese Lesart ist jedoch nicht alternativlos. D.G. Boyce etwa nimmt die Vorstellung,
daß die Anglo-Iren die irische Nation bildeten als kollektive, aber subjektive anglo-irische Überzeugung ernst und entwickelt Zugehörigkeitskriterien für diese ‚Nation’: Erstens muß man in
Irland geboren sein und sich zweitens zur anglikanischen Konfession bekennen, um der „Protestant Nation“ anzugehören. Boyce, Nationalism, S. 105-107. Sein Argument, daß die Ausblendung
der katholischen Bevölkerungsmehrheit aus dem anglo-irischen Denkhorizont gelingen konnte,
weil sie durch die Strafgesetze effektiv von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen worden seien (S. 105), mangelt es jedoch an Überzeugungskraft, denn beides wurde gezielt von der
Ascendancy ins Werk gesetzt. Daher wird hier die „Protestant Nation“ als legitimativer Vorwand
216
98
haben – Molyneuxs Position vollständig an.218 Aber selbst mit der Hilfskonstruktion der „Protestantischen Nation“ konnte man keine radikale anti-britische Opposition rechtfertigen, ohne die anglo-irische Sonderstellung in Irland zu gefährden.
Daher bedeutete ‚Unabhängigkeit’ – von anglo-irischer Warte – auch nie etwas
anderes als legislative und judikative Autonomie.
Ascendancy-Opposition im Parlament: Die „Patrioten“. Nach dem Declaratory Act von 1720 fand sich im irischen Parlament eine lose miteinander verbundene Gruppe von Delegierten zusammen, welche fortan die Opposition gegen das
koloniale Mutterland bildeten: die sogenannten „Patrioten“. Diese waren beständig in der Minderheit und verfügten selbst für die damaligen Verhältnisse über
ausgesprochen wenig personelle Kontinuität. Da sie überdies kein ausformuliertes
politisches Programm verfolgten, paßten sie sich nahtlos in das Bild der fluktuierenden Lobbies ein.219 Beschreibt man die „Patrioten“, deren Mitglieder sich
mehrheitlich aus den ‚independent country gentlemen’ rekrutierten, mit Hilfe der
FOSTER’schen Kategorien, dann handelte es sich bei ihnen um den harten Kern
der ‚Outs’, die durch plötzliche politische Wendungen in dem Mittelpunkt der
aktuellen politischen ‚Vogue’ rückten, weil sie mit ihrer Haltung in Einzelfragen
ansehnliche Unterstützung im Unterhaus mobilisieren konnten und so gewissermaßen den natürlichen Kristallisationskern für punktuell entstehende Opposition
bildeten.
Ab den 1750er Jahren nahm der Einfluß der „Patrioten“ allmählich zu, weil sie
eine lose Allianz mit der lauter werdenden außerparlamentarischen Kritik von der
Peripherie der Ascendancy bildeten. Mit der Verstetigung des britischen Einflusses nach Townshends Reformen Ende der 1760er Jahre stieg außerdem die Be-
begriffen, was jedoch weder ausschließen soll noch kann, daß die Anglo-Iren – als Kollektiv oder
als Individuen – subjektiv von der Richtigkeit dieser Vorstellung überzeugt waren.
218
Daher unterlagen Swifts Popularisierungsprojekt auch gewissen Grenzen: Seine Schriften
überwanden zwar die sozialen Grenzen innerhalb des anglikanischen Bevölkerungsteils, aber nicht
die konfessionellen Grenzen in der irischen Gesamtbevölkerung. Vgl. Beckett, Literature, S. 458f.
219
Beckett, Making, S. 192. Vgl. auch die konzise Definition der ‚Patrioten‘ bei M. Elliott, Ireland, in: O. Dann/J. Dinwiddy (Hgg.), Nationalism in the Age of the French Revolution, London
1988, S. 71-86, Anm. 2, S. 71: „The Irish ‚Patriots‘ of the mid to late 18th century closely resembled ‚patriots‘ elsewhere. They worked within existing constitutional, social and political
confines to achieve gradual improvement. They did not seek any dramatic overhaul of the system
and did not identify the people as a whole with the political nation. J.C. Beckett disputes the term
‚colonial nationalism‘ with some justification, pointing out that the ‚patriots‘ saw themselves as
speaking on behalf of an ancient nation rather than founding a new one. They did so, however,
only by a peculiar form of mental hypnosis which prevented them seeing the absurdity of such
claims when two thirds of that ‚nation‘ were effectively excluded by their own legislation.“
99
deutung der „Patrioten“ als gleichsam natürliches Gegengewicht gegen die britische Seite.220
Die außerparlamentarische Opposition an der Peripherie der Ascendancy.
Jenseits der defensiven Opposition innerhalb der Ascendancy, bildete sich überdies bereits ab den 1720er Jahren ansatzweise eine semi-offizielle bzw. informelle
politische Gegenöffentlichkeit heraus, die sich gegen die Korruption der Ascendancy verwahrte. Angesichts der extremen Exklusivität des kolonialen Herrschaftssystems stellte diese Gegenöffentlichkeit aus freigeistigen Debattierklubs,
Lesezirkeln, regimekritischen Zeitungen und Journalen, aber auch Geheimbünden
und der in Dublin konzentrierten, sich in Demonstrationen und Unruhen äußernden Volksmeinung das einzige Ventil einer radikal-regimekritischen Opposition
gegen die Ascendancy dar. Darum muß nun zur Abrundung der Entwicklungsprozesse politischer Herrschaft in Irland während des 18. Jahrhunderts ein Blick auf
die Entstehung und allmähliche politische Etablierung der peripheren Opposition
gegen das Kolonialregime geworfen werden.
Die periphere Opposition: Charles Lucas. Die periphere Kritik an der Ascendancy äußerte sich erstmals in der Lucas-Affäre Ende der 1740er Jahre. Ihren
Ausgang nahm sie im Widerstand der Dubliner Freemen221 gegen das Monopol
der Aldermen222 bei der Vergabe von Posten in der Dubliner Stadtverwaltung. Die
Gruppe, die sich gegen das Übergewicht der Aldermen zur Wehr setzte, wurde
von einem Dubliner Apotheker namens Charles Lucas223 geführt. Als 1748 beide
Dubliner Abgeordneten im Unterhaus verstarben, ergab sich für Lucas und seine
220
Vgl. Beckett, ebd.
‘Freeman’ (Freisasse) ist eine Bezeichnung für die wahlberechtigten Bürger eines Wahlbezirks. Wie in allen ‚Corporation boroughs’ wurde das Wahlrecht in Dublin vom Stadtrat verliehen.
222
‘Aldermen’ wurden die 24 auf Lebenszeit gewählten Mitglieder des Exekutivausschuß des
Dubliner Stadtrats genannt, der zusammen mit den 144 Mitgliedern des Gemeinen Rats, der aus
Vertretern der Gilden und den ehemaligen Amtinhabern des Sheriffsamt bestand, die Stadtregierung Dublins bildeten. Der Ausschuß der Aldermen wurde von einem kleinen, aber mächtigen
Netzwerk anglikanischer Kaufleute und Bankiers dominiert. Vgl. McCracken, Political Structure,
S. 81; Dickson, New Foundations, S. 87.
223
Charles Lucas (1713-1771): “Patriot”; 1713 in Co. Clare geboren; ließ sich als Apotheker in
Dublin nieder; veröffentlichte 1735 ein Pamphlet gegen Mißbräuche im Medikamentenverkauf,
das zur Verabschiedung eines Medikamentenkontrollgesetzes führte; Mitglied des Stadtrats, führte
Kampagne gegen Korruption der Aldermen und befürwortete parlamentarische Unabhängigkeit;
floh 1749 vor seiner Verhaftung auf das europäische Festland, 1752 in Leiden zum Doktor der
Medizin promoviert, praktizierte erfolgreich als Arzt in London 1753-1761; kehrte 1761 nach
Dublin zurück, wurde ins Unterhaus gewählt und behielt seinen Sitz bis zu seinem Tod 1771.
Einer der Anführer der „Patrioten“ in den 1760er Jahren, vertrat die Interessen des Dubliner Handelsmittelstands gegen die Grundbesitzer, versuchte die Konkurrenz katholischer Kaufleute auszuschalten.
221
100
Gefolgsleute eine günstige Gelegenheit, die arrivierte Dubliner Oberschicht herauszufordern.224 Im Wahlkampf für die Nachwahlen der beiden Abgeordneten,
der 14 Monate dauerte, zog er alle Register, um die etwa 4.000 Dubliner Wähler
davon zu überzeugen, die Kandidaten der Aldermen abzulehnen.225 Über 150
Pamphlete wurden von beiden Seiten während dieser Kampagne veröffentlicht,
allein Lucas bombadierte die Dubliner Freemen mit über 30 Flugschriften.226 Bereits 1747 hatte er mit der Publikation eines Wochenblatts – The Citizen’s Journal
– begonnen, im Wahlkampf gründete er zusätzlich die erste radikale Dubliner
Zeitung, The Censor.227 In seinen Veröffentlichungen schlug seine Kritik immer
weitere Kreise: Ausgehend von der kommunalen Korruption beschäftigte er sich
alsbald auch mit den britischen Eingriffen in die Kommunalpolitik Dublins, griff
englische Handelsrestriktionen in Irland an und machte schließlich auch vor der
konstitutionellen Frage nicht mehr Halt.228 Unter Berufung auf Molyneux und
Swift brachte er deren Argumente erneut vor – allerdings mit veränderter Stoßrichtung: Zum ersten Mal war die defensive Opposition von der Peripherie der
Ascendancy gegen ihr Zentrum, den harten Kern der Kolonialelite, gerichtet.
Durch diesen Angriff machte sich Lucas zum politischen Paria; das Parlament
erklärte ihn noch vor der Wahl zum Staatsfeind und ordnete seine Verhaftung an,
der er sich nur durch die Flucht aus europäische Festland entziehen konnte.229 Bei
der Dubliner Bevölkerung, den Gilden und auch bei den Wahlberechtigten war er
jedoch ungeheuer beliebt: ‚Seine’ Kandidaten erhielten in der Wahl ungefähr die
Hälfte der Stimmen aller Dubliner Wahlberechtigten230 – ein enormer Erfolg,
wenn man die Möglichkeiten der Ascendancy zur Wahlbeeinflußung einkalkuliert.
In der Sache selbst brachte Lucas zwar keine neuen Argumente vor, aber er war
ein Meister der Mobilisierung, dem es fast im Alleingang gelang, in Dublin eine
politische Gegenöffentlichkeit zu installieren. Darüber hinaus bot er durch die
neue Stoßrichtung, die er den alten Argumenten Molyneuxs und Swifts verlieh,
potentiellen Nachfolgern Ansatzpunkte für eine Ausdehnung der Opposition.
224
Dickson, New Foundations, S. 87.
Ebd., S. 88.
226
Ebd.
227
Beckett, Making, S. 192; Dickson, ebd.
228
Beckett, ebd.; Dickson, ebd.; McCracken, Rise of Colonial Nationalism, S. 118.
229
Dickson, ebd., S. 89, Foster, Modern Ireland, S. 239.
230
Dickson, ebd.
225
101
Dank seiner Beliebtheit in Dublin gelang Lucas ein bemerkenswertes politisches
Comeback: Amnestiert kehrte er 1761 nach Dublin zurück, als in Irland wegen
des Amtsantritts Georgs III. Parlamentswahlen anstanden und zog prompt als einer der beiden Dubliner Abgeordneten ins irische Unterhaus ein.231 1763 war er
an der Gründung des Freeman’s Journal beteiligt, das in der nächsten Dekade das
Sprachrohr des „independent interest“ darstellen sollte und für das er regelmäßig
Beiträge lieferte.232
Mit seinem Einzug ins Parlament, wo er zusammen mit Henry Flood233 im Unterhaus und Lord Charlemont234 im Oberhaus während der 1760er Jahre den Führungszirkel der „Patrioten“ bildete, vollzog Lucas die Zusammenführung der außerparlamentarischen mit der „Patrioten“-Opposition.235 Die regimekritische Gegenöffentlichkeit verfügte fürderhin über eine Bastion im Parlament, während die
„Patrioten“-Fraktion dank der Unterstützung durch die informelle politische Gegenöffentlichkeit politischen Einfluß gewann, der deutlich über ihrem numerischen Abstimmungsgewicht im Unterhaus lag.
Triumph und Scheitern der Allianz aus außerparlamentarischer und „Patrioten“-Opposition (1782-1783). Ihren größten Erfolg feierte die Allianz aus außerparlamentarischer und „Patrioten“-Opposition in „Grattan’s Revolution“ von
1782, in welcher der Kolonialmacht Großbritannien die – nominelle! – legislative
Unabhängigkeit des irischen Parlaments abgerungen wurde. Tatsächlich bildeten
die oppositionellen Aktivitäten in Irland jedoch lediglich das sprichwörtliche I231
Ebd., S. 128; Foster, Modern Ireland, S. 239.
Lydon, Making, S. 240.
233
Henry Flood (1732-1791): Staatsmann und Redner; unehelicher Sohn Warden Floods, eines
Chief Justice von King’s Bench; genoß juristische Ausbildung in Trinity College Dublin, Oxford
und am Inner Temple in London; kehrte 1759 nach Irland zurück; wurde im gleichen Jahr Abgeordneter für Co. Kilkenny; wurde Redeführer der „Patrioten“, stellte 1768 die Verabschiedung des
Octennial Act sicher; wurde 1775 zum Vizeschatzmeister ernannt, was ihm viel Kritik eintrug;
sprach sich 1779 für Freihandel aus und wurde Oberst bei den Volunteers; wurde 1781 des Amtes
enthoben und kehrte in die Opposition zurück, wo Grattan mittlerweile seine Rolle übernommen
hatte, zieht den kürzeren im Konflikt mit Grattan; kaufte sich daraufhin 1783 ins englische Unterhaus ein, wo er keinen Fuß fassen konnte; wurde 1790 nicht wiedergewählt und zog sich aus der
Politik auf seinen irischen Landsitz zurück, wo er 1791 starb; Gegner der katholischen Emanzipation; Befürworter von Parlamentsreformen.
234
Lord Charlemont (1728-1799): „Patriot”; geboren in Dublin, genoß Privatunterricht; bereiste
zwischen 1746 und 1754 Europa; zeichnete sich 1760 gegen die Franzosen bei Carrickfergus aus;
1763 zum Earl ernannt; residierte zwischen 1764 und 1773 in London; kehrte nach Dublin zurück,
weil er es für seine patriotische Pflicht hielt, in Irland zu leben; Förderer der Künste; 1780 zum
Oberkommandierenden der Volunteers bestimmt; 1785 Mitbegründer der Royal Irish Academy;
unterstützte Grattan in der Regentschaftskrise, 1780 Mitbegründer des Whig Club; gegen katholische Emanzipation und die Union.
235
Beckett, Making, S. 198.
232
102
Tüpfelchen in einer einmaligen Konstellation, die von den britischen Niederlagen
während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges und parteipolitischen Auseinandersetzungen in Großbritannien herbeigeführt wurde und die der angeschlagenen britischen Kolonialmacht nicht mehr erlaubte, die vollständige Kontrolle in
Irland zu bewahren. Der ungünstige Verlauf des Krieges gegen die ehemaligen
amerikanischen Kolonien, in den sich 1778/9 auch Frankreich und Spanien auf
amerikanischer Seite einmischten, zwang Großbritannien dazu, Truppen aus Irland abzuziehen, um sie in den Kampf in den transatlantischen Kolonien zu werfen.236 Aus Furcht vor einer französischen Invasion in Irland gründete die protestantische Bevölkerung ab 1778 Freiwilligenverbände – die sogenannten Volunteers –, die ursprünglich die Aufgabe übernehmen sollten, die irischen Grenzen zu
schützen und im Inneren für Ruhe und Ordnung zu sorgen.237 In der Freiwilligenbewegung spielten von Anfang an regimekritische Presbyterianer eine prominente
Rolle: Die erste Freiwilligenkompanie wurde am 17.3.1778 in Belfast ins Leben
gerufen.238 Die Volunteers füllten das relative Machtvakuum, das der Abzug der
britischen Regierungstruppen hinterlassen hatte: Die militärische Gewalt wurde
nun nicht mehr vom Kolonialapparat kontrolliert, sondern lag in den Händen einer
kritischen Öffentlichkeit.239 Diese Situation eskalierte rasch, weil die öffentliche
Meinung in Irland dem Feldzug gegen die amerikanischen Kolonisten von Anfang
an sehr kritisch gegenüberstand.240 Insbesondere im presbyterianischen Norden
regte sich Unmut, dort wurde der Krieg für einen Akt des „sträflichsten, nicht
provozierten Despotismus“ gehalten.241 Britische Versuche, die Versorgung der
Armee mit Lebensmitteln zu sichern, indem sie irische Exportrechte beschnitten,
sorgten dafür, daß sich die Kritik verschärfte und ausdehnte. Nun protestierten
auch Händler und Kaufleute aller Konfessionen, weil sie sich um das gewinnträchtige Geschäft mit kriegswichtigen Gütern geprellt sahen. Die Volunteers griffen diese Proteste wiederum auf und lancierten am 4.11.1779 (also am symbolträchtigen Datum des Geburtstag Wilhelms III.) in Dublin eine große Kundge236
Dickson, New Foundations, S. 142; McDowell, Protestant Nation, S. 232.
Connolly, Companion, S. 581.
238
Beckett, Making, S. 211.
239
R.B. McDowell, The Protestant Nation (1775-1800), in: Moody/Martin, Course, S. 232-247,
S. 233: „Armed force – the ultimate arbitrator – was no longer controlled by the government, but
by the politically-minded public.” Vgl. auch Lydon, Making, S. 247.
240
Dickson, New Foundations, S. 142-144.
241
Tesch, Radicalism, S. 43f., Zitat S. 43.
237
103
bung gegen britische Handelsrestriktionen.242 Als die britische Seite nach langem
Zögern im Februar 1780 endlich zurückruderte und unter dem Druck der öffentlichen Meinung Irland freien Handel mit den britischen Kolonien einräumte, war es
bereits zu spät, um die Proteste einzudämmen.243 Im irischen Parlament forderte
Henry Grattan,244 der Redeführer der „Patrioten“, am 19.4.1780 die legislative
Unabhängigkeit Irlands.245 Mit Hilfe ihrer gekauften Placemen gelang es Dublin
Castle zwar, diese Forderung vorläufig zu stoppen, aber selbst die Ascendancy
favorisierte die legislative Unabhängigkeit, weil sie ihren Einfluß vergrößerte.
Um einen Keil in die Oppositionsfront zu treiben, machte das Kolonialregime
gezielt Zugeständnisse: Am 2. Mai 1780 wurde der Sacramental Test für Dissenter aufgehoben.246 Das beeindruckte das radikale Element in der presbyterianischen Bevölkerung angesichts der britischen Niederlage bei Yorktown indes wenig: Im Februar 1782 traten in Dungannon etwa 250 Delegierte der presbyterianischen Freiwilligenverbände Ulsters zusammen, um über Parlamentsreformen zu
beraten.247 Damit wuchs die Gefahr, daß dem irischen Parlament die legislative
Autorität entglitt.248 Gleichzeitig führte ein Kabinettswechsel in Großbritannien
dazu, daß der britische Widerstand gegen die legislative Unabhängigkeit Irlands
abnahm: Der konservative Premier North mußte seinen Hut nehmen, sein liberaler
242
Beckett, Making, S. 216f; Dickson, New Foundations, S. 151; Lydon, Making, S. 246f.
Beckett, ebd., S. 218; Maurer, Geschichte Irlands, S. 168.
244
Henry Grattan (1746-1820): berühmter irischer „Patriot“, Sohn eines Dubliner Juristen und
Unterhausabgeordneten für Dublin City; am Trinity College ausgebildet, Zulassung als Anwalt
1772, ab 1775 Unterhausabgeordneter zunächst für das Borough Lord Charlemonts, ab 1790 für
Dublin City. Redeführer der „Patrioten“ und berühmter politischer Redner, nutzte die Freiwilligenbewegung und Freihandelskampagne dafür, im irischen Parlament die legislative Unabhängigkeit Irlands durchzusetzen („Grattan’s Revolution“ von 1782). Whig und gemäßigter Befürworter
der katholischen Emanzipation, lehnte alle politischen Ämter ab, um den Anschein der Kooptation
durch das Kolonialregime zu vermeiden; unterstützte nach 1782 als unabhängiger Abgeordneter
die Politik der Regierung, ging aber bereits 1785 wieder in die Opposition, trat 1797 aus Protest
gegen die politische Linie der Regierung zwischenzeitlich aus dem Parlament aus, kehrte 1799
aber zurück, um gegen die staatliche Vereinigung Irlands mit Großbritannien (Act of Union) Widerstand zu leisten; startete im britischen Parlament eine zweite Karriere (1805-1820), wo er weiterhin für die gemäßigte katholische Emanzipation kämpfte und Whig-Positionen vertrat.
245
Beckett, Making, S. 219.
246
Tesch, Radicalism, S. 44.
247
Beckett, Making, S. 222; Dickson, New Foundations, S. 153f.; Lydon, Making, S. 247.
248
Die Volunteer-Delegierten in Dungannon ließen keinen Zweifel daran, daß sie bereit waren,
Reformen notfalls auch unter Umgehung des Parlaments herbeizuführen. Mit ca. 80.000 Mann
unter Waffen (Vgl. Dickson, ebd., S. 153) konnten die Volunteers nicht auf die leichte Schulter
genommen werden. Der Schlußteil ihrer Adresse an das Parlament enthielt eine unverhohlene
Drohung: „We know our duty to our sovereign, and are loyal. We know our duty to ourselves, and
are resolved to be free. We seek for our rights, and no more than our rights, and, in so just a pursuit, we should doubt the being of a Providence, if we doubted of success.” Zitiert nach Beckett,
Making, S. 222.
243
104
Nachfolger Rockingham stand irischen Autonomiebestrebungen aufgeschlossener
gegenüber – auch weil er vermeiden wollte, daß Irland sich in ein zweites Amerika und damit in ein weiteres britisches Fiasko verwandelte.249 Rockingham setzte
sofort ein Zeichen, indem er einen ausgewiesenen Liberalen, den Herzog von
Portland, zum neuen Lord Lieutenant ernennen ließ.250 In dieser Situation ging
alles plötzlich sehr schnell: Als das Parlament nach der Osterpause wieder zusammentrat wurde Grattans dritte Vorlage zur legislativen Unabhängigkeit am
16.4.1782 von beiden Häusern des irischen Parlaments sofort einstimmig angenommen.251 Im Juni widerrief das britische Parlament den Declaratory Act und im
Juli wurde Poynings’ Law vom irischen Parlament durch Yelverton’s Act modifiziert: Der Krone blieb lediglich ein Vetorecht vorbehalten und die beiden Kronräte verloren ihr legislatives Interventionsrecht.252 Die Ascendancy, die natürlich
weiterhin das irische Parlament dominierte, war damit auf dem Höhepunkt ihrer
Macht angelangt.253
Genau das aber war den Volunteers, die durch ihre Rolle in den politischen Ereignissen mittlerweile zur Speerspitze der außerparlamentarischen Opposition avanciert waren, ein Dorn im Auge: Man hatte nicht der Kolonialmacht die legislative
Autonomie Irlands abgetrotzt, bloß um der Ascendancy eine noch hemmungslosere Selbstbedienung zu gestatten. Die Volunteers betrachteten die legislative Autonomie lediglich als Sprungbrett für weitere Reformen. Moderate Volunteers wie
Lord Charlemont plädierten dafür, den „Patrioten“ im Parlament diese Aufgabe zu
überlassen. Radikalere Köpfe wie Henry Flood vertraten eine skeptischere Linie:
Notfalls müsse man das Parlament zu Reformen zwingen. Die Radikalen setzten
sich durch: Im November 1783 wurde in der Rotunda in Dublin ein nationaler
Volunteerkongreß abgehalten, auf dem Wahlrechtsreformen und Parlamentsreformen debattiert und ein Reformkonzept ausgearbeitet wurde, das in der Hauptsache auf Floods Ideen beruhte.254 Nachdem die Versammlung nach dreiwöchiger
Beratung am 29. November endlich einen Reformplan verabschiedet hatte, marschierte Flood, der auch einen Sitz im Unterhaus hatte, damit stante pede ins nur
249
McDowell, Protestant Nation, S. 234f. Außerdem hatte Rockingham bereits seit langem mit
der irischen Opposition kooperiert. Vgl. Maurer, Geschichte Irlands, S. 169.
250
Beckett, Making, S. 223.
251
Ebd.; Dickson, New Foundations, S. 154.
252
Dickson, ebd., S. 154f.; Maurer, Geschichte Irlands, S. 169f.
253
Maurer, Geschichte Englands, S. 307; ders., Geschichte Irlands, S. 169f.
105
eine halbe Meile entfernte irische Parlament.255 Noch in seiner Volunteeruniform
präsentierte er dort den Reformplan als Gesetzeseingabe „für eine ausgewogenere
(more equal) Repräsentation des Volkes im Parlament“.256 Barry Yelverton, selbst
ein profilierter „Patriot“, legte sofort Widerspruch gegen Floods Vorgehensweise
ein: „Wir sitzen hier nicht, um die Edikte einer anderen Versammlung zur Kenntnis zu nehmen oder um Vorschläge auf der Spitze eines Bajonetts entgegenzunehmen.“257 Die Repräsentanten der Ascendancy äußerten sich gleichfalls empört:
John Fitzgibbon fuhr Flood in die Parade, das Leben sei es nicht wert vom Willen
eines bewaffneten Demagogen abzuhängen.258 Die furiose Debatte, die nun ausbrach, endete nachts um drei Uhr mit einem deutlichen Abstimmungsergebnis:
Mit 157 zu 77 Stimmen lehnte das Unterhaus ab, Floods Gesetzesentwurf zu akzeptieren.259 Im Anschluß daran verabschiedete das Unterhaus noch zwei Resolutionen, in der die „perfekte Befriedigung“ mit dem konstitutionellen Status quo
und die Verwahrung gegen jegliche äußere Einmischung in die Amtsgeschäfte des
Parlaments zum Ausdruck gebracht wurde.260 Selbst Grattan, der Floods Gesetzentwurf unterstützt hatte, stimmte für diese beiden Resolutionen.261 Damit war die
oppositionelle Allianz gescheitert: Die Volunteers waren zwar über die Reaktion
des Parlaments empört, konnten sich aber unter der Führung des moderaten Charlemont auf keine aggressive Linie verständigen und lösten die Versammlung in
der Rotunda sine die auf.262 Die Gründe für dieses Scheitern liegen in der Position
der „Patrioten“: Die „Patrioten“-Opposition war zwar an einer Eindämmung des
britischen Einflusses interessiert, die ihre Machtposition im Parlament verstärkte,
nicht aber an grundlegenden Reformen, die den politischen Stellenwert des irischen Parlaments reduzierten. Darum waren sie nach der Abschaffung von Poynings‘ Law auch saturiert und schwenkten sofort ein, um mit der Ascendancy gemeinsame Sache für die Verteidigung des irischen Parlaments gegen die politi-
254
Beckett, Making, S. 231; McDowell, Protestant Nation, S. 235.
Beckett, ebd.
256
Ebd.
257
Zitiert nach ebd. (meine Übersetzung)
258
Lydon, Making, S. 249.
259
Beckett, Making, S. 232; Lydon, ebd., S. 249.
260
Beckett, ebd.
261
Ebd.
262
Ebd.; Lydon, Making, S. 249.
255
106
schen Forderungen der von den Volunteers vertretenen bürgerlichen Öffentlichkeit zu machen.
107
2. Ökonomische und soziale Konfliktstrukturen in Irland (1691-1782)
Einleitung. Die ökonomische und soziale Sphäre der irischen Gesellschaft war
während des 18. Jahrhunderts nicht minder kolonial überformt als die politische.
Darum wird in diesem Kapitel zunächst danach gefragt, welchen spezifischen
Beitrag koloniale Wirtschaftsbedingungen zur Entstehung gesellschaftlicher Konfliktpotentiale beisteuerten, indem die Genese und Entwicklung zentraler ökonomischen Gegensätze in der irischen Gesellschaft rekonstruiert wird. Erst im zweiten Schritt erfolgt dann die Annäherung an den Bereich der sozialen Ungleichheit.263 Die Sozialstruktur264 der irischen Gesellschaft im 18. Jahrhundert ist als
Resultat anderer gesellschaftlicher Entwicklungsfaktoren zu betrachten, unter
denen im vorliegenden Fall besonders koloniale und wirtschaftliche Faktoren hervorstechen. Daher bietet es sich an, erst die ökonomischen Entwicklungen zu analysieren,265 bevor man die daraus resultierenden sozialen Konsequenzen – vor
allem soziale Friktionen zwischen kolonial oder ökonomisch fundierten Bevölkerungsgruppen – erörtert.
Die Voraussetzung hierfür ist allerdings, daß man sich eingangs einen Überblick
über die grundsätzlichen Wirtschaftsparameter der irischen Gesellschaft verschafft. Diese Aufgabe ist aufgrund der Quellenlage und historiographischer Umstände jedoch nicht einfach zu lösen. Zentrale wirtschaftsgeschichtliche Quellen
über das 18. Jahrhundert wurden der Öffentlichkeit überhaupt erst im Zuge der
Öffnung des Public Record Office of Ireland im Jahr 1867 zugänglich gemacht.266
Nur wenige irische Historiker wagten sich an diesen ungeordneten Bestand und
nur einer – JAMES ANTHONY FROUDE – mit dem Ziel, eine umfassende Analyse
gesellschaftlicher (also auch wirtschaftsgeschichtlicher und sozialer) Entwicklun263
In Anlehnung an H.-U. Wehler wird ‚soziale Ungleichheit’ definiert als das „Ergebnis des
Zusammenwirkens von ungleicher Macht- und Herrschaftsverteilung, ökonomischer Lage und
kulturellen Entwürfen der Weltdeutung.“ Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1, S. 11.
264
Definiert als „Gesamtheit der relativ dauerhaften Grundlagen und Wirkungszusammenhänge
sozialer Beziehungen und der sozialen Gebilde (Gruppen, [Schichten – MR], Institutionen und
Organisationen) in einer Gesellschaft“, wobei die Gesellschaft als Gesamtheit eines gegebenen
oder vorgestellten Beziehungsgefüges von einzelnen, aber in interaktivem Austauschverhältnis
stehenden Komponenten begriffen wird. Vgl. Schäfers, Grundbegriffe, S. 330-332, Zitat S. 330.
265
Wobei ‚Wirtschaft’ kurz und bündig als Strukturen und Prozesse der Produktion, Distribution
und Konsumption ‚knapper’ gesellschaftlicher Ressourcen (Waren und Dienstleistungen) definiert
wird. Vgl. Schäfers, Grundbegriffe, S. 438.
108
gen vorzulegen.267 Nachfolgende Historiker am Ende des 19. und Anfang des 20.
Jahrhunderts – darunter auch der bedeutendste irische Historiker des 19. Jahrhunderts, W.E.H. Lecky – orientierten sich an seinen Thesen, so daß bis zur Zerstörung des Public Record Office of Ireland im irischen Bürgerkrieg 1922, in der
wichtige Quellen für immer verloren gingen, kein substantieller theoretischer oder
methodischer Fortschritt der irischen Wirtschaftsgeschichte zu verzeichnen ist.268
Durch die Aktenvernichtung wurde FROUDES Monopolstellung weiter zementiert:
Seine Thesen, die bis 1922 nicht grundlegend kritisch überprüft worden waren,
entzogen sich nun scheinbar aus quellentechnischen Gründen der Kontrolle.269
Erst in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre gingen revisionistische irische Wirtschafts- und Sozialhistoriker daran, FROUDES Thesen auf den Prüfstand zu stellen,
zu modifizieren und sukzessive zu neuen Interpretationen vorzustoßen.270
FROUDES Kernthese war, daß britisches Mißmanagement und mangelnde britische
Unterstützung für die anglo-irischen Kolonisten den Hauptgrund für die wirtschaftliche Zurückgebliebenheit der irischen Gesellschaft darstellten.271 Er zeichnete das düstere Bild einer anarchischen, korrupten und gesetzlosen Gesellschaft,
in der die anglikanische Kolonie zusehends verfiel, der Absentismus der Landbesitzer stieg, der Schmuggel florierte und alle anglo-irischen Bemühungen, in Irland eine florierende Wirtschaft aufzubauen, ‚englischem Neid’ zum Opfer fielen.272 Außerdem sei durch die absichtliche Nichteinhaltung der Strafgesetze gegen die Katholiken der Präsenz der protestantischen Anglo-Iren jede zivilisatorische Qualität genommen worden.273 Spätestens bei dieser letzten These horcht der
Leser auf: FROUDE war ein Ascendancy-Hardliner, ein anti-katholischer Falke.
266
L.M. Cullen, Economic Development, 1691-1750, in Moody/Vaughan, History of Ireland 4, S.
123-158, S. 123. (Fortan zitiert als: Cullen, ED I)
267
Vgl. J.A. Froude, The English in Ireland in the 18th Century, 3 Bde, London 1872-74.
268
So zumindest das Urteil von L.M. Cullen, der als einer der profiliertesten Kenner der irischen
Wirtschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts gilt. Vgl. Cullen, ED I, S. 127-129. Ähnlich auch S.J.
Connolly, 18th Century Ireland – Colony or Ancien Régime, in: Boyce/O'Day, Making, S. 15-33,
S. 17f. Zu Cullens Standing in der Debatte vgl. Connolly, ebd., S. 20-22.
269
Cullen, ebd., S. 123-130.
270
Connolly, 18th Century Ireland, S. 20-23.
271
Connolly, Companion, S. 210; Cullen, ED I, S. 124.
272
Froude, English in Ireland. Zum Absentismus vgl. Bd. 1 S. 277, Bd. 2, S. 22; zum Schmuggel
vgl. Bd. 1, S. 446-498; zum zivilisatorischen Einfluß der englischen Kolonie in Irland und ihrem
Verfall vgl. Bd. 1, S. 499f.; zu englischen Handelsrestriktionen vgl. Bd. 1, S. 263-268, 395, 398401; zur Gesetzlosigkeit vgl. Bd. 1, S. 408-445.
273
Froude, Bd. 1, S. 378. Antikatholische Bemerkungen sind in Froudes Werk so zahlreich, daß
kein Seitennachweis möglich ist. Man nehme einfach einen der drei Bände zur Hand, öffne ihn an
beliebiger Stelle und sobald die Sprache auf Katholiken kommt, hagelt es Invektiven.
109
Um so erstaunlicher ist es, daß seine Interpretationen zumindest partiell auch noch
nach der Unabhängigkeit Irlands salonfähig waren. Die republikanisch-irische
Nationalgeschichtsschreibung übernahm natürlich nicht den anti-katholischen,
sehr wohl aber den anti-englischen Argumentationsstrang. Als Paradebeispiel
dieser nationalistischen Wirtschaftsgeschichtsschreibung kann GEORGE O’BRIENs
Economic History of Ireland in the 18th Century von 1918 gelten.274 O’BRIEN
konstruierte einen scharfen Kontrast zwischen der Zeit vor und nach „Grattan’s
Revolution“: Seiner Interpretation zufolge wurde die irische Wirtschaft bis 1782
durch britische Interventionen vollständig ruiniert, während ab 1782 – angeblich
aufgrund der Befreiung vom britischen Protektionismus – in Irland ein Wirtschaftsboom einsetzte.275 Leider ignoriert diese These vollständig das ökonomische Langzeitwachstum, das sich in signifikanten Änderungen in der irischen Infrastruktur, der Landbewirtschaftung und dem enormen Wachstum der Leinenproduktion niederschlug.276
Aus dieser ideologischen Belastung der irischen Wirtschaftsgeschichte, deren
tatsächlicher Umfang hier nur angedeutet werden konnte, ergibt sich zwingend die
Notwendigkeit, zunächst die grundlegenden wirtschaftlichen Entwicklungslinien
und Faktoren zu identifizieren und zu gewichten.
a) Grundlegende Entwicklungslinien der irischen Wirtschaft (1691-1782)
Vier Faktoren waren für die Entwicklung der irischen Wirtschaft während des 18.
Jahrhunderts von zentraler Bedeutung: Irlands agronomische Wirtschaftsbasis,
das Bevölkerungswachstum, der Aufstieg der Textilproduktion zur Leitbranche
der irischen Volkswirtschaft sowie die kolonialen Rahmenbedingungen, unter
denen Wirtschaft betrieben wurde. Alle anderen ökonomischen Entwicklungen
sind daraus entweder direkt ableitbar oder aber aus dem Wechsel zwischen diesen
vier Faktoren erklärbar. Hier werden zunächst nur die ersten drei Faktoren abgehandelt, die kolonialen Wirtschaftsbedingungen, die im Zentrum des Interesses
stehen, werden separat diskutiert.
274
Connolly, 18th Century Ireland, S. 17.
G. O’Brien, The Economic History of Ireland in the 18th Century, Philadelphia 1977 (Reprint
der Originalausg. 1918), S. 173-289.
276
Cullen, ED I, S. 130.
275
110
Die agronomische Wirtschaftsbasis. Durch Irlands Mangel an ausreichend großen Kohle- und Eisenerzvorkommen – den conditiones sine quibus non für die
Industrialisierung im Nachbarland Großbritannien – war die irische Volkswirtschaft primär auf die Landwirtschaft angewiesen. Durch diese Abhängigkeit, die
nicht nur die Ernährung der Bevölkerung, sondern auch das irischen Manufakturwesen betraf, das zum überwiegenden Teil von der Weiterverarbeitung landwirtschaftlicher Produkte lebte, entstand ein klassisches „Bottleneck“-Dilemma: Wegen der relativen Inelastizität der Ressource Land ging die Expansion industriell
verwendeter Anbauflächen (für Flachs, Hopfen, Hanf etc.) stets zulasten der für
die Subsistenz benötigten Ackerfläche. Da der Landamelioration aufgrund der
Feuchtigkeit und Qualität der Böden enge Grenzen gesetzt waren, ließ sich die
Gesamtproduktivität der Landwirtschaft schließlich nur noch auf zwei Arten steigern: Entweder durch Erhöhung des Arbeitseinsatzes (wobei eine sinkende Produktivitätsrate pro Kopf in Kauf genommen werden mußte) oder durch die Subsitution des variablen durch konstantes Kapital (d.h. durch Maschinen oder effizienzsteigernde technische Neuerungen). Insgesamt bedeutete die landwirtschaftliche Fundierung der irischen Wirtschaft daher, daß eine finite Wachstumsgrenze
vorgegeben war: Wirtschaft und Bevölkerung konnten nur in dem Maß wachsen
wie es die Erträge des Bodens erlaubten – eine malthusianische Banalität mit beträchtlichen Konsequenzen, wie sich während der Hungerkrisen des 18. Jahrhunderts immer wieder zeigte.
Die zweite Folge der agronomischen Wirtschaftsbasis war eine regionale Differenzierung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und Performanz nach klimatischen Voraussetzungen und der Qualität der Böden. Grob vereinfacht verfügten
der Osten und Südosten Irlands – also Leinster und Ostmunster – über fruchtbareren Boden und weniger Niederschlag, während der Boden vor allem im Westen,
in Connacht, weniger fruchtbar ist und das Klima deutlich feuchter.277 Diese Unterschiede hatten Folgen für die Bewirtschaftungsformen: Die kommerzielle,
marktorientierte Landwirtschaft konzentrierte sich im Osten und Südosten, während die Subsistenzlandwirtschaft ihren Schwerpunkt im Westen hatte.278
277
Andrews, Geographer’s View, S. 19.
Dickson, New Foundations, S. 99f; L. J. Proudfoot, Urban Patronage and Social Authority,
The Management of the Duke of Devonshire’s Towns in Ireland, 1764-1891, S. 28f.
278
111
Das wiederum hatte Auswirkungen auf die sozialen Strukturen: Im Osten orientierten sich die Großgrundbesitzer an dem Ziel, möglichst hohe Marktprofite aus
dem Ernten zu erzielen. Diese Marktorientierung galt auch für den Einsatz von
Arbeitskräften: Durch langfristige Pachtverträge und die Verhinderung zu starker
Unterteilung der Ackerfläche in zu kleine Parzellen wurde das Bevölkerungswachstum in dieser Region unter Kontrolle gehalten. So entstand eine Schicht
kommerziell orientierter Groß- und Mittelpächter, die das Land mit ihrer Familie
und während der Erntezeit mit der Hilfe von ein paar Spalpeens (SaisonLandarbeiter) bearbeiteten. Aufgrund der wachsenden Konkurrenz um Pachtverträge stieg auch das durchschnittliche Heiratsalter, weil zukünftige Pächter ihre
Familienplanung hintanstellen mußten, bis es ihnen gelang, eine Pacht zu erwerben.279
Ganz anders dagegen stellt sich die Situation im Westen dar: Hier konnten die
Großgrundbesitzer wegen der schlechteren Böden größere Profite aus einer extremeren Unterteilung des Landes ziehen als aus Ernteerträgen. Deshalb ging es in
dieser Region vor allem darum, durch immer stärkere Parzellierung und kurze
Laufzeiten der Pachtverträge die Pachteinkünfte zu maximieren.280 Langfristig
resultierte diese Entwicklung jedoch zwangsläufig in sinkenden Pro-KopfEinkommen und drückte so große Teile der Landbevölkerung immer näher an das
Existenzminimum – und in Zeiten schlechter Ernten auch deutlich darunter.
Bevölkerungswachstum. Im Zeitraum von 1750-1845 war das irische Bevölkerungswachstum nach dem englischen und finnischen das dritthöchste in ganz Europa.281 Vor dem Hintergrund der Großen Hungersnot (1846-1850) ist dieser Entwicklung viel historiographische Beachtung zuteil geworden. Dennoch liegen das
exakte Ausmaß, ja, selbst der zeitliche Beginn dieses Bevölkerungswachstums
nach wie vor im Dunkeln, da vor dem irischen Zensus von 1821 keine verläßlichen Daten vorliegen. Alle Zahlen in der Literatur beziehen sich daher auf mehr
oder weniger zuverlässige Kalkulationen auf der Basis von Haussteuerlisten. Nur
soviel scheint sicher: In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wuchs die irische
Bevölkerung nur langsam, stagnierte – besonders während der Rezession der
279
Proudfoot, Patronage, S. 28f.; kritisch gegenüber dem Konzept der ‘dual economy’ dagegen
Smyth, Men, S. 24.
280
M. Beames, Peasants and Power, The Whiteboy Movements and Their Control in Pre-Famine
Ireland, New York 1983, S. 3; Proudfoot, Patronage, S. 27.
281
C. Ó Grada, The Great Irish Famine, London 1989, S. 12.
112
1720er Jahre – oder war womöglich sogar leicht rückläufig (während der Hungerkrise der frühen 1740er Jahre), während sie in der zweiten Jahrhunderthälfte sehr
dynamisch wuchs. Um eine ungefähre Vorstellung von der Größenordnung des
Bevölkerungswachstums zu bekommen: Vom späten 17. bis zum Ende des 18.
Jahrhunderts wuchs die Bevölkerung von etwa zwei auf rund fünf Millionen Menschen an, wobei diese beiden Zahlen lediglich als ungefähre Richtwerte aufgefaßt
werden sollten. 282
Die Ursachen des Bevölkerungswachstums sind ebenfalls bis auf den heutigen
Tag nicht abschließend geklärt. Darum muß es an dieser Stelle genügen, kurz einige Faktoren zu benennen, die eine Rolle in dem Prozeß spielten, ohne daß es
möglich ist, das relative Gewicht der einzelnen Faktoren zueinander zu bestimmen.283 Überhaupt erst ermöglicht wurde das starke Bevölkerungswachstum
282
Kenneth Hugh Connell, der Pionier der irischen Demographiegeschichte, schätzt, daß die
irische Bevölkerung zwischen 1687 und 1791 von 2,16 auf 4,75 Millionen anstieg. Hierbei ist von
Bedeutung, daß wegen der Rezession der späten 1720er Jahre und der verheerenden Hungersnöte
der 1740er Jahre das Bevölkerungswachstum stagnierte: zwischen 1725 und 1754 blieb die Bevölkerung bei etwa drei Millionen Menschen stehen. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zog
das Bevölkerungswachstum dann an. Diese Zahlen Connells korrigierten traditionelle Schätzungen, die im gleichen Zeitraum von einem Bevölkerungswachstum von 1,3 auf 3,85 Millionen
Menschen ausgingen Vgl. K.H. Connell, The Population of Ireland 1750-1845. Oxford 1950, S.
25. Durch nachfolgende Studien wurden Connells Zahlen aufgrund neuerer Erkenntnisse über die
Quellen und ausgefeiltere Kalkulationsmethoden wieder nach unten korrigiert. Daltrey, Dickson
und Ó Gráda nehmen in den kritischen 1740er Jahren eine effektive Bevölkerungsregression von
2,5 auf 1,9 Millionen Menschen an und siedeln das Bevölkerungsniveau in der ersten Jahrhunderthälfte bei deutlich unter drei Millionen an. Vgl. S. Daltrey u.a., 18th-Century Irish Population:
New Perspectives from Old Sources, in: Journal of Economic History 41 (1981), S. 601-628, S.
624. Clarkson wiederum nahm keine Bevölkerungsregression an, während sich aber ansonsten
seine Zahlen mit denen Daltreys und seiner Kollegen im wesentlichen decken. Vgl. L.A. Clarkson,
Irish Population Revisited, 1687-1821, in: J.M. Goldstrom u. ders. (Hgg.), Irish Population, Economy, and Society. Oxford 1981, S. 13-35, S. 26.
283
Für das vor allem in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts einsetzende Bevölkerungswachstum
hat man die unterschiedlichsten Gründe verantwortlich gemacht: das frühe Heiratsalter der vorwiegend katholischen Unterschichten, ihren Kinderreichtum, der durch die Umstellung der Ernährung auf eine billige, aber nahrhafte Kartoffel- und Milch-Diät ermöglicht wurde, eine konservative Sexualmoral, die keine Geburtenkontrolle in der Familie zuließ, ein Absicherungsbedürfnis der
Eltern, für die Kinderreichtum eine Versicherungs- und Altersvorsorgefunktion gehabt haben
kann, und fallende Mortalitätsraten. Fast alle diese möglichen Ursachen für das Bevölkerungswachstum sind aber mehr oder weniger heftig angezweifelt worden. Ó Gráda z.B. hält für die Zeit
vor dem Großen Hunger fest, daß das AAM (average age at marriage) für Irland nicht besonders
niedrig gewesen sei: 30 Jahre für Männer und 25,5 für Frauen. Vgl. C. Ó Gráda, The Great Irish
Famine. London 1989, S. 12ff. Drake hält die Bedeutung des Heiratsalters ebenfalls für übertrieben, gibt das AAM aber niedriger als Ó Gráda mit 25 Jahren für Männer und 22 Jahren für Frauen
an. Vgl. M. Drake, Population Growth and the Irish Economy, in: Cullen (Hg.), Formation of Irish
Economy, Cork 1968, S. 65-76, S. 67, 75. Cullen wiederum hat der Nahrungsumstellung als alleinige Ursache für das Bevölkerungswachstum widersprochen und deutlich gemacht, daß eine Nahrungsumstellung auch auf die ökonomische Entwicklung der unteren Strata der Landbevölkerung
zurückgeführt werden kann. Vgl. Cullen, Emergence, S. 140-171. Die Debatte zeigt, daß man in
Bezug auf die Wirkung einzelner Ursachen des Bevölkerungswachstums über Spekulationen
kaum hinauskommt. Mokyr und Ó Gráda zogen denn auch 1984 die insgesamt enttäuschende
113
durch die Umstellung der Ernährung der Landbevölkerung auf die Kartoffel. Die
Substitution des Haferbreis, der Haferkuchen oder – in anderen Regionen – der
Erbsen und Bohnen durch die Kartoffel hatte diverse Vorteile, die alle das Bevölkerungswachstum anheizten: Erstens ermöglichte es die Bewirtschaftung schlechterer Böden, weil die Kartoffel eine weniger anspruchsvolle Pflanze ist, zweitens
konnte die gleiche Anbaufläche deutlich mehr Menschen ernähren, wenn Kartoffeln anstatt Hafer angebaut wurden, drittens bedurfte die Kartoffel nach der Ernte
keiner weiteren Bearbeitung (sie mußte weder gedroschen noch gemahlen werden) und außerdem war die Ernährung aus Kartoffeln und Buttermilch außerordentlich gesund.284 Die Genügsamkeit der Kartoffel stimulierte die Nutzung
feuchter und steiniger Böden, vergrößerte also zumindest vorübergehend leicht
die Elastizität der Ressource Land. Gleichzeitig begünstigte der Ertragreichtum
der Pflanze aber auch die Parzellierung des Landes – mit dem Ergebnis, daß die
Bevölkerung weiter wuchs.285
Fallende Sterblichkeitsraten stellten den zweiten zentralen Faktor dar, der das
Bevölkerungswachstum beeinflußte. Zum Teil mögen diese auch durch die gesunde Ernährung mitherbeigeführt worden sein, wichtiger scheint jedoch gewesen
zu sein, daß Ernteausfälle seit den 1750er Jahren nicht mehr zu Hunger und Epidemien führten.286 Das wiederum hängt mit der Expansion der Leinenproduktion
und den steigenden Einkünften vieler irischer Familien aus dem Verlagswesen –
dem Spinnen und Weben von Leinenstoffen, das von den Frauen und Kindern
besorgt wurde – zusammen: Dadurch entstand eine zusätzliche EinkommensquelBilanz: „As for the period surveyed here [das 18. Jahrhundert - MR], three decades of debate have
not exhausted the questions raised by Connell. Many of the most interesting issues - the regional
dimension, the role of rural industry, the importance of religious factors, the extent of pre-Famine
adjustment to population pressure, the economic and social determinants of fertility and nuptiality
- remain controversial.“ J. Mokyr u. C. Ó Gráda, New Developments in Irish Population History,
1700-1850, in: Economic History Review 37, 4 (1984), S. 473-488, S. 488.
284
Zur Gesundheit der Ernährung vgl. Beams, Peasants, S. 2; Ó Gráda, Irish Famine, Tabelle 1.3,
S. 27, zum Unterschied im Ertrag vgl. Beames, ebd., der eine Kalkulation der Poor Inquiry Commissioners von 1830 vorlegt, wonach ein Acre (=ca 4050 qm) Anbaufläche mit Kartoffeln 1.920
Personen einen Tag ernähren kann, während die gleiche Anbaufläche Hafer nur 392 Personen
ernährt. Nicht unterschlagen werden sollen auch die Nachteile des Kartoffelanbaus. Kartoffeln
sind schlecht lagerbar und sie verursachen bei Beförderung höhere Transportkosten (vgl. Beames,
Peasants, S. 3), so daß die Kartoffelbebauung notgedrungen lokalen Charakters war: Es war daher
bei lokalen Engpässen unter den Transportbedingungen des 18. Jahrhunderts nicht möglich,
schnell Entsatz zu schaffen.
285
Entsprechend war die Bevölkerungsdichte im Westen, der Kernregion der Subsistenzlandwirtschaft, ungefähr doppelt so hoch wie im Osten und Südosten, wo die kommerzielle Landwirtschaft
dominierte. Vgl. Proudfoot, Patronage, S. 25f.
114
le, die Verluste aus der Subsistenzlandwirtschaft kompensieren konnte.287 Auch
die Einkünfte aus der Leinenproduktion stimulierten jedoch die Parzellierung,
weil nun weniger Land notwendig war, um eine Familie zu unterhalten. Das führte wiederum zu höherem Bevölkerungswachstum.
Im Gegensatz zu den Ursachen sind die Folgen der demographischen Expansion
mehr als deutlich: Unter den gegebenen Umständen bedeutete dynamisches Bevölkerungswachstum eine Verknappung der Ressource Land, entsprechend eine
größere Konkurrenz zwischen den Kleinpächtern, die sich wiederum in schlechteren Pachtbedingungen, höheren Pachten, kleineren Parzellen und sinkenden Einkommen der Kleinpächter niederschlug.288 Das Zusammenspiel von agronomischer Wirtschaftsbasis und Bevölkerungswachstum setzte so eine Pauperisierungsspirale in Gang, die zwar im 18. Jahrhundert noch nicht zu einem Crash in
der Größenordnung des Großen Hungers von 1846-50, aber gegen Ende des Jahrhunderts zu erheblichen sozialen Spannungen in der ländlichen Bevölkerung führte.289 Darüber hinaus senkte das Bevölkerungswachstum den Anreiz zur Technisierung der Landwirtschaft und verschlechterte das Investitionsverhalten der
Großgrundbesitzer. Da Arbeitskräfte zahlreich vorhanden und dementsprechend
billig waren, mußte zur Produktivitätssteigerung kaum in konstantes Kapital investiert werden.290 Darüber hinaus erklärt das Bevölkerungswachstum zusammen
mit dem dynamischen Wirtschaftswachstum in der zweiten Jahrhunderthälfte auch
das rasante Anwachsen der Städte: Je größer der Pauperisierungsdruck desto größer war auch die Anziehungskraft der Städte. Allein Dublins Bevölkerung wuchs
286
M.E. Daly, Social and Economic History of Ireland Since 1800, Dublin 1981, S. 5; Cullen, ED
I, S. 149f.
287
Cullen, ebd., S. 148f.
288
Beckett, Making, S. 173. Die Landpresie stiegen zwischen den 1660er und 1790er Jahren um
den Faktor 10. Vgl. Dickson New Foundations, S. 106
289
Wie groß die Armut war läßt sich anhand folgenden Zahlen exemplarisch ermessen: 1791/92
hatten 11 % der irischen Bevölkerung ein Bruttoeinkommen pro Kopf, das höher als 20 £ lag, 30
% ein Einkommen zwischen 20 und 5 £ und 59 % ein Einkommen von unter 5 £ pro Kopf. Vgl.
Dickson, New Foundations, S. 98.
290
Es gab sicher Verbesserungen – den Einsatz von Düngemitteln, die Einfuhr ertragreicherer
Rinder- und Pferderassen, ausgeklügeltere Formen der Anbaupflanzenrotation (vgl. Daly, History,
S. 3; Proudfoot, Patronage, S.46-48) –, aber der technische Fortschritt blieb – insbesondere im
Westen – unter seinen Möglichkeiten. Zu Verbesserungen, die von den Großgrundbesitzern
durchgeführt wurden, vgl. auch ebd., S. 107f.
115
zwischen 1685 und 1800 von ca. 65.000 auf knapp 200.000 Einwohner um mehr
als das Dreifache an.291
Textilproduktion als wirtschaftlicher Leitsektor. Das zentrale Problem der
irischen Landwirtschaft in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war die mangelnde Nachfrage nach irischen Agrarprodukten im Ausland. Aufgrund fehlender
Exportchancen und begrenzter Absatzmöglichkeiten auf dem relativ kleinen irischen Binnenmarkt, der um 1700 nur ca. zwei Millionen Verbraucher umfaßte,
führten gute Ernten daher eher zu fallenden Preisen für Agrarprodukte als zu einer
Profitsteigerung.292 Nur wenn in Irland die Ernten gut waren, während in angrenzenden Ländern die Ernten ausfielen oder Seuchen die Viehbestände dezimierten,
ließen sich kurzfristig substantielle Gewinne realisieren. So sorgten z.B. Ernteausfälle in Schottland 1698 in Irland dank des gestiegenen Exportaufkommens für die
schnelle Erholung von den Folgen des Stuart-Erbfolgekriegs.293 Analog dazu verursachte eine Rinderpest und schlechte Ernten auf dem Kontinent zwischen 1711
und 1714 einen Exportboom für Getreide, Rindfleisch und Butter, der kurzfristig
die Preise scharf ansteigen ließ.294 Sobald sich die Lage auf dem Kontinent jedoch
wieder beruhigt hatte, sank die Nachfrage nach irischen Agrarprodukten wieder.295 Rücklagen für schlechte Zeiten waren auf diese Weise kaum anzuhäufen.
Das Zusammenwirken von ungünstiger Exportnachfrage, schlechten Ernten und
kurzfristigen, aber extremen Preisfluktuationen machte die irische Volkswirtschaft in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts anhaltend anfällig gegenüber monetären und Versorgungskrisen. Obendrein wirkten sich Krisen im landwirtschaftlichen Bereich sofort wachstumshemmend auf die anderen ökonomischen Bereiche aus: Ernteausfälle sorgten wegen der inelastischen Lebensmittelnachfrage bei
höheren Preisen für die Grundversorgung in anderen Bereichen für Konsumrückgänge, umfangreiche Lebensmittelimporte in Krisenzeiten resultierten überdies in
291
Vgl. Proudfoot, Patronage, S. 31. Andere irische Handelszentren – vor allem Hafen- und
Marktstädte wie Cork, Limerick, Waterford oder Kilkenny – legten ebenfalls beträchtlich zu. Vgl.
M.L. Cullen, Economic Development, 1750-1800, in: Moody/Vaughan, History of Ireland 4, S.
156-195, S. 182 (fortan zitiert als Cullen, ED II); Foster, Modern Ireland, S. 203; für die Darstellung eines zeitgenössischen Beobachters vgl. Carty, Ireland, S. 129-131. Zusätzlich zur Migration
zwischen Stadt und Land stieg auch die saisonale Migration zwischen einzelnen Grafschaften,
etwa wenn Ernten, Jahrmärkte oder Bauvorhaben anstanden.
292
Cullen, ED I, S. 134, 142f.
293
Ebd., S. 133-135.
294
Ebd., S. 143.
295
Ebd., S. 144.
116
einer negativen Außenhandelsbilanz und schlechteren Wechselkursen.296 In der
ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es deshalb wiederholt zur Katastrophe:
1709/10 führte die Koinzidenz von schlechten Ernten und einem Einbruch der
Exportnachfrage zur Hungerkrise, 1726-28 zogen schlechte Ernten eine Hungernot und allgemeine Rezession nach sich.297 Am schlimmsten war jedoch die Hungerkrise von 1740/41: Schlechte Getreide- und Kartoffelernten im Jahr 1739 zehrten die Bevölkerung aus und als der scharfe Frost im Winter 1739/1740 zu einem
kompletten Ernteausfall führte, wurden die Menschen erst vom Hunger und dann
vom einer Fieberepidemie dahingerafft.298 Die Zahl der Todesopfer ist nicht exakt
zu bestimmen, muß aber sehr hoch gewesen sein: Zeitgenössische Zahlen
schwanken zwischen 80.000 und 400.000 Toten.299
Die potentiellen Folgen dieser strukturelle Schwäche der irischen Volkswirtschaft
wurden erst durch die Expansion der Leinenproduktion beseitigt, die bereits am
Anfang des Jahrhunderts allmählich begann, aber erst um die Jahrhundertmitte
ihre ganze Dynamik entfaltete.300 Gleichzeitig war die Leinenproduktion auch der
Motor der Kommerzialisierung der irischen Landwirtschaft und ein zentraler Stimulus für infrastrukturelle Verbesserungen301 und technische Innovationen. Insofern kann die Leinenproduktion zumindest in der zweiten Jahrhunderthälfte mit
Fug und Recht als Leitsektor und Schrittmacher der irischen Volkswirtschaft bezeichnet werden.
Für das beeindruckende Wachstum der Leinenproduktion302 gab es eine Reihe
von Gründen. Zum einen befreite die britische Regierung irische Leinenstoffe (als
Kompensation für den Exportverbot auf irische Wollstoffe) vollständig von Importzöllen, so daß die irischen Leinenstoffe auf dem britischen Markt (ab 1696)
296
Ebd., S. 145, 150.
Ebd., S. 145.
298
Ebd., S. 146, Beckett, Making, S. 174.
299
Beckett, ebd.
300
Cullen, ED I, S. 148f.
301
Der Straßenbau wurde vor allem in zwei Phasen während der 1730er und der 1760er Jahre
vorangetrieben, der Kanalbau begann bereits während der frühen 1730er Jahre, erreichte aber
seine Höhepunkte in den 1750er, frühen 1770er und 1780er Jahren. Vgl. Cullen, ED II, S. 183f.
302
1700 lag der Leinenexport noch bei 300.000 Yards p.a., 1730 schon bei über 4 Mio. Yards,
1750 wurde zum ersten Mal die 10.-Mio.-Yards-Schallmauer durchbrochen, aber der zweiten
Hälfte der 1760er Jahre oszillierte er um die 20-Mio.Yards-Marke, 1800 lag allein der Export bei
35,6 Mio. Yards in einem Gesamtwert von über 5 Mio. Pfund. Vgl. O’Brien, Economic History,
S. 202f; Proudfoot, Patronage, S. 27. Punktuell wurde sogar die 40-Mio.-Yards-Marke weit überschritten: 1796 lagen die Leinenexporte bei über 47 Mio. Yards. Vgl. Connelly, Companion, S.
317.
297
117
und in den britischen Kolonien (ab 1705) relativ billig abgesetzt werden und die
deutsche und niederländische Konkurrenz ausstechen konnten.303 Zum anderen
wurde die Branche in Irland mit der Gründung des Linen Board (1711) unterstützt, das seinen Einfluß auf das irische Parlament geltend machte, um günstige
rechtliche und fiskalische Rahmenbedingungen für die Leinenproduktion und den
Leinenhandel herzustellen. Außerdem stellte das Linen Board finanzielle Mittel
für die Erprobung und Verbreitung neuer Herstellungsmethoden und -techniken
bereit.304 Auch die Grundbesitzer vor Ort erkannten das wirtschaftliche Potential
der Branche: Sie begannen lokale Märkte einzurichten, um den Leinenhandel zu
fördern und bemühten sich, Weber auf ihrem Land anzusiedeln.305 Zusätzlich
wurde 1721 mit der Linen Hall in Dublin ein großer Umschlagsort für den Leinenhandel eingerichtet, der bis 1785 unangefochten den irischen Leinenexport
dominierte.306
Der zweite Grund für die rasante Expansion der Leinenherstellung war die schottische und hugenottische Einwanderung nach Ulster am Ende des 17. Jahrhunderts. Beide Immigrantengruppen verfügten über Expertise und Erfahrung mit der
Textilherstellung, insbesondere die hugenottischen Flüchtlinge aus Frankreich
auch über beträchtliches Kapital, das sie in die Leinenproduktion investierten.307
Entsprechend machte die Leinenherstellung in Ulster die rasantesten Fortschritte,
hier war auch die Technisierung am ausgeprägtesten.308 Auf diese Weise trug die
Leinenindustrie auch zur regionalen wirtschaftlichen Differenzierung bei: Das
303
Connelly, ebd.
W.H. Crawford, Domestic Industry in Ireland, The Experience of the Linen Industry, Dublin
1972, S. 3-6.
305
Crawford, ebd., S. 7, weist darauf hin, daß am Anfang des 18. Jahrhunderts Leinen zusammen
mit Vieh und Getreide auf den normalen Märkten verkauft wurde, bevor spezifische Märkte für
den Leinenhandel eingerichtet wurden. Diese konzentrierten sich ebenso in Ulster wie die Produktion des Leinenstoffs. Ebd., S. 15, werden die Namen der wichtigsten Marktorte für Leinen genannt: Belfast, Lisburn, Lurgan, Newry, Loughbrickland, Rahfriland, Banbridge, Dromore, Hillsborough, Richhill, Armagh, Tandragee, Loughgall, Dungannon, Caledon, Monaghan. Cullen, ED
II, S. 180f. gibt zusätzlich die Viehmärkte in Mullingar, Ballinasloe, Banagher und Athlone und
die Wollmärkte in Clonmel, Mullingar und Ballinasloe, auf denen Weber ihren Bedarf an Wollgarn für ihre Webarbeit decken konnten, als wichtige Komponenten des inneririschen Handels an.
Zu anderen Fördermaßnahmen lokaler Großgrundbesitzer für die Leinenproduktion vgl. Dickson,
New Foundations, S. 125.
306
O’Brien, Economic History, S. 200; Connelly, Companion, S. 318.
307
Vgl. Crawford, Domestic Industry, S. 1; Connelly, Companion, S. 317; E. O’Malley, Industry
and Economic Development, The Challenge of the Latecomer, Dublin 1989, S. 35; besonders
deutlich aber bei O’Brien, ebd., S. 199f., kritisch dazu Dickson, New Foundations, S. 125.
304
118
Zentrum der Leinenproduktion befand sich im sogenannten „Leinendreieck“ zwischen Belfast, Dungannon und Armagh, die Leinengarnspinnerei hatte ihren
Schwerpunkt in dem an das „Leinendreieck“ angrenzenden Gebiet in Westulster,
Nordconnacht und Nordleinster.309 Der Leinenexport konzentrierte sich auf Dublin.310 Lediglich das Hinterland Corks im Süden konnte sonst noch in bescheidenem Umfang an dem Leinenboom partizipieren, weil der Hafen von Cork und die
Corker Bankhäuser die zum Export notwendigen Transport- und Kapitalkapazitäten besaßen.311
Der entscheidende Faktor für die Expansion des Textilgewerbes war jedoch eine
stetig wachsende englische Nachfrage nach irischem Leinen und später auch
Baumwolle. Großbritannien verfügte zwar über eine eigene Leinenproduktion,
war aber schon im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts auf Importe angewiesen,
um seinen Leinenbedarf zu stillen.312 Im Laufe des 18. Jahrhunderts stieg diese
Nachfrage weiter und dehnte sich auf groben Leinen, Garne und später Baumwollstoffe313 aus, während gleichzeitig aus fiskalischen Gründen die Einfuhrzölle
auf Leinen vom europäischen Festland immer weiter angehoben wurden.314 Dadurch wurde der Export schottischen und irischen Leinens nach England begünstigt, so daß Irland und Schottland sich in diesem expandierenden und durch britischen Protektionismus geschützten Markt hervorragende Absatzmöglichkeiten
308
O’Brien führt hier die Einführung von Wasserkraft ab 1725, Verbesserungen am Spinnrad
(1764) und neue Bleichmethoden an. Vgl. O’Brien, ebd., S. 201; vgl. auch Dickson, ebd., S 126;
J. Bardon, A History of Ulster, Belfast 1992, S. 186.
309
Um den steigenden Bedarf nach Flachsgarn für die Leinenproduktion zu stillen, mußte die
Bebauungsfläche in diese Gebiete ausgeweitet werden. Zusätzlich mußte aber auch Flachs importiert werden, da die einheimische Flachsproduktion hinter dem Wachstum der Leinenproduktion
allmählich zurückblieb.
310
Erst am Ende des 18. Jahrhunderts konnte die Monopolstellung Dublins in diesem Exporthandel durch Belfast, Newry und Armagh fühlbar in Frage gestellt werden. Vgl. G. Ó’Tuathaigh,
Ireland Before the Famine, 1798-1848, Dublin 1972, S. 3.
311
Zur regionalen Verteilung und Spezialisierung in der Leinenproduktion vgl. Crawford, Domestic Industry, S. 5 (Karte), zum „Leinendreieck“ (linen triangle) vgl. Connelly, Companion, S.
317 u. Bardon, History, S. 185; zur Leinenproduktion im Süden vgl. Crawford, ebd. (Karte);
O’Brien, Economic History, S. 204; Daly, History, S. 11. O’Malley, Industry, S. 36 veranschlagt
den Anteil der südlichen an der gesamten Leinenproduktion relativ konstant mit 16-19% im Zeitraum 1770-1821.
312
Dickson, New Foundations, S. 126.
313
Die Baumwollproduktion in Irland wuchs deutlich langsamer als ihre schottische und englische Konkurrenz, was vermutlich damit zusammenhing, daß für die Baumwollspinnerei sehr viel
mehr technisches Know-how und größere Investitionen notwendig waren. Vgl. O’Malley, Industry, S. 36.
314
Dickson, New Foundations, S. 126.
119
sichern konnten.315 Großbritannien avancierte dadurch zum Fokus irischer Exporte: Hatten 1720 die Exporte nach Großbritannien nur 44 % des gesamten irischen
Exportvolumens ausgemacht, so lag diese Zahl im Jahr 1800 mit 85% fast doppelt
so hoch. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts lag der Anteil des Leinens an den
irischen Exporten nach Großbritannien stets deutlich über 50%.316 Das hatte zur
Folge, daß sich der Konjunkturzyklus der irischen Volkswirtschaft ab den 1760er
Jahren immer mehr dem der britischen Volkswirtschaft anglich.317 Diese Tatsache
reflektiert sowohl die Abhängigkeit von der britischen Nachfrage für irische Produkte wie die Schwäche des irischen Binnenmarktes, der allein von der Anzahl
der Verbraucher und der zum Konsum zur Verfügung stehenden Kapitalmasse
nicht in der Lage war, Exportkrisen aufzufangen oder zumindest abzufedern.
Abschließend müssen noch die sozialen Folgewirkungen der Leinenproduktion
kurz Erwähnung finden, die sich insbesondere auf Ulster, die an Ulster angrenzenden Regionen und die urbanen Zentren bezogen. Wo sich die Leinenproduktion durchsetzte, stieg die Bevölkerungsdichte, und damit nicht nur der Pachtspiegel, sondern auch das Ausmaß der Parzellierung. Ende des 18. Jahrhunderts war
die Grafschaften Armagh und Derry, die im Leinendreieck angesiedelt sind, die
dichtbesiedelsten Regionen Irlands.318 Gleichzeitig war die Bevölkerung in der
Leinenregion durch die Einkünfte aus dem Gewerbe gegen Versorgungskrisen
besser geschützt als anderswo und die soziale Struktur war deutlich egalitärer als
im Rest Irlands. Obendrein machte sich der Wohlstand aus der Leinenproduktion
auch allgemein positiv bemerkbar: Zeitgenössische Reiseberichte betonen immer
wieder, daß die Straßen und die Häuser der kleinen Leute in Ulster in einem deutlich besseren Zustand waren als im restlichen Irland, daß die Bevölkerung besser
ernährt und der Bildungsstandard höher war.319 Selbst die Emigration aus Irland,
die sich ab den 1760er Jahren auf einem relativ hohen Niveau einpendelte, spiegeln den Wohlstand in Ulster wieder: Rund drei Fünftel der 250.000 irischen
Auswanderer, die während des 18. Jahrhunderts emigrierten, stammten aus Uls315
Vgl. ebd.
Ó Tuathaigh, Ireland, S. 2f. Der Rest der Exporte bestand vorwiegend aus Getreide und Lebensmitteln. Vgl. O’Malley, Industry, S. 34. Noch 1773 wurden 90 % des in Irland produzierten
Leinentuchs nach Großbritannien exportiert. Vgl. W.H. Crawford, The Rise of the Linen Industry,
in: L.M. Cullen (Hg.), The Formation of the Irish Economy, Cork 1968, S. 23-35, S. 26.
317
Cullen, ED I, S. 151.
318
Crawford, Rise, S. 31.
316
120
ter.320 Da man für die Emigration gewisser Geldmittel für Überfahrt und Unterhalt
bedurfte, kann man diese Zahlen u.a. auch als Indikator für einen relativen
Wohlstand im Norden betrachten.
Als Resümee läßt sich festhalten, daß die irische Wirtschaft nach einigen temporären Einbrüchen in der zweiten Jahrhunderthälfte stetig und dynamisch wuchs.
Dieses Wirtschaftswachstum ging Hand in Hand mit einem beträchtlichen Bevölkerungswachstum, infrastrukturellen Verbesserungen, technischen Neuerungen,
der Kommerzialisierung der Landwirtschaft, dem Aufstieg der Leinenproduktion
und einer gewissen, regional differenzierten Prosperität der Bevölkerung. Dennoch standen die Zeichen der ökonomischen Großwetterlage beileibe nicht auf
eitel Sonnenschein. Insbesondere die Abhängigkeit von zwei Produktsparten (Agrarprodukten und Leinen) und von der externen (vor allem britischen) Nachfrage
nach irischen Produkten sowie der steigende Druck auf die Ressource Land, der
durch Emigration und industrielle Einkunftsquellen nur marginal abgefedert werden konnte, waren bedenklich. Mit Ausnahme des Nordens war die Verteilung des
neuen Wohlstands in einem so hohen Maß ungleich, daß daraus potentiell Gefahr
für den sozialen Frieden entstand. Während die landbesitzende Ascendancy durch
die ständig steigenden Pachteinkünfte kontinuierlich wohlhabender wurde, krebste die Landbevölkerung, die vor allem im Westen und Südwesten in einer Pauperisierungsspirale aus höheren Pachten und sinkendem pro-Kopf-Einkommen gefangen war, weiterhin am Existenzminimum herum. Da dieser soziale Antagonismus potentiell auch kolonial als Konflikt zwischen protestantischen Landbesitzern und katholischen Kleinpächtern gedeutet werden konnte, lag in dieser Konstellation erhebliche soziale und politische Sprengkraft.
319
Zu egalitären Sozialstruktur und der relativen Prosperität in Ulster vgl. Beckett, Making, S.
179-181.
320
Foster, Modern Ireland, S. 216.
121
b) Koloniale Strukturbedingungen des irischen Wirtschaftslebens (16911782)
Da nun ausreichend Informationen über die irische Wirtschaftsentwicklung vorliegen, kann die Frage nach dem kolonialen Faktor in Angriff genommen werden.
Wie zuvor schon im Kapitel über die politische Herrschaft wird auch hier der koloniale Einfluß auf die Wirtschaft in zwei Schritten diskutiert, indem zwischen der
Rivalität zwischen Großbritannien und Irland auf der einen und dem Antagonismus zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen in Irland auf der anderen Seite
unterschieden wird. Abweichend vom letzten Kapitel wird hier jedoch mit der
Rivalität zwischen Großbritannien und Irland begonnen, weil dieses Themenfeld
am umstrittensten ist. Zunächst gilt es also zu identifizieren, welche Einflüsse
Großbritannien auf die wirtschaftliche Entwicklung Irlands nahm, bevor im zweiten Schritt die heikle Frage zu beantworten ist, wie diese Einflüsse insgesamt zu
bewerten sind. Im Anschluß daran wird die innerirische Wirtschaftsrivalität zwischen den einzelnen kolonialen Bevölkerungsgruppen unter die Lupe genommen.
Da sich – soviel sei an dieser Stelle schon verraten – in Irland während des 18.
Jahrhunderts analog zur Konfessionalisierung der Politik auch eine Konfessionalisierung der Wirtschaft vollzog, wird hier das bewährte Muster aufgegriffen, von
der Spitze der Machtpyramide aus nach Marginalisierungstendenzen zu schauen,
bevor im zweiten Schritt die Perspektive umgekehrt und auf die Reaktionen gegen
diese Marginalisierungsversuche abgehoben wird.
Das koloniale Mutterland Großbritannien und die irische Wirtschaft. Im
Prinzip gab es zwei Wege, mittels derer die britische Kolonialmacht die irische
Wirtschaft beeinflussen konnte: Einerseits durch eine protektionistische Wirtschaftspolitik und andererseits vermittels ihrer schieren fiskalischen und ökonomischen Macht.
Seit den 1660er Jahren gab es eine Vielzahl von Gelegenheiten, bei denen Großbritannien durch protektionistische Gesetze in die Entwicklung der irischen Wirtschaft eingriff. Es würde zu weit führen, diese Maßnahmen alle einzeln vorzustellen. Darum mag die folgende tabellarische Übersicht für eine allgemeine Orientierung des Lesers genügen:
122
Jahr
Titel
1663
1666
15 Car. II, c. 8
20 Car. II, c. 7
22 & 23 Car. II, c.
2
1671
6 Geo II, c. 13
12 Geo. II, c. 55
1699
10 &11 Will. III,
c. 10
1705
12 Car. II, c. 4
3&4 Anne, c. 8
betroffene Branchen321
Restriktion des irischen Handels mit - Alle Exportbranden britischen Kolonien in Übersee. chen (vor allem
Lebensmittel)
Einfuhrverbot für irische Rinder
- Viehzüchter
nach GB, sukzessive auf Schafe,
- Milchbauern
Schweine, Pökelfleisch, Käse, Butter etc. ausgeweitet
Tendenz
Nachteil
Verbot des Direktimports von Waren aus den Kolonien nach Irland;
Zwischenhandel über GB erforderlich
Exportverbot für Wollstoffe; irische
Wollstoffe dürfen nur nach GB
ausgeführt werden, wo sie seit 1660
hohen Importzöllen unterliegen
Irischer Leinen darf direkt nach
Amerika exportiert werden
Kaufleute
Nachteil
- Wollstoffproduzenten
- Wollweber
Nachteil
Inhalt der Regelungen
Nachteil
- LeinenproduzenVorten
teil
- Leinenbleicher, weber und -spinner
7 Geo. I, c. 7
In GB wird das Tragen von impor- BaumwollproduNach1721
tiertem Baumwolltuch verboten
zenten
teil
4 Geo. II, c. 15
Hopfenimporte dürfen fürderhin nur - Brauereigewerbe
Nach1731
aus GB bezogen werden
teil
13 Geo II, c. 3
Importzölle auf die Einfuhr irischen - Wollproduzenten
Vor1740
Wollgarns nach GB werden abge- Wollspinner
teil
schafft
19&20 Geo. II, c. Exportverbot für Glasprodukte aus
- Glas- und Kristall- Nach1746
12
Irland, Glas darf nur aus GB nach
glasproduzenten
teil
Irland importiert werden
22 Geo. II, c. 33
Brit. Einfuhrzölle auf irisches Segel- - Produzenten groNach1750
tuch
ben Leinens
teil
Leinenweber und –
spinner
32 Geo. II, c. 12
Restriktion des Rinderimports nach - Viehzüchter
Vor1759
GB werden aufgehoben; Einfuhrer- - Milchbauern
teil
laubnis für Pökelfleisch und Butter
nach GB
10 Geo. III, c. 8
Einfuhr von irischen Rohhäuten und
Vor1770
Leder nach GB wird freigegeben
teil
20 Geo. III, c. 6,
Gleichstellung Irlands mit GB im
- Alle ExportbranVor1780
10, 18
Handel mit den Kolonien
chen (v.a. Lebensteil
mittel- und Textilgewerbe)
Foster’s Corn Law Exportregelungen für irisches Ge- Kornproduzenten
Vor1784
treide (Zölle, Gebühren, Subventioteil
nen etc.)
G 1: Britischer Protektionismus in Irland (1663-1784) (Quelle: O'Brien, Economic History)322
321
Diese Kategorie bezieht sich nur auf die primär von der Maßnahme betroffene(n) Branche(n).
Daß fast jede dieser protektionistischen Regelungen den Handel (und damit Kaufleute, Fuhrunternehmer, Reeder, Schiffsbauer, Faßmacher etc.) positiv oder negativ beeinflußte, versteht sich von
selbst.
123
Diese Liste britischer Handelsinterventionen belegt, daß Großbritannien von seinen protektionistischen Möglichkeiten durchaus Gebrauch machte. Die Frage ist
nun, wie diese Eingriffe zu bewerten sind.
Seit FROUDE lautet die klassische Antwort, daß der britische Protektionismus die
irische Volkswirtschaft komplett ruinierte, den Zugang zu allen Märkten nach
Belieben abschnitt und den irischen Markt mit britischen und britisch-kolonialen
Waren überschwemmte. Geradezu paradigmatisch hat GEORGE O’BRIEN 1918
diesen Standpunkt zusammengefaßt:
„Das Resultat der englischen Handelsrestriktionen war deshalb nicht nur, daß
Irland der englische Außenhandel und der Handel mit den Kolonien vorenthalten wurde, sondern auch daß es selbst daran gehindert wurde, den irischen
Verbraucher zu versorgen.“323
650000
600000
550000
500000
Exportmenge
450000
400000
350000
300000
250000
200000
150000
100000
50000
0
1
11
21
31
41
51
61
71
81
91
101
Jahr (von 1=1700 bis 101=1800)
einfacher Leinen in 100 Yards (gerundet)
Hafer in 100 Stones (gerundet)
Rindfleisch in Barrels
Starkbier in Barrels
Butter in Hundredweights
G 2: Irische Exporte im 18. Jahrhundert (Quelle: O'Brien, Economic History)324
322
Erläuterung zur Tabelle: Die Übersicht gibt nur die großen Maßnahmen wieder. Außerdem
liegt ihr Fokus auf den irischen Exportchancen, britische Versuche, ihren Export nach Irland zu
steigern wurden weitgehend ausgeblendet, weil hierzu keine verläßlichen Zahlen vorliegen und
O’Briens diesbezügliche Aussagen primär von verletztem Nationalstolz beeinflußt zu sein scheinen. Vgl. O’Brien, Economic History, S. 173-222 passim. Die Daten der Tabelle stützen sich vor
allem auf O’Brien, ebd.; flankierend wurde Moody/Martin, Course, S. 419-425 herangezogen.
323
O’Brien, ebd., S. 180.
324
Für die Datengrundlage des Diagramms vgl. ebd., S. 122f. (Haferexporte), 202f. u. 275 (Leinenexporte), S. 211 u. 279 (Starkbier), S. 222 u. 289 (Rindfleisch und Butter). Bemerkung zur
statistischen Validität des Diagramms. Fehlende Werte wurden interpoliert, Rundungen auf
1000er Einheiten sind in der Legende ausgewiesen, die alten Maße wurden beibehalten, weil
O’Brien für die Maßeinheit ‚Barrel’ keine Angaben gemacht hat, welche die Umrechnung in metrische Maße ermöglicht hätte.
124
Dieses Muster habe sich bis 1780 fortgezeichnet und darum, so O’BRIEN weiter,
müsse man zwischen zwei Wirtschaftsphasen unterscheiden: Einer „Restriktionsphase“ (1700-1780) und einer „Freiheitsphase“ (nach 1780).325
Die Sache hat nur einen Schönheitsfehler: Wie die obige graphische Darstellung
seiner Exportzahlen demonstriert, stützen O’BRIENS eigene Daten seine ZäsurThese nicht: Exportzuwächse lassen sich nach 1780 nur bei Leinen, Hafer und
Butter erkennen, die Bier- und Rindfleischexporte dagegen sanken jenseits seiner
Wendemarke zum Teil beträchtlich. Bei den Gütern, bei denen eine Zunahme des
Exports erkennbar ist, lassen sich außerdem auch schon vor 1780 deutliche Exportwachstumsschübe identifizieren: Bei den Butter- und Rindfleischexporten
bereits ab etwa 1710 und dann wieder ab der Jahrhundertmitte, bei Leinen – abgesehen von Einbrüchen Mitte der 1760er und in den frühen 1770er Jahren – sogar
ein relativ kontinuierlich steigendes Exportaufkommen ab der zweiten Hälfte der
1740er Jahre. Die Kontraktion der Rindfleisch- und Expansion der Getreideexporte (im Diagramm durch den Hafer vertreten) hingen miteinander zusammen und
indizieren einen Schwenk von Viehzucht auf Ackerbau ab den frühen 1780er Jahren.326 Das Fazit ist klar: O’Briens These ist Makulatur.
Kein Wunder also, daß die klassische Interpretation der ökonomischen Entwicklung Irlands von revisionistischen Historikern – vor allem von LOUIS MICHAEL
CULLEN – seit Mitte der 1960er Jahre zunehmend unter Beschuß genommen wurde.327 Nach revisionistischer Einschätzung war der Einfluß des britischen Protektionismus auf die Entwicklung der irischen Volkswirtschaft marginal, er habe die
irische Wirtschaft nicht substantiell beschädigt, sondern lediglich in andere Bahnen gelenkt.328 Für diese These spricht, daß sich bei näherer Betrachtung ein typisches Reaktionsmuster auf britische Wirtschaftsinterventionen herauskristallisiert:
Sobald der Zugang zu einem spezifischen Markt verstellt und der Export eines
bestimmten Produkts verboten worden war, orientierte sich die irische Wirtschaft
325
Ebd.
Foster, Modern Ireland, S. 199f.
327
Zu einer Darstellung von Cullens Einwänden gegen die klassische Interpretation vgl. Connelly, 18th Century Ireland, S. 20-22 u. ebd., S. 196f.
328
Connelly, 18th Century Ireland, S. 22. Vgl. auch L.M. Cullen, The Irish Economy in the 18th
Century, in: ders. (Hg.) The Formation of the Irish Economy, Cork 1968, S. 9-21; ders., Irish
Economic History: Fact and Myth, in: ebd., S. 113-124 sowie ders., ED II, S. 187, 192f.
326
125
kurzfristig auf neue Märkte und Produktsorten um.329 Auch die generelle Entwicklung der Exportzahlen spricht zumindest gegen eine langfristige Beeinträchtigung der irischen Wirtschaft durch den britischen Protektionismus.330
Im übrigen ist der Nachweis, daß hinter dem britischen Protektionismus die Intention stand, die irische Volkswirtschaft zu ruinieren, nicht zu erbringen, da lediglich zwei Regelungen des gesamten Maßnahmenkatalogs einer totalen Prohibition
gleichkamen (der Verbot der Wollstoffexporte und der Glasexporte).331 Obendrein
wurden die Restriktionen nicht dogmatisch, sondern pragmatisch gehandhabt:
Sofern die britische Nachfrage von der eigenen Wirtschaft nicht gestillt werden
konnte, wurden Restriktionen durchaus zurückgenommen, so daß die irische Wirtschaft immer wieder auch in den Genuß wachstumsfördernder britischer Einflüsse
kam.332 Ergo wurde der protektionistische Kurs Großbritanniens nicht von der
Frage bestimmt, was der irischen Wirtschaft schade, sondern davon, was der britischen nützte.
Abschließend darf auch nicht vergessen werden, daß sich Irland durch die Partizipation am Handel mit den transatlantischen britischen Kolonien erhebliche
Wachstumschancen eröffneten. Laut THOMAS TRUXES ist es jedoch schwer vorstellbar, daß Irland außerhalb der Strukturen des britischen Empire zu einem signifikanten Faktor im transatlantischen Handel avanciert wäre, dazu habe es zu
sehr an einem effizienten eigenen Handels- und Finanzsystem gemangelt. In diesem Aspekt sei die irische Wirtschaft stets von britischen Vermittlungsinstanzen
abhängig gewesen.333 Insofern war selbst ein eingeschränkter Zugang zu den
transatlantischen Märkten enorm wertvoll und half dem irischen Wirtschaftswachstum in der zweiten Jahrhunderthälfte deutlich auf die Sprünge. Auch die
Impulse, die von dem ausgedehnten irisch-britischen Handel für das irische
329
So führte etwa der Exportverbot für Rinder zu einem Wachstum des Exports von Rindfleisch,
Häuten und Talg oder der Verbot von Wollstoffexport zu einer Konzentration auf die Leinenproduktion oder auf die Produktion von Wollgarn.
330
Kurzfristige Beeinträchtigungen wurden darüber hinaus durch Schmuggelhandel gemildert,
wobei das Ausmaß dieses Schmuggels zwischen konservativen und revisionistischen Historikern
höchst umstritten ist. Vgl. wiederum O’Brien, Economic History, S. 186-188 und natürlich Froude, The English in Ireland. 1, S. 446-498, der das Thema in epischer Breite und im Stil eines Abenteuerromans abhandelt sowie auf der revisionistischen Gegenseite Cullen, ED II, S. 187-193.
331
Cullen, ebd., S. 192.
332
Vgl. G. 1, Eintrag von 1759.
333
Vgl. Thomas M. Truxes, Irish-American Trade 1660-1783, Cambridge 1988, S. 252f.
126
Wachstum ausgingen, dürfen nicht aus den Augen verloren werden wie ein Blick
auf die Entwicklung des irischen Bankwesens zeigt.334
Resümierend läßt sich also festhalten, daß die britische Kolonialmacht ganz offensichtlich ihre Macht auch ökonomisch nutzte, indem sie zum Vorteil der britischen Volkswirtschaft regulativ in ökonomische Prozesse in Irland eingriff. In
langfristiger Perspektive führte das jedoch nicht zu einer substantiellen Schädigung der irischen Wirtschaft. Pointiert formuliert, schränkten die britischen Interventionen lediglich die beträchtlichen wirtschaftlichen Chancen der irischen Wirtschaft ein, die diese ohne ihre Einbindung in die Wirtschaftsstruktur des britischen Empire überhaupt nicht gehabt hätte. Obwohl die Abwägung aufgrund der
komplexen Interaktion vieler verschiedener Wirtschaftsfaktoren schwierig ist,
erscheint die revisionistische Interpretation, welche den Einfluß des britischen
Protektionismus auf die ökonomische Entwicklung Irlands skeptisch beurteilt,
überzeugender als das klassische Erklärungsmodell.
Dessen ungeachtet war die ökonomische Kosten-Nutzen-Rechnung nicht ausschlaggebend für die zeitgenössische Wahrnehmung der britischen Wirtschaftsinterventionen in Irland. Insbesondere in den 1720er und 1770er Jahren – also in
Verbindung mit heftigen konstitutionellen Kontroversen – wurde immer wieder
auf das Gravamen des britischen Protektionismus abgehoben. Die irische Kritik
an britischen Eingriffen blieb dabei keineswegs auf exklusive Debattierzirkel oder
die Organe der Medienöffentlichkeit beschränkt: Die Dublin Society förderte ab
1731 irische Produkte; während der 1750er Jahre kam es wiederholt zu Boykottaufrufen, in den späten 1770er Jahren schlug die Freihandelsdebatte weite Kreise
und trug erheblich zu „Grattan’s Revolution“ bei. Auch während der 1780er Jahre
fanden „Buy-Irish“-Kampagnen statt, warben Geschäftsleute damit, daß sie ausschließlich irische (zumindest aber keine britischen!) Produkte im Angebot hatten,
waren „Patrioten“ darauf stolz, daß sie nur irische Stoffe (ab 1782 vorzugsweise
in der irischen Nationalfarbe Grün) trugen. Geschäftsleute, die sich dem ‚freiwilligen’ „Non-Importation-Agreement“ von 1784 nicht anschlossen, mußten mit
empfindlichen Verkaufseinbußen rechnen.335 Das alles zeigt, daß wirtschaftliches
Handeln zunehmend als politischer Akt wahrgenommen und behandelt wurde.
334
P. McGowan, Money and Banking in Ireland, Origins, Development and Future, Dublin 1990,
S. 5-16; Cullen, ED I, S. 151-158.
127
Diese Verquickung von Anti-Protektionismus und irischem Konstitutionalismus
war dafür verantwortlich, daß britischen Wirtschaftsinterventionen in Irland soviel kritische Beachtung geschenkt wurde, nicht ihre ökonomische Wirksamkeit.
Die Empörung der öffentlichen Meinung in Irland über die britischen Maßnahmen
war also eher politisch als ökonomisch begründet.
Die Konfessionalisierung der Wirtschaft. Wendet man sich nun der Frage zu,
welche wirtschaftlichen Auswirkungen das Kolonialsystem in Irland selbst hatte,
stößt man umgehend auf alte Bekannte: die Strafgesetze. Auf die gleiche Weise
wie sich die Ascendancy das politische Machtmonopol sicherte, versuchte sie
auch auf wirtschaftlichem Gebiet, eine unangreifbare Vormachtstellung zu erlangen. Der einzige wesentliche Unterschied bestand darin, daß die ökonomische
Exklusion sich allein gegen die irischen Katholiken richtete, während die Dissenter zumindest auf diesem Gebiet von der Verfolgung durch die Ascendancy verschont blieben.
In Irland war die Haupteinkommensquelle das Land. Darum ist es auch nicht verwunderlich, daß die Ascendancy vor allem darauf bedacht war, den katholischen
Landbesitz zu zerstören und das Land in ihren Besitz zu bringen. Der erste Schritt
dahin wurde während der Wilheminischen Landkonfiszierungen zwischen 1691
und 1703 unternommen. Durch die Enteignung der irischen Jakobiten, der vornehmlich katholischen Parteigänger Jakobs II., sank der katholische Anteil des
Grundbesitzes von 22 % auf 14%.336 Auf dem eingezogenen Land wurden teils
anglikanische und presbyterianische Immigranten angesiedelt, teils wurde es an
anglikanische Magnaten verkauft. Damit nicht genug wurde zwischen 1704 und
1709 durch die Strafgesetze ein System installiert, daß katholische Landbesitzer
derart unter Druck setzte, daß 1778 nur noch knapp fünf Prozent des Landes in
katholischen Händen waren.337 Wenn man sich vor Augen führt, daß 1641 noch
fast 60% des Landes Katholiken gehörte,338 dann wird die Größenordnung dieses
Wandels vollends deutlich: Innerhalb von nur 140 Jahren wechselte die Insel
praktisch ihren Besitzer.
335
Vgl. S. Foster, Buying Irish: Consumer Nationalism in 18th Century Dublin, in: History Today
47 (1997), S. 44-51.
336
Lydon, Making, S. 223.
337
Wall, Penal Laws, S. 220.
338
A. Clarke, The Colonisation of Ulster and the Rebellion of 1641, in: Moody/Martin, Course, S.
189-203, S. 201.
128
Die den Landbesitz betreffenden Passagen der Strafgesetze lassen sich grob in
zwei Bereiche – nämlich einerseits einen eigentums- und pachtrechtlichen und
andererseits einen erbrechtlichen – unterteilen. Beide dienten jedoch den gleichen
Zielen: Erstens den Status Quo der Landbesitzverteilung, der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstanden war, auf Dauer festzuschreiben und zweitens
das Landmonopol der Ascendancy nach Möglichkeit noch weiter auszudehnen.
Die wichtigsten Neuregelungen, die durch die ‚Popery Laws’ eingeführt wurden,
waren, daß Katholiken keinerlei Land käuflich erwerben durften, daß sie nur
Pachtverträge mit einer Laufzeit von nicht mehr als 31 Jahren abschließen durften
und daß der aus gepachtetem Land erzielte Profit zwei Drittel der Pachtsumme
nicht überschreiten durfte.339 Diese Regelungen zielten also ganz offensichtlich
darauf ab, daß der Anteil des katholischen Landbesitzes nicht wieder steigen sollte – auch nicht in der Form von Pachtverträgen mit Laufzeiten über mehrere Generationen – die Profitgrenze sollte den Wohlstand katholischer Großpächter mindern. An diesen Maßnahmen läßt sich deutlich die Angst der neu etablierten, noch
ungefestigten kolonialen Oberschicht vor einer katholischen Renaissance ablesen.
Selbst am Ende des 18. Jahrhunderts kursierten in protestantischen Kreisen immer
noch Gerüchte, die Katholiken verfügten über Landkarten, auf denen exakt die
alten Landbesitzverhältnisse von vor 1641 dokumentiert seien, und die wahlweise
nach einem katholischen Aufstand oder der politischen Emanzipation der Katholiken gegen die protestantischen Landbesitzer eingesetzt werden sollten.340
Die erbrechtlichen Passagen der Strafgesetze zielten schließlich auf die Atomisierung der Rudimente der alten katholischen Landbesitzerschicht ab. Indem für katholischen Landbesitz das Prinzip der Primogenitur suspendiert wurde, sollte dessen etwaiger Konsolidierung ein Riegel vorgeschoben werden. Das Kalkül war,
daß selbst die größten Güter nach ein paar Generationen zu kläglichen Flächen
zusammengeschmolzen sein würden, wenn sie zu gleichen Teilen unter der zahlreichen Nachkommenschaft katholischer Großgrundbesitzer aufgeteilt würden.
Der ökonomische Abstieg – aber auch die politische Bedeutungslosigkeit – dieser
Schicht war demzufolge nur eine Frage der Zeit. Noch tiefgreifender waren jedoch die Implikationen der erbrechtlichen Ausnahmeregelungen für katholische
Konvertiten (Umgehung direkter Verwandter in der Erbfolge, Alleinerbschaft,
339
340
Curtis/McDowell, Documents, S. 190.
Whelan, Gentry, S. 10f.
129
Degradierung des katholischen Landbesitzers zum Pächter eines konvertierten
Sohnes, partielle Eigentumsüberschreibung an konvertierte Ehefrauen usw.).341 Es
ist nicht verwunderlich, daß diese Gesetze besondere Erbitterung hervorriefen. Sie
wurden von katholischer Seite zurecht nicht nur als wirtschaftlicher Anreiz zur
Assimilation interpretiert. Die Tatsache, daß die Strafgesetze den katholischen
Landbesitzer – wie LECKY drastisch formulierte – dem „rebellischen Sohn“ oder
der „treulosen Ehefrau“ hilflos auslieferten,342 bedeutete auch eine enorme Belastung für die Stabilität katholischer Familiensolidarität.
Neben den Regelungen zum Landbesitz ist die ellenlange Liste effektiver Berufsverbote von Bedeutung. Da die meisten Regelungen politisch relevante Ämter
betrafen, sind sie größtenteils bereits diskutiert worden, so daß an dieser Stelle
einige Ergänzungen genügen. Aufgrund des Sacramental Test konnten weder Katholiken noch Dissenter in Irland Juristen werden, Katholiken waren überdies
auch – vom Dorfschullehrer bis zum Professor – von allen Lehrberufen ausgeschlossen. Außerdem blieben beiden Bevölkerungsgruppen die Tore des Trinity
College fest verschlossen, so daß sie in Irland keinen Zugang zu akademischer
Bildung besaßen.343
Zusammenfassend läßt sich also festhalten, daß die Strafgesetze umfassend festlegten, welche ökonomischen Möglichkeiten welchem Bevölkerungsteil nicht
zustanden. Die Grundbesitzrestriktionen für Katholiken erwiesen sich insgesamt
als der wirksamste Teil der wirtschaftlich relevanten Strafgesetze. Die Berufsangaben der Unterzeichner der Catholic Qualification Rolls von 1775-1776 zeigen
zwar, daß Grundbesitzer und Pächter innerhalb der katholischen Besitzschicht
immer noch eine prominente Stellung einnahmen – 256 Personen bezeichneten
sich selbst als ‘Gentlemen’ und weitere 148 Unterzeichner gaben ihren Beruf mit
‘Farmer’ an, demgegenüber stehen 213 Einträge von Kaufleuten –, aber eine einschneidende Reduktion katholischen Landbesitzes durch die Strafgesetze ist nicht
341
Zu den erbrechtlichen Regelungen vgl. Curtis/McDowell, Documents, S. 191-193.
Lecky, History of Ireland 1, S. 153.
343
In Parenthese ist hierzu jedoch anzumerken, daß diese Maßnahme ihre Wirkung fast vollständig verfehlte: Die Dissenter wichen an schottische Universitäten (vor allem nach Glasgow und
Edinburgh) aus; katholische Iren studierten im 18. Jahrhundert vorwiegend an Hochschulen auf
dem europäischen Festland – im katholischen Frankreich und Spanien, vereinzelt sogar in Österreich und Italien. Katholische Ärzte und Apotheker waren gegen Ende des 18. Jahrhunderts in
Irland beileibe keine Seltenheit – wenn man die Mitgliedschaft des Katholischen Komitees als
Maßstab zugrunde legt.
342
130
von der Hand zu weisen.344 Selbst bei Berücksichtigung der ca. 4.000 zwischen
1704 und 1771 registrierten Konversionen, die vorwiegend von katholischen
Großgrundbesitzern durchgeführt wurden, um ihren Besitz zu erhalten, ist diese
These nicht grundlegend zu modifizieren.345 Vom Grundbesitz in beträchtlichem
Maße, von allen öffentlichen Ämtern und vielen statuserhöhenden Professionen
generell ausgeschlossen, stellte sich die ökonomische Situation der irischen Katholiken am Jahrhundertanfang zunächst so dar, daß sie langfristig dem sozialen
Abstieg preisgegeben waren.
Katholische Wirtschaftsrenaissance. Trotzdem mißlang die ökonomische Marginalisierung der Katholiken auf lange Sicht: Im Laufe des 18. Jahrhunderts erlebten die irischen Katholiken eine eindrucksvolle ökonomische Renaissance.
Auf dem Land gelang es den Mitgliedern der alten katholischen Oberschicht trotz
der prohibitiven Regelungen der Strafgesetze, zu neuem Wohlstand zu kommen.
Viele ehemalige katholische Landbesitzer verfügten auch nach ihrer Enteignung
noch über genügend Kapital, um bei den neuen Herren große Landflächen zu
pachten,346 die sie dann teils selbst bewirtschafteten und teils gegen Gewinn unterverpachteten. Der verbreitete Absentismus protestantischer Großgrundbesitzer
344
Vgl. K. Whelan, The Regional Impact of Irish Catholicism, 1700-1850, in: ders./W.J. Smyth
(Hgg.), Common Ground. Essays on the Historical Geography of Ireland. Presented to T. Jones
Hughes. Cork 1988, S. 253-277, S. 263. Die Reduktion katholischen Landbesitzes vollzog sich
nicht über Nacht, sondern nur sehr langsam – ein Sachverhalt, der dadurch zu erklären ist, daß vor
allem die Erbregelungen der Strafgesetze nur über den Zeitraum von Generationen ihre volle
Durchschlagskraft entwickeln konnten. Darüber hinaus zeigt aber das Beispiel der Butlers of Ormonde in Kilkenny und Tipperary, der Plunketts und Taafes in Louth, der Devereuxs in Wexford
oder der Burkes in Galway, daß vereinzelte katholische Großgrundbesitzer trotz der Strafgesetze
in der Lage waren, ihre Latifundien zusammenzuhalten. Vgl. ebd., S. 258.
345
Vgl. Kee, Most Distressful Country, S. 28; Dickson, New Foundations, S. 74. Die These der
republikanischen Geschichtsschreibung, daß die konvertierten Katholiken sich automatisch der
anglikanischen Oberschicht anschließen mußten, weil sie von ihrer alten Peer-group nach dem
‘Verrat’ sozial geächtet wurden, ist von der neueren Forschung stichhaltig angezweifelt worden.
Konvertiten machten aus den pragmatischen Gründen für ihren Übertritt kein Hehl: Der frisch
konvertierte Besitzer von Oranmore soll z.B. auf die Frage des Predigers nach den Gründen für
seinen Übertritt zum anglikanischen Glauben nur trocken geantwortetet haben: „Oranmore“. Die
katholischen Zeitgenossen scheinen für solche Beweggründe mehr Verständnis aufgebracht zu
haben, als traditionell angenommen. Vgl. Foster, Modern Ireland, S. 206. Deshalb ist auch die
Zahl über den katholischen Anteil am Landbesitz von 1778 (nur 5%) mit Vorsicht zu genießen:
Rechnet man die pro-forma konvertierten Großgrundbesitzer hinzu, die weiterhin gute Kontakte
zur katholischen Gemeinschaft pflegten, dürfte die Zahl deutlich höher gelegen haben. Kevin
Whelan spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem katholischen Landbesitzanteil von 20
%. Vgl. Whelan, Gentry, S. 6.
346
Cullen, Emergence, S. 33; Lydon, Making, S. 225.
131
zu Beginn des 18. Jahrhunderts, das daraus resultierende „Middlemen-System“347
und ein Mangel an protestantischen Head Tenants (Hauptpächtern) resultierte
darin, daß vor allem im Süden und Westen Irlands viele ehemalige Besitzer in situ
blieben und als Middlemen zusammen mit ihren alten Pächtern ihr ehemaliges
Eigentum bewirtschafteten, das sich nun in den Händen anglikanischer Großgrundbesitzer befand.348 Die überkommene ländliche Sozialstruktur mit ihren gälisch-katholischen Familienbeziehungen und -loyalitäten blieb also zumindest
regional intakt – mit der Einschränkung, daß ihr eine numerisch schwache Suprastruktur aus protestantischen Großgrundbesitzern übergestülpt wurde. Unter diesen Bedingungen gelang es der katholischen Landbevölkerung viele Strukturen
aus der vorkolonialen in die Kolonialzeit herüberzuretten. Vor allem in Cork,
Kerry und Clare konnten katholische Middlemen viel von ihrem Einfluß bewahren. Sie hielten alte Clanloyalitäten durch Anschubfinanzierungen für Viehkäufe
ihrer katholischen Kleinpächter oder durch die bevorzugte Unterverpachtung an
Katholiken wach.349 Das soziale Ansehen katholischer Middlemen basierte daher
in der Landbevölkerung nicht allein auf Besitz, sondern auch auf ihrem Engagement für ihre katholischen Kleinpächter und auf ihrer familiäre Herkunft. Entsprechend groß konnte auch die soziale Autorität der katholischen Middlemen
sein: Sie fungierten oft als informelle Schlichtungsinstanz und hatten viel weniger
Probleme bei der Eintreibung der Pachtzinsen als anglo-irische Großgrundbesitzer
und Head Tenants.350 Daher setzten im Westen und Süden protestantische Großgrundbesitzer Katholiken vermehrt als Agenten und Verwalter ein, um sich
Schwierigkeiten mit ihren Kleinpächtern vom Leib zu halten.
347
Das Middlemen-System bestand darin, daß ein sogenannter Head Tenant (Hauptpächter) von
einem Großgrundbesitzer eine Pacht zu relativ langer Laufzeit und moderatem Pachtzins erwarb,
um das Land in kleineren Teilen bei geringeren Laufzeiten und höheren Pachtzinsen weiterzuverpachten. Bei den langen Laufzeiten der Pachtverträge der Middlemen ließ sich aus dem Anstieg
der Pachten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein beachtlicher Profit herausschlagen. In der
zweiten Jahrhunderthälfte ließ die Bedeutung des Middlemen-Systems kontinuierlich nach, weil
die Besitzer immer mehr darauf achteten, ihre Einkommensverluste, die aus der Unterverpachtung
entstanden, zu minimieren. Die Laufzeiten der Pachtverträge nahmen daher allgemein ab. Vgl.
Connolly, Companion, S. 359.
348
Weil Katholiken ihre Pacht weder verlängern noch vererben konnten, sahen sie zu, daß sie vor
allem in bewegliche Werte und nicht in Gebäude oder Ameliorationsmaßnahmen investierten. Der
klassische katholische Pächter des 18. Jahrhunderts war Viehzüchter - ein Satz, der durch steigende Rinder- und Butterpreise ab den 1720er Jahren weiter an Gültigkeit gewann.
349
Cullen, Emergence, S. 120.
350
Whelan, Gentry, S. 16-18.
132
Auch durch geschickte Familienpolitik und zähe Sparsamkeit gelang es katholischen Bauern in der Expansionsphase der kommerziellen Landwirtschaft in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, den sozialen Aufstieg zu bewerkstelligen.
Mit der Kooperation protestantischer Großgrundbesitzer (die oftmals selbst erst
vor kurzem zum Anglikanismus konvertiert waren) gelang es ihnen stellenweise,
die Erbbestimmungen der Strafgesetze durch informelle Absprachen zu unterlaufen, so daß inoffizielle katholische Erbpachten entstanden.351 Auch katholische
Landkäufe durch protestantische Strohmänner kamen vor. Eine geschickte, regional endogame Heiratspolitik sorgte zusätzlich für die notwendige soziale Vernetzung, um den Landbesitz zu erhalten und auszubauen.352
Insgesamt läßt sich festhalten, daß es den Rudimenten der alten gälischen Elite
gelang, trotz der Strafgesetze in der Landwirtschaft weiter eine wichtige Rolle zu
spielen. Zwei Faktoren waren hierfür ausschlaggebend: Das strukturelle Defizit
der kolonialen Überformung der ländlichen Gesellschaft in manchen Regionen
Irlands in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts – die numerische Schwäche der
Ascendancy und der Absentismus vieler Großgrundbesitzer – und der eiserne Zusammenhalt der überwiegend katholischen Landbevölkerung. Dieser konfessionelle Korporationsgeist, der Klassenantagonismen und -grenzen in der katholischen Landbevölkerung zumindest partiell nivellierte, resultierte tendenziell in
einer räumlichen Segregation: In den Regionen mit besonders hohem Absentismus konzentrierten sich katholische Middlemen, die wiederum Land an katholische Kleinpächter unterverpachteten. Alte Loyalitäten, gegenseitige Gefälligkeiten und nicht zuletzt die Bekräftigung sozialer Beziehungsachsen durch Heiraten
förderten die soziale Vernetzung und die Stabilität des katholischen Solidarverbands.
Das zweite Schlupfloch, das einen ökonomischen Wiederaufstieg der irischen
Katholiken zuließ, war der Handel, der von den Regelungen der Strafgesetze
weitgehend unberührt blieb und daher einen weißen Fleck bildete, in dem Katholiken ökonomische Entfaltungsmöglichkeiten fanden. Der Grund dafür, daß poten351
Ebd., S. 6 (collusive discoveries), 29 (Kooperation der Großgrundbesitzer); Foster, Modern
Ireland, S. 205 (collusive discoveries). Ein prominentes Beispiel für derlei unvorgesehene Kooperation findet sich auch bei Maurer, Geschichte Irlands, S. 143: Die Familie Daniel O’Connells, des
katholischen „Befreiers“ der 1820er und 1830er Jahre, schützte ihren Besitz vor dem Zugriff des
Regimes ebenfalls auf diese Weise.
352
Whelan führt hier insbesondere Heiraten zwischen Cousins und eheliche Verbingungen zwischen zwei Familien über mehrere Generationen an. Vgl. Whelan, Gentry, S. 30.
133
tielle katholische Handelsaktivitäten der Aufmerksamkeit des anglikanischen Parlaments entkamen, ist simpel: Das von Großgrundbesitzern dominierte irische
Parlament setzte die statusheckende Bedeutung des Handels viel zu gering an.353
Das Gros der Katholiken, die über ausreichend Kapital verfügten, nutzte diese
Lücke prompt und stiegen in den Handel ein. Bereits 1718 notierte der anglikanische Erzbischof William King alarmiert:
„Ich muß weiterhin feststellen, daß die Papisten sich dem Handel zugewendet haben, nachdem man es ihnen unmöglich gemacht hat, Land zu kaufen,
und sie haben schon beinahe den gesamten Handel des Königreichs unter ihre Kontrolle gebracht.“354
King übertrieb gewiß hinsichtlich des Umfangs der katholischen Handelsdominanz, aber in der Tendenz hatte er nicht unrecht: Die Katholiken waren auf dem
Vormarsch.355
Mehr noch: Sie waren nicht zu stoppen. Nach ersten katholischen Erfolgen im
Handel versuchten anglikanische Kaufleute zusammen mit den von ihnen dominierten Stadträten, sich der lästigen Konkurrenz zu entledigen. Das Privileg,
Kaufleute zum lokalen Handel in einer Stadt zuzulassen, lag bei den Kaufmannsgilden, die katholischen Kaufleuten diese Erlaubnis nach Möglichkeit verweigerten. Letztere mußten so (theoretisch) darauf gefaßt sein, daß ihre Waren aufgrund
fehlender Handelserlaubnis konfisziert wurden.356 Das erwies sich jedoch bald als
kaum durchführbar, während der katholischen Gegenstrategie, die auch hier auf
Korporationsgeist basierte, ein durchschlagender Erfolg war. Katholische Händler
und Kaufleute etablierten sich vor allem dort, wo sie die Mehrheit der Bevölkerung und damit auch der potentiellen Käufer stellten, also im Süden und Westen
Irlands (der Handel in Dublin, Belfast und Londonderry war und blieb fest in anglikanischer bzw. presbyterianischer Hand).357 Da es kein Gesetz gab, das Katholiken vorschrieb, bei Protestanten zu kaufen, sie anzustellen oder mit ihnen Handel
353
Vgl. Wall, Rise, S. 75f.
Zitiert nach Wall, Rise, S. 76. (meine Übersetzung)
355
Lydon, Making, S. 224.
356
Vgl. Wall, Catholics, S. 87.
357
An dieser Stelle muß der Umstand Erwähnung finden, daß sich das numerische Verhältnis von
Katholiken und Anglikanern v.a. in Cork, Waterford, Limerick und Galway durch die Zuwanderung von katholischer Landbevölkerung immer weiter zuungunsten der Anglikaner verschob.
Versuche der anglikanisch dominierten Stadträte, diese bedrohliche Entwicklung zu stoppen oder
wenigstens zu kanalisieren, scheiterten wie etwa 1704 in Limerick und Galway. 1762 waren z.B.
von den 14.000 Einwohnern Galways gerade noch 350 protestantisch. Vgl. Wall, Catholics, S. 86;
Lydon, Making, S. 224 (dort auch zum steigenden katholischen Einfluß in den westirischen Städten).
354
134
zu treiben, konnte in diesen Gegenden der Spieß problemlos umgedreht und die
protestantische Minderheit marginalisiert werden.358 Protestanten hatten kaum
eine Chance, ihren Fuß zwischen Tür und Angel zu schieben. Ein zeitgenössischer
anglikanischer Pamphletschreiber faßte die Situation mit den verbitterten Worten
zusammen:
„Aus der gegenseitigen Solidarität aller Menschen, die unter Unterdrückung
leiden, und aus einem gemeinsamen Haß auf ihre Unterdrücker, treiben sie
nur miteinander Handel und stellen sich stets gegenseitig an. Wenn ein Papist
unter dem Galgen eine Unze Hanf [für den Strick – MR] bräuchte, er würde
die protestantischen Läden links liegen lassen und nach Mallow Lane rennen,
359
um sie dort zu kaufen.“
Auch im Fernhandel erwies sich der katholische Korporationsgeist als tragfähig.
Ende des 17. Jahrhunderts war eine Reihe vermögender Katholiken nach Frankreich und Spanien ausgewandert, wo sie – von Nantes bis Cadiz – zum Teil sehr
erfolgreich Handelshäuser gründeten.360 Durch konfessionelle und auch familiäre
Verbindungen zu diesen irischen Exilanten auf dem europäischen Festland verfügten katholische Kaufleute über wertvolle Handelskontakte, so daß es ihnen
allmählich gelang, auch den Fernhandel mit Südfrüchten, Portwein und anderen
Waren aus Südeuropa unter ihre Kontrolle zu bringen.361
Schließlich gab es auch noch die Option, die Restriktionen der Gilden gezielt dadurch zu unterlaufen, daß der Handel vor die Stadttore verlegt wurde, wo er sich
außerhalb des Kontrollbereichs von Gilden und Stadträten befand.362 Bedenkt
man die Kaufkraft der katholischen Bevölkerungsmehrheit, dann liegt auf der
Hand, daß eine solche Taktik die Gilden und Stadträte sehr schnell zum Einlenken
zwang.
Da eine protestantische Dominanz des Handels unter diesen Umständen bereits in
den 1720er Jahren völlig illusorisch war, beschränkten sich die Anglikaner zunehmend auf Versuche, wenigstens den Umfang des katholischen Handels zu
kontrollieren: Katholiken wurden von den Gilden als sogenannte ‘Quartalsbrüder’
358
Die Grafschaften Cork und Kerry bilden hierfür wiederum ein schönes Beispiel: Die Produkte
katholischer Viehzüchter wurden von katholischen Viehhändlern aufgekauft und nach Cork City
gebracht, wo sie von Katholiken weiterverarbeitet und danach von katholischen Kaufleuten exportiert wurden.
359
Zitiert nach Wall, Rise, S. 83. Mallow Lane war eine Straße in Cork, in der die katholischen
Krämer und Händler ihre Läden hatten.
360
Vgl. Wall, Rise, S. 79, 83f. Laut Lydon, Making, S. 225, reichten die katholischen Handelsbeziehungen bis in die Karibik – nach Antigua, St. Kitts und Montserrat.
361
Vgl. Wall, Rise, S. 77.
362
Vgl. Wall, Catholics, S. 88.
135
zwar zum Handel zugelassen, aber wegen des Sacramental Test nicht in die von
Gildenmitgliedern dominierten Stadträte selbst.363 Das bedeutete im Klartext, daß
die katholischen Kaufleute zwar Abgaben zu entrichten hatten, aber kein politisches Mitspracherecht dafür erhielten. Dieses Kontrollinstrument stellte sich jedoch ebenfalls schnell aus zweischneidiges Schwert heraus, weil es gleichermaßen Angriffspunkte für katholischen Widerstand und Ansatzpunkte für die Organisation dieses Widerstands bot. Bereits 1717 begannen katholische Kaufleute
sich dem „Quarterage-System“ zu widersetzen, und 1758 wurde die Quarterage
schließlich von Katholiken vor Gericht erfolgreich angefochten.364 Diese ersten
Erfolge sorgten schnell für eine Ausdehnung des Widerstands gegen das „Quarterage-System“, so daß die Städte in den 1760er und 1770er Jahren mehrmals versuchten, die Quartalsbruderschaft für Katholiken vom Parlament gesetzlich verankern zu lassen. Im irischen Unterhaus stießen sie mit diesem Anliegen auf offenen Ohren: 1765, 1767, 1771, 1773 und 1778 wurden dort Gesetzesentwürfe verabschiedet, welche die Quarterage-Praxis gesetzlich absichern sollten365 Diese
Entwürfe wurden jedoch regelmäßig vom irischen Kronrat einkassiert, um das
katholische Investitionsverhalten nicht negativ zu beeinflußen und damit die
Steuereinkünfte des Staates zu reduzieren. Nach 1778 wurde schließlich kein Versuch mehr unternommen, die Handelsfreiheit der Katholiken einzuschränken. 366
Die letzte Möglichkeit, die katholische Handelstätigkeit einzudämmen – die Einführung prohibitiver Sondersteuern für katholische Kaufleute und Händler – hatte
nicht einmal im irischen Parlament Aussicht auf Erfolg. Zwischen 1692 und 1800
mußte im irischen Parlament mehrfach über Steuererhöhungen abgestimmt werden, um Budgetdefizite auszugleichen und das Gros dieser Steuererhöhungen betraf den Handel. Mit Sondersteuern hätte man das Handelsvolumen reduziert und
damit auch zwangsläufig die staatlichen Einkünfte geschmälert. Das durch diesen
Vorgang entstandene Budgetungleichgewicht hätte man entweder durch Einsparungen oder durch neue Steuern kompensieren müssen. Die Einsparungen hätten
direkt die Pfründen der Parlamentarier betroffen und neue Steuern hätten nach
363
M. Wall, The Catholics of the Towns and the Quarterage Dispute in Eighteenth Century Ireland, in: O'Brien/Dunne (Hgg.), Catholic Ireland in the 18th Century: Collected Essays of Maureen
Wall, Dublin 1987, S. 61-72., S. 63-65.
364
Vgl. ebd., S. 65f.; Dickson, New Foundations, S. 136.
365
Wall, ebd., S. 66-71.
366
Vgl. Wall, Catholics, S. 88; dies., Quarterage, S. 72.
136
Lage der Dinge nur auf Grundbesitz erhoben werden können – in einem Parlament, das vorwiegend aus Großgrundbesitzern bestand, eine gänzlich indiskutable
Option. Auf diese Weise setzte sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts allmählich unter den Anglikanern aus wirtschaftlichen Gründen – und auf Druck
Englands bzw. der sich langsam organisierenden katholischen Mittelschicht –
allmählich die Ansicht durch, daß man im Interesse des allgemeinen Wohlstands
nicht versuchen dürfe, katholische Handelsaktivitäten einzuschränken.367 Auch in
puncto Landbesitz stand die Ascendancy letztlich auf verlorenem Posten: Nachdem zwischen 1746 und 1774 mehrere Gesetzesvorlagen, in denen den Katholiken längere Pachtverträge zugestanden werden sollten, an der konservativen
Mehrheit im Parlament gescheitert waren, wurde den Katholiken 1778 zugestanden, Pachtverträge über den Zeitraum von 999 statt 31 Jahren abzuschließen. Die
entscheidende Wende aber brachte auch hier „Grattan‘s Revolution“: 1782 wurde
den Katholiken wieder erlaubt, Land regulär zu kaufen, 1792 und 1793 wurden
auch die meisten Berufsverbote aufgehoben.368 Die katholische Mittelschicht hatte sich also wirtschaftlich nicht nur wieder fest etablieren können, es gelang ihr à
la longue überdies, die zentralen wirtschaftlichen Regelungen der Strafgesetze zu
überwinden.
c) Soziale Konfliktpotentiale als Folge der ökonomischen Entwicklung
(1691-1797)
Die ökonomische Entwicklung Irlands im 18. Jahrhundert – insbesondere das dynamische Wachstum während der zweiten Jahrhunderthälfte – blieb nicht ohne
einschneidende soziale Folgewirkungen. Die koloniale Substitution der alten ka367
Wall, Catholics, S. 90f.
Diese Gesetze erwiesen sich als geeigneter, die kommerzielle Dominanz der Katholiken einzuschränken, als alle Quarterage Bills. Wegen des höheren gesellschaftlichen Ansehens zogen sich
viele Katholiken aus dem kommerziellen Leben zurück, wenn sie genug verdient hatten, um sich
als ‘landed gentlemen’ niederlassen zu können. Vgl. A. W. Hutton, Arthur Young’s Tour in Ireland. London 1892, Bd. 2, S. 247f. Joe Lee gibt neben dem Sozialprestige auch handfeste ökonomische Gründe als Erklärung für dieses Phänomen an :„(...) it is nonetheless true that many business families viewed business as a halfway house on the way to a higher and better way of life
among the professional or landed classes. Business was felt to be all very well for a man on the
make, but not for a made man. And apart altogether from the question of social prestige, there
were sometimes sound economic reasons for preferring a professional or landed income to a business one - it was often higher, and usually more certain.“ J. Lee, Capital in the Irish Economy, in:
L.M. Cullen (Hg.), Formation of the Irish Economy, S. 53-63, S.56.
368
137
tholischen Landbesitzerelite durch die anglikanische Ascendancy, die Entstehung
eines neuen katholischen Mittelstands aus Kaufleuten und Middlemen (bzw.
Großpächtern), die Kommerzialisierung der Landwirtschaft, die Pauperisierung
der ländlichen Unterschichten, das rasante Bevölkerungswachstum und die Migration zwischen Stadt und Land (mit einem eindeutigen Überhang der Wanderung
vom Land in die Stadt, der sich in einer explosionsartigen Expansion der urbanen
Zentren niederschlug) – all diese Indizien für einen tiefgreifenden sozialen Wandel der irischen Gesellschaft im 18. Jahrhundert haben bereits Erwähnung gefunden. Abschließend gilt es nun zu klären, wie dieser soziale Wandel die Genese
und Entwicklung innergesellschaftliche Konfliktpotentiale beeinflußte. Hinter
dieser Frage steht schließlich das Erkenntnisinteresse, diejenigen Reservoirs sozialer Unruhe zu identifizieren, die bei entsprechenden Politisierungsbemühungen
von interessierten Kreisen potentiell auch für nationalpolitische Ziele mobilisiert
und nutzbar gemacht werden konnten. Unterschwellig geht diese Fragestellung
von der Hypothese aus, daß sich ein so einschneidender sozialer Wandel nicht
ohne krisenhafte Verwerfungen in der Sozialstruktur, nicht ohne einen zumindest
temporären oder partiellen Zusammenbruch der althergebrachten Ordnung vollziehen konnte. Der Übersichtlichkeit halber werden Resistenzen gegen den Wandel zunächst auf dem Land und dann in der Stadt untersucht, wobei diese Anordnung expressis verbis auch als Aussage über die relative Bedeutung der Resistenzresiduen verstanden werden will.
Soziale Konflikte auf dem Land. Zu Konflikten kam es im sozialen Wandlungsprozeß nicht nur zwischen Großgrundbesitzern und Pächtern über die Höhe
der Pachten und die Pachtkonditionen, sondern auch zwischen den Großgrundbesitzern, Behörden und Kirchen auf der einen und den Pächtern auf der anderen
Seite über die Art, Höhe und Verteilung der steuerlichen Belastungen. Außerdem
sind Kommerzialisierungs- und Konkurrenzkonflikte zwischen verschiedenen
Sparten der Landwirtschaft (insbesondere zwischen Viehzüchtern und Ackerbauern) sowie zwischen verschiedenen Pächtergruppen um die Ressource Land feststellbar.369 Zum Teil lassen sich diese Konflikte auch als Antagonismus zwischen
369
Zur Art sozialer Unruhe auf dem Lande vgl. summarisch A. Zeller, Irische Argrarbewegungen,
1760-1880, Frankfurt/M. 1989, S. 119f.; Beames, Peasants, S. 27-31.
138
Modernisierungsbefürwortern und -gegnern interpretieren.370 Diese an und für
sich schon konfliktreiche Gesamtsituation wurde zusätzlich durch konfessionellkoloniale Wahrnehmungsmuster überschattet, die einem friedlichen Konfliktmanagement alles andere als dienlich waren. Das Resultat war eine Vielzahl miteinander verzahnter, strukturell begründeter, schwelender Konflikte, die nur geringfügiger Anlässe bedurften, um zum Ausbruch sozialer Unruhen und gewaltsamen
Protests zu führen.
Die Träger dieser Unruhe stammten primär aus den Reihen der ländlichen Unterschichten vom Kleinpächter und Subsistenzfarmer zum Landarbeiter und Tagelöhner, denn diese sozialen Gruppen hatten – salopp formuliert – am wenigsten zu
verlieren.371 Dennoch ist damit die soziale Zusammensetzung des ruralen Konfliktpotentials nicht ganz korrekt beschrieben: Bei Interessenkonvergenz tolerierten auch wohlhabendere Landwirte und Großpächter partiell und punktuell den
gewaltsamen Protest der deprivierten Unterschichten. Teilweise zogen Mitglieder
der ländlichen Mittelschicht sogar im Hintergrund die Fäden und partizipierten in
Führungspositionen an den Aktionen ländlicher Geheimbünde und Agrarbewegungen.372
Formen sozialer Unruhe auf dem Land. Soziale Unruhe auf dem Land äußerte
sich in Irland im 18. Jahrhundert auf zwei Weisen: Erstens als spontaner, räumlich
begrenzter agrarischer Protest, der sich ebenso rasch wieder verlief wie er entstand. Weil viele der oben erwähnten Konflikte strukturell in der irischen Agrarkonstitution angelegt waren, gab es eigentlich ständig Grund für Protestäußerungen. Dennoch gefährdete diese Form der sozialen Unruhe – ungeachtet ihres tendenziell ubiquitären Charakters – die Stabilität der ländlichen Gesellschaft nicht
nachhaltig, da sie lediglich ein Ventil für hochgradig individuellen und spezifischen Protest bot.373
370
S. Clark u. J.S. Donnelly Jr. (Hgg.), Irish Peasants, Violence and Political Unrest, 1780-1914,
Madison (Wisconsin) 1983, S. 4-12.
371
Clark/Donnelly, Peasants, S. 17f., zur Diskussion abweichender Ansätze, die den agrarischen
Mittelstand als den Kern ruralen Widerstands betrachten vgl. ebd., S. 16f.; Zeller, Agrarbewegungen, S. 130.
372
Zeller, Agrarbewegungen, S. 130.
373
‚Individuell‘ und ‚spezifisch‘ bedeutet, daß der Protest nur gegen die Person eines bestimmten
Verpächters gerichtet war, nur von einer Handvoll Leute ausgeübt wurde, bestenfalls lokal für
Aufsehen sorgte und nicht über einen langen Zeitraum aufrecht erhalten wurde. Hierzu zählt also
etwa die Rache eines vertriebenen Pächters an seinem Grundherren oder die Bedrohung eines
Zehntgeldeintreibers, der als besonders korrupt galt.
139
Die zweite Form sozialer Unruhe wurde der gesellschaftlichen Stabilität dagegen
wesentlich gefährlicher. Sie wurde von agrarischen Untergrundorganisationen
getragen, die lose organisiert über die Grenzen mehrerer Baronien oder sogar
Grafschaften hinaus aktiv waren, gewisse Gemeinsamkeiten aufwiesen374 und die
Behörden über Monate und Jahre in einem solchen Ausmaß beschäftigten, daß
Ausnahmezustände verhängt, zusätzliche Truppen in den betroffenen Gebieten
stationiert und Sondergerichte einberufen wurden.375 Nicht nur die Organisation
dieses Protests war ausgefeilter als bei dem spontanen, räumlich begrenzten Protest: Die Agenda dieser Untergrundorganisationen wies in der Regel expansive
Tendenzen auf, konzentrierte sich anfangs auf ein spezifisches agrarisches Gravamen bevor sie sukzessive andere Konfliktpunkte aufgriff.376 Generell blieben
die Ziele dieser Organisationen darauf beschränkt, regulativ auf Seiten der Kleinpächter und Landarbeiter in agrarische Konflikte einzugreifen, obwohl gelegentlich – etwa bei den Defenders – auch weiterreichende politische Ziele feststellbar
sind.
„Faction fighting“. Insbesondere in den unzugänglichen Gebirgs- und Moorregionen im Westen und Südwesten Irlands, wo die Magistrate nur mühsam den äußeren Anschein von Gesetzmäßigkeit gegen Schwarzbrenner, Schmuggler und Briganten aufrecht erhalten konnten, gedieh der gewaltsame agrarische Protest besonders gut. Ein weiterer gewaltfördernder Faktor in diesem Szenario war das
sogenannte „Faction-fighting“, das auf Jahrmärkten, bei Pferderennen und Festen
regelmäßig darin Ausdruck fand, daß Gruppen junger Männer aus verfeindeten
Dörfern oder Familien Anlässe suchten, um ritualisierte Handgemenge auszutragen, in denen es oft Verletzte und nicht selten auch Tote gab.377 Diese Gewaltbereitschaft junger Männer fand auch Eingang in die Agrarbewegungen und trug
hier offenbar zur Eskalation der Gewalt bei.378 Jedenfalls fällt die räumliche Koinzidenz zwischen „Faction-fighting“ und Agrarbewegungen auf: Das „Faction-
374
Hierzu zählen gleiche Initiationsriten mit elaborierten Eidformeln, äußere Erkennungszeichen
wie Kleidungsstücke oder Abzeichen, aber auch die „Handschrift“ ihres Vorgehens. Vgl. Zeller,
Agrarbewegungen, S. 131.
375
Ebd., S. 128-131.
376
Das klassische Beispiel hierfür bilden die Whiteboys. Vgl. M. Wall, The Whiteboys, in: T.D.
Williams (Hg.), Secret Societies in Ireland, Dublin 1973, S. 13-25., S. 23f.; Smyth, Men, S. 34.
377
Zeller, Agrarbewegungen, S. 108-109.
378
Ebd., S. 114-117.
140
fighting“ konzentrierte sich im Westen und Südwesten Irlands, wo sich ab den
1760er Jahren auch die Hochburgen agrarischen Protests befanden.379
Phasen ländlicher Unruhe. In Hinsicht auf die zeitliche Verteilung der Äußerungen sozialer Unruhe auf dem Land läßt sich das 18. Jahrhundert in drei Phasen
unterteilen: Eine Phase jakobitisch-sozialökonomisch motivierten Protests zwischen 1691 und 1713/14, eine Phase relativer Ruhe zwischen 1715 und 1760,380 in
der nur wenig und lokal begrenzter Protest zu verzeichnen ist, und einer Phase
heftiger sozialer und konfessioneller Auseinandersetzungen, die bis zum Ende des
Jahrhunderts anhielten. Hier waren diverse Agrarbewegungen regional und überregional in Intervallen von mehreren Jahren aktiv und sorgten für erhebliche Störungen in der ländlichen Gesellschaft.
Rapparees. Die erste Phase wurde zunächst vom Treiben der bereits erwähnten
Rapparees geprägt. Obwohl sich ihre Überfälle kaum von denen hergelaufener
Straßenräuber unterschieden, genossen sie gerade in den katholischen Unterschichten auf dem Land hohes Ansehen: In Balladen wurden sie als Beschützer
der kleinen Leute vor der Willkür der anglo-irischen Großgrundbesitzer gefeiert.
Selten fehlte das sozialromantische Umverteilungs-Topos à la Robin Hood, daß
die Rapparees Reiche bestahlen und ihre Beute mit den „armen Leuten“ teilten.381
Die Bedeutung der Rapparees liegt zum einen darin, daß sie eine VolksheldenTradition begründeten, in die sich am Ende des 18. Jahrhunderts einige United
Irishmen – vor allem Joseph Holt und Michael Dwyer – nahtlos einreihen konnten, als sie sich nach der Niederschlagung der Rebellion von 1798 in die Wicklow
Mountains zurückzogen, um von dort aus ihren Kampf fortzusetzen.382 Zum anderen äußerten Zeitgenossen die Befürchtung, daß die Rapparees agrarische Unruhen in den Augen der ländlichen Unterschichten salonfähig gemacht und so die
Hemmschwelle für den Ausbruch ländlicher Gewalt gesenkt hätten.383 Drittens
legten die Rapparees schließlich die Basis für die konfessionelle Wahrnehmung
379
Ebd., S. 112-114.
Auch in dieser Zeit gab es jedoch punktuell Unruhen wie etwa während der Hungersnöte von
1741 und 1756, um den Export von Getreide zu verhindern. Vgl. Wall, Whiteboys, S. 13.
381
Beames, Peasants, S. 22.
382
Vgl. T. Bartlett, 'Masters of the Mountains': The Insurgent Careers of Joseph Holt and Michael
Dwyer, County Wicklow, 1798-1803, in: K. Hannigan/W. Nolan (Hgg.), Wicklow – History &
Society. Interdisciplinary Essays on the History of an Irish County, Dublin 1994, S. 379-410.
Michael Dwyer blieb bis 1803 aktiv, ergab sich dann, wurde nach Australien ins Exil gebracht, wo
er es 1815 zum High Constable von Sydney brachte.
383
Beames, Peasants, S. 22.
380
141
der nachfolgenden Agrarkonflikte durch die Großgrundbesitzer. Wegen der Erfahrungen mit den Rapparees konnte daher selbst bei eindeutig sozialökonomisch
motivierten Agrarprotesten in protestantischen Kreisen immer wieder der Verdacht laut werden, es handele sich bei den Unruhen eigentlich um „katholische
Verschwörungen“.
Die Houghers. 1711-1713 kam es im Westen Irlands zu den ersten Ausbrüchen
klassischen „Sozialbanditentums“ (ERIC HOBSBAWM). Die mysteriösen Houghers
überfielen nachts Rinder- und Schafherden wohlhabender Viehzüchter in der Provinz Connacht und verstümmelten oder schlachteten die Tiere. Hinter diesen Überfällen verbargen sich primär zwei Motive. Zum einen herrschte durch die Ernteausfälle von 1710 gerade Lebensmittelknappheit. Da Märktestädte im relativ
dünn besiedelten Connacht in der Regel zu weit entfernt waren, um das über
Nacht geschlachtete Vieh dort zu verkaufen, mußten die Viehzüchter das Fleisch
der getöteten oder nutzlos gemachten Tiere zu niedrigen Preisen an die Landbevölkerung in der Nachbarschaft abgeben.384 Davon profitierten besonders die
„kleinen Leute“ der Region, die – wie LECKY ausführt – den Houghers entsprechend wohlgesonnen waren.385 Das zweite Motiv für die Anschläge war, daß wegen steigender Rindfleischpreise in Connacht Ackerbau zunehmend durch Viehzucht substituiert wurde, weil damit größere Gewinne und höhere Pachten zu realisieren waren. Da Viehzucht aber weniger arbeitskraftintensiv war, resultierte
diese Entwicklung gleichzeitig in einer höheren Arbeitslosigkeit unter den Landarbeitern und in einschneidenden Einkommensverlusten der Kleinpächter durch
gestiegene Pachtpreise.386 Daher muß das „Cattle-houghing“ auch als Widerstand
gegen diese Kommerzialisierung der Landwirtschaft betrachtet werden.387 Die
betroffenen Großgrundbesitzer und Magistrate vermuteten jedoch auch politische
Motive hinter dem Treiben der Houghers, weil ihre Vorgehensweise geschickte
Planung verriet und sich angeblich „Gentlemen“ unter ihren Anführern befanden.388 Daher kursierten Gerüchte, daß französische Geldgeber hinter den Houghers steckten und daß ein allgemeiner Aufstand – die ominöse „katholische Ver-
384
Lecky, History of Ireland I, S. 362; Froude, English in Ireland I, S. 411.
Lecky, ebd., S. 362f.
386
Ebd., S. 362.
387
Ebd.
388
Ebd., S. 363; besonders prominent tritt diese Verschwörungstheorie bei Froude, English in
Ireland I, S. 410-413, in Erscheinung.
385
142
schwörung“ – unmittelbar bevorstehe.389 Die Magistrate ergriffen prompt scharfe
Gegenmaßnahmen, konnten der Houghers aber nicht recht Herr werden, weil
Zeugen eingeschüchtert und Juries bestochen wurden – mit dem Schutzgeld, das
Viehzüchter an die Houghers zu bezahlen begannen, um ihre Herden vor Angriffen zu schützen.390 1713 hörte der Spuk schlagartig auf und bis heute weiß niemand genau, warum.391 Es könnte damit zu tun haben, daß die Überfälle sich nicht
mehr lohnten, weil die Magistrate Anweisung gaben, das Fleisch der getöteten
Rinder zu verbrennen.392 Außerdem wurde das „Cattle-houghing“ durch die intensive Verfolgung seitens der Behörden immer gefährlicher. Auch eine – eher
zufällige – Ausschaltung einiger Anführer durch die Behörden ist nicht gänzlich
ausgeschlossen. Sicher ist nur, daß dies für die nächsten 50 Jahre der einzige Agrarprotest blieb, der über die Grenzen einer Grafschaft hinausreichte.
Die Whiteboys393 griffen den agrarischen Widerstand in den frühen 1760er Jahren
wieder auf und weiteten ihn aus. Im Gegensatz zu den Houghers stellten die Whiteboys aber ihre Aktivitäten nicht spontan ein, sondern blieben trotz aller Anstrengungen der Magistrate bis zum Ende des Jahrhunderts aktiv (vor allem während der Jahre 1761-63, 1775ff., 1785ff., 1797/98).394 Das Zentrum dieser Agrarbewegung lag ursprünglich in den Grafschaften Tipperary und Cork, im Süden
Irlands. Sukzessive dehnte sich ihr Aktionsradius aber über die ganze Provinz
Munster und bis in die Randgebiete Leinsters und Connachts aus. Den Auslöser
für die Whiteboy-Unruhen bildete ein weiteres Mal die Expansion der Viehwirtschaft, die zur Einzäunung von Allmenden, zu steigenden Pachten und so zur Zerstörung der sogenannten „villager communities“395 führte. Die Whiteboys setzten
sich dagegen mit dem Einreißen der Zäune, dem Umgraben von Weideland und
389
Lecky, History of Ireland I, S. 363-365.
Ebd., S. 365.
391
Lecky äußert sich dazu nicht; Froude erklärt, die Sache sei nie wirklich aufgeklärt worden;
Beames und Zeller beschränken sich hier darauf, Lecky zu zitieren. Das deutet darauf hin, daß
weitere Informationen nicht vorliegen. Vgl. Lecky, ebd., S. 367; Froude, English in Ireland I, S.
412; Beames, Peasants, S. 23, Zeller, Agrarbewegungen, S. 124.
392
Lecky, ebd., S. 465.
393
Der Name leitete sich daraus ab, das die Mitglieder dieses Geheimbundes Hemden und Masken aus grobem weißen Leinen trugen. Protestantische Verschwörungstheoretiker erblickten in der
Farbe der Hemden gleich eine Anspielung auf den jakobitischen Hintergrund der Whiteboys, da
Weiß die Farbe der Stuarts war. Lokal waren sie auch unter anderen Namen – als Rightboys, Levellers oder Corkboys – bekannt. Vgl. Zeller, Agrarbewegungen, S. 125.
394
Vgl. Aufstellung Beames, Peasants, S. 25.
390
143
dem bereits bekannten „cattle-houghing“ zur Wehr. Peu à peu nahmen sie aber
auch alle anderen sozialökonomischen Gravamina der Landbevölkerung in ihre
Agenda auf: Ungerechtigkeiten bei den Zehntabgaben an die anglikanische Kirche396, exzessive Pachtpreise, überhöhte Gebühren katholischer Priester für seelsorgerische Dienste etc. Durch Einschüchterung der Zehnteintreiber, Großgrundbesitzer und auch Priester versuchten sie diese Personenkreise zum Einlenken zu
bewegen: Drastische Drohbriefe wurden übermittelt, Särge verschickt, im Garten
der Zielpersonen Gräber ausgehoben oder Galgen aufgestellt.397 Es kam aber auch
zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, deren Höhepunkt wohl der Überfall mehrerer Hundert Whiteboys auf das Anwesen des katholischen Großgrundbesitzers
Robert Butler in Kilkenny darstellte.398 Auch Folterungen und Attentate wurden
verübt.399 Wichtig ist, daß diese gewaltsamen Protestäußerungen sich gleichermaßen gegen katholische und anglikanische Landbesitzer richteten, so daß der sozialökonomische Hintergrund dieser Agrarbewegung eigentlich nicht in Zweifel
gezogen werden kann. Die Reaktion der katholischen Kirche – Whiteboys wurden
wiederholt von katholischen Bischöfen exkommuniziert400 – deutet in die gleiche
Richtung, zumal selbst katholische Priester von den Whiteboys gewaltsam ‚ins
Gebet genommen’ wurden. Trotz alledem hing über den Whiteboy-Unruhen aber
stets der Ruch einer „papistischen Verschwörung“, kursierten in protestantischen
Oberschichtkreisen die üblichen Verschwörungstheorien über französische und
jakobitische Invasionsabsichten, richteten sich die Gegenmaßnahmen der Magistrate vor allem gegen katholische Priester.401 Das demonstriert wie schnell koloniale Wahrnehmungsmuster und Ängste zur Hand waren, wenn es darum ging, die
dezidierte Weigerung der anglo-irischen Oberschicht zu legitimieren, sich mit den
395
Eine Art Subsistenzfarmerkommune, in der ca. 20 Kleinpächterfamilien ihr Kaufkraft zusammenlegten, um ein Stück Land pachteten, daß sie in Parzellen für jede Familie und gemeinsam
bewirtschaftetes Land aufteilten.
396
Für besondere Erbitterung sorgte der Umstand, daß Weideflächen ab 1735 zehntabgabenfrei
blieben, während der kleinste Kartoffelacker der Kleinpächter Zehntabgaben entrichten mußte.
Vgl. M.J. Bric, The Whiteboy Movement in Tipperary, in: W. Nolan/T.G. McGrath (Hgg.), Tipperary: History and Society, Interdisciplinary Essays on the History of an Irish County, Dublin 1985,
S. 148-184., S. 152.
397
Ebd., S. 153; Wall, Whiteboys, S. 17.
398
Wall, ebd., S. 19, zu anderen Überfällen vgl. Bric, ebd.
399
Bric, ebd., S. 156.
400
Ebd., S. 157; Wall, Whiteboys, S. 18-20, wonach der katholische Bischof von Cashel – der
Bruder Robert Butlers – sogar aus katholischen Pächtern eine Anti-Whiteboy Einheit zusammenstellte.
144
Gravamina der hauptsächlich katholischen ländlichen Unterschichten auseinanderzusetzen.
Der sozialökonomisch motivierte agrarische Protest war jedoch nicht nur auf den
katholischen Süden Irlands beschränkt. Der Aufruhr, der 1763 von den protestantischen Oakboys in Südulster verursacht wurde, demonstriert das ebenso deutlich
wie die Proteste der ebenfalls protestantischen Steelboys in Ostulster in den Jahren 1769 bis 1773.402 Wie bei den Whiteboys ging es auch bei den Oakboys und
Steelboys um lokale Mißstände, die in Ulster allerdings nur am Rande mit der
Expansion der Viehzucht und der Kommerzialisierung der Landwirtschaft zusammenhingen. Hier richtete sich der Protest vor allem gegen exzessive Steuern
und Handdienste, die den Kleinpächtern und Landarbeitern für den Straßenbau
und die Instandhaltung der lokalen Infrastruktur abverlangt wurden, und gegen
die Praxis einiger Großgrundbesitzer in Antrim und Down, beim Auslaufen eines
Pachtvertrages, den Pächter mit hohen Gebühren für die Erneuerung des Pachtvertrages zur Kasse zu bitten.403 Wie bei den Whiteboys zielte auch der Widerstand
der Oak- und Steelboys allein auf die Wiederherstellung des Status Quo ante
ab.404 Die Mittel, die diese Agrarrebellen verwendeten, waren ebenfalls eng mit
denen der Whiteboys verwandt: Die Zerstörung des Eigentums derjenigen Pächter,
die sich den neuen Pachtbedingungen unterwarfen und so die Preise in die Höhe
trieben, und der Großgrundbesitzer, die sich durch exzessive Pachtforderungen
hervortaten, sowie die Bedrohung von Steuereintreibern. Überfälle, Brandanschläge und das allgegenwärtige „cattle-houghing“ rundeten das Bild ab.405 1772
mußten schließlich Truppen eingesetzt werden, um ein weiteres Ausufern der Proteste zu unterbinden. Allerdings gab es auch zwei bemerkenswerte Unterschiede
zwischen den Whiteboyunruhen und dem Treiben der Oakboys und Steelboys:
Erstens hielten die sozialökonomisch motivierten Unruhen in Ulster nicht so lange
an wie im Süden, weil viele der daran beteiligten Personen nach Amerika emig401
Bric, ebd., S. 157-160, behauptet, daß diese Wahrnehmung durch den Tod des Old Pretender,
Jakobs III., etwas relativiert wurde, Wall, ebd., S. 25, sieht darin ein durchgängiges Muster.
402
Beames, Peasants, S. 25.
403
Beckett, Making, S. 178.
404
Daß es beiden Organisationen nur um die Beseitigung von Auswüchsen ging, kann man daran
erkennen, daß die Proteste der Oakboys umgehend nachließen, als die Straßenbaugesetze modifiziert und die Handdienste reduziert wurden. Vgl. ebd. Die Maßnahmen der Steelboys zielten darauf ab, die Pachten und Lebensmittelpreise – gerade während der schlechten Ernten von 17701772 – stabil zu halten. Vgl. Bardon, History, S. 208.
405
Beckett, Making, S. 178; Bardon, History, S. 206f.
145
rierten als absehbar wurde, daß sich die Zustände kurzfristig nicht bessern würden.406 Das zeigt einmal mehr, daß die Pächter in Ulster – vor allem wegen ihrer
Einkommen aus dem Textilgewerbe – über mehr Substanz verfügten als ihre katholischen Standesgenossen im Süden: Während die katholischen Whiteboys
mangels Finanzkraft über keine Alternative zum Widerstand verfügten und darum
langfristig daran festhielten, hatten die Pächter in Ulster die Möglichkeit, sich
dem Druck der Grundbesitzer durch Emigration zu entziehen. Der zweite Unterschied besteht darin, daß konfessionelle Unterschiede und koloniale Deutungsmuster bei der Wahrnehmung der Unruhen keine erkennbare Rolle spielten. Der
agrarische Protest in Ulster wurde von Zeitgenossen schlicht als Ausdruck der
sozialen Deprivation der Kleinpächter gewertet.407
Die Wirkmächtigkeit kolonialer Wahrnehmungsmuster für die Gestalt ländlicher
Sozialkonflikte läßt sich am besten anhand der Konflikte zwischen den Peep o’
Day Boys und den Defenders zwischen 1784 und 1798 nachvollziehen. Das Beispiel der Whiteboys hat bislang lediglich illustriert, wie die Kongruenz kolonialer
und sozialer Konfliktlinien Konflikte intensivieren konnte. Das Peep o’
Day/Defender-Exempel zeigt dagegen, wie koloniale Wahrnehmungsmuster zur
Umdeutung sozialer Antagonismen beitragen konnten. Da die Defenders wegen
ihrer engen Verbindung zu den United Irishmen später noch detailliert diskutiert
werden, genügt es an dieser Stelle, die Situation mit ein paar groben Strichen zu
skizzieren. Die Leinenproduktion in Ulster und der damit verbundene relative
Wohlstand in Ulster übte eine große Anziehungskraft auf katholische Kleinpächter in den angrenzenden Grafschaften Nordconnachts und Nordleinsters aus. Die
Folge waren Wanderungsbewegungen nach Ulster, wo Katholiken wegen ihres
niedrigeren Lebensstandards höhere Pachten zahlen konnten und so den Verdrängungsdruck auf die protestantische Konkurrenz erhöhten.408 Umgekehrt versuchten anglikanische Landbesitzer in Nordconnacht, am Leinenboom zu partizipieren, indem sie – zulasten der katholischen Kleinpächter – presbyterianische Weber, die einen Ruf als Experten der Leinenproduktion genossen, auf ihrem Land
ansiedelten.409 Die Gefahr konfessioneller Spannungen, die wegen der Durchmi406
Beames, Peasants, S. 24.
Bardon, History, S. 207
408
J. Smyth, Men, S. 47.
409
D.W. Miller, Peep o' Day Boys and Defenders, Selected Documents on the Disturbances in
County Armagh, 1784-96, Belfast 1990, S. 24.
407
146
schung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen ohnehin schon hoch war, wurde
durch die in der Grafschaft Armagh fest verankerten „Faction-fights“ zusätzlich
forciert. Allmählich entwickelte sich aus der endemischen Gewalt eine Dauerfehde zwischen zwei „Factions“, die sich peu à peu in die protestantischen Peep o’
Day Boys und die katholischen Defenders ausdifferenzierten.410 Unter dem
Deckmantel, die Einhaltung der Strafgesetze überwachen zu wollen, begannen die
Peep o’ Day Boys, die Cottages katholischer Kleinpächter zu überfallen, nach
Waffen zu durchsuchen, zu verwüsten und niederzubrennen. Bei der Gelegenheit
wurde gleich auch ein Schlag gegen die Konkurrenz katholischer Weber gelandet:
Webstühle und Leinentücher wurden stets zerstört. Darüber hinaus richteten sich
die Peep-o’-Day-Überfälle auch gegen protestantische Befürworter einer prinzipiellen Gleichstellung der Katholiken. Die katholische Landbevölkerung reagierte
auf die Übergriffe mit der Gründung der Defenders, die sich allerdings nicht – wie
der Name vielleicht suggeriert – darauf beschränkten, Katholiken zu beschützen,
sondern statt dessen zum Gegenangriff übergingen. Die Gewalt eskalierte immer
weiter – auch weil die Magistrate in Armagh zwar gegen die Defenders, nicht
aber gegen die Peep o’ Day Boys konsequent durchgriffen.411 Der Höhepunkt dieser Auseinandersetzung wurde schließlich mit der sogenannten „Schlacht am Diamond“ im Dezember 1795 erreicht, wo die Defenders schwere Verluste erlitten.
Die Peep o’ Day Boys, die nach ihrem Sieg den Oranierorden (Orange Order)
gründeten,412 führten anschließend Massenvertreibungen durch: Bis zu 10.000
katholische Pächter und Weber flohen im Winter 1795 vor den Peep o’ Day Boys
aus den Grafschaften Tyrone, Derry und Monaghan. Der größte Teil dieser
Flüchtlinge siedelte sich in Nordconnacht an.413
Mit dieser ‚kolonialen Säuberungsaktion’ waren die gewaltsamen Zusammenstöße fürs erste beendet, aber die konfessionelle Aufladung sozialer Konflikte dehnte
sich dadurch sogar noch aus, da die Flüchtlingen den Defenderismus nach Connacht ‚exportierten‘.414 Für unsere Fragestellung ist jedoch ausschlaggebend, daß
in Ulster in den 1790er Jahren soziale Konflikte zwischen Grundbesitzern und
410
Ebd., S. 11-23. Beames stellt die These auf, daß ehemalige Steelboys ebenfalls in der Peep o’
Day Boy-Bewegung aktiv waren. Vgl. Beames, Peasants, S. 24.
411
Miller, ebd., S. 31-33.
412
Beckett, Making, S. 257.
413
Smyth, Men, S. 111.
414
Ebd.; Kee, Most Distressful Country, S. 44.
147
Pächtern durch koloniale Wahrnehmungen völlig umgedeutet wurden. Nimmt
man den Steelboy-Protest der frühen 1770er Jahre als Meßlatte, dann hätte die
steigenden Pachtpreise der 1780er und 1790er Jahre zum Widerstand gegen die
Grundbesitzer führen müssen. Statt dessen richtete sich der gewaltsame Protest
aber gegen eine anderskonfessionelle Gruppe aus exakt der gleichen sozialen
Schicht. Das ist ein entscheidendes Argument für die regionale Besonderheit Ulsters: Während im Rest Irlands der Antagonismus in der ländlichen Gesellschaft
entlang sozialer Scheidegrenzen verlief (weil soziale und konfessionelle Grenzen
praeter propter identisch waren und sich gegenseitig verstärkten), war dieser
Konflikt in Ulster zunehmend entlang konfessioneller Grenzen ausgelegt (weil
koloniale Wahrnehmungsmuster und regionale Traditionen zusammen mit der
kurzfristigen Dynamik der Wanderungsbewegungen im Grenzland von Ulster die
Konfessionszugehörigkeit in den Vordergrund und die soziale Dimension des
Landkonflikts in den Hintergrund rückten). In Ulster kam es also nicht zu einer
gegenseitigen Verstärkung von kolonialen und sozialen Konfliktwahrnehmungen,
sondern zu einem Widerspruch: Hier mußte man sich für eine der beiden Lesarten
entscheiden. Sowohl das Verhalten der Peep o’ Day Boys selbst als auch das zögerliche Vorgehen lokaler Magistrate gegen protestantische Unruhestifter belegen, daß sich in der nicht-katholischen Bevölkerung ein schichtübergreifender
Konsens herauskristallisierte, der kolonialen Deutung Vorrang einzuräumen.
Soziale Konflikte in der Stadt. Wendet man sich nun den sozialen Konflikten in
den Städten zu, dann muß man deutlich zwischen den Marktstädten im Landesinneren und den Hafenstädten differenzieren. Die Marktstädte waren als urbane
Handelsumschlagplätze für die Produkte ihres Hinterlandes fest in die ökonomischen und sozialen Strukturen der ländlichen Gesellschaft integriert, so daß hier
keine grundsätzlich neuen Erkenntnisse zu erwarten sind. In den Hafenstädten sah
die Lage etwas anders aus, weil der Überseehandel das kaufmännische Element in
der städtischen Sozialstruktur prononcierter hervortreten ließ.415 Wie aber etwa
die Abhängigkeit Corks, des Zentrums des irischen Rindfleischexports, von seinem von der Viehwirtschaft bestimmten Hinterland belegt, war auch hier die Verbindung zwischen Stadt und Land im 18. Jahrhundert noch sehr eng.416 Darüber
hinaus ist die Analyse der Hafenstädte im Westen und Süden von Galway bis
415
416
Cullen, ED II, S. 182
Cullen, ED I, S. 142; ders., ebd., S. 181.
148
Cork auch deshalb nicht besonders interessant, weil sich hier kaum Aufschlüsse
über das Zusammenspiel von kolonialen und sozialökonomischen Konfliktherden
gewinnen läßt, da die Wirtschaft dieser Städte sich schon in der ersten Jahrhunderthälfte fest in der Hand katholischer Kaufleute und Unternehmer befand.417 Im
Vergleich zu Dublin sind diese Städte vollkommen uninteressant, denn dort kann
man viele Entwicklungen besonders pointiert beobachten, die dort zudem viel
besser dokumentiert sind. Aus diesen Gründen wird sich die Analyse der sozialen
Konflikte in der Stadt auf Dublin als das Modell des urbanen Zentrums in Irland
im 18. Jahrhundert beschränken.
Der Dubliner Schmelztiegel. Dublin war im 18. Jahrhundert nach London die
zweitgrößte Stadt des britischen Empire und zugleich das unangefochtene administrative, politische, kulturelle und akademische Zentrum, der größte Finanzplatz
und die führende Hafenstadt der gesamten Insel.418 Damit nicht genug war es auch
die am schnellsten wachsende Stadt: Im 18. Jahrhundert wuchs die Bevölkerung
Dublins um mehr als das Dreifache auf 180.000 bis 200.000 Anwohner an, die
bebaute Fläche der Stadt sogar um das 20fache.419 Dieses Bevölkerungswachstum
wurde zunächst primär aus Zuwanderungsbewegungen aus den umliegenden
Grafschaften gespeist. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts änderte sich
dieses Wanderungsmuster jedoch einschneidend: Mehr und mehr Menschen wanderten nicht aus dem Dubliner Hinterland, sondern aus dem irischen Westen nach
Dublin.420 Dieser Prozeß hatte drei Folgen. Erstens stellten sich in Dublin die konfessionellen Mehrheitsverhältnisse auf den Kopf: Das koloniale Zentrum verwandelte sich von einer protestantischen Bastion in eine mehrheitlich von Katholiken
bewohnte Stadt.421 Zweitens führte die Wanderungsbewegung zu erheblichen sozialen Spannungen: Die billigen, ungelernten Arbeitskräfte vom Lande gaben dem
Manufakturwesen Auftrieb, das auf diese Weise dem Handwerk erfolgreich Konkurrenz machen konnte und damit die Existenz der Handwerksmeister und Gesel-
417
Lydon, Making, S. 224.
Vgl. Smyth, Men, S. 122; ders., Dublin's Political Underground in the 1790s, in: G. O'Brien
(Hg.), Parliament, Politics and People. Essays in 18th Century Irish History, Dublin 1989, S. 129148, S. 129; D. Dickson, Capital and Country: 1600-1800, in: A. Cosgrave (Hg.), Dublin Through
the Ages, Dublin 1988, S. 63-76, S. 67.
419
Dickson, ebd., S. 66, Proudfoot, Patronage, S. 31; Dickson, Mask, S. ix.
420
Proudfoot, ebd., S. 31.
421
Dickson, Capital, S. 74. Zum Vergleich: 1659 hatte das Verhältnis von protestantischen zu
katholischen Einwohnern noch bei 8:3 gelegen.
418
149
len (vor allem im Textilgewerbe) bedrohte.422 Drittens entwickelte Dublin durch
den Ansturm arbeitssuchender Landarbeiter eine neue Sozialgeographie: Das traditionelle Nebeneinander von Arm und Reich wich einer großräumigen Segregation der Unterschicht von der Mittel- und Oberschicht. Vereinfacht gesprochen
erlebten die älteren westlichen Stadtteile Dublins einen sozialen Abstieg, während
die wohlhabendere Bevölkerung in den Osten der Stadt auswich.423 Die Ghettoisierung der westlichen Stadtteile – der sogenannten „Liberties“ – resultierte in
entsetzlichen Lebensbedingungen: Schlecht beleuchtet, fast ohne Kanalisation,
extrem überbevölkert und somit ein Brutherd für Armut, Krankheit und Kriminalität war die Gegend am Ende des 18. Jahrhunderts nur noch unter der Bezeichnung „Hölle“ bekannt.424
Soziale Unruhen und ihre politischen Weiterungen in Dublin. Angesichts dieser Umstände überrascht es nicht, daß soziale Proteste, Arbeitskämpfe und Unruhen in Dublin an der Tagesordnung waren.425 Allein zwischen 1728 und 1759 gab
es in Dublin mindestens 16 Streiks der Weber, der längste zog sich 1758 über drei
Monate hin.426 Diese Streiks wurden von den sogenannten Combinations ins
Werk gesetzt, quasi-gewerkschaftlichen Zusammenschlüssen von Gesellen, Lehrlingen, freien Webern und zunehmend auch von Manufakturarbeitern.427 Insbesondere die Weber waren von extremer Militanz, wobei sich gerade in dieser Berufsgruppe sozialökonomische Motive mit konfessionellem Haß und der endemischen Gewalt des „faction-fighting“ paarten. Die Weber in den Liberties fielen ab
den 1720er Jahren regelmäßig dadurch auf, daß sie sich zu den protestantischen
„Liberty Boys“ zusammenschlossen, die sich kontinuierlich blutige Straßenkämpfe mit den katholischen „Ormond Boys“ von der anderen, nördlichen Seite des
Liffey lieferten. Alle Zutaten eines „Faction“-Fehde waren hier vereint: Die
Kombattanten kamen aus unterschiedlichen, durch den Fluß deutlich voneinander
getrennten Stadtteilen, gehörten zwar der gleichen sozialen Schicht, aber unterschiedlichen Berufsgruppen und außerdem auch noch unterschiedlichen Konfes422
Dickson, Mask, S. viii; S. Murphy, Municipal Politics and Popular Disturbances: 1660-1800,
in: Cosgrave, Dublin Through the Ages, S. 77-92, S. 81.
423
Dickson, Mask, S. viii.
424
Dennis Carroll, Dublin in 1798, Three Illustrated Walks, Dublin 1998, S. 19f.
425
Smyth, Men, S. 122.
426
Ebd., S. 124.
427
Ebd., S. 124f. Wiederholt (1729, 1743, 1757, 1763, 1772) versuchte das Parlament der Combinations durch Gesetze Herr zu werden, drang damit allerdings nicht durch. Vgl. ebd., S. 133f.
150
sionen an.428 Zusammen mit den „Trinity Boys“ – der studentischen „Faction“ –
bildeten diese Gruppen den gewaltbereiten Kern des sogenannten „Liberty mob“,
bei dessen Zusammenstößen ein extrem hohes Gewaltniveau erreicht wurde.429
Zusätzlich begannen die Weber aber auch, ihre ökonomischen Interessen zu
schützen: 1734 plünderten sie Dubliner Geschäfte, die englische Waren feilboten,
1745 präsentierten sie eine Petition gegen den Import englischer Textilien.430 Ab
den 1750er Jahren wurden zudem Klagen von Manufakturunternehmern laut, katholische Neuankömmlinge würden in der Stadt zunehmend „feindlich“ empfangen.431 Des weiteren schälte sich bei den Unruhen allmählich eine Tendenz zur
Verquickung sozialökonomischen und politischen Protests heraus, so daß der
‚Mob’ sich allmählich in eine von Dubliner Mittelschichtsradikalen gesteuerte
‚Menge’ verwandelte:432 1759 sorgten zum Beispiel Gerüchte über eine bevorstehende staatliche Union Irlands mit Großbritannien für heftige Unruhen, weil die
Menge befürchtete, daß dann der Handel in Dublin zum Erliegen käme und ihre
Produkte keine Abnehmer mehr fänden. Wohlorganisiert versammelten sich mehrere Tausend Demonstranten in den Liberties, zogen anschließend zum Parlamentsgebäude, errichteten vor dem Gebäude einen Galgen als Warnung an alle
Abgeordneten, die sich für die Union einsetzen würden, fingen dann einzelne Abgeordnete ab und zwangen sie zu schwören, daß sie einer solchen Vorlage nicht
zustimmen würden. Der Lordkanzler wurde von der Menge gewaltsam aus seiner
Kutsche gezogen, ein Mitglied des Kronrats die Straße entlang gezogen, der Generalstaatsanwalt beschimpft und mit Dreck beworfen, dem Earl von Inchiquin
die Robe und die Perücke vom Leib gerissen. Anschließend brach die ‚Menge’
mit Gewalt ins Oberhaus ein und setzte eine alte Frau auf den Sitz des Parlamentspräsidenten. Sie zogen erst ab, als Truppen aus den naheliegenden Garnisonen anrückten und ihnen der Parlamentspräsident zugesichert hatte, das alles beim
428
Die Liberty Boys bestanden vorwiegend aus anglikanischen und presbyterianischen Webern,
die Ormond Boys dagegen mehrheitlich aus katholischen Fleischern. Vgl. Murphy, Municipal
Politics, S. 81f.
429
Die Spezialität der Ormond Boys war es offensichtlich, ihren Gegnern mit Messern die Sehnen
der Beine durchzuschneiden, um sie zu lähmen, während die Weber zumindest bei einer Gelegenheit ein paar Ormond Boys mit dem Kiefer an ihren eigenen Fleischerhaken aufhängten. Diese
Auseinandersetzungen zogen sich bis in die 1790er Jahre hin. Vgl. M.J. Craig, Dublin 1660-1860,
London 1992, S. 88f.
430
Vgl. Foster, Buying Irish, S. 44ff.
431
Dickson, Capital, S. 74, Murphy, Municipal Politics, S. 81.
432
Vgl. Smyth, Men, S. 125.
151
Alten bleiben werde.433 Ähnliche Verbindungen zwischen politischem und sozialökonomischem Protest lassen sich auch bei der Freihandelskampagne der Volunteers Ende der 1770er Jahre beobachten. Der Krieg mit den amerikanischen Kolonien rief in Irland eine Rezession hervor, die Arbeitslosigkeit in den Dubliner
Unterschichten wuchs in einem solchen Ausmaß, daß die Regierung sich gezwungen sah, einen Hilfsfond einzurichten.434 Entsprechend eifrig unterstützte die
Dubliner ‚Menge’ die Vorschläge der „Patrioten“, eine Anti-Import-Kampagne
durchzuführen: Arbeitslose Weber – die sogenannten „cutting weavers“ – zogen
durch Dublin und plünderten Geschäfte, die importierte Textilwaren führten.435
Geschäftsinhaber wurde drangsaliert und gezwungen, sich der Anti-ImportKampagne anzuschließen. Spannend ist, daß einige Textilgeschäfte von einer
zwanzigköpfigen Bande von Fleischern – also von den katholischen „Ormond
Boys“ – überfallen wurden. Signifikant ist außerdem, daß die Namen derjenigen
Geschäftsleute, die geplündert wurden, weil sie noch mit importierter Ware handelten, zuvor in einer Dubliner Zeitung veröffentlicht worden waren.436 Das sind
deutliche Indizien dafür, daß der politische Widerstand soziale und konfessionelle
Grenzen überwand.437 Wie 1759 wurden 1779 auch wieder Abgeordnete belästigt
und zur Unterstützung der Freihandelsvorlage genötigt und das Parlament wiederum zum Einlenken gezwungen. 1784 wiederholte sich der gleiche Mechanismus
noch einmal: Hohe Lebensmittelpreise und Massenarbeitslosigkeit führten zu
Forderungen nach protektionistischen Maßnahmen, denen die Menge wiederum
durch Demonstrationen und die Stürmung einer Sitzung des Unterhauses Nachdruck verlieh. Diesmal jedoch gab das Parlament nicht nach. Die Unruhen hielten
– trotz des Einsatzes von Truppen – über Monate an.438
Die großen Unruhen von 1759, 1779 und 1784 belegen vor allem, daß es müßig
ist, allein von sozialen und sozialökonomischen Konflikten in Dublin reden zu
wollen. Soziale Konflikte im urbanen Zentrum Irlands waren im 18. Jahrhundert
zugleich immer auch Teil politischer Konflikte. Das hängt vor allem mit der zeit433
Ebd., S. 129; Smyth., Political Underground, S. 131.
Smyth, Men, S. 129.
435
Murphy, Municipal Politics, S. 81.
436
Smyth, Men, S. 131-133.437
Pointiert bei Smyth, ebd., S. 133: „Students, lawyers and merchants joined forces with shoemakers and weavers.“
438
Die Unruhen bildeten den Auslöser für die Versuche von 1786, eine bewaffnete, uniformierte
Polizeitruppe für Dublin aufzustellen. Zu den Zwischenfällen vgl. summarisch ebd., S. 137-139.
434
152
genössischen Problemwahrnehmung zusammen: JIM SMYTH weist zurecht darauf
hin, daß sozialökonomische Gravamina grundsätzlich im kolonialen Kontext als
Konsequenz unfairer britischer Wirtschaftsinterventionen betrachtet wurden.439
Ungeachtet der Tatsache, daß diese Wahrnehmung einer kritischen Überprüfung
nicht standhält, barg sie dennoch eine Tendenz zur Politisierung der Dubliner Unterschichten. Die Anzeichen für den Erfolg dieser Politisierung kann man ab den
späten 1750er Jahren identifizieren, wenn sozialökonomische Konflikte aufgrund
ihrer kolonialen Wahrnehmung zur schicht- und konfessionsübergreifenden Partizipation an Unruhen führen, wenn Gruppen, die sich normalerweise spinnefeind
waren wie die Ormond und die Liberty Boys plötzlich an einem Strang zogen,
wenn Mittelschichtradikale und Manufakturunternehmer mit dem „Liberty Mob“
gemeinsame Sache machten.
Resümierend läßt sich festhalten, daß soziale Konfliktpotentiale in Irland im 18.
Jahrhundert keinem übergreifenden Muster folgten, sondern sich in ihrer Form,
ihrer Qualität und ihrem Umfang an lokalen und regionalen Bedingungskontexten
orientierten. Zwei Dinge dürften allerdings deutlich geworden sein: Erstens waren
soziale, konfessionell-koloniale und politische Konfliktpotentiale hochgradig
kompatibel. Am augenfälligsten war dies in Dublin, wo sozialökonomischer und
politischer Protest bis zur Unkenntlichkeit miteinander verschmolzen, und im
Süden Irlands, wo das Zusammenspiel von sozialökonomisch motiviertem Agrarprotest und kolonialen Wahrnehmungen soziale Antagonismen verhärtete. Die
Sonderentwicklung in Ulster verdeutlicht dagegen zweitens, daß die Kongruenz
bzw. Differenz der Stoßrichtung von sozialen und kolonialen Konfliktpotentialen
von zentraler Bedeutung ist. Kongruenz führte zur wechselseitigen Verstärkung,
Differenz dagegen zu Überlagerung des einen durch das andere Konfliktpotential,
wobei in Ulster in der zeitgenössischen Wahrnehmung eine Hegemonie kolonialer
über soziale Konflikte feststellbar ist.
439
Smyth, Political Underground, S. 131, ders, Men, S. 125.
153
3. Kulturelle Konfliktstrukturen in Irland (1691-1782)
Irlands kulturelle Trias im 18. Jahrhundert. Analog zu den bisherigen Befunden ist auch im kulturellen Bereich eine tiefe Fragmentierung der irischen Gesellschaft feststellbar, die von der Ascendancy ausging. Hierbei sind zwei Stoßrichtungen deutlich voneinander zu trennen: Einerseits die Versuche der Ascendancy
durch ostentativ-öffentliche kulturelle Repräsentationen ihre reklamierte hegemoniale Position in der irischen Gesellschaft zu legitimieren und andererseits ihre
kulturellen Abgrenzungs- und Distinktionsanstrengungen gegenüber den presbyterianischen und katholischen Kulturtraditionen. Hinter diesen divergierenden
kulturellen Vorgehensweisen steckten allerdings im wesentlichen die gleichen
Motive, die nur auf unterschiedlichem Wege realisiert werden sollten: Erstens die
Absicherung (oder sogar der Ausbau) der hegemonialen gesellschaftlichen Position der Ascendancy und zweitens die Wahrung (oder sogar die Erhöhung) der sozialen Exklusivität der kolonialen Oberschicht. Die These lautet also, daß Kulturäußerungen und -leistungen in Irland im 18. Jahrhundert wegen des kolonialen
Kontexts zwar nicht automatisch, aber doch überwiegend als Quelle von Sozialprestige und politischem Kapital aufzufassen sind.
Spätestens an dieser Stelle sind einige erläuternde Bemerkungen zum verwendeten Kulturbegriff und seiner spezifischen Bedeutung im kolonialen Kontext notwendig. Angesichts der Pluralität existierender Kulturbegriffe, die in der aktuellen
theoretischen Debatte um den – je nach Blickwinkel des Betrachters – ‚postmodernen’, ‚poststrukturalistischen’ oder ‚kulturalistischen’ Revisionismus heiß umstritten sind,440 stellt sich das als ein notwendigerweise eklektisches und reduktionistisches Unterfangen dar, zumal der Begriff ‚Kultur’ in der Debatte eine deutliche Tendenz zur Ausdehnung (und vielleicht sogar zur Überdehnung) an den Tag
gelegt hat – von der klassischen Unterscheidung zwischen ‚materieller’ und ‚geistiger Kultur’ hin zu einem Verständnis des Begriffs, das ‚Kultur’ als „Lebensstil,
Lebensweise, Alltag, in denen kulturelle Muster gelebt, wiederholt und verändert
werden,“441 begreift. Für den Zweck dieser Arbeit reicht es aus, zunächst einen
440
C. Conrad/M. Kessel, Geschichte ohne Zentrum, in: dies. (Hgg.), Geschichte schreiben in der
Postmoderne, Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994, S. 9-36, S.10-15, 23-25.
441
H. Wunder, Kultur-, Mentalitätengeschichte, Historische Anthropologie, in: R. van Dülmen
(Hg.), Fischer Lexikon Geschichte, S. 65-86, Zitat S. 67.
154
möglichst umfassenden, additiven Kulturbegriff wie den folgenden zugrunde zu
legen:
„Heute versteht man unter Kultur die raum-zeitlich eingrenzbare Gesamtheit
gemeinsamer materieller und ideeller Hervorbringungen, internalisierter
Werte und Sinndeutungen sowie institutionalisierten Lebensformen von
Menschen.“442
Ein solches Verständnis taugt zwar wenig zur inhaltlichen Abgrenzung gegenüber
den anderen gesellschaftlichen Dimensionen, aber darum geht es hier auch nicht.
Die inhaltliche Auswahl und thematische Schwerpunktsetzung sind vom Erkenntnisinteresse der Arbeit her zu schultern.
Was das konkret bedeutet, wird unmittelbar deutlich, wenn man die oben zitierte
Arbeitsdefinition auf einen kolonialen Kontext appliziert. Die Folge ist schlicht
ein Kollaps der Definition. Im kolonialen Kontext ist die ‚raum-zeitliche Eingrenzung’ nicht möglich, weil mehrere, mindestens aber zwei ‚Kulturen’ in der selben
Raum-Zeit-Entität wirken. Das Gleiche gilt für die Gemeinsamkeitsthese, die integraler Bestandteil der obigen Definition ist. Schon im Normalfall ist die Vorstellung von einem monolithischen Block ‚Kultur’ eine Chimäre, weil es stets eine
Grauzone peripherer „materieller und ideeller Hervorbringungen“ gibt, die nur für
bestimmte Gruppen innerhalb einer Gesellschaft Gültigkeit besitzen und die zum
Teil in Rivalität, wenn nicht sogar im offenen Widerspruch zum Kulturkanon einer Gesellschaft stehen. In erhöhtem Maße gilt dies jedoch für multiethnische und
koloniale Gesellschaften:443 Hier wird die an und für sich schon kontroverse Debatte um die potentiellen Inhalte eines gesellschaftlich verpflichtenden Kulturkanons zu einer Macht- und Konfliktfrage. Gerade im kolonialen Kontext mutieren
Kulturfragen sehr schnell zu Zivilisationsfragen, wird die Andersartigkeit der
Kulturtraditionen der Kolonisierten aus Sicht der Kolonisten als Minderwertigkeit
wahrgenommen. Angesichts des effektiven Machtgefälles zwischen Kolonisten
und Kolonisierten und der Kontrolle der Kolonistengruppe über staatliche Institutionen und Machtmittel ist der Ausgang eines solchen Konflikts selten zweifelhaft. Euphemistisch ausgedrückt wird die Kulturtradition der Kolonisten zur gesellschaftlichen ‚Leitkultur’ (v)erklärt und den Kolonisierten aufoktroyiert. Ent-
442
Schäfers, Grundbegriffe, S. 196.
Es ist nicht möglich, die innere Fragmentierung der einzelnen Kulturtraditionen immer wieder
aufs Neue sprachlich zu markieren. Daher wird der Leser gebeten, die innere Spannung, die in
einer beliebigen Kulturtradition zwischen Zentrum und Peripherie sowie zwischen den kulturellen
Ausdrucksformen verschiedener sozialer Schichten in einer Kulturgemeinschaft besteht, stets
mitzudenken.
443
155
gegen der herkömmlichen kolonialen Legitimationsstrategie, wonach die autochthone Gesellschaft als direkte Folge der Kolonisation beträchtlicher Zivilisationsfortschritte teilhaftig wird, geht es bei diesem Oktroi jedoch keineswegs darum, autochthone Kulturtraditionen durch die Tradition der Kolonisten zu substitutieren. Von der Warte der Kolonisten wäre ein solches Vorgehen geradezu kontraproduktiv, da es den Unterschied zwischen Kolonisten und Kolonisierten langfristig nivellieren und so die Handhabe für die Fortführung kolonialer Unterdrückung und Ausbeutung zerstören würde. Es kommt daher nicht von ungefähr, daß
sich in Irland während des 18. Jahrhunderts nachweisen läßt, daß die koloniale
Oberschicht weder an einer Anglikanisierung noch an einer Anglizisierung der
irisch-katholischen Bevölkerung wirklich interessiert war. Widerwillige und halbherzige Maßnahmen sind zwar auffindbar, aber beileibe keine begeisterte ‚Proselytenmacherei’ und kein unbändiger ‚Zivilisierungsdrang’.444 Ein solcher Befund
untermauert noch einmal, daß es den englischen Kolonisten in Irland primär um
kulturelle Distinktion zur Absicherung ihrer hegemonialen Position und mithin
um die Einrichtung eines antiegalitären Systems ging, das man in Anlehnung an
CLAUS LEGGEWIE etwas plakativ, aber dennoch zurecht als „ethnopluralistische
Apartheid“ bezeichnen kann.445 Die kulturellen Riegel und Sperrventile, welche
die Ascendancy installierte, um die gesellschaftliche Teilhabe der anderen Bevölkerungssegmente auch im kulturellen Sektor zu reduzieren, und die Intentionen,
welche die koloniale Oberschicht dabei verfolgte, lassen es zweckmäßig erscheinen, den zugrundegelegten Kulturbegriff interessengeleitet zu fundieren. Diese
Festlegung ist sicherlich nicht alternativlos, erscheint aber angesichts des allgemeinen Erkenntnisinteresses, das sich auf die Identifikation kultureller Konfliktstrukturen im kolonialen Kontext richtet, dem Gegenstand angemessen. Kultur
wird daher nicht als Größe an und für sich, sondern als spezifischer gesellschaftlicher Bereich des Ausdrucks kolonialer Vergemeinschaftungsformen (und damit
im wesentlichen analog zu den anderen gesellschaftlichen Dimensionen, die bereits untersucht wurden) verstanden. Kurzum: Es geht nicht darum, die irische
Kultur im 18. Jahrhundert allgemein zu untersuchen, sondern das Verhältnis zwi444
Das Thema der Konversion wird weiter unten detailliert ausgeführt. Wegen bibliographischer
Angaben vgl. dort.
445
Vgl. C. Leggewie, Ethnizität, Nationalismus und multikulturelle Gesellschaft, in: H. Berding
(Hg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, Studien zur Entwicklung des kollektiven
Bewußtseins in der Neuzeit 2, Frankfurt/M. 19962, S. 45-81, S. 60f.
156
schen den kolonial voneinander abgegrenzten, rivalisierenden Kulturgemeinschaften in der irischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts.
Mit der Schwerpunktsetzung auf die Trias aus anglikanischer, presbyterianischer
und katholischer Kulturgemeinschaft ist die Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands jedoch noch nicht zufriedenstellend beendet. Versteht man in Anlehnung an MAX WEBER unter Kulturgemeinschaft eine „Gruppe von Menschen,
welcher kraft ihrer Eigenart bestimmte, als ‚Kulturgüter’ geltende Leistungen in
spezifischer Art zugänglich sind“446, dann muß man innerhalb einer Kulturgemeinschaft nach sozialer Lage zwischen verschiedenen ‚spezifischen Arten’ des
Zugangs zu ‚Kulturgütern’ – oder vereinfacht und konkreter: zwischen adeliger
und bürgerlicher Hochkultur einerseits sowie der Kultur der breiten Bevölkerung
andererseits – ebenso differenzieren wie zwischen verschiedenen Kulturräumen
(vor allem zwischen Stadt und Land). Außerdem muß man sich der idealtypischen
Überspitzung der Vorstellung von drei separaten Kulturgemeinschaften bewußt
sein, darf man die Absicht der Ascendancy, eine Trennung der drei Kulturgemeinschaften herzustellen, nicht mit der Verwirklichung dieser Intention verwechseln.
Insbesondere am oberen Ende der sozialen Skala kam es trotz gegenteiliger Bemühungen der kolonialen Oberschicht sehr wohl zum Kulturkontakt und auch – in
beide Richtungen – zum Kulturtransfer.
Da eine solche Sachlage für den Zweck, koloniale Konfliktstrukturen zu rekonstruieren, immer noch zu komplex ist, besteht die Notwendigkeit, den Gegenstand
weiter einzugrenzen, um ihn auf ein bearbeitbares Ausmaß zurechtzustutzen. De
facto ist es an dieser Stelle also nur möglich, die kolonialen Konfliktstrukturen
anhand einiger ausgewählter Themenbereiche schlaglichtartig zu beleuchten. Dazu werden zwei Selektionskriterien verwendet: Erstens beschränkt sich die folgende Analyse auf die gesellschaftlichen Gruppen, deren Schlüsselstellung in der
Genese und Entwicklung gesellschaftlicher Konfliktpotentiale bereits als erwiesen
gelten kann: Die Ascendancy, das städtische Bürgertum aller Konfessionen (aber
nach selbigen getrennt behandelt) und die ländlichen katholischen Unterschichten.
Angesichts der oben erläuterten Tendenz zur kolonial-politischen Indienstnahme
kultureller Leistungen bietet es sich zweitens an, nur denjenigen kulturellen Bereichen Beachtung zu schenken, die für Macht- und politische Repräsentation
sowie für Politisierungsprozesse in der Gesellschaft potentiell relevant waren:
157
Hierzu zählen in Irland im 18. Jahrhundert vor allem die Sprach-, Bildungs- und
Religionspolitik, die Geschichtsschreibung, die Festkultur und die Architektur.
a) Ascendancy-Kultur als koloniale ‚Leitkultur’
Die Ausgangssituation. Am Anfang des 18. Jahrhunderts richteten sich die kulturellen Abgrenzungsbemühungen der Ascendancy primär gegen die katholische
Bevölkerung. Für diese Stoßrichtung waren nicht allein die noch frischen Wunden
des Stuart-Erbfolgekrieges und der daran anschließenden wilheminischen Landenteignungen verantwortlich, sondern ebenso anglikanische Befürchtungen, daß
es erneut zu einem jakobitisch-katholischen Aufstand kommen könnte. Diese
Ängste basierten nicht allein auf der Existenz eines Stuart-Thronanwärters im
französischen Exil, der sowohl die Unterstützung des französischen Königs als
auch des Heiligen Stuhls in Rom genoß, sondern auch auf sorgsam von der Ascendancy im kollektiven Gedächtnis der anglikanischen Bevölkerung erhaltenen
‚historischen’ Erinnerungen an den katholischen Aufstand von 1641, der – faktisch zu Unrecht! – als direkter Vorläufer des Erbfolgekrieges betrachtet wurde.
Das Ergebnis dieses Sinnkonstruktionsprozesses – de facto einer Mischung aus
Analogschlüssen, konfessionellen Befürchtungen und ritualisierten ‚historischen’
Erinnerungen – bestand darin, daß die anglikanische Gemeinschaft von einer Tradition katholischen Widerstands mit exterminatorischen Absichten gegen die protestantische Bevölkerung ausging, gegen den es präventiv Gegenmaßnahmen zu
ergreifen galt.
Daneben figurierte auch das numerische Ungleichgewicht zwischen protestantischer und katholischer Bevölkerung als wesentlicher Faktor anglikanischer Ängste. Die massive Überlegenheit der katholischen Bevölkerung, die im Durchschnitt
bei etwa 70 Prozent, in der Provinz Connacht sogar bei über 90 Prozent lag,447
und der Präzedenzfall der sogenannten Old English, der normanno-englischen
Siedler, die vor der Reformation nach Irland gekommen waren, wo sie sich der
gälischen Bevölkerungsmehrheit anpaßten bis selbst die Kolonialmacht England
nicht mehr zwischen ihnen und der gälischen Bevölkerungsmehrheit unter-
446
447
WG, S. 530.
McCracken, Social Structure, S. 37.
158
schied,448 resultierten in der Furcht der Ascendancy, ihre hegemoniale Position auf
Dauer nicht halten zu können. Daß diese Befürchtung zumindest auf dem Land
und vor allem im Westen Irlands nicht unbegründet war, läßt sich allein daran
ablesen, daß schon die zweite Generation der Nachkommen protestantischer
Landbesitzer, die zu Cromwells Zeiten nach Irland gekommen waren, im Westteil
des Landes des Englischen kaum noch mächtig waren:449 „Zahlenmäßig der autochthonen irischen Bevölkerung enorm unterlegen, stellten die Anglo-Iren in ihren
Burgen und Gutshäusern verstreute Inseln des Englischen in einem Meer des Gälischen dar.“450 Gewisse kulturelle Erosionserscheinungen waren also – zumindest
regional – auch unter den anglo-irischen New English durchaus vorhanden, so daß
die Ascendancy als Exponent der anglo-irischen Bevölkerung tatsächlich Anlaß
zur Sorge hatte.
Kulturelle Abgrenzung. Vor dem Hintergrund dieser Befürchtungen sind die
kulturellen Abgrenzungsbemühungen der Ascendancy besser verständlich. Oberste Priorität hatte dabei die Verhinderung der Vermischung der protestantischen
mit der katholischen Bevölkerung. Da sich ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Praxis durchgesetzt hatte, daß Katholiken eheliche Verbindungen mit
Protestanten nur mit Genehmigung des zuständigen katholischen Bischofs und
unter der Bedingung eingehen durften, daß die Trauung von einem katholischen
Priester vorgenommen, die Religionsausübung des katholischen Partners unter
keinen Umständen behindert und aus der Verbindung hervorgegangene Kinder im
katholischen Glauben großgezogen werden mußten,451 rückten gemischtkonfessionelle Konnubialbeziehungen nun ins Zentrum protestantischer Abgrenzungsbemühungen. Interkonfessionelle Ehen wurden zwar nicht generell verboten, aber
effektiv so drakonisch bestraft, daß das Resultat dasselbe war. Protestantische
Frauen, die einen Katholiken heirateten, wurden gesetzlich für tot erklärt, so daß
ihr gesamtes Hab und Gut an den nächsten protestantischen Verwandten fiel.452
Protestantische Männer, die eine Katholikin heiraten wollten, erhielten keine Heiratsgenehmigung des zuständigen anglikanischen Bischof. Ließen sie sich selbst
448
Beckett, Tradition, S. 36.
D. Corkery, The Hidden Ireland, A Study of Gaelic Munster in the 18th Century, Dublin 19564,
S. 21f.
450
R. McCrum u.a., The Story of English, London 1992 (rev. ed.), S. 172.
451
Corish, Catholic Community, S. 50.
452
Lydon, Making, S. 223.
449
159
dadurch nicht von ihrem Vorhaben abbringen, wurden sie – ungeachtet ihrer religiösen Präferenzen – vor dem Gesetz auch als „Papisten“ betrachtet und unterlagen damit der ganzen Bandbreite der Strafgesetze.453 Darüber hinaus wurden die
Strafen für katholische Priester, die gemischtkonfessionelle Vermählungen vornahmen, aufgestockt: Ab 1725 wurde ein solcher Akt als Kapitalverbrechen bewertet, das mit der Todesstrafe belegt war, und einige Priester wurden deshalb
tatsächlich hingerichtet.454 Die Ehen, die auf diese Weise zustande kamen, galten
selbst 1745 – als die Ascendancy unter der Hand längst zu einer stillschweigenden
Tolerierung der katholischen Religionsausübung übergegangen war – noch immer
nicht als rechtsgültig.455 Gerade weil Ehen auch immer einen ökonomischen Aspekt besaßen und es dort unter Umständen um substantiellen Landbesitz ging
wurden die Einhaltung dieser Gesetze strikt kontrolliert. Andererseits indiziert die
Tatsache, daß die Gesetze gegen gemischtkonfessionelle Ehen ein ums andere
Mal neu aufgelegt und ergänzt werden mußten, daß offensichtlich immer wieder
Versuche unternommen wurden, sie zu umgehen.456
Der zweite Gefahrenherd für die zahlenmäßig unterlegene anglo-irische Bevölkerung bestand in der Konversion ihrer Mitglieder zum Katholizismus. Hier wurde
noch härter durchgegriffen als beim gemischtkonfessionellen Konnubium: Protestantische Konversionen zum Katholizismus durch „Verführung, Überzeugung
oder Pervertierung“ wurden unter Berufung auf das Statut Praemunire von 1377
(16 Richard II., II, c.5) als ‚äußerer Eingriff’ in die königliche Autorität betrachtet.457 Diese Sichtweise reflektierte einerseits die Assoziation des Katholizismus
mit dem Vatikan als einer feindlichen äußeren Macht und andererseits den Status
der anglikanischen Kirche als Staatskirche Irlands. ‚Äußere Eingriffe’ (d.h. der
Versuch, ein Imperium in Imperio zu errichten) stellten jedoch ein Kapitalverbrechen dar, das mit vollständiger Enteignung und Todesstrafe belegt war – und genau diese Strafen wurden Konvertiten und ihren Mentoren angedroht.458 Um der
Konversionsgefahr weiter vorzubeugen wurde gleichzeitig festgelegt, daß kein
Katholik die Vormundschaft eines protestantischen Waisen unter 21 Jahren über453
Lecky, History of Ireland 1, S. 152; Froude, English in Ireland 1, S. 258.
Corish, Catholic Community, S. 74.
455
Ebd.
456
Wall, Penal Laws, S. 8.
457
Curtis/McDowell, Documents, S. 189.
458
Ebd.
454
160
nehmen durfte. Der Court of Chancery war gesetzlich damit beauftragt, in einem
solchen Fall einzuschreiten und das Kind bzw. den Jugendlichen dem nächsten
protestantischen Verwandten zu überantworten oder ggf. einen nicht blutsverwandten Protestanten mit der Vormundschaft zu betrauen.459
Kulturelle Marginalisierung der Katholiken: Gesetze gegen Bildung und Klerus. Während die Ehe- und Konversionspolitik des Kolonialregimes vor allem
darauf abzielte, das numerische Verhältnis zwischen der protestantischen und der
katholischen Bevölkerung zu stabilisieren, versuchte die Ascendancy außerdem,
die kulturelle Marginalisierung der katholischen Bevölkerung voranzutreiben,
indem sie ihr den Zugang zur Bildung verstellte und die Grundfesten der katholischen Kirche attackierte. Hier war das Ziel jedoch nicht mehr bloß die kulturelle
Segregation, sondern schlicht die Demontage des irischen Katholizismus.
Der Maßnahmenkatalog im Bildungssektor erstreckte sich von den Elementarschulen bis zur Universität. Katholiken durften weder als Lehrer an öffentlichen
Schulen noch als Privatlehrer tätig sein und keine eigenen Schulen unterhalten.
Auf die Denunziation eines katholischen Schulmeisters waren 10 £ Belohnung
ausgesetzt. Darüber hinaus war ihnen bei Strafe untersagt, ihre Kinder ins Ausland schicken, um ihnen in den katholischen Ländern des europäischen Festlandes
eine Ausbildung zuteil werden zu lassen. Auch der Zugang zur damals einzigen
Universität auf irischem Boden – dem anglikanischen Trinity College in Dublin –
blieb ihnen versagt.460
Ähnlich rigoros wurde zunächst auch gegen den katholischen Klerus und die Ordensgeistlichkeit vorgegangen. Durch den Banishment Act von 1697 wurden alle
katholischen Würdenträger und Ordensgeistlichen des Landes verwiesen. Allein
im darauffolgenden Jahr wurden mindestens 440 Priester und 380 Fratres aus Irland deportiert.461 Auch das katholische Episkopat war um 1703 fast völlig ausgeschaltet: Von den 26 irischen Bischofssitzen war 1697 die Hälfte bereits vakant,
fünf Bischöfe waren mit Jakob II. aufs europäische Festland geflohen, drei weitere verließen Irland wegen des Banishment Act, einer wurde 1703 nach Portugal
deportiert, ein weiterer verstarb im gleichen Jahr.462 Außerdem wurde im gleichen
Jahr festgesetzt, daß katholische Priester sich behördlich registrieren lassen und
459
Ebd., S. 190.
Vgl. summarisch Lecky, History of Ireland I, S. 148f.
461
Wall, Penal Laws, S. 10.
460
161
zwei Leumundszeugen beibringen mußten, die jeweils 50 £ Kaution für das
Wohlverhalten des Priesters zu hinterlegen hatten. Pro Kirchspiel durfte es nur
einen Priester geben, dem es nur dort erlaubt war, die Messe zu lesen. Katholische
Kirchen durften keine Glocken und keinen Kirchturm haben. Die öffentliche Aufstellung eines Kreuzes war Katholiken ebenfalls verboten.463 Wallfahrten wurden
im gleichen Zuge als „Aufruhr“ und „illegale Versammlungen“ eingestuft und als
solche unter Strafe gestellt.464 Gerüchte über eine französisch-jakobitische Invasion in Irland sorgten 1708 noch einmal für eine Zuspitzung der Lage: Alle Priester,
deren man habhaft werden konnte, wurden verhaftet und auf die Ergreifung von
katholischen Geistlichen hohe Belohnungen ausgesetzt. Um die nicht-registrierten
Priester zu fassen, wurden Magistrate ermächtigt, jeden beliebigen Katholiken
unter Eid zu befragen, wann, wo und von wem er das letzte Mal die Kommunion
erhalten habe und wer dabei anwesend gewesen sei.465 Außerdem wurden die registrierten Priester – vergebens – dazu aufgefordert, einen Eid abzulegen, in dem
sie die Thronansprüche Jakobs II. zurückwiesen.466 Aus Rücksichtnahme auf seine katholischen Allierten im Spanischen Erbfolgekrieg (1702-1713) – der Kaiser
und der König von Polen legten offiziellen Protest ein – mußte Großbritannien
darauf verzichten, dieses Gesetz rigoros durchzusetzen.467
Es ist aber auch ohne diese äußeren Einflüsse auffällig, daß die praktische Umsetzung gerade der Gesetze, welche die katholische Religionsausübung betrafen,
weiter hinter der Rechtsnorm zurückblieb. Zum Teil ist dies sicherlich auf mangelnde administrative Möglichkeiten des Kolonialregimes zurückzuführen: Die
Magistrate und Konstabler waren schlicht nicht in der Lage, den Gesetzen flächendeckend Geltung zu verschaffen.468 Darüber hinaus lassen sich in der Intensität der religiösen Verfolgung aber auch gewisse Konjunkturen ausmachen. In Krisenzeiten (also etwa während englisch-französischer Kriege oder der jakobitischen Aufstände in Schottland) wurde die Kontrolle über die katholische Bevölkerung stets deutlich verschärft.469 Politische Rücksichtnahme gegenüber katholi462
Ebd., S. 11f.
Zum Strafgesetz von 1703 vgl. Lecky, History of Ireland I, S.156f.
464
Curtis/McDowell, Documents, S. 194.
465
Corish, Catholic Community, S. 76.
466
Zum anti-katholischen Strafgesetz von 1709 vgl. Wall, Penal Laws, S. 17f.
467
Wall, Penal Laws, S. 18f.
468
Ebd., S. 20-25.
469
Ebd., S. 18-20.
463
162
schen Verbündeten Großbritanniens wie etwa gegenüber Kaiser Leopold I. in der
Regierungszeit Wilhelms III. erzwang dagegen vorübergehend eine mildere Linie
gegenüber den irischen Katholiken.470 Auch dynastische Einflüsse auf die Umsetzung der Strafgesetze mit religiösem Inhalt sind feststellbar: In der Regierungszeit
Königin Annes (1702-1714) wurde die religiöse Verfolgung der Katholiken mit
sehr viel mehr Energie ins Werk gesetzt als unter ihren hannoveranischen Nachfolgern.471 Dessen ungeachtet blieben diese Strafgesetze – da sie nicht abgeschafft, sondern nur informell nicht beachtet wurden – eine potentielle Waffe der
Ascendancy, um die katholische Bevölkerung in Schach zu halten: Sie konnten
von der Ascendancy – in Absprache mit der britischen Kolonialmacht – jederzeit
reaktiviert werden und sei es nur als Drohgebärde, um die katholische Bevölkerung einzuschüchtern. Angesichts dieser Rechtslage bedeutete die inoffizielle Tolerierungspolitik, die schon in der ersten Jahrhunderthälfte Raum griff und nach
dem Scheitern des zweiten jakobitischen Aufstands von 1745 noch deutlich zunahm,472 keine Rechtssicherheit für die katholische Bevölkerung, keinen einklagbaren Anspruch auf Bildung oder freie Religionsausübung.
Schwäche der protestantischen Mission. In dieses Bild informeller Tolerierung
paßt auch die Feststellung, daß Maßnahmen, die nicht bloß auf die Zerstörung des
Katholizismus, sondern auf die aktive Bekehrung von Katholiken zum Protestantismus abzielten, ungewöhnlich halbherzig verfolgt wurden.473 Der Versuch, anglikanische Priester in der gälischen Sprache zu unterrichten oder das anglikanische Gebetbuch und den anglikanischen Katechismus ins Gälische zu übersetzen,
um die protestantische Mission im Westen Irlands voranzutreiben, wurden nach
dem Tod Königin Annes im Jahr 1714 sofort eingestellt.474 Der anglikanische
Erzbischof von Dublin, William King, der diesen Schritt befürwortet hatte und
auch sonst Proselytisierungsversuche unterstütze, erklärte 1724 enttäuscht:
„Aufgrund der Methoden, die seit der Reformation ergriffen wurden und die
auch jetzt noch sowohl von den weltlichen wie auch von den kirchlichen Autoritäten verfolgt werden, erscheint es mir offensichtlich, daß es nie einen
470
Lecky, History of Ireland I, S. 167.
Corish, Catholic Community, S. 73.
472
Schon um 1730 bestand wieder ein geordnetes Kirchspielsystem und ab 1747 waren auch
wieder alle Bischofssitze besetzt. Vgl. ebd., S. 83; Wall, Penal Laws, S. 29f.
473
Dickson, New Foundations, S. 74; McCracken, Ecclesiastical Structure, S. 88.
474
Lydon, Making, S. 222.
471
163
Plan gegeben hat und auch heute nicht gibt, daß alle [Iren - MR] Protestanten
werden sollen.“475
Auch Versuche, durch Einrichtung anglikanischer Konfessionsschulen die Mission voranzutreiben, stagnierten lange Zeit. 1717 gründete Henry Maule einen Verein zur Gründung der sogenannten Charter Schools, die katholische Kinder unterweisen und zu Protestanten bekehren sollten. Es dauerte aber bis 1731, ehe der
Verein eine bescheidene finanzielle Unterstützung des Staates erhielt – und zwar
nur vor dem Hintergrund, daß illegale katholische Elementarschulen, die sogenannten Hedge Schools, derart Zulauf erhielten, daß ein Gegengewicht für notwendig erachtet wurde. Obwohl die Finanzmittel für die Charter Schools sukzessive erheblich aufgestockt wurden und ein flächendeckenden Netz von mehr als
50 Schulen über das Land gebreitet wurde,476 blieb der Erfolg aus. Katholische
Eltern weigerten sich vielfach, ihre Kinder in die Obhut der Charter Schools zu
geben, weil diese die Kinder von ihren Eltern trennten, um katholische Einflußnahme zu verhindern, und weil die Lebensbedingungen in diesen Einrichtungen
entsetzlich waren.477 Überdies schreckten die Charter Schools die katholische
Kirche auf, die nun – entgegen der Strafgesetze! – energisch daran ging, ein eigenes Elementarschulsystem auf Kirchspielbasis einzurichten. Das Regime versuchte zwar, die Lücken in der Schülerschaft der Charter Schools mit Waisen aufzufüllen, aber selbst damit gelangte man zu keinen überzeugenden Ergebnisse: 1825
stellte eine Kommission fest, daß während der mehr als einhundertjährigen Aktivität der Schulen lediglich 12.745 Schüler nach ihrem Abschluß bei Protestanten
in die Lehre gegeben worden waren.478
Die Gründe für diesen Mangel an Missionierungswillen sind vielfältig. Zum Teil
sind sie in der anglikanischen Kirche selbst zu suchen, deren Bischöfe sich oft
475
Zitiert nach McCracken, Ecclesiastical Structure, S. 89. (meine Übersetzung) Ähnlich enttäuscht äußerte sich auch der anglikanische Erzbischof von Tuam, Dr. Synge, im Jahr 1727. Vgl.
Lydon, ebd., S. 222.
476
Bis 1733 wurden die Charter Schools ausschließlich durch private Spenden finanziert, ab 1733
wurden dann vom Parlament 1.000 £ p.a. bereitgestellt, 1745 wurden vom Parlament die Einkünfte aus der Besteuerung fahrender Händler für diesen Zweck freigegeben, ab 1757 wurden die
staatlichen Beihilfen erheblich aufgestockt, weil die Großgrundbesitzer in den Charter Schools
eine Möglichkeit sahen, die Ausbildung qualifizierter Leineweber und -spinner voranzutreiben.
Vgl. Wall, Penal Laws, S. 7.
477
J.R.R. Adams, Swine-Tax and Eat-Him-All-Magee: The Hedge Schools and Popular Education in Ireland, in: Donnelly Jr./Miller, Irish Popular Culture, S. 97-117, S. 100.
478
Wall, Penal Laws, S. 7.
164
mehr mit Politik als mit seelsorgerischen Angelegenheiten befaßten.479 Das spannungsgeladene Verhältnis zwischen den anglikanischen Würdenträgern, die überwiegend aus Briten rekrutiert wurden, und den anglo-irischen Großgrundbesitzern trug ebenfalls dazu bei, daß die Kooperation zwischen Staatskirche und Parlament in der Missionsfrage nicht reibungslos funktionierte.480 Der wichtigste
Grund für das mangelnde Interesse an der Bekehrung der Katholiken lag jedoch
woanders: Eine erfolgreiche anglikanische Mission hätte das Ende des Ascendancy-Regimes bedeutet. Ohne die konfessionelle Abgrenzung wäre weder die politische und ökonomische Marginalisierung der Bevölkerungsmehrheit noch die diesem System zugrundeliegende Legitimationsideologie aufrechtzuerhalten gewesen; die Ascendancy wäre zumindest gezwungen gewesen, die Macht mit dem
katholischen Adel und Klerus zu teilen.481 Daher kann man festhalten, daß – ungeachtet aller administrativen Schwierigkeiten bei der Kontrolle über die Einhaltung der Strafgesetze – ein deutlicher Qualitätsunterschied im Geltungsgrad zu
beobachten ist, der einzelnen Maßnahmen verschafft wurde, je nachdem ob diese
im Interesse der Ascendancy waren oder nicht. Auf eine einfache Formel gebracht
stellte die konfessionelle Gestalt anti-katholischer Maßnahmen nicht mehr als
eine legitimative Camouflage für die Interessen der Ascendancy dar. An den Stellen, wo vitale Interessen der Ascendancy nicht berührt bzw. potentiell sogar bedroht wurden, blieb der protestantische Konfessionalismus ein Papiertiger: Es gab
im 18. Jahrhundert keinen genuinen Religions- oder Kulturkampf in Irland, sondern lediglich eine Fortsetzung kolonialer Konflikte mit kulturellen Mitteln.
479
McCracken, Ecclesiastical Structure, S. 85f.
Ebd., S. 87f.
481
Diese These wird perfekt durch eine Anekdote aus „The Case of the Roman Catholics of Ireland“ von 1724 illustriert, die Wall, Penal Laws, S. 6, wiedergibt. Danach entspann sich zwischen
Lord Galway und dem Earl of Drogheda, zwei substantiellen anglo-irischen Großgrundbesitzern,
folgende Konversation über eine Verschärfung der anti-katholischen Gesetzgebung:
„Ich bezweifele nicht [so Lord Galway], daß Eure Lordschaft für die Verabschiedung dieses guten
Gesetzes stimmen wird, denn dadurch wird die protestantische Religion gestärkt und wir werden
uns dieses papistischen Ungeziefers entledigen.“ „Mein Lord, [antwortete der Earl of Drogheda]
ich sollte mich freuen, die protestantische Religion gestärkt zu sehen, aber was sollen wir ohne
Holzfäller, Wasserträger und Arbeiter tun, die unser Land pflügen, unser Korn dreschen etc.“
„Sorgen Sie sich darum nicht, mein Lord, [setzte Lord Galway nach] denn ich gebe ihnen mein
Ehrenwort, daß innerhalb von drei Monaten, nachdem dieses Gesetz verabschiedet wurde, dreißigtausend protestantische Familien ins Land bringen werde. Dreißigtausend protestantische Familien!“ „Sehen Sie, [versetzte der Earl of Drogheda] genau aus diesem Grunde werde ich gegen das
Gesetz stimmen, denn darunter befindet sich nicht einer, der kein Schwert trägt und sich nicht für
genauso einen Gentleman hält wie ich einer bin und mir womöglich ein Duell anträgt, wenn ich
ihn kritisieren sollte.“
(meine Übersetzung – MR)
480
165
Diese merkwürdige Ambivalenz der Ascendancy, ihr Schwanken zwischen Unsicherheit, Arroganz und Laxheit war nicht nur für ihre Abgrenzungsbemühungen
gegenüber den Katholiken kennzeichnend, sondern zog sich wie ein roter Faden
durch ihre gesamten kulturellen Vorlieben und Leistungen – von der Architektur
über die Malerei, von der Musik bis in die Literatur.
Architektur. Die Architektur der Ascendancy illustriert besonders gut ihr Bedürfnis, dem Land ihren Stempel aufzudrücken. Seit den 1720er Jahren brach unter den anglo-irischen Großgrundbesitzern eine geradezu epidemische Bauwut
aus:482 Ohne Rücksicht auf die Kosten bauten anglikanische Gentlemen auf ihren
Ländereien neue Landsitze bis Irland flächendeckend mit Landhäusern im georgianischen, neoklassizistischen oder neo-gotischen Stil, der mit italienischen Zitaten angereichert wurde, übersät war.483 Im gleichen Zug fand auch die englische
Gartenbaukunst immer weitere Verbreitung: Der jardin anglais war bald in Irland
ebenso verbreitet wie in England selbst.484 Parallel zum Bauboom stieg auch das
Interesse der Ascendancy an der Architektur: Überwiegend wurden die neuen
Häuser nämlich nicht von ausländischen Architekten, sondern von den Großgrundbesitzern selbst entworfen, die sich dazu der Hilfe architektonischer ‚Do-ityourself-Literatur’ bedienten.485 Die Obsession, durch Gestaltung der Landschaft
Präsenz zu demonstrieren, kam auch in der Malerei zum Ausdruck: Da die angloirischen Gentlemen vor allem Abbildungen des eigenen Landes, Hauses und der
eigenen Familie nachfragten, gab es in Irland im 18. Jahrhundert sehr gute Landschaftsmaler und Porträtisten, während gleichzeitig andere Bereiche – etwa die
Schaffung von Devotional-skulpturen oder der Kirchenbau – eher stiefmütterlich
vernachlässigt wurden.486
Die Baumaßnahmen in den Grafschaftshauptstädten487 und vor allem in der
Hauptstadt Dublin, die das Aushängeschild des Ascendancy-Regimes darstellte,
standen dem Bauboom auf dem Land in nichts nach. Der bereits beschriebene
Umzug der Aristokratie und des wohlhabenden Mittelstands aus dem langsam
482
Foster, Modern Ireland, S. 190.
Vgl. Karte 3 in: J.H. Andrews, Land and People, c. 1780, in: Moody/Vaughan, History of
Ireland 4, S. 236-264, S. 238; Foster, ebd., S. 191.
484
Andrews, Land, S. 239.
485
Foster, Modern Ireland, S. 190f. Stararchitekten wie James Gandon beklagten sich bitter über
die Amateurarchiteken, welche ihm Auftragseinbußen eintrugen. Vgl. ebd., S. 190.
486
Ebd., S. 192.
487
Vgl. ebd.
483
166
verarmenden Westen in den Osten Dublins (den heutigen Stadtkern) wurde von
enormen privaten Bauvorhaben begleitet: Tyrone House (heute Sitz des Erziehungsministeriums), Leinster House (heute der Sitz des irischen Parlaments), Belvedere House und Charlemont House am Rutland Square (dem heutigen Parnell
Square), Northland House in Dawson Street (heute Sitz der Royal Irish Academy)
gehen alle auf das 18. Jahrhundert zurück, die Liste wäre problemlos erweiterbar.488
Neben den Dubliner Stadtresidenzen der Aristokratie wurden auch eine Vielzahl
von offiziellen Gebäuden errichtet: Hier müssen vor allem die Four Courts, das
Customs House, die Rotunda und das neue Parlamentsgebäude in Erwähnung finden. Besonders letzteres dokumentierte den ostentativen Machtanspruch der Ascendency: Zwischen 1729 und 1739 unter der Leitung des Stararchitekten Edward
Lovett Pearce zu einem Preis von 95.000 £ errichtet, war es größer und prächtiger
als selbst das britische Parlament in Westminster.489 Zwischen 1784 und 1789
wurde der Ostflügel des Parlaments, der das irische House of Lords beherbergte,
von dem berühmtesten Architekten Irlands im 18. Jahrhundert, James Gandon,
weiter ausgebaut. Das Timing dieser offiziellen Baumaßnahmen ist insgesamt
sehr beachtenswert: Die Bauarbeiten an den Four Courts begannen 1776 und endeten 1786, das Customs House wurde zwischen 1781 und 1791 fertiggestellt, die
Versammlungsräume der Rotunda wurden ebenfalls während der 1780er Jahre
gebaut. Mit anderen Worten: Diese offiziellen Repräsentativgebäude wurden ausnahmslos in der Blütezeit des irischen ‚Patriotismus’ während der 1720er Jahre
(also nach dem Declaratory Act) und der 1780er Jahre (also kurz vor oder nach
„Grattan’s Revolution“) errichtet. Dieser Umstand legt nahe, gerade diese Bauten
als politisches Statement zu interpretieren, als architektonische Symbole für den
anglo-irischen Anspruch auf legislative Unabhängigkeit Irlands oder – anders
gewendet – als Ausdruck des ‚kolonialen Nationalismus’ der ‚protestantischen
Nation’.490
Parallel wurden von der 1758 gegründeten Wide Street Commission auch generelle städtebauliche Maßnahmen initiiert: Durch den Bau konzentrischer Straßenrin488
Vgl. ebd., S. 187f. und Craig, Dublin, S. 221-234. Weitere erwähnenswerte aristokratische
Stadtresidenzen sind Powerscourt House, Whaley House (wegen des irren Aufwands, der bei der
Erbauung betrieben wurde, auch als ‚Whaley’s Folly’ bekannt), Clonmell House, Ely House und
Aldborough House. Vgl. Craig, ebd.
489
Vgl. Foster, Modern Ireland, S. 188.
167
ge, die durch Steinbrücken über den Liffey miteinander verbunden waren, und
den Bau des Grand Canal und des Royal Canal nahm das Dubliner Stadtbild
langsam geordnete Konturen an. Umfangreiche Straßenerweiterungen wie in Dame Street, der Ausbau der Kais entlang des Liffey und der Ausbau von Plätzen
wie Rutland Square und Foster Place rundeten das Tätigkeitsprofil der Wide
Street Commission ab. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gab sie jährlich rund
25.000 £ für Städtebaumaßnahmen aus.491 Privatunternehmer wie Luke Gardiner
schufen zusätzlich prächtige Residenzstraßen wie Henrietta Street, Dominick
Street und vor allem die Sackville Mall.492 Auch zwischen Grafton Street und
Merrion Square entstand ein neuer Knotenpunkt des kommerziellen Lebens.
Zeitgenossen – insbesondere Londoner – zeigten sich von der Grandezza der irischen Hauptstadt durchaus beeindruckt, aber sie machten auch keinen Hehl daraus, daß sie die architektonische Ostentation als ein überproportioniertes koloniales Neureichenphänomen betrachteten.493 Genau dieser Imponiergestus war aber
das Ziel des Aufwandes: Das georgianische Dublin repräsentierte den zu Stein
gewordene Machtanspruch der Ascendency und – wenn man die offiziellen
Prachtbauten und vor allem das neue Parlamentsgebäude betrachtet – auch eine
architektonische Herausforderung an die Adresse Londons. Umgekehrt stellten
die Prachtbauten aber auch ein steinernes Fragezeichen dar: Da die Ascendancy
überhaupt die Notwendigkeit sah, auf diese höchst kostspielige Weise Selbstdarstellung zu betreiben, gestand sie implizit auch ein, daß sie es nötig hatte. Darin
liegt die Plausibilität der von ROY FOSTER geäußerte Vermutung, daß die Anstrengung, dem Stadtbild einen unverwechselbaren und nicht zu tilgenden Stempel aufzudrücken, einen Kompensationsversuch für die Unsicherheit einer kolonialen Elite darstellte, die erst seit relativ kurzer Zeit im Lande weilte.494
Gesellschaftliches Leben auf dem Land. Zieht man das kulturelle und gesellschaftliche Leben der Ascendancy insgesamt in Betracht, muß man zwischen
Stadt und Land (und das bedeutet zugleich: zwischen verschiedenen sozialen
490
Vgl. Craig, Dublin, S. 124, Lydon, Making, S. 238.
Craig, ebd., S. 173.
492
Vgl. E. Walsh, Sackville Mall: The First One Hundred Years, in: Dickson, Mask, S. 30-50.
Heute ist die Sackville Mall, die nach der Unabhängigkeit in O’Connell Street umgetauft wurde,
die Hauptstraße Dublins.
493
Ein englischer Beobachter schrieb, Dublin wirke auf ihn, „like being ‘at a table of a man who
gives me Burgundy, but whose attendant is a bailiff disguised in livery’“. Zitiert nach Foster, Modern Ireland, S. 186.
491
168
Schichten) unterschieden. Nur der anglikanische Landadel, die ‘half-mounted
gentlemen’ und ‚squireens’, denen es an den finanziellen Möglichkeiten gebrach,
um an den gesellschaftlichen Aktivitäten in der Hauptstadt teilzunehmen, suchten
im 18. Jahrhundert ihr Vergnügen auf dem Lande. Ihre Vorlieben für rustikale
Formen der Unterhaltung, für Pferderennen und Hahnenkämpfe auf Jahrmärkten
und Assizen, die Jagd und das Hurling (die schnelle und verletzungsintensive
irische Version des Feldhockeys) sowie finanziell ruinöse Formen der Gastfreundschaft sind von zeitgenössischen Beobachtern ebenso festgehalten worden,
wie ihre Wettleidenschaft und ihr offenbar ausgeprägter Hang zu exzessivem Alkohlkonsum und zum Austragen von Duellen.495
Gesellschaftliches Leben in Dublin. Den distinguierten Hochadel zog es dagegen entweder nach London, in die südenglische Badeorte oder aber – vor allem
während der kurzen Legislaturperioden des irischen Parlaments – nach Dublin,
wo man das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden konnte: Im Dunstkreis der
Macht seine Geschäfte erledigen und sich amüsieren.496 Die gesellschaftliche
Hochsaison im Dublin der Jahrhundertmitte dauerte von November bis März.497
Die gesellschaftlichen Aktivitäten erstreckten sich von Theater- und Konzertbesuchen über Bälle und privatere Formen der Unterhaltung wie Kartenabende und
Dinners.
494
Ebd., S. 192.
Vgl. Carty, Ireland, S. 123 u. Beckett, Making, S. 183. Der Hauptgewährsmann für diese Art
der Vergnügungen des niederen Landadels ist Sir Jonah Barrington (1760-1834), der in seinen
Personal Sketches of his Own Times ein lebendiges, sehr farbenfrohes Bild der Gewohnheiten
dieser Schicht zeichnete. Barrington selbst war ein Exponent eben jener Schicht, die Arthur Young in seiner Tour of Ireland als „Ungeziefer des Königreichs“ und als „Despoten“ bezeichnete
(zitiert nach Carty, Ireland, S. 112): Er beschloß sein Leben in Frankreich, wohin er sich Ende der
1820er Jahre zurückziehen mußte, um seinen Gläubigern zu entgehen. Eine weitere literarische
Quelle für die Gewohnheiten der ‚landed gentlemen’ bilden der Roman „Castle Rackrent“ und die
Kurzgeschichte „The Absentee“ von Maria Edgeworth (1767-1849). Zur passiven und aktiven
Teilnahme der protestanischen Gentry am Hurling, an Preiskämpfen, Pferderennen und dergleichen mehr vgl. S. Connolly, 'Ag Déanamh Commanding': Elite Responses to Popular Culture,
1660-1850, in: Donnelly Jr./Miller, Irish Popular Culture, S. 1-29, S. 12-14, zu Festlichkeiten vgl.
ebd., S. 17-20, zu Duellen und Trunkenheit vgl. ebd., S. 22f. sowie speziell zu ‚Fighting‘ Fitzgerald und anderen berüchtigten Duellisten der 1770er und 1780er Jahre, die unter dem Namen
‚Fire-eaters‘ bekannt wurden, vgl. J. Kelly, 'That Damn'd Thing Called Honour', Duelling in Ireland, 1570-1860, Cork 1995, S. 147-167.
496
Vgl. T. Mooney u. F. White, The Gentry’s Winter Season, in: Dickson, Mask, S. 1-16, S. 4.
497
Dieser gesellschaftliche Zyklus ist anhand der Werbung, die für Bälle, Konzerte oder Theatervorstellungen in den Tageszeitungen geschaltet wurde, rekonstruiert worden. Vgl. ebd., S. 1f. Da
aber die Werbung in der Presse vor 1720 nur eine marginale Rolle spielte, läßt sich über das erste
Viertel des Jahrhunderts auf diese Weise keine Aussage treffen. Vgl. R. Munter, The History of
the Irish Newspaper, 1685-1760, Cambridge 1967, S. 66.
495
169
Theater. Insgesamt – vor allem aber in Bezug auf den literarischen Markt sowie
die Theater- und Konzertveranstaltungen – fällt auf, daß sich die Ascendancy offensichtlich bemühte, das gesellschaftliche Leben Londons zu imitieren. In Dublin
kam nur auf die Bühne, was vorher in London Erfolg gehabt hatte: Die Publikumsrenner in den wichtigsten Dubliner Theatern – dem Theatre Royal in Crow
Street und dem Smock Alley Theatre – waren vor allem komische Opern und
Shakespeares Dramen. Zaghafte Versuche, dem Publikum etwas Neues nahe zu
bringen, scheiterten. Die Aufführung italienischer Opern in Dublin endete in der
Saison 1777-78 in einem Fiasko: Die Stücke fielen beim Publikum und den Kritikern gnadenlos durch. Die Gegner dieser Neuerung engagierten sogar eine stadtbekannte Prostituierte, um die Veranstaltungen gezielt zu stören.498 Diese Aktion
illustriert, daß das Theater als ein Raum der ritualisierten – also auf Wiederholung
basierenden – kulturellen Selbstvergewisserung der Oberschicht diente, denn die
Schärfe des Protestes ist kaum allein dadurch zu erklären, daß das Publikum italienische Opern als eine Geschmacksverirrung auffaßte. Unterstellt man jedoch,
daß die Neuerung vor allem als Verstoß gegen den Kulturkanon der Ascendancy
und damit gewissermaßen als kulturelle ‚Beleidigung‘ aufgefaßt wurde, macht ein
derart drastisches Protestverhalten durchaus Sinn.
Damit nicht genug, stellte das Theater auch einen Raum sozialer Distinktion dar.
Der soziale Status der einzelnen Zuschauer fand schon in der Sitzordnung augenfällig Ausdruck.499 Noch erhellender ist in diesem Zusammenhang jedoch, daß ab
den 1780er Jahren ein Rückgang der Theaterbesuche der kolonialen Oberschicht
zu beobachten ist, während gleichzeitig Privatklubs gegründet wurden, die über
einen Mitgliederbeitrag die Organisation gesellschaftlicher Anlässe wie Konzerte
und Bälle finanzierten.500 Die Aristokratie zog sich aus dem öffentlichen gesellschaftlichen Leben zurück und privatisierte zunehmend, weil die Mitglieder der
aufstrebenden städtischen Mittelschicht – darunter auch immer mehr katholische
Kaufleute – begannen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. In den 1780er
Jahren konnte zum Beispiel eine Frau jeden Ranges eine Karte für einen Logenplatz im Theater erwerben, während diese vorher für die (anglikanischen) Damen
498
Mooney/White, Gentry, S. 5.
Das galt beileibe nicht nur für die Hauptstadt. Vgl. Connolly, Elite, S. 11.
500
Mooney/White, Gentry, S. 11f.
499
170
der kolonialen Oberschicht reserviert waren.501 Gleichzeitig wurden immer weniger gesellschaftliche Anlässe durch die Anwesenheit des Lord Lieutenant aufgewertet.502 Damit verlor das gesellschaftliche Leben an Exklusivität und der repräsentative Aufwand, der betrieben wurde, lohnte sich immer weniger. Die Ascendancy reagierte auf die ‘Plebeisierung’ der gesellschaftlichen Anlässe durch die
Einrichtung neuer gesellschaftlicher Räume, deren Exklusivität sie allein kontrollieren konnte.503 Neben Privatklubs, die allein zur Unterhaltung der Männer dienten, entstanden so auch private Theater. Der Earl von Westmeath gründete 1792
die Amateur Dramatics Society, deren Mitgliedschaft auf einhundert Gentlemen
begrenzt war. Mit den Mitgliederbeiträgen renovierten sie das Fishamble Street
Theatre, das 1794 wiedereröffnet wurde. Bereits 1797 hatte dieses Theater die
ehemalige Logenkundschaft des Theatre Royal zu sich herübergezogen.504 Dieser
Sachverhalt unterstreicht die eigentliche Funktion, welche die Einrichtung des
neuen Theaters hatte, nämlich die Bewahrung der exklusiven gesellschaftlichen
und kulturellen Position der Ascendancy.505
Konzerte und Bälle. Neben den Theaterveranstaltungen wurden in St. Patrick’s
Cathedral und Christ Church Cathedral Oratorien aufgeführt und in der Great
Musick Hall in Fishamble Street gab es während der Wintermonate regelmäßig
Konzertabende.506 Wie die Theateraufführungen war auch die Konzertkost eher
eintönig und auf Stoffe eingeschränkt, die sich zuvor in London durchgesetzt hatten. Vor allem Händels Werke dominierten die Dubliner Musikszene im 18. Jahrhundert und wurden immer und immer wieder aufgeführt.507 Die zahlreichen Benefizkonzerte, die unter der Schirmherrschaft prominenter Mitglieder des anglikanischen Hochadels und von den späten 1760er bis zu den 1780er Jahren auch des
Lord Lieutenant standen und deren Erlöse vor allem Hospitälern zugute kamen,
boten diesen Kreisen die Chance, sich nicht nur als Kunstmäzene, sondern auch
als Philantropen öffentlich zu profilieren. Insofern dienten Konzerte nicht nur zur
501
Ebd., S. 12
Ebd., S. 11f.
503
Ebd., S. 8 (Privatkonzerte), S. 13 (Privatklubs für Gentlemen).
504
Ebd., S. 12.
505
Zum gesellschaftlichen Leben der Ascendency in Dublin vgl. summarisch Mooney/White,
Gentry; Beckett, Making, S. 183ff. Ebd. S. 185 auch über das gesellschaftliche Leben in den Provinzstädten Cork, Galway, Kilkenny und Limerick. Vgl. außerdem Carty, Ireland, S. 128-131.
506
Mooney/White, ebd., S. 7.
507
Ebd., S. 7.
502
171
bloßen Unterhaltung, sondern auch zur Erhöhung des Sozialprestiges von Veranstaltern und Teilnehmern.
Bälle wurden bis in die 1760er Jahre primär in den Great Assembly Rooms in
Brunswick Street und ab den 1780er Jahren vor allem im Grand Ridotto Room
und dem Exhibition Room in William Street abgehalten. Auch bei den Bällen ging
es jedoch zumindest ebenso sehr um die Selbstdarstellung der Ascendancy wie um
ihre Zerstreuung, da die bloße Teilnahme an den gesellschaftlichen Hauptereignissen und die Zurschaustellung der eigenen Person in Garderoben der neuesten
Mode dazu geeignet waren, die Zugehörigkeit zur höheren Gesellschaft zu demonstrieren.508
Literatur. Ein Blick auf die literarische Szene bestärkt noch einmal den Eindruck, daß der anglo-irische Teil der Gesellschaft von England kulturell abhängig
war.509 Trotz illustrer Namen (Jonathan Swift, George Berkeley, Edmund Burke,
Oliver Goldsmith und Richard Brinsley Sheridan um nur die wichtigsten zu nennen) und trotz eines großen literarischen Interesses im anglo-irischen Bürgertum
und Adel, entstand – wie J.C. BECKETT feststellt – „kein Korpus literarischer
Werke, der zurecht als anglo-irische Literatur bezeichnet werden könnte.“510
Während die Werke von Swift und Berkeley wenigstens noch vor ihrer Publikation in London in Dublin veröffentlicht wurden, verließen die jüngeren Autoren –
Burke, Goldsmith und Sheridan – Irland sobald wie möglich und zeigten danach
(vielleicht mit Ausnahme Sheridans) kein Interesse mehr an Irland.511 Auf der
Dubliner Literaturszene blieben zweitklassige Autoren wie Pockrich oder
Winstanley zurück, während die literaturinteressierte Öffentlichkeit nach London
schaute und so zu einer Verlängerung des englischen Buchmarktes wurde.512 Immerhin wurde die literarische Nachfrage aber durch Dubliner Buchdrucker bedient, die das Recht hatten, jedes in England erschienene Buch nachzudrucken.513
Festkultur. Mit einer spannenden Ausnahme – den Feiern zum St. Patrick’s Day
– bestätigt auch die offizielle Festkultur den engen kulturellen Nexus zwischen
der Ascendancy und dem kolonialen Mutterland. Abgesehen vom Geburtstag des
508
Ebd., S. 6.
Maurer, Geschichte Irlands, S. 162.
510
Beckett, Tradition, S. 80.
511
Ebd. S. 81, 131f.
512
Ebd., S. 80, Craig, Dublin, S. 202f.
513
Craig, ebd., S. 202-204.
509
172
jeweiligen Monarchen wurden vor allem solche Ereignisse offiziell gefeiert, die
mit den Begebenheiten von 1690/1 in Verbindung standen: Der Geburtstag Wilhelms III. (4. November) und die Jubiläen der Schlachten an der Boyne (1. Juli)
und bei Aughrim (12. Juli).514 Während die Erinnerung an die Schlachten vor allem von privaten Erinnerungsvereinen wie den Boyne-Societies wachgehalten
wurde, die anläßlich dieser Tage Umzüge veranstalteten, Freudenfeuer anzündeten, Ehrensalute und Feuerwerke abschossen und anschließend an speziellen Gedenkgottesdiensten teilnahmen, standen die Feiern zu Wilhelms Geburtstag eindeutig unter der Ägide Dublin Castles. Der Lord Lieutenant veranstaltete einen
Nachmittagsempfang und anschließend marschierten die administrativen und zivilen Notablen zusammen mit Mitgliedern des Hoch- und Landadels feierlich vom
Castle zur Reiterstatue Wilhelms III., die 1701 in College Green vor dem Portal
von Trinity College aufgestellt worden war,515 von dort nach Stephen’s Green zur
Statue Georgs II. und wieder zurück zum Castle. Die Teilnehmer trugen orange
und blaue Kockaden (also die offiziellen Farben Wilhelms und Irlands, nicht jedoch die irische Nationalfarbe Grün). Ab den späten 1770er Jahren nahmen auch
die Freiwilligenverbände, die Volunteers, an diesem Umzug teil und verliehen
ihm das Dekorum einer militärischen Parade. Nach dem Umzug fand im Castle
normalerweise ein Empfang für die politische und soziale Haute volée statt.516
Im Gegensatz zu den Geburtstagsfeiern Wilhelms III. wurde St. Patrick’s Day
(17. März), der Gedenktag des Patrons Irlands, vom Regime zunächst nicht gefeiert, sondern nur von der katholischen Bevölkerung. Das änderte sich jedoch 1783,
514
Anmerkung zur Datierung: Die Daten beruhen auf dem julianischen Kalender, der gregorianische Kalender, der in Kontinentaleuropa 1582 eingeführt wurde, erhielt in Irland erst 1752 Gültigkeit. Nach dem modernen Kalender wurde der Geburtstag Wilhelms III. am 15. November, die
Schlacht an der Boyne am 12. Juli (wie heute noch die Orange Marches in Nordirland) und die
Schlacht bei Aughrim am 23. Juli gefeiert.
515
Die Reiterstatue Wilhelms war von Anfang an das Ziel politischer Anschläge, aber auch das
Opfer jugendlichen Vandalismus‘. Studenten des Trinity College zeichneten für einige der Anschläge verantwortlich, weil sie darüber empört waren, daß die Statue in Richtung des Castles
schaute und ihrer Alma Mater, dem Sitz irischer Bildung, den Rücken zuwandte. Die restlichen
Anschläge dürften auf das Konto von Jakobiten gehen. Die ikonoklastischen Aktivitäten waren
vielfältig: Die Statue wurde mit Dreck beworfen, geteert (aber nicht gefedert!), das Zepter wurde
abgerissen, sogar der Kopf wurde einmal sauber abgesägt. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts wurde
ein Wachhäuschen neben der Statue aufgestellt, aber auch das half nichts. Besonders dreist war
die Tat eines Witzbolds, der es 1805 fertig brachte, die Statue am Abend vor dem obligatorischen
Umzug schwarz anzustreichen. Er erklärte dem kooperativen Wachmann, er sei vom Stadtrat
damit beauftragt worden und verschwand nicht, ohne den Wachmann vorher zu bitten, doch ein
Auge auf seine Farbtöpfe zu haben. Craig, Dublin, S. 76. 1836 wurde die Statue von einer Bombe
in die Luft gejagt, aber repariert und wieder aufgestellt, bevor sie 1929 dann einem letzten Bombenanschlag endgültig zum Opfer fiel. Connolly, Companion, S. 592.
173
mit der Einrichtung des Ordens vom Hl. Patrick durch Georg III., der damit ein
irisches Pendant zum englischen Hosenbandorden schuf.517 Von nun an veranstaltete der Lord Lieutenant, der als Großmeister dem Orden vorstand, regelmäßig ein
festliches Dinner für die hochadeligen Ritter des Hl. Patrick. Zusätzlich wurde ab
1783 vom Castle regelmäßig ein Nachmittagsempfang mit anschließendem Ball
und spätem Imbiß ausgerichtet.518 Die zweite Ausnahme von der Regel, daß St.
Patrick’s Day einen rein katholischen Feiertag darstellte, bildeten die Friendly
Brothers of St. Patrick, eine auf ökumenische Begegnung ausgerichtete Wohltätigkeitsorganisation, die regelmäßig am 17. März in Dublin zusammenkam, um
ihre Vereinsgeschäfte zu erledigen, die (anglikanische) Messe zu hören und zusammen zu dinieren.519 Es ist also feststellbar, daß gegen Ende des Jahrhunderts
der Tag des Hl. Patrick allmählich in den Festkanon der Ascendancy integriert
wurde – und zwar sowohl vom Staat wie auch von einer kleinen Gruppe aufgeklärter Anglikaner. Parallel dazu ist interessant, daß das Regime die Feiern zu den
Schlachten an der Boyne und bei Aughrim gegen Ende des Jahrhunderts längst
nicht mehr so nachdrücklich unterstützte wie noch zu Beginn des Jahrhunderts.520
Das ist deshalb von Bedeutung, weil die Feiern anläßlich der Schlachten vor allem
gegen die Katholiken gerichtet waren, da sie an deren Niederlage erinnerten, während die Feiern zum Geburtstag Wilhelms III. als politisches Bekenntnis zur
„Glorreichen Revolution“ (und zur religiösen Tolerierung der Katholiken durch
Wilhelm von Oranien) bei Katholiken bei weitem nicht soviel Verbitterung hervorriefen. Insofern kann die Festpolitik des Kolonialregimes gegen Ende des 18.
Jahrhunderts ansatzweise als Geste symbolischer Versöhnlichkeit gegenüber der
katholischen Bevölkerung aufgefaßt werden, die allerdings unverbindlich blieb
und deren Bedeutung insofern nicht zu hoch veranschlagt werden darf.
Historiographie. Auf dem Gebiet der Historiographie ist feststellbar, daß die
Ascendancy sich allmählich mit dem kulturellen Erbe der präkolonialen, gälischen
Gesellschaft zu arrangieren und identifizieren begann.521 ROY FOSTER weist in
diesem Zusammenhang auf einen bezeichnenden Wandel in der Selbstbezeich516
Zu den Feiern zu Wilhelms Geburtstag vgl. Hill, National Festivals, S. 32-39 passim.
Ebd., S. 31.
518
Ebd.
519
Ebd., S. 32.
520
Ebd., S. 35.
521
Lydon, Making, S. 235.
517
174
nung der kolonialen Oberschicht zwischen den 1690er und 1720er Jahren hin: In
den 1720er Jahren verdrängte die Selbstbezeichnung „Irish gentlemen“ allmählich
ältere Begriffe wie „the Protestants of Ireland“ oder sogar „the English of this
kingdom“. Auch George Berkeley kann hier als Beispiel angeführt werden: Als
18jähriger Student sprach er 1703 noch von der irischen Bevölkerung als „Eingeborene“ („natives“), ein paar Jahre später dagegen schloß er sich selbst mit in diese Gruppe ein und sprach von „uns Iren“.522 In die gleiche Zeit fallen auch erste
Veröffentlichungen von protestantischen Autoren, die versuchten, einer englischsprachigen Leserschaft die gälische Geschichte und Zivilisation nahezubringen.
Klassisch anti-katholische Schriften wie Erzbischof William Kings „The State of
the Protestants of Ireland under the Late King James’s Government“ von 1691
erhielten nun Konkurrenz von Veröffentlichungen wie William Nicolsons „Irish
Historical Library“ von 1724 oder Francis Hutchinsons „A Defence of the Antient
Historians“ von 1734.523 Die Autoren, die übrigens wie King beide Bischöfe der
anglikanischen Kirche waren, rezipierten Geoffrey Keatings pro-gälische „General History of Ireland“, die ab 1723 in englischer Übersetzung (und von katholizistischen Untertönen ‚gereinigt’) vorlag. Weitere Werke pro-gälischer Enthusiasten mit protestantischem Hintergrund folgten in den späten 1740er Jahren.524 Das
Timing dieser Veröffentlichungen war alles andere als zufällig: Die erste Welle
des gälischen Enthusiasmus unter Protestanten ab den 1720er Jahren hing eng mit
der Entfremdung der Ascendancy von Großbritannien zusammen, die ihre Wurzeln in den Kontroversen um den Declaratory Act und Wood’s-Halfpence-Krise
hatte, die zweite Welle Ende der 1740er Jahre markierte das Abebben protestantischer Furcht vor einem jakobitischen Aufstand in Irland nach dem Scheitern der
schottischen Rebellion von 1745. Darüber hinaus spricht auch die generelle Stoßrichtung und der selektive Charakter dieser Schriften deutlich für eine Adaption
des gälischen Kulturerbes durch die protestantischen Autoren. Laut JACQUELINE
HILL bestehen die Charakteristika dieser Schriften darin, daß erstens die gälische
522
Foster, Modern Ireland, S. 178, auch Lydon, ebd., S. 234.
W. Nicolson, The Irish Historical Library: Pointing at Most of the Authors and Records in
Print or Manuscript, Which May be Serviceable to the Compilers of a General History of Ireland,
Dublin 1724; F. Hutchinson, A Defence of the Antient Historians with a Particular Application of
it to the History of Ireland and Great Britain and Other Northern Nations in a Dialogue between a
Protestant and a Papist, an Englishman and an Irishman, Dublin 1734.
524
So zum Beispiel J. Keogh, A Vindication of the Antiquities of Ireland, and a Defence thereof
against all the Calumnies and Spersions Cast on it by Foreigners, Dublin 1748.
523
175
Kulturtradition vom römischen Katholizismus deutlich getrennt wurde, daß zweitens die gälische Kultur durch Vergleiche mit dem antiken Griechenland und Rom
aufgewertet wurde und daß drittens das politische System der präkolonialen gälischen Gesellschaft mit Begriffen aus der Zeit nach der „Glorreichen Revolution“
gefaßt und beschrieben wurde.525 Kurzum: Die protestantischen Autoren versuchten, die Ascendancy in selbstlegitimativer Absicht in die gälische Kulturtradition
einzuordnen, indem sie Vorstellungen, die mit dem Ascendancy-Konzept nicht
übereinstimmten, aus ihrer Darstellung ausblendeten und andere, vor allem konstitutionalistische Ideen in den Vordergrund rückten und aufwerteten.
Fazit. Betrachtet man die Entwicklung der Ascendancy-Kultur über den Verlauf
des gesamten 18. Jahrhunderts, lassen sich resümmierend einige signifikante Veränderungen und Strukturmerkmale identifizieren. Die wichtigste Veränderung ist
wohl, daß sich die kulturelle Fronstellung der Ascendancy umkehrte. Während am
Anfang des Jahrhunderts ihr kulturelles Abgrenzungsbedürfnis primär kolonialkonfessionell ausgerichtet und gegen die katholische Bevölkerung gerichtet war,
so wies es ab den 1770er Jahren eher eine soziale und – in Ermangelung eines
besseren Begriffs – ‚nationale’ Stoßrichtung auf, die sich gegen das aufstrebende
irische Bürgertum aller Konfessionen und die britische Kolonialmacht richtete.
Tatsächlich gingen – wie vor allem die irische Historiographie zeigt – das Nachlassen des anti-katholischen Impetus und die Zunahme des anti-englischen Affekts Hand in Hand, denn die Abschwächung der anti-katholischen Position erlaubte die Verwendung des gälischen Kulturerbes, um gegenüber Großbritannien
eine selbstbewußtere Position zu beziehen. Tatsächlich war es mit dem Selbstbewußtsein der Ascendancy jedoch nicht besonders weit her, denn das wichtigste
Wesensmerkmal ihrer kulturellen Leistungen ist eine fundamentale Ambivalenz:
Gegenüber den Katholiken war ihre Kulturpolitik gleichermaßen von Unsicherheit und Arroganz geprägt, gegenüber der Kolonialmacht Großbritannien vom
trotzigen Pochen auf politischer Autonomie einerseits und einer fast unterwürfigen Bewunderung der englischen Kultur andererseits. Gerade letzteres läßt sich
von der Malerei bis zur Literatur in allen schönen Künsten und im gesamten gesellschaftlichen Leben deutlich nachweisen. Die Ascendancy mochte für sich zwar
die kulturelle Hegemonie in Irland beanspruchen, aber de facto unterwarf sie sich
fast bedingungslos dem Vorbild englischer Kultur. Mit anderen Worten: Die kul525
Hill, Popery, S. 103-106.
176
turellen Leistungen der anglo-irischen Bevölkerung sind als ein Spiegelbild ihrer
bedrängten Situation zwischen der katholischen Bevölkerungsmehrheit und der
britischen Kolonialmacht zu betrachten. Diese konfliktgeladene Konstellation und
die kulturpolitische Priorität, ihre hegemoniale Position in der irischen Gesellschaft auch kulturell darzustellen, reduzierte ihr Tableau kultureller Wahlmöglichkeiten und infolge dessen auch ihr kulturelles Potential, das sich gegenüber
der katholischen Bevölkerung auf Demontage und selektive Adaption, gegenüber
der Kolonialmacht auf Nachahmung bzw. Überholen durch schiere Größe (Architektur!) beschränkte. Kreativität und Originalität waren in der Ascendancy-Kultur
indes eher rar gesät und wiesen eine deutliche Tendenz auf, mitsamt ihren Trägern
nach England abzuwandern.
177
b) Katholische Kultur zwischen Assimilation und Beharrung
Die Erosion der autochthonen Hochkultur. Nach der Kolonisation Irlands im
17. Jahrhundert waren von der autochthonen gälischen Kultur nur noch rudimentäre Reste vorhanden: Die Zerschlagung der ökonomischen Grundlage der gälischen Gesellschaft durch die diversen Landenteignungen des 17. Jahrhunderts und
die Vertreibung der gälischen Oberschicht hatte die klassischen gälischen Kulturschaffenden – die Dichter und Barden, die in der autochthonen Bevölkerung ein
ungeheuer hohes Sozialprestige genossen526 – ihrer Existenzgrundlage beraubt.
Da sie kaum noch adelige Mäzene fanden, verarmten diese Männer allmählich
und mußten sich als illegale Wanderlehrer und fahrende Musiker, zum Teil auch
als einfache Tagelöhner durchs Leben schlagen.527 Dennoch hielten vor allem die
Dichter am Anfang des 18. Jahrhunderts die aristokratische Literaturtradition
wach und verliehen so der bereits atomisierten gälischen Adelsgesellschaft noch
einmal eine Stimme: Diese Autoren erinnerten an die glorreiche Vergangenheit
einzelner Adelsfamilien und beklagten ihren Niedergang. Sie kritisierten aber
auch die Strafgesetze und verfaßten Satiren über ungebildete katholische Priester
und die Parvenüs der neuen anglikanischen Oberschicht.528 Insofern bemühten sie
sich, katholischen Entfremdungsgefühlen Ausdruck zu verleihen und die Hoffnung auf die Rückkehr der alten Zustände vor dem Sieg Wilhelms III. zu perpetuieren. Daher können sie mit Fug und Recht als eine Art ‚kollektives Gedächtnis‘
oder ‚Sinnstiftungsinstanz‘, aber auch als Trostspender für die prominenten Verlierer des Kolonisationsprozesses – die Überreste des gälischen Adels – betrachtet
werden.
Auf Dauer war diese aristokratisch-gälische Kulturtradition jedoch nicht überlebensfähig: In dem Maße wie die Rückkehr der Stuarts und der gälischen Adeligen
immer unwahrscheinlicher wurde, waren die gälischen Dichter gezwungen, sich
umzuorientieren und ihr neues Publikum zu bedienen – die katholische Landbevölkerung aus Middlemen, Kleinpächtern und Landarbeitern in Connacht, Westulster und Westmunster. Das läutete die Genese und den Aufstieg einer populär
526
S. Ó Tuama, Gaelic Culture in Crisis, The Literary Response, 1600-1850, in: T. Bartlett u.a.
(Hgg.), Irish Studies – A General Introduction, Dublin 19892, S. 28-43, S. 39.
527
Ebd., S. 37.
528
Ebd., S. 36-38.
178
orientierten Version der alten Kulturform ein, die sich gleichwohl nicht nur in den
poetischen Konventionen, sondern auch in den Inhalten sehr stark am Vorbild der
aristokratischen Tradition orientierte, so daß den Dichtern weiterhin eine zentrale
Rolle als Hüter des gälischen Kulturerbes zukam.529 Die literarischen Erzeugnisse
dieser zweiten Strömung enthielten nur noch gelegentlich Referenzen auf die Stuarts; sie sind vor allem durch eine tiefe Antipathie gegen die protestantischen Eindringlinge gekennzeichnet.530 Die xenophoben Tendenzen wurden häufig von
Äußerungen des Stolzes auf die eigne Ethnie und einem mythisch überhöhten
Bewußtsein der Altehrwürdigkeit des eigenen Volkes begleitet und zwar in einem
so ausgeprägten Maß, daß LOUIS M. CULLEN hier bereits ein „Gefühl ethnischer
Identität [Hervorhebung im Original - MR]“531 für gegeben hält.
Vor dem Hintergrund der offenkundigen Anleihen bei der aristokratischen Literaturtradition ist es umstritten, ob und inwiefern die populäre zweite Literaturströmung als kultureller Ausdruck des Lebensgefühls und der Weltsicht der gälischen
Unterschichten verstanden werden kann. Das bis in die 1960er Jahre hinein
einflußreiche „Hidden-Ireland“-Konzept532 von DANIEL CORKERY ging eindeutig
davon aus, daß die gälische Lyrik als Schlüssel zum Weltbild der katholischen
Unterschichten dienen konnte, aber mittlerweile sind daran berechtigte Zweifel
529
Wie sehr das der Fall war, läßt sich daran ablesen, daß es bis zum Ende des 17. Jahrhunderts
keine schriftlich erkennbaren Dialekte gab. Erst mit dem Aussterben der bardic schools begannen
gälische Autoren sich an der gesprochenen Sprache anstatt an literarischen Formen des Schriftgälisch zu orientieren, so daß es auch im Schriftgälisch zur Dialektausbildung kam. Vgl. Connolly,
Companion, S. 269.
530
Vgl. Ó Buachall, Literary Evidence, passim.
531
Vgl. L.M. Cullen, The Hidden Ireland, Re-Assessment of a Concept, in: Studia Hibernica 9
(1969), S. 7-47, S. 26.
532
1924 legte Daniel Corkery unter dem Titel ,The Hidden Ireland‘ eine Studie vor, in dem erstmals die gälisch-irische Kulturtradition in den Mittelpunkt des Interesses gerückt wurde. Auf der
Basis vorwiegend aus Munster stammender gälischer Lyrik versuchte er die gälisch-irische Welt
des 18. Jahrhunderts zu rekonstruieren. Das Ergebnis war eine nationalistische Stilisierung: Corkery romantisierte die gälische Lyrik als das einzige Ausdrucksmittel, das einer religiös, politisch
und ökonomisch von den Engländern unterdrückten katholischen Bauernnation noch geblieben
war. Vgl. Corkery, Hidden Ireland, S. 16, 19-24, 94. Ungeachtet dieser undifferenzierten Sicht hat
sich das Konzept des ‘Hidden Ireland’ erstaunlich hartnäckig gehalten: bis in die sechziger Jahre
ist es auch von Historikern wie selbstverständlich immer wieder zur Darstellung der Lebensumstände im gälischen Irland des 18. Jahrhunderts herangezogen worden. Erst die Kritik revisionistischer Historiker hat zu einer Modifizierung seines Entwurfes geführt, die erlaubt, das Konzept mit
revidiertem Inhalt weiter zu verwenden. An vorderster Front war hier Louis Michael Cullen tätig,
dessen Kritik an Corkery – „His Hidden Ireland simplifies Irish History, putting it in a simple
context of land resettlement, oppression and resentment with the predictable and stereotyped relationships flowing from it.“ – an Gültigkeit nichts eingebüßt hat. Vgl. Cullen, Re-Assessment, S.
47.
179
enstanden.533 Eins jedoch ist unbestreitbar: Egal ob aufgrund ihres politischen
oder künstlerischen Inhalts – die Lieder und Lyrik der gälischen Dichter wurden
auf Jahrmärkten, bei Festen und in Wirtshäusern von der katholischen Landbevölkerung rezipiert.534 Darüber hinaus lassen sich xenophobe Äußerungen der katholischen Landbevölkerung selbst gegen Ende des 18. Jahrhunderts auch in anderen
Quellenarten identifizieren.535 Daher wird man – bei aller gebotenen Vorsicht –
festhalten dürfen, daß die Lyrik und die Lieder zumindest ein kulturelles Angebot
darstellten, das bei einem gälisch-irischen Publikum Gefallen fand und deren Inhalte plausibel mit den Wahrnehmungen des katholischen Bevölkerungsteils in
Verbindung gebracht werden können. Daß die katholische Bevölkerung für die
anglikanischen Kolonisten keine Sympathien hegte, darf als sicher vorausgesetzt
werden, so daß sie sich – selbst wenn sie ihrem Zorn ohne die Barden auf eine
andere Weise Ausdruck verliehen hätten – mit den politischen Inhalten der Lyrik
und Lieder zweifelsohne identifizieren konnten.536 Die Kritik an CORKERYS Konzept ist sicherlich berechtigt, aber es besteht deshalb kein Grund, das Kind mit
dem Bade auszuschütten.
Kultureller Assimilationsdruck und Konversion. Parallel zur allmählichen Zerstörung der autochthonen Kultur ging von der kolonialen Kultur aber auch ein
nicht unerheblicher Assimilationsdruck aus, dem sich vor allem ambitionierte und
noch relativ wohlhabende Katholiken schwer entziehen konnten. Daß zwischen
1703 und 1771 ca. 4.000 katholische Landbesitzer konvertierten, um ihre Ländereien vor Enteignung und Zerstückelung zu bewahren, ist bekannt und an anderer
Stelle bereits ausführlich behandelt worden. Daß Katholiken konvertierten, weil
sie in den Genuß einer akademischen Ausbildung kommen und Karrierechancen
im Staatsapparat wahrnehmen wollten, ist dagegen weniger bekannt, kam aber
533
Vgl. hierzu vor allem Cullen, Hidden Ireland, passim.
Es war z.B. ein beliebtes Mittel, in Wirtshäusern Lieder vor gemischtem Publikum vorzutragen, die alternierend aus gälischen und englischen Verszeilen bestanden. Die englischen Verse
waren voll des Lobes über den englischen König, die anglikanische Kirche und die Anglo-Iren,
die gälischen Verse dagegen, die nur von dem gälischen Publikum verstanden wurden, steckten
voller Invektiven. Hier ein Beispiel für diese Art von Dichtung (die kursiv gedruckten Textteile
wurden auf Gälisch gesungen): „Come drink a health, boys, to Royal George, our chief commander - not appointed by Christ; and let us beseech Mother Mary to scuttle himself and all his
guards - We’ll fear no cannon nor loud alarms while noble George shall be our guide - and Christ
that I may see them kicked aside by him who left us on his exile to France.“ Zitiert nach Leerssen,
Mere Irish, S. 277.
535
Vgl. T. Bartlett, Select Documents 38: Defenders and Defenderism in 1795, in: IHS 95 (1985),
S. 373-394.
536
Das konzediert sogar der überaus kritische Cullen. Vgl. Cullen, Hidden Ireland, S. 17f.
534
180
nichtsdestotrotz ebenfalls gelegentlich vor. Zum Teil befanden sich unter diesen
Konvertiten und ihren Nachkommen führende Köpfe der Ascendancy: John Fitzgibbon, der spätere Earl von Clare, der als irischer Generalstaatsanwalt (17841789) und Lordkanzler (1789-1802) höchste Staatsämter innehatte und sich als
entschiedener Gegner der katholischen Emanzipation hervortat, war z.B. der Sohn
eines ehemals katholischen Rechtsanwalts, der konvertiert war, um Jura studieren
und seinen Beruf ausüben zu können.537
Kultureller Assimilationsdruck und Sprache. Ein weiterer Aspekt, an dem sich
der vom Kolonialregime ausgehende kulturelle Assimilationsdruck verdeutlichen
läßt, ist der Rückgang der gälischen Sprache ab etwa 1745.538 Während die englische Sprache bis zum Ende des 17. Jahrhunderts nur entlang der Ostküste und in
den von Kolonisten dominierten Städten als Verkehrssprache diente, verschob
sich die Sprachgrenze in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts deutlich nach
Westen und ins Landesinnere.539 Die Kommerzialisierung der Landwirtschaft und
die infrastrukturellen Veränderungen (Straßen- und Kanalbau) begünstigten diese
Entwicklung ebenso wie die allmählich wachsende Verbreitung von Presseerzeugnissen. Vor allen Dingen aber versprachen englische Sprachkenntnisse –
nachdem Englisch durch die Kolonisation zur Amts-, Gerichts- und Geschäftssprache avanciert war – einen besseren sozialen Status und bessere Aussichten auf
sozialen Aufstieg; gleichzeitig erfuhr das Gälische als Sprache der Ungebildeten
und unteren sozialen Schichten eine entsprechende Abwertung.540 Während in den
Reihen der katholischen Mittelschichten in den Städten die gälische Sprache besonders schnell in Vergessenheit geriet, mußten andere Bevölkerungsgruppen wie
etwa die katholischen Middlemen beide Sprache beherrschen, weil sie als Vermittlungsinstanz zwischen den englischsprachigen Großgrundbesitzern und den
gälischsprachigen Kleinpächtern fungierten. Daher muß festgehalten werden, daß
die Muster der linguistischen Verschiebung zwischen der gälischen und der engli537
Connolly, Companion, S. 198.
Ebd., S. 301.
539
McCrum u.a., Story of English, S. 175. Im Kernland des irischen Westens, in den Grafschaften
Clare und Gallway, sprachen bis zur Wende zum 19. Jahrhundert ca. 80% der Bevölkerung Gälisch als Muttersprache, in den Provinzen Munster und Connacht zusammen immerhin noch mehr
als die Hälfte. Noch höher lag natürlich die passive Sprachkompetenz. Vgl. auch Connolly, Elite,
S. 10.
540
McCrum u.a., ebd., S. 174, Connolly, Companion, S. 176. Gälisch galt alsbald zurecht als
Sprache der Ungebildeten: 1806 konnte man nur in 20.000 der 1,5 Mio. Haushalte, in denen Gälisch gesprochen wurde, auch Gälisch lesen. Vgl. Smyth, Men, S. 31; Connolly, Elite, S. 10.
538
181
schen Sprache nicht allein schichtspezifischen, sondern – gerade zwischen Stadt
und Land – auch räumlichen Bedingungszusammenhängen folgten.
Hedge Schools. Um am gesellschaftlichen Fortschritt und seinen Chancen partizipieren zu können, mußte aber auch die katholische Landbevölkerung à la
longue englische Sprachkenntnisse erwerben. Dabei spielten die sogenannten
Hedge Schools eine zentrale Rolle. Da katholische Kinder und Erwachsene wegen
der Strafgesetze offiziell nicht beschult werden durften, mußte der Unterricht zunächst insgeheim durchgeführt werden: Umherziehende Privatlehrer richteten in
Scheunen, Erdhütten und auch im Freien fliegende Klassenzimmer ein, in denen
sie der Landbevölkerung für einen geringen Obolus bzw. Kost und Logis Lesen,
Schreiben, ein bißchen Arithmetik und den Katechismus beibrachten.541 Vom
sprachlichen Aspekt her ist entscheidend, daß die Unterrichtssprache und das
Lehrmaterial durch die Bank englischsprachig waren.542 Da es keine standardisierte Lehrerausbildung gab, schwankte die Qualität dieser Elementarausbildung
von Lehrer zu Lehrer: Während einige dieser Hedge Schoolmasters kaum selbst
Lesen und Schreiben konnten und andere bestenfalls halbverdaute Weisheiten
unters Volk brachten, gab es vor allem in Munster einige ehemalige Barden und
Dichter, die deutlich besser qualifiziert waren und mit ihren Schülern auch klassische Autoren wie Horaz lasen.543 Auch wenn die Hedge Schools bis zur Einrichtung der unbeliebten Charter Schools und der katholischen Kirchspielschulen ab
den 1730er Jahren der einzige Zugang der breiten katholischen Bevölkerung zu
einer elementaren Ausbildung darstellten (und daher in der älteren Literatur häufig als ‚typisch’ katholisch eingestuft wurden)544, handelte es sich bei den Hedge
Schools im Prinzip um gemischtkonfessionelle, koedukative Schulen für die ländlichen Unterschichten, in denen auch notfalls drei Katechismen nebeneinander
unterrichtet wurden.545 Das Wirken der Hedge Schoolmasters führt insgesamt zu
dem Ergebnis, daß die katholische Landbevölkerung in einem heute allerdings
541
Zur Beschaffenheit der ‚Schulgebäude’ vgl. Adams, Swine-tax, S. 113f., zur Bezahlung der
Hedge Schoolmaster ebd., S. 112.
542
Smyth, Men, S. 31.
543
Adams, Swine-Tax, S. 109-111.
544
Vgl. exemplarisch Corish, Catholic Community, S. 79.
545
Adams, Swine-tax, S. 115f. Die Geschlechterverteilung lag bei etwa zwei Dritteln Jungen und
einem Drittel Mädchen.
182
nicht mehr exakt zu bestimmenden Ausmaß alphabetisiert wurde546 und sich ganz
allmählich in einen bilinguale Teil der Gesellschaft verwandelte, in dem Gälisch
als Umgangs- und Alltagssprache benutzt, Englisch dagegen als Amts- und Geschäftssprache zumindest passiv verstanden, wenn nicht gar aktiv verwendet wurde. Über die bekannten Kulturtechniken semi-oraler Kulturen – vor allem das
öffentliche und private Vorlesen – war damit prinzipiell die wichtigste Voraussetzung für eine grundlegende Politisierung der breiten Bevölkerung am Ende des
18. Jahrhunderts gegeben.547
Das Verhältnis der katholischen Bevölkerung zur kolonialen ‚Leitkultur’.
Will man das Verhältnis der katholischen Bevölkerungsmehrheit zur protestantischen ‚Leitkultur’ insgesamt untersuchen, ist es notwendig eine sozial differenzierte Betrachtungsweise zu verwenden. Der Grund dafür liegt einerseits in der
schichtspezifischen Bandbreite der Reaktionsmöglichkeiten auf die kulturellen
Rahmenvorgaben der Ascendancy und andererseits in den unterschiedlichen Zielsetzungen, die von den verschiedenen sozialen Gruppen innerhalb der katholischen Bevölkerung verfolgt wurden. Lediglich die katholischen Unterschichten
im Westen des Landes und einige ihnen besonders nahestehende Personen wie
lokale Kleriker oder Middlemen gingen – aus Ermangelung anderer Optionen wie
aus innerer Überzeugung – in die kulturelle Fundamentalopposition und partizipierten (mit Ausnahme der Benutzung der englischen Sprache) so gut wie überhaupt nicht an der kolonialen ‚Leitkultur’, von der sie durch konfessionelle, soziale und räumliche Barrieren getrennt waren. Die Reste der katholischen Aristokratie, das aufstrebende katholische Bürgertum und das katholische Episkopat dagegen verfolgten generell eine eher assimilatorische Linie, weil sie hofften, auf diesem Weg ihre Reintegration in die Kolonialgesellschaft besser bewerkstelligen zu
können. Das Resultat war – wie SEAN CONNOLLY ausführt – eine tendenzielle
Spaltung der katholischen Kulturgemeinschaft in eine Elitenkultur mit dem gedruckten Wort als kulturellen Transmissionsriemen, mit einem Zugang zur Welt
des Gesetzes und der hohen Politik sowie einer standesbewußten Etiquette und
546
Zu den Schwierigkeiten, die Alphabetisierung der ländlichen Bevölkerung zu messen, vgl. am
Beispiel der presbyterianischen Landbevölkerung in Ulster Adams, Word, S. 20f.
547
Zum Nexus zwischen Politisierung und Literalität vgl. Smyth, Men, S. 30-32.
183
der semi-oralen Kultur des ‚gemeinen Mannes’, die lokalistisch, gemeinschaftsorientiert, konservativ und von Ritualen und Gebräuchen bestimmt war.548
Die analytische Unterscheidung zwischen ‚Elite’ und ‚gemeinem Mann’ ist jedoch nicht ausreichend, wenn man ihr keine Unterscheidung zwischen verschiedenen geographischen Kulturräumen zur Seite stellt. Die unterschiedliche Häufigkeit des Kulturkontakts und der divergierende Grad kultureller Exponiertheit gegenüber der kolonialen ‚Leitkultur’ resultierten – idealtypisch überzeichnet – in
einer Aufteilung der ‚popular culture’ in einen anglizisierten, politisierten und
kommerzialisierten kulturellen Raum, dessen Zentrum in den Städten und im Ostteil des Landes lag und einen gälischen, lokalistischen, subsistenzorientierten und
‚in sich gekehrten’ kulturellen Raum, der im Westteil des Landes situiert war.549
Vergleicht man die Attribute, die CONNOLLY der Kultur des ‚gemeinen Mannes’
zuschreibt, mit denen, die er der gälischen Bevölkerung im Westen zuordnet,
dann sticht die hohe inhaltliche Kongruenz dieser Attribute unmittelbar ins Auge.
Das ist natürlich kein Zufall: Die gälischen, ländlichen Unterschichten stellen im
Irland des 18. Jahrhunderts den Prototyp des ‚gemeinen Mannes’ dar. Für die folgende Analyse ist es daher legitim, sich auf die katholische Elitenkultur einerseits
und die gälische Kultur der ‚kleinen Leute‘ im Westen des Landes (also im Prinzip auf DANIEL CORKERYS ‚Hidden Ireland’)550 zu konzentrieren.
Adel und Bürgertum. Insgesamt läßt sich in der Kultur der katholischen Oberschicht eine deutliche Tendenz zur Anpassung an die koloniale ‚Leitkultur’ ausmachen. Dafür war nicht nur Besitzstandswahrungswünsche ausschlaggebend,
sondern auch das Verlangen, entsprechend des sozialen Status in allen gesellschaftlichen Bereichen partizipieren zu können.
Zu Anfang des Jahrhunderts konnten solche Wünsche jedoch noch nicht offen
formuliert werden. Insgesamt scheint es, daß die katholische Ober- und Mittelschicht anfänglich aus Furcht, protestantischen Sozialneid zu schüren und neue
548
Connolly, Elite, S. 10. ‘Tendenziell’ deshalb, weil es sich dabei um eine idealtypisch überspitzte Differenzierung handelt, die zu analytischen Zwecken legitim ist, aber nicht im Sinne einer
kompletten Trennung zwei separater Kulturstränge übertrieben werden darf. Connolly selbst hat
dafür den Nachweis geführt, indem er kulturelle Transfers zwischen der Elite und der breiten
Bevölkerung in so verschiedenen Bereichen wie dem Sport, ländlichen Feiern, dem Theater und
beim Tanzen festgestellt hat. Bemerkenswert ist dabei, daß kulturelle Transfers sich in beiden
Richtungen beobachten lassen: Sowohl von oben nach unten (Theater, Tanz) als auch von unten
nach oben (Sport, Feierlichkeiten). Connolly, Elite, S. 12-19.
549
Ebd., S. 24.
550
Vgl. Corkery, Hidden Ireland, S. 23.
184
Restriktionen heraufzubeschwören, ostentativ einen bescheideneren Lebenswandel führten als ihre protestantischen Standesgenossen.551 Aus dem gleichen Grund
taten sie sich in Dublin auch nicht durch große private Bauvorhaben hervor,552
wenngleich es Quellen gibt, die nahelegen, daß sie zumindest teilweise über
durchaus prestigeträchtige Adressen verfügten.553 Erst ab der Jahrhundertmitte –
speziell aber im Zuge der allmählichen Abschaffung der Strafgesetze ab 1778 –
ließ dann jedoch allmählich die Zurückhaltung der Katholiken nach, ihren
Wohlstand zu zeigen: Sie setzten ihn im Gegenteil sogar immer häufiger als Argument ein, um ihre gesellschaftliche Bedeutung zu verdeutlichen und auf dieser
Basis für ihre Emanzipation zu werben.554
In ähnlicher Weise waren auch ihre Möglichkeiten, soziales Kapital durch kulturelle Patronage und Mäzenatentum zu generieren anfangs arg begrenzt, da sie von
vielen gesellschaftlichen Anlässen, die an der Schnittstelle von Politik und Kultur
angesiedelt waren, per se ausgeschlossen waren: Das galt nicht nur für Staatsempfänge in Dublin Castle, sondern ebenso für die Festivitäten, die von Gilden und
Stadträten veranstaltet oder anläßlich von Assizen oder Wahlen abgehalten wurden.555 Die kulturelle Teilhabe der katholischen Ober- und Mittelschicht beschränkte sich hier weitgehend auf die Rolle teilnehmender Beobachter. Diese
Beschränkung galt jedoch nicht für weniger offizielle gesellschaftliche Anlässe
wie Bälle, Theateraufführungen und Konzertveranstaltungen – und schon gar
nicht für private Formen gesellschaftlicher Unterhaltung wie Dinnerparties oder
Kartenabende. Mit andern Worten: Die katholische Ober- und Mittelschicht tendierte dazu, sich im öffentlichen Kulturleben zurückzuhalten, um nicht anzuecken, und verlegte sich daher mehr auf private und solche Formen der Unterhaltung, die bar jeder politischen Konnotation waren. Bemerkenswerterweise unterschieden sie sich gerade in ihrem privaten gesellschaftlichen Leben am wenigsten
von der Ascendancy. Das ist ein Umstand, der vermutlich mit der sozialen Verwandtschaft zwischen katholischer und protestantischer Oberschicht – ungeachtet
551
Wall, Rise, S. 78.
Ebd.
553
Die Listen des Catholic Committee, in denen sich ab 1760 allmählich der katholische Mittelstand und Adel zusammenschlossen belegt das deutlich: Dort finden sich u.a. auch
ausgewiesene Nobeladressen wie Dame Street, Dominic Street, Grafton Street, Kildare Street,
Dawson Street, College Green und St. Stephen’s Green. Vgl. MBCC, passim.
554
Wall, Catholics, S. 90f.
555
Wall, Rise, S. 78.
552
185
der konfessionellen Barriere – am plausibelsten zu erklären ist: Die AscendancyKultur war Elitenkultur und die katholische Oberschicht fühlte sich zweifelsohne
dieser ‚Elite’ zugehörig.556
Im katholischen Bürgertum ging die Tendenz zur Konfliktvermeidung durch kulturelle Assimilation noch sehr viel weiter und betraf zum Teil sogar den unmittelbarsten Ausdruck der personalen Identität: den Namen. Katholische Kaufmannsdynastien in Dublin wie etwa die McDermott-Familie von Usher Quay oder die
O’Connor-Familie aus Dominick Street paßten sich ihrem – gerade in Dublin! –
protestantischem Umfeld an, indem sie die gälischen Präfixe aus dem Namen tilgten: Aus ‚O’Connor’ wurde ‚Connor’, aus ‚McDermott’ ‚Dermott’.557 Es paßt in
das bereits entworfene Bild steigenden katholischen Selbstbewußtseins in der
zweiten Jahrhunderthälfte, daß diese Familien in den 1780er Jahren ihren alten
Namen wieder annahmen und die O’Connors darüber hinaus für sich eine Herkunft von ‚milesischen’ Prinzen, den sagenhaften keltischen Gründungsvätern der
gälischen Gesellschaft, reklamierten.
Aufgeklärter Katholizismus. Am augenfälligsten wird der Wandel von katholischer Zurückhaltung zu neuem Selbstbewußtsein jedoch in den historiographischen Werken katholischer Autoren seit den späten 1740er Jahren. Parallel zum
Interesse protestantischer Autoren an der präkolonialen gälischen Gesellschaft
entdeckten nämlich auch katholische Intellektuelle wie Charles O’Conor von Belanagare und Dr. John Curry die gälische Geschichte neu für sich.558 Sie verfolgten damit vor allem zwei Ziele: Erstens eine glaubhafte Distanzierung von Rom
und vom Jakobitismus, das mit einem Bekenntnis zum Konstitutionalismus verbunden wurde (als Voraussetzung für eine politische Gleichstellung der irischen
Katholiken mit den anglo-irischen Protestanten), und zweitens eine Aufwertung
556
Diese These stützt sich auf das Verhalten der katholischen Aristokraten im Catholic Committee, wo sie zusammen mit dem Klerus eine Führungsposition reklamierten, obwohl das Komitee
von Mittelstandskatholiken gegründet worden war. Der Kampf um die Vorherrschaft, der zwischen der Adelsfraktion und der Bürgertumsfraktion unerbittlich ausgetragen wurde führte 1791
zur Spaltung des Komitees. Wall, Keogh, S. 166.
557
Wall, Rise, S. 82. Nach 1784 machten die meisten Katholiken diesen Schritt jedoch wieder
rückgängig, was als deutlicher symbolischer Ausdruck gestiegenen katholischen Selbstbewußtseins zu bewerten ist. Zu Namensänderungen von Katholiken in Antrim und Down vgl. Bardon,
History, S. 147.
558
Vgl. exemplarisch Dr. J. Curry, A candid enquiry into the causes and motives of the late riots
in the province of Munster, together with a brief narrative of the proceedings against the rioters,
anno 1766. In a letter to a noble lord in England, London 1766; Charles O’Conor, The case of the
Roman Catholics of Ireland. Wherein the principles and conduct of the party are fully explained
186
gälischer Kulturleistungen (um die katholische Bevölkerung vom protestantischen
Stigma der ‚Unzivilisiertheit’ zu befreien).559 Diese aufgeklärt-katholische Lesart
deckte sich zumindest teilweise mit den Befunden der protestantischen Historiographie, die ebenfalls – wenn auch aus anderen Gründen – an einer Aufwertung
der gälischen Kultur interessiert war.560 Diese Konvergenz resultierte zwar nicht
in einer umfassenden katholischen Emanzipation, aber dafür im sogenannten
‚Gaelic enthusiasm’561, der einen ersten Vorgeschmack auf den ‚Gaelic revivalism’ des 19. Jahrhunderts gab. Ende des 18. Jahrhunderts galt es – insbesondere
unter aufgeklärten Katholiken, aber auch in liberalen protestantischen Kreisen –
als chic, antiquarische und genealogische Studien zu betreiben, sich auf ‚milesische’ Wurzeln zu berufen und die gälische Kultur zu pflegen.562
Die katholische Amtskirche dagegen tat sich zunächst mit der kulturellen Anpassung, später aber auch mit dem gestiegenen Selbstbewußtsein des aufgeklärten
Katholizismus à la Charles O’Conor ausgesprochen schwer. Naturgemäß konnte
sie sich zwar mit dem weltlichen Regime der Ascendancy, nicht aber mit dessen
konfessioneller Legitimationsbasis arrangieren. Das schränkte den Radius ihrer
kulturellen Anpassungsbemühungen erheblich ein und resultierte in einer gewissen Ambivalenz: Auf der einen Seite versuchte sie den bescheidenen protestantischen Bekehrungsversuchen Paroli zu bieten, auf der anderen Seite war sie jedoch
durchaus zu geistlichen Zugeständnissen an das protestantische Establishment
bereit. So erwirkten etwa 1755 und 1778 die katholischen Bischöfe vom Papst für
die Gläubigen Dispens für diejenigen katholischen Feiertage, die vom Kolonialregime nicht als allgemeine Feiertage anerkannt wurden.563 Vor dem Hintergrund
einer Verschlechterung der katholisch-protestantischen Beziehungen wegen des
Kriegsausbruchs zwischen Großbritannien und Frankreich im Jahr 1756 schlugen
and vindicated. Pr. for P. Lord, Dublin 1755. O’Conors Werk ging ein Jahr später bereits in die
dritte Auflage.
559
Hill, Popery, S. 104-107.
560
Zusätzlich wurde die katholisch-irische und protestantisch-anglo-irische Auseinandersetzung
mit der gälischen Kultur durch James MacPhersons Studie zur ‚ossianischen’ Literatur von 17601763 angeheizt, der mit seiner Behauptung, daß das Zentrum der keltischen Kultur in Schottland
gelegen habe, unter irischen Katholiken und Protestanten gleichermaßen große Empörung hervorrief. Vgl. Connolly, Elite, S. 7.
561
Hill, Popery, S. 102.
562
Maureen Wall führt als weitere Beispiele den Brauereiklan der Moores von Mount Browne,
den Kaufmann Thomas Braughall und den Seidentuchhändler John Keogh an, die alle prominente
Mitglieder des Catholic Committee waren. Vgl. Wall, Rise, S. 81f.
563
Corish, Catholic Community, S. 92f.
187
sieben katholische Bischöfe intern sogar vor, die Priester in ihren Diözesen dazu
anzuhalten, von der Kanzel zu Beginn jeden Quartals eine Erklärung zu verlesen,
in der demonstrativ anti-katholische Vorurteile zurückgewiesen und die katholische Loyalität gegenüber dem Regime beschworen wurde. Gleichzeitig sollten die
Kleriker am Ende jeder Messe und jedes Hochamts laut für das Wohl der königlichen Familie beten.564 Diese Geste scheiterte zunächst am Widerstand der restlichen katholischen Bischöfe und am Veto Roms, weil Papst Benedikt XIV. nach
wie vor die Thronansprüche der katholischen Stuarts unterstützte und deshalb
nicht zulassen wollte, daß die katholische Kirche in Irland durch ihre Gebete die
Legitimität der hannoveranischen Dynastie anerkannte und die Rechtsansprüche
der Stuarts für obsolet erklärte. Diese Situation änderte sich aber bereits unter
Benedikts Amtsnachfolger Klemens XIII., der ab 1760 in irischen Bischofsernennungen jede Erwähnung der Stuarts vermied und nach dem Tod Jakobs ‚III.’ im
Jahre 1766 den Thronanspruche Charles Edward Stuarts nicht mehr anerkannte.565
Ab 1760 wurden denn auch die Dank- und Schutzgebete für Georg III. eingeführt.
566
Diese Begebenheit zeigt, daß zumindest Teile des katholischen Episkopats
selbst dann bereit waren, Zugeständnisse gegenüber dem anglikanischen Establishment und dem König, ihrem weltlichen und geistlichen Oberhaupt, zu machen,
wenn dies zu Konflikten mit dem Vatikan führte.
Deutlich ausgeprägter war jedoch die Kooperationsbereitschaft der katholischen
Kirche, wenn darunter das Verhältnis zu Rom nicht potentiell Schaden nahm:
Anläßlich des Kriegsausbruchs zwischen Frankreich und Großbritannien im Jahr
1757 ermahnte der Erzbischof von Dublin seine Schäfchen in einem Hirtenbrief,
der Obrigkeit gegenüber weiterhin ein „bescheidenes, friedfertiges und gehorsames Benehmen“ an den Tag zu legen.567 Noch deutlicher machten die katholischen Bischöfe ihren Einfluß während der Whiteboy-Unruhen der 1760er Jahre in
systemstabilisierender Weise geltend: Der Bischof von Ossory wies 1764 seine
Priester an, von der Kanzel herab – in Englisch und in Gälisch! – jeden Katholiken davor zu warnen, das Gesetz in die eigene Hand zu nehmen und sich an den
Unruhen zu beteiligen. Als solche Verwarnungen nichts halfen, erhöhten die Bischöfe den Druck und drohten jedem katholischen Whiteboy die Exkommunikati564
Wall, Penal Laws, S. 59.
Ebd.
566
Corish, Catholic Community, S. 122.
565
188
on an.568 Auch das half nicht viel, zeigte aber das Bemühen der Kirche, die Obrigkeit mittels ihrer kulturellen und geistlichen Autorität zu unterstützen.569
Mit den aufgeklärten Katholiken um O’Conor und Curry befand sich die katholische Kirche ab den späten 1760er Jahren ebenfalls im Clinch. In ihrem Bestreben,
dem Regime ihre Zuverlässigkeit und Integrationsfähigkeit zu demonstrieren,
versuchten diese nämlich einen Weg zu finden, der es Katholiken erlaubte, ihre
Loyalität öffentlich unter Beweis zu stellen. Seit den Strafgesetzen war dafür das
Ablegen eines Eides – des sogenannten Oath of Abjuration von 1702 – vorgesehen, dessen Inhalt jedoch mit der weltlichen Autorität des Papstes unvereinbar
war.570 Das konnte die katholische Kirche natürlich so nicht akzeptieren, konnte
gleichzeitig aber nicht verhindern, daß aufgeklärte Katholiken eine Eidformel
auszuhandeln versuchten, die das Regime zufriedenstellte und durch welche die
katholische Bevölkerung in den Genuß gesetzlicher Erleichterungen kam.571 1768
setzte sich eine Gruppe prominenter Katholiken unter der Führung Viscount Taaffes mit dem anglikanischen Bischof von Derry in Verbindung, um eine solche
Formel zu finden, die jedoch anschließend vom päpstlichen Nuntio in Brüssel,
Monsignor Ghilini, abgelehnt wurde.572 Ghilini forderte die irischen Erzbischöfe
auf, ihre Schäfchen lieber dazu zu bewegen, die Strafgesetze zu ertragen als solche Schwüre zuzulassen.573 Über die Eidformel, die bei einem zweiten Anlauf
1778 herauskam, spaltete sich das Episkopat in entschiedene Gegner und Befürworter des Eides. Während sich die Bischöfe noch stritten und die Gegner des
Eides sich wieder an Ghilini wandten, um ein Machtwort aus Rom zu erhalten,
entschieden sich katholische Laien in Dublin zum Handeln: Unter der Führung
von Lord Trimlestown und Curry marschierten sechzig katholische Kaufleute und
Händler zum Gericht von King’s Bench, wo sie den Eid ablegten – ohne die Genehmigung der Kirche.574 1775 folgten einige katholische Bischöfe aus Munster
gemeinsam mit ihren Priestern und vielen Landadeligen dem Beispiel der soge-
567
Wall, Catholics, S. 99.
Corish, Catholic Community, S. 122; Wall, Penal Laws, S. 59.
569
Lecky, History of Ireland I, S. 168.
570
Wall, Loyalty, S. 107f.
571
Ebd., S. 109-111.
572
Ebd., S. 110.
573
Ebd., S. 110f.
574
Ebd., S. 112.
568
189
nannten ‚Juroren’.575 Die Gefahr eines Schismas war so groß, daß der Vatikan
einlenkte: Er riet den anti-jurorischen Bischöfen von einer öffentlichen Verurteilung des Eids ab, um die Situation der irischen Katholiken nicht zu verschlimmern
und ließ es bei einer scharfen, schriftlichen Ermahnung des Führers der JurorenPartei, des Erzbischofs von Cashel, bewenden.576 Die Jurorenaffäre demonstriert
noch einmal die schwierige Position der katholischen Kirche. Ihr wurden nicht
nur vom Regime Zugeständnisse als Preis für die weitgehend ungestörte katholische Religionsausübung, sondern überdies von Teilen der katholischen Gemeinschaft Konzessionen gegenüber dem Regime als Preis für die gesellschaftliche
Reintegration des katholischen Adels und Mittelstands abverlangt. Keinem dieser
Ansprüche konnte sie sich erfolgreich entziehen.
Die Amtskirche und katholische Volksfrömmigkeit. Anders dagegen liegt der
Fall, wenn man sich das Verhältnis zwischen der katholischen Amtskirche und
den katholischen Unterschichten auf dem Land anschaut. Die Amtskirche konnte
sich zwar auch hier mit ihren Vorstellungen nicht durchsetzen, aber sie lenkte
nicht ein. Im Verhältnis zur katholischen Landbevölkerung sorgten vor allen Dingen Formen der Volksfrömmigkeit für Konfliktstoff. Dazu zählten die großen
Wallfahrten nach St. Patrick’s Purgatory am Lough Dergh oder auf dem Gipfel
des Croagh Patrick sowie die Verehrung lokaler Heiliger an Quellen und Brunnen
(die sogenannten ‚patterns’) und gängige Rituale der Totenwache, die sogenannten ‚merry wakes’. Zum einen war den katholischen Würdenträgern bei diesen
Ritualen eine aus keltischer Tradition stammende, paganisch-kosmologische
Komponente ein Dorn im Auge, die sie als Aberglauben geißelten, und zum anderen die Tatsache, daß die Wallfahrten nach Beendigung des Ritus dazu tendierten,
in einer kathartischen Reaktion in ausgelassenen Tanzfesten, Trinkgelagen und
nicht selten in Schlägereien zu enden.577 Selbst bei den Totenwachen wurde allerlei derber, nach heutigen Standards extrem pietätsloser Schabernack getrieben,
musiziert und getanzt wie bei einer Hochzeit.578 Auch Feenzauber wurden vollführt, nach Anzeichen für den nahenden Tod des Sterbenden gesucht (wie etwa
dem Krähen eines Hahnes zur Nachtzeit) und der Leichnam dann auf genau fest575
Ebd., S. 113.
Ebd., S. 113f.
577
Ó Crualaoich, The 'Merry Wake', in: Donnelly Jr./Miller, Irish Popular Culture, S. 173-200, S.
175f.; D. Ó Giolláin, The Pattern, in: Donnelly Jr./Miller, ebd., S. 201-221, S. 203f., 208-211.
578
Ó Crualaoich, 'Merry Wake', S. 185-187.
576
190
gelegte Art und Weise für die Totenwache aufgebahrt, aus dem Haus und zum
Friedhof gebracht, um die ‚good people’(d.h. die Feen) nicht zu erzürnen.579 Gerade die oberen, akademisch ausgebildeten Ränge des katholischen Klerus bekämpften vehement den „verwirrten Aufschrei von Gebeten und Flüchen, von
Heiligkeit und Blasphemie“, der bei diesen Anlässen aus der Sicht aufgeklärter
Beobachtern das Bild prägte:580 Seit der Jahrhundertmitte sprachen die Bischöfe
Ermahnungen aus, stellten die Teilnahme an den Wallfahrten zu heiligen Brunnen
unter Strafe, verboten sie schließlich ausdrücklich und drohten den Teilnehmern
einer solchen Zeremonie die Exkommunikation an.581 Wie wenig solche Drohungen und selbst drastischere Schritte der Tradition etwas anhaben konnten zeigt die
Geschichte des St. Gobnait-Kreuzes in Dunquin (Co. Kerry): Als bei den Wallfahrten ein Mann in einer Schlägerei getötet wurde, verbot der lokale Priester das
‚pattern’. Da die Bevölkerung sein Verbot ignorierte, entfernte er das Kreuz vom
Wallfahrtsort, um es bei sich zu Hause unter Verschluß zu nehmen. Auf dem Weg
dahin wurde er von drei Männern gewaltsam aufgehalten, die das Kreuz zurückforderten. Der Priester konnte auf seinem Pferd entkommen und verschloß das
Kreuz in seinem Verschlag. In kürzester Zeit verschwand es von dort und kehrte –
wie durch ein Wunder... – auf seinen alten Platz zurück. Durch einen simplen Ikonoklasmus ihres Priesters ließen sich die Einwohner von Dunquin ihren Heiligen offenbar nicht nehmen.582
Im übrigen war das Beispiel des Priesters von Dunquin eher die Ausnahme als die
Regel, denn der niedere Klerus scheint dazu tendiert zu haben, die Volksfrömmigkeit zu unterstützen. Die Priester vor Ort standen den Ritualen ihrer Gemeinden – von den Wallfahrten zu heiligen Quellen bis zu Sonnwendfeiern – in der
Regel vor und präsidierten als Ehrengäste über alle Taufen, Hochzeiten und Begräbnisse.583 Wie tief in puncto Volksfrömmigkeit und Rituale der Graben zwischen dem hohen und niederen katholischen Klerus tatsächlich war läßt sich daran
ablesen, daß es der Bischof von Ferns z.B. noch 1771 für notwendig hielt, seine
Priester dazu anzuhalten, keine Exorzismen durchzuführen und nicht als ‚Feen-
579
Ebd., passim.
Zur Bildung des katholischen Klerus vgl. Connolly, Elite, S. 16; Zitat bei Ó Giolláin, Pattern,
S. 204.
581
Ó Giolláin, ebd., S. 214.
582
Ebd., S. 202.
583
Connolly, Elite, S. 17.
580
191
doktor’ in Erscheinung zu treten, der krankes Vieh und Felder mit Weihwasser
besprenkelte.584 Erst in den 1780er Jahren begannen katholische Priester auf dem
Lande damit, die volksfrommen Rituale nicht länger durch ihre Anwesenheit zu
legitimieren und aufzuwerten. Die Praxis als solche hielt sich ungeachtet dessen
bis weit ins 19. Jahrhundert hinein.585
Kulturelle Charakteristika der gälischen ‚popular culture’. Die Kultur der
breiten katholischen Landbevölkerung ist en passant bereits wiederholt angerissen
worden. Um Redundanz zu vermeiden, werden an dieser Stelle daher nur noch
einmal kurz die wichtigsten Charakteristika der Kultur der breiten gälischen Bevölkerung skizziert und das Beharrungspotential dieses katholischen Kulturstrangs gegen die koloniale ‚Leitkultur’ herausgearbeitet.
Trotz der berechtigten revisionistischen Kritik an DANIEL CORKERYS sozialromantisch und nationalistisch imprägnierten Thesen spricht immer noch vieles dafür, sein Hidden-Ireland-Konzept in modifizierter Form weiter zu verwenden.
Dazu müssen jedoch vor allem die von CORKERY besonders hervorgehobenen
kulturellen Grenzlinien – Konfession und koloniale Stellung in der irischen Gesellschaft – um weitere Faktoren wie soziale und regionale Unterschiede ergänzt
werden. Durch diese Modifikationen reduziert sich zwar die Reichweite des
„Hidden-Ireland“- Konzepts erheblich, weil es sich dann nur noch auf die weitgehend gälischsprachigen, katholischen Unterschichten im ruralen Westen Irlands
anwenden läßt, aber dafür behält das Konzept seine analytische Validität. Selbst
wenn das Residuum autochthoner Kultur nicht vollständig in sich abgeschlossen
war (wie CORKERY annahm), so waren die Kulturkontakte zwischen dieser und
der von der kolonialen ‚Leitkultur’ beherrschten Sphäre doch auf einen kleinen
Personenkreis aus niederem Klerus, Heckenschulmeistern, Balladensängern und
Middlemen beschränkt, die sozial und räumlich ausreichend mobil waren und über
genügend kulturelles Wissen verfügten, um überhaupt als Vermittlungsinstanzen
zwischen dem kolonialen und dem autochthonen Irland aufzutreten.586 Unterhalb
dieser Schicht kultureller Grenzgänger befand sich jedoch die breite katholische
Landbevölkerung, die durch konfessionelle und linguistische Barrieren, durch ihre
eigenen politkulturellen Orientierungen und das Desinteresse der kolonialen O584
Ebd., S. 16.
Ó Giolláin, Pattern, S. 214f.
586
Connolly, Elite, S. 16.
585
192
berschicht dauerhaft von der kulturellen Entwicklung der irischen Kolonialgesellschaft abgekoppelt war und in ihren traditionalen Kulturmustern verharrte. Worin
bestanden nun die klassischen Wesenszüge dieser traditionalen Kulturmuster?
Die zentralen Merkmale sind bereits aus anderen Zusammenhängen bekannt: Die
Kultur der katholischen Unterschichten auf dem Land war – wie am Beispiel der
Hedge Schools diskutiert – bestenfalls proto-alphabetisiert und sie war primär
gälischsprachig mit einer gewissen Tendenz zur Bilingualität. Die Untersuchung
der Volksfrömmigkeitsformen hat die zentrale Bedeutung lokaler Riten herausgestrichen (‚merry wakes’, ‚patterns’). Die entschlossene Verteidigung existenter
Riten und Praktiken gegen die eigenen Geistlichen vor Ort kann ebenso als deutliches Indiz für die kulturelle Beharrungskraft und Traditionalität der katholischen
Unterschichten auf dem Land gewertet werden wie die Tatsache, daß diese Riten
nicht allein auf christlichen Traditionen basierten, sondern darüber hinaus auch
auf vorchristliche, keltische Vorstellungen von der ‚Anderswelt’ (z.B. den
Feenglauben) rekurrierten.587 Darüber hinaus haben die Formen agrarischen Protests auch über kulturelle Orientierungen der katholischen Landbevölkerung Aufschluß gegeben: Über ihre Vorstellungen von ‚gerechten’ sozialen und ökonomischen Beziehungen zwischen Landbesitzer und Kleinpächter, über ihr Pochen auf
‚alte Rechte’ (z.B. in Hinsicht auf die Einzäunung von Allmenden) und über ihre
Vorstellungen legitimen Widerstands gegen die weltliche und geistliche Obrigkeit.
Der einzige charakteristische Aspekt der Kultur der katholischen Unterschichten
auf dem Land, der bislang noch keine Erwähnung gefunden hat, ist ein weit verbreiteter, jakobitisch imprägnierte Messianismus. Von kultureller Warte betrachtet stellte der Jakobitismus der katholischen Unterschichten weit mehr dar als bloß
eine politische Loyalität zur Stuart-Dynastie.588 Vor dem Hintergrund der aristokratischen Bardentradition, welche die Rückkehr der Stuarts mit der Hoffnung auf
eine Restauration der präkolonialen gälischen Gesellschaft verknüpfte, ist es wenig überraschend, daß sich in den Äußerungen der breiten Bevölkerung die StuartHerrscher in messianische Gestalten verwandelten, deren Rückkehr nach Irland in
mythologischer Weise mit dem Topos eines goldenen Zeitalters verbunden wur-
587
Zum keltischen Hintergrund katholischer Riten vgl. I. Clarus, Keltische Mythen, Zeugnisse
aus einer anderen Welt, Augsburg 1997, S. 49-53.
588
Smyth, Men, S. 41.
193
de.589 Ein anonymer Vers, der in der oralen Tradition bis ins 19. Jahrhundert überlebte, brachte diese volkstümliche Vorstellung mit unprätentiösen Worten auf den
Punkt:
„Der König wird kommen, die Königin wird kommen
Sarsfield und die MacCarthys werden kommen
Die Franzosen werden in ihren Reihen marschieren
Und die [englischen - MR] Flegel werden aus Irland vertrieben werden.“590
Die Loyalität gegenüber dem Haus Stuart wurde ohne Rücksicht auf die realpolitische Lage bis zum Ende des 18. Jahrhunderts auf jedes Mitglied der Dynastie
übertragen: Von Jakob II. auf Jakob III, auf Charles Edward Stuart und schließlich sogar auf dessen jüngeren Bruder Henry, den Herzog von York.591 Diese für
heutige Betrachter merkwürdig ‚stur’ wirkende Loyalität, die jeglicher politischer
Logik entbehrt, wird nur im Kontext spirituell-mythologischer Königskonzepte
der gälischen Kultur verständlich: Aus GIRALDUS CAMBRENSIS „Topographia
Hibernica“ aus dem 12. Jahrhundert wissen wir, daß gälische Könige bei ihrer
Thronbesteigung rituell mit dem Land vermählt wurden und anschließend für das
Wohl und Wehe des Landes verantwortlich gemacht wurden.592 Ohne den rechtmäßigen König, glaubte man, war das Land dem Ruin verfallen und wurde von
Mißernten, Epidemien und anderen Übeln heimgesucht. Die Parallelität zwischen
dem christlichen Messiasglauben, der gälischen Königsvorstellung und der Hoffnung auf die Rückkehr die Stuarts ist offensichtlich und zusammen dienten sie
sowohl der breiten Bevölkerung wie den gälischen Literati als kommunikatives
Medium ihrer Hoffnungen und ihres Protests. Während die Barden ihre Visionsgedichte – die sogenannten Aíslings – schrieben und sangen, in denen die verlassene Frau ‚Irland’ auf die Rückkehr ihres Stuartprinzen aus dem Exil wartet, adaptierten die katholischen Unterschichten das Topos in kruderer Form, indem sie
– wie in den Defender-Katechismen593 – ihre religiöse Zugehörigkeit mit ihrer
589
B. Ó Buachalla, Irish Jacobitism and Irish Nationalism: the Literary Evidence, in: M. O'Dea/
K. Whelan (Hgg.), Nations and Nationalisms, France, Britain, Ireland and the 18th Century Context, Oxford 1995, S. 103-116, 103-106.
590
Zitiert nach B. Ó Buachalla, Briseadh na Bóinne’, in Éigse 23 (1989), S. 83-106, S. 97. (meine
Übersetzung)
591
Um die Übertragung der Loyalität auf den Herzog von York wissen wir aus einem DefenderKatechismus der 1790er Jahre. Vgl. Bartlett, Documents, S. 388; vgl. auch Ó Buachalla, Irish
Jacobitism, S. 105.
592
Clarus, Mythen, S. 66-68.
593
Bei den sogenannten Defender-Katechismen handelt es sich um Satzsequenzen, die alternierend von zwei Mitgliedern gesprochen wurden zur gegenseitigen Erkennung, aber auch im Initiationsritus dieser bäuerlich-katholischen Geheimgesellschaft Verwendung fanden.
194
politischen Loyalität und ihrer mythischen Vorstellungen in eins setzten und mit
biblischen Bildern verknüpften:
„Der Herzog von York wird uns retten. Ich bin ihm treu ergeben. Ich
auch. Wer taufte dich? Der heilige Johannes. Wo? Am Fluß. Welchem Fluß? Dem Jordan. Wofür taufte er dich? Um treu zu sein.
Wem gegenüber? Gott und meinen Brüdern. Warum gegenüber Gott?
Weil es meine Pflicht ist. Warum gegenüber meinen Brüdern? Weil
ich ihnen treu bin und dem König. Warum gegenüber dem König?
Wegen der Freiheit, die er uns gewährte. Wir haben verloren, wir haben unsere Brüder verloren, ja, wir haben sie verloren. Wohin sind sie
gegangen? Zum Fluß. Zu welchem Fluß? Zum Fluß Jordan. Wann
werden sie zurückkehren? Wenn sie Buße getan haben für ihre Sünden, dann werden sie zurückkehren und ihre unbefleckte Treue zeigen.“594
In Gasthäusern äußerte sich die Hoffnung auf Erlösung vom englischen Joch in
konkreteren, derberen Formen,595 wenn etwa auf den Untergang bestimmter englischer Landbesitzer getrunken wurde:
„Robertson wird gebrechlich sein und Redmonds schwach, Wallis und Swaine werden unterworfen und wertlos ein, Longfield wird von einer irischen
Jury verurteilt werden, der schurkische Morrison wird zwischen Blake und
Trant [hängen – MR], der verräterische Johnson wird zurecht im Höllenfeuer
schmoren; das ist ein neuer Gang für das Mädchen des Hauses – Amen sage
ich und füll’ uns die Becher!“596
Auch Toasts auf den Stuart-Kronprätendenten wurden in Kneipen öffentlich ausgebracht.597
Abgerundet wird das Bild einer in der breiten Bevölkerung verankerten, kulturell
geäußerten Protesthaltung gegen das Regime durch das Genre der volkstümlichen
Kriminalliteratur über die ‚Taten’ jakobitischer Tories und Rapparees, das aus
den klassischen „letzten Reden“, „Bekenntnissen“ oder „Memoiren“ verurteilter
Verbrecher hervorging, die sich besonders zwischen 1710 und 1730 großer Beliebtheit erfreuten.598 In den 1740er Jahren wurde das Genre durch die Veröffentlichung der „History of the most notorious Irish tories, highwaymen, and rapparees“ von John Cosgrave weiter popularisiert. Dieses Werk, das bereits von Anfang an zum niedrigen Preis von drei Pennies auf den Markt geworfen wurde,
gehörte zur Standardlektüre in den Hedge Schools und hatte allein bis 1782 min594
Bartlett, Documents, S. 388f. (meine Übersetzung)
Zur Rolle der Pubs als Zentren männlicher Geselligkeit und politischer Subversion sowie zu
den Pubbesitzern als zentralen Figuren in der ländlichen Sozialstruktur vgl. E. Malcolm, The Rise
of the Pub: A Study in the Disciplining of Popular Culture, in: Donnelly Jr./Miller, Irish Popular
Culture, S. 50-77.
596
Zitiert nach Ó Buachalla, Irish Jacobitism, S. 112. (meine Übersetzung)
597
Ebd.
598
N. Ó Ciosáin, The Irish Rogues, in: Donnelly Jr./Miller, Irish Popular Culture, S. 76-94, S.
81f., Smyth, Men, S. 40f.
595
195
destens zehn Auflagen.599 Neben dem niedrigen Preis verweisen zwei weitere
Aspekte darauf, daß dieses Werk und seine Nachfolger für ein breites, ländliches
(und damit primär katholisches) Publikum bestimmt waren: Im Unterschied zu
vergleichbaren englischen Werken wählte Cosgrave erstens vorwiegend solche
Figuren für seine Darstellung aus, die auf dem Land aktiv waren, und zweitens
ließ seine Darstellung die behandelten Figuren insgesamt in einem deutlich positiveren Licht erscheinen als das in vergleichbaren englischen Werken der Fall
war.600 Cosgraves Protagonisten fielen ausnahmslos in die Kategorie des volkstümlichen Brigantenhelden, der die Reichen beraubt, mit den Armen teilt und nur
durch Verrat zu besiegen ist: Lauter Robin Hoods, kein einziger Schinderhannes.601 Vor dem Hintergrund von ERIC HOBSBAWMS Konzept des Sozialbanditentums deutet NIALL Ó CIOSÁIN die Popularität dieses Genres daher für das 19.
Jahrhundert als Ausdruck einer „anti-autoritären, anti-staatlichen Ideologie“ der
breiten katholischen Bevölkerung. Für das 18. Jahrhundert ist das deutlich zu
hoch gegriffen: Hier kann von einer geschlossenen „anti-staatlichen Ideologie“
noch nicht die Rede sein, sondern allenfalls von einer Divergenz zwischen lokalen
Konventionen und staatlichen Ordnungsvorstellungen. Die Bewunderung der Bevölkerung für die zu Volkshelden stilisierten Briganten ist somit bloß als ein weiterer Beleg für die Existenz eines diffusen ländliches Protestpotential zu werten,
das auf vielfältige Weise kulturellen Ausdruck fand.
Fazit. Die katholischen Reaktionen auf die von der Ascendancy vertretene und
repräsentierte kolonialen ‚Leitkultur‘ haben sich insgesamt als so vielfältig herausgestellt wie die Kulturäußerungen der katholischen Bevölkerung als uneinheitlich. Diese Feststellung reflektiert nicht mehr als die innere Heterogenität der
größten irischen Bevölkerungsgruppe, die sich nicht nur auf den sozialen und sozialökonomischen, sondern im Hinblick auf den individuellen Bildungsstand,
Deutungsmuster und Erwartungshorizonte ganz besonders auch auf den kulturellen Bereich erstreckte. Gerade die kulturelle Heterogenität der katholischen Bevölkerung basierte nicht allein auf sozialen Unterschieden, sondern wurde auch
durch das Gefälle zwischen Stadt und Land sowie auf dem Land zwischen verschiedenen lokalen und regionalen Gebräuchen und kulturellen Praktiken und
599
Ó Ciosáin, ebd., S. 79, 83; Adams, Word, S. 90.
Ó Ciosáin, ebd., S. 83, 85-88.
601
Ebd., S. 85.
600
196
schließlich durch den vom Kolonialregime ausgehenden kulturellen Assimilationsdruck gefördert. Zumindest partiell ist daher die innere Zerrissenheit als zentrales Merkmal katholischer Kultur auch auf den kolonialen Kontext zurückzuführen, der die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen schuf, in denen sie sich entfaltete. Trotz dieses uneinheitlichen Gesamteindrucks lassen sich jedoch einige
signifikante Entwicklungstendenzen extrapolieren. Vor allem ist deutlich geworden, daß die soziale Elite der katholischen Bevölkerung – Adel, Klerus und Bürgertum – eine ausgeprägte, wenngleich zum Teil (vor allem im Hinblick auf den
Klerus) durchaus widerwillige Tendenz zur kulturellen Anpassung entwickelte,
während die katholische Landbevölkerung (mit der wichtigen Ausnahme einer
Gruppe kulturell mobiler Grenzgänger wie dem lokalen Klerus, den Barden oder
den Heckenschulmeistern) sich relativ konsequent einigelte und der kolonialen
‚Leitkultur‘ gegenüber verschloß.
Für das Verhalten der katholischen Elite lassen sich gute Gründe anführen: Zum
einen die Hoffnung auf gesellschaftliche Reintegration und letztlich Gleichstellung mit den sozialen Standesgenossen der anderen Bevölkerungsteile und die
relative Häufigkeit des Kulturkontakts mit der anglikanischen und presbyterianischen Elite von der anderen Seite des konfessionell-kolonialen Vorhangs, die kulturelle Assimilation zu erleichtern, wenn nicht gar zu beschleunigen half, und
insofern als Katalysator dieses Assimilationsprozesses aufzufassen ist. Punktuell
ist auch feststellbar, daß die Assimilation einzelnen Gruppen der katholischen
Bevölkerung leichter fiel, weil sie mit ihren eigenen Orientierungen übereinstimmte. Der Widerstand des höheren katholischen Klerus gegen die in der Landbevölkerung gepflegten Formen der Volksfrömmigkeit z.B. repäsentiert ebenso
den kulturellen Hiatus zwischen akademisch-theologischen Auffassungen dieser
Schicht und spirituellen Bedürfnissen in der Landbevölkerung wie den Versuch
des Klerus, einen Beitrag zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu leisten und sich so demonstrativ loyal zu verhalten. Ähnlich hatten die aufgeklärten
Katholiken verhältnismäßig wenig Probleme damit, eine Auseinandersetzung mit
den konservativen Bischöfen auszutragen, um die Gelegenheit zu erhalten, dem
Regime rituell ihre Loyalität zu versichern, weil sie die päpstliche Unterstützung
für die Stuarts für einen alten Zopf hielten, der abgeschnitten gehörte. Ein weiteres Merkmal der Assimilation der katholischen Elite war, daß sie lediglich zu Beginn des 18. Jahrhunderts wirklich defensiv war und dazu diente, sich protestanti197
schen Zumutungen zu entziehen und gesellschaftliche Besitzstände zu wahren
(wie etwa die Konversionsproblematik gezeigt hat). Spätestens ab der Jahrhundertmitte jedoch nahm die Assimilation der katholischen Oberschicht einen offensiven Charakter an, denn nun ging immer mehr darum, durch kulturelle Anpassung Loyalität zu demonstrieren, um eine Vertrauensbasis für die Forderung nach
Erleichterungen und neuen Rechten zu schaffen. Das Resultat war eine bemerkenswerte Assimilationsbegeisterung auf seiten der katholischen Elite, die sich
u.a. in unzähligen rituellen Loyalitätsversicherungen des Catholic Committee seit
den späten 1770er Jahren niederschlug.602
Weniger einfach dagegen ist die Beharrlichkeit der katholischen Landbevölkerung
zu erklären, mit der diese an ‚alten‘ Werten, Sitten und Gebräuchen festhielt. Hier
fehlen auch schlicht die Selbstzeugnisse, die als Basis für eine Einschätzung der
Motivlagen in der katholischen Landbevölkerung unentbehrlich sind. Es ist mühsam genug zu rekonstruieren, was in der Landbevölkerung rezipiert wurde, aber
es ist fast unmöglich nachzuvollziehen, warum es wie rezipiert wurde. Daher ist
an dieser Stelle nicht mehr möglich als der Verweis auf ein paar strukturelle Bedingungen, die das kulturelle Verharren begünstigten. Dazu zählt natürlich an
vorderster Stelle die mangelnden Austauschmöglichkeiten mit der kolonialen
‚Leitkultur‘, die durch die räumliche Abgelegenheit des Hidden Ireland, die (sich
allerdings langsam zurückziehende) Sprachgrenze und die eher kleinräumige Mobilität im subsistenzwirtschaftlich orientierten Westen des Landes gefördert wurde. Darüber hinaus fehlte aber auch jeder Anreiz zur Assimilation. Nicht nur, daß
die katholische Landbevölkerung sich keinen sozialen Aufstieg von Assimilationsleistungen versprechen konnte: Sie war in vielerlei Hinsicht das Hauptopfer
der anglikanischen Kolonisten. Nimmt man die zahlreichen xenophobischen Äußerungen gegen die ‚häretischen Eindringlinge‘, die in der Landbevölkerung in
Balldenform zikulierten, und den jakobitischen Messianismus ernst, dann läßt sich
die Einigelung der katholischen Landbevölkerung auch als eine Kombination aus
‚innerer Emigration‘ und kulturellem Widerstand interpretieren. Zumindest aber
spricht die breite Unterstützung des Jakobitismus auf dem Lande, die sich von
politischen Entwicklungen gänzlich unbeeindruckt zeigte, dafür, daß hinter diesen
Orientierungen nicht primär mangelnde kulturelle Anpassungsfähigkeit, sondern
vor allem ein Mangel an Anpassungswillen stand.
602
MBCC, S. 3-172.
198
c) Die presbyterianische ‚Gegenkultur’: Von kultureller Segregation zum
Protest
Die presbyterianische ‚Gegenkultur’. Kulturell nahm Ulster, die presbyterianische Kernregion, ebenso eine Sonderstellung ein wie in politischer oder ökonomischer Hinsicht. Ihre fundamentale kulturelle Divergenz basierte zum einen auf den
strukturellen Anforderungen des Presbyterianismus an seine Anhänger und zum
anderen auf der relativen sozialen Egalität der presbyterianischen Bevölkerung
mit ihrem ausgeprägt mittelständischen Kern aus Kaufleuten, Großpächtern und
‚professional men’.603
Die Omnipräsenz der presbyterianischen Kirche, der Kirk, verlieh den kulturellen
Aktivitäten der presbyterianischen Bevölkerung eine bemerkenswerte Geschlossenheit und Zielgerichtetheit: Die Kirk Sessions setzten die moralischen, religiösen und kulturellen Standards, denen die Bevölkerung – teils auch aus Furcht vor
der Autorität der Gemeindeoberen – folgte.604 Insbesondere auf dem Lande stellte
die Kirk Session oftmals die einzige kulturelle Institution dar, die der Bevölkerung
kulturelle (An)Leitung gab.605
Die relative soziale Geschlossenheit der presbyterianischen Bevölkerung dagegen
reduzierte das Bedürfnis nach kultureller Ostentation und dem kulturellen Pomp,
der für die soziale Elite des anglikanischen Bevölkerungsteils in Dublin so charakteristisch war. Das kaufmännische Element in der presbyterianischen Bevölkerung drückte sich überdies in einer gewissen pragmatisch-nüchterne Wesensart
aus: Ein junger Franzose, der Belfast 1797 besuchte, notierte leicht irritiert über
die ‚Pfeffersack-Mentalität’ der Belfaster, „Wenn Du mit ihnen über den Kaiser
oder General Clerfayt sprichst, werden sie Dir antworten, daß Zucker zu teuer ist
oder Leinen zu billig.“606
Die presbyterianische Kirche mit ihren engen kulturellen Kontakten ins aufgeklärte Schottland sorgte für ein besonders ausgeprägtes Interesse an Bildung und Gelehrsamkeit, die religiösen Dispute innerhalb der presbyterianischen Glaubensge603
Vgl. W.H. Crawford, Change in Ulster in the Late 18th Century, in: Bartlett/Hayton, Penal
Era, S. 186-203, S. 191; McCracken, Social Structure, S. 40.
604
McCracken, ebd.
605
Crawford, Change, S. 199.
199
meinschaft schärften darüber hinaus die allgemeine Kritikfähigkeit und bahnten
dabei en passant auch philosophischen und politischen Debatten den Weg. Zeitgenossen waren sich über die hohen Bildungsstandards in der presbyterianischen
Bevölkerung einig: Arthur O’Connor, ein prominenter United Irishman, beschrieb
die presbyterianische Landbevölkerung Ulsters in den 1790er Jahren als die
„vermutlich am besten gebildete Bauernschaft in ganz Europa“; Sir Richard
Musgrave, ein Erzkonservativer, stimmte diesem Urteil mißbilligend zu, als er
über die Grafschaften Antrim und Down notierte, daß dort „das Gros der Bevölkerung presbyterianisch ist, lesen und schreiben kann und Gefallen daran findet,
über Religion und Politik zu spekulieren.“607 Die nach Meinung zeitgenössischer
Beobachter hohe Alphabetisierungsrate in der Bevölkerung Ulsters war das Resultat eines presbyterianischen Bildungsprojekts, das auf dem religiösen Anspruch
des ‚sola scriptura’ beruhte.608 Der religiös fundierte Anspruch, daß jeder Presbyterianer vom Prediger abwärts in der Lage sein müsse, die Bibel und den Katechismus zu lesen, führte schon recht früh zu Bemühungen, ein Elementarschulsystem aufzubauen. Damit kamen sie natürlich in Konflikt mit den Strafgesetzen, die
ihnen – wie den Katholiken – die Unterhaltung eigener Schulen verboten.609 In
einer an Königin Anne gerichteten Beschwerde der Presbyterianer aus der ersten
Dekade des 18. Jahrhunderts heißt es daher:
„[Es ist] ein großer Mißstand für uns, daß die Erziehung unserer Jugend dadurch extrem behindert wird, daß wir an vielen Stellen nicht die Freiheit genießen, gewöhnliche Schulmeister unserer eigenen Konfession zu haben ...
Und sogar solche, die nur Lesen und Schreiben in den Landkirchspielen unterrichteten, werden zum großen Nachteil der Kinder und zur Entmutigung
der Eltern, die aus Gewissensgründen um ihre Erziehung besorgt sind, verboten und verfolgt.“610
Zu Anfang des 18. Jahrhunderts gab es nur einige Privatakademien in Ulster, die
diesen Bildungsanspruch jedoch nicht einlösen konnten. Also griff die Kirk ein
und unterstützten systematisch den Aufbau eines Gemeindeschulsystems, deren
Lehrer sich oft aus Anwärtern für das Predigeramt rekrutierten, die unter der Kon-
606
Zitiert nach R.B. McDowell, The Late 18th Century, in: J.C. Beckett u.a. (Hgg.), Belfast, the
Growth of an Industrial City, London 1967, S. 55-66, S. 66. Ähnlich auch bei Curtin, United
Irishmen, S. 40.
607
Smyth, Men, S. 28.
608
Vgl. ebd.
609
Adams, Word, S. 10.
610
Zitiert nach J.A. McIvor, Popular Education in the Irish Presbyterian Church, Dublin 1969, S.
31f.
200
trolle der Kirk Sessions standen.611 Gelegentlich half die Kirche auch mit der Zahlung von Gebühren und mit Buchspenden aus.612 Darüber hinaus standen auch in
Ulster die bereits erwähnten prinzipiell gemischtkonfessionellen Hedge Schools
zur Verfügung. Außerdem gab es – z.B. in Belfast ab 1770 – Wohltätigkeitsschulen (Charity Schools), in denen Kinder von Tagelöhnern, Webern und Bleichern
im Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet wurden. Diese Schulen finanzierten sich durch Predigten und Tanzveranstaltungen, die extra für diesen guten
Zweck abgehalten wurden.613 Ab den 1780er Jahren traten zusätzlich von Vereinen, Privatpersonen oder ganzen Gemeinden getragene Sonntagsschulen hinzu
und rundeten das Schulbildungsangebot ab.614
Die Bildungsbeflissenheit der presbyterianischen Bevölkerung fand jedoch nicht
nur in ihren weitgehend privat finanzierten Schulen Ausdruck. Buchklubs und
Lesegesellschaften, von denen allein in den Grafschaften Antrim und Down 16
Stück für das 18. Jahrhundert nachgewiesen worden sind, gehören ebenso zum
Bild wie ein vitale Presselandschaft, ein florierender Buchhandel sowie Leihbüchereien und Bibliotheken.615
Belfast, das in den 1790er Jahren lediglich 18.000 Einwohner zählte, leistete sich
zeitweise sogar den Luxus zweier Zeitungen, des liberalen Belfast Newsletter
(gegr. 1737) und des Belfast Mercury (1783-86) bzw. des radikalen Northern Star
(1792-97), die zweimal wöchentlich erschienen. Aber auch die anderen größeren
Städte in Ulster hatten jeweils ihre eigene Zeitung: Gordon’s Newry Chronicle,
The Strabane Journal oder The Londonderry Journal.616
Obwohl die meisten Bücher aus Glasgow, Dublin und London importiert wurden,
verfügte Ulster auch über eine Anzahl eigener Druckereien, die Ulster mit Büchern, Pamphleten, Karten, Musiknoten und anderen miszellären Druckprodukten
versorgten. Zunächst befanden sich diese Druckereien ausschließlich in Belfast,
aber ab der Jahrhundertmitte verfügten auch andere Städte wie Strabane, Armagh,
Newry und Derry darüber.617 Insgesamt scheint sich der Ausstoß der örtlichen
Druckereien aber auf einem relativ niedrigen Niveau bewegt zu haben, so daß
611
Adams, Word, S. 11.
Vgl. ebd.
613
Vgl. ebd., S. 15.
614
Vgl. ebd., S. 15f.
615
Smyth, Men, S. 29. Zu den Lesegesellschaften vgl. auch Adams, Word, S. 38f.
616
Vgl. Smyth, Men, S. 29; Adams, Word, S. 35.
612
201
Belfast seine Rolle als Zentrum des Buchdrucks in Ulster im 18. Jahrhundert nicht
ernsthaft streitig gemacht werden konnte. Der Vertrieb der Druckerzeugnisse wurden in Belfast von substantiellen Druckern in der Regel selbst erledigt, während
er außerhalb der Metropole Ulsters in verschiedene Ebenen gegliedert war: In
größeren Städten wie Derry oder Newry gab es echte Buchhandlungen, deren Besitzer sich allein auf den Verkauf von Druckerzeugnissen spezialisiert hatten, die
sie direkt von den Druckereien bezogen. In Kleinstädten wie Omagh oder Enniskillen wurden Bücher von Kaufleuten neben anderen Waren vertrieben, in den
Dörfern boten Ladenbesitzer einige populäre Schriften und Schulbücher feil. An
der untersten Stelle des Vertriebs standen der reisende Chapman, der Flugblätter
in den entlegenen Dörfern des Westens verlas und auch verkaufte, sowie natürlich
der umherziehende Balladensänger, der vor allem Broadsides (einzelne Blätter
mit Balladentexten) im Angebot hatte.618 Mit diesem vergleichsweise ausgefeilten
Druckerei- und Druckerzeugnisvertriebssystem war Ulster nach Dublin führend in
Irland während des 18. Jahrhunderts. Ein anonymer Zeitzeuge notierte 1774 anerkennend: „Sie lesen in der Tat im Norden mehr als im Süden. Auf dieser Rundreise habe ich 20 Buchgeschäfte angetroffen und zwischen Dublin und Cork gibt es
kein einziges.“619
Auch die Inhalte der vertriebenen Bücher sind signifikant. Legt man als Sample
eine von J.R.R. ADAMS aus Werbeanzeigen in zeitgenössischen Zeitungen zusammengestellte Publikationsliste der Druckereien in Ulster zwischen 1699 und
1800 (nicht der von auswärts importierten Werke!) zugrunde, dann ergibt sich
folgende Verteilung:
Kategorien
Titel
AnteilGenre
AnteilGesamt
1. Religiöse Literatur:
88
52,7 %
52,7 %
2. Lehr- und Schul-
29
17,4 %
17,4 %
a) Geschichte
19
11,4 %
15 %
b) Politik
6
3,6 %
3
1,8 %
Subkategorie/Genre
bücher:
3. Gesellschaftslehre:
4. säkulare Literatur: a) Klassische Literatur
10,2 %
617
Adams, Word, S. 24.
Zum Vertriebssystem und zur Ausbreitung des Druckgewerbes vgl. summarisch Adams,
Word, S. 23-26.
619
Zitiert nach ebd., S. 26.
618
202
b) Romanzen und Lyrik
8
4,8 %
c) andere
6
3,6 %
8
4,8 %
4,8 %
167
101,1 %
101,1 %
Nicht zuzuordnen
Summe:
G 3: In Ulster publizierte Bücher (1699-1800)
620
Es fällt sofort ins Auge, daß mehr als die Hälfte aller Publikationen in Ulster währen des 18. Jahrhunderts religiöser Natur waren, gefolgt von weltlichem Lehrmaterial wie Wörterbüchern, Grammatiken, Arithmetikwerken und Benimmfibeln.621
Erst danach kamen Geschichtswerke im weitesten Sinn und säkulare literarische
Werke. Das bestätigt noch einmal die These, daß die presbyterianische Kultur
ihren Schwerpunkt auf religiöse und Bildungsinhalte legte – insbesondere wenn
man berücksichtigt, daß zahlreiche religiöse Lehrwerke wie Katechismen und
Meditationsanleitungen in der Tabelle der Einfachheit halber der Kategorie ‚religiöse Literatur’ zugeschlagen wurden. Sonst hätte der Anteil der Lehr- und
Schulbücher bei deutlich über einem Viertel des gesamten Publikationsausstoßes
gelegen. Die historischen Werke – mehrere Ausgaben der Biographie Roberts, des
Earl von Huntington (besser bekannt als Robin Hood), eine Biographie des schottischen Freiheitskämpfers Sir William Wallace und diverse Ausgaben eines
Werks über die Schlacht von Aughrim – sind in gewisser Weise auch aufschlußreich, weil sie ein spezifisch presbyterianisches Interesse an Personen zeigen, die
wider den Stachel staatlicher Autorität löckten sowie am genuin presbyterianischen Beitrag zum Stuart-Erbfolgekrieg. Der enge Kulturkontakt zu Schottland
kommt überdies nicht nur in der Publikation der Biographie William Wallaces
zum Ausdruck, sondern in diversen Ausgaben der Werke des schottischen Nationaldichters Robert Burns (1759-1796). Der geringe Anteil genuin politischer
Werke ist insofern irreführend, als viele der in der Kategorie ‚religiöse Literatur’
erfaßten Predigten durchaus politische Aspekte hatten. Bei den wenigen Werke,
die hier der Kategorie ‚politische Literatur’ zugeschlagen wurden, handelt es sich
durch die Bank um Veröffentlichungen aus den 1790er Jahren – angefangen bei
Thomas Paines „Age of Reason“ (1794) über James Porters politische Satire „Billy Bluff and Squire Firebrand“ (1796 u. 1797) und der ebenfalls von James Porter
620
Die Aufstellung stützt sich auf ebd., Appendix 1, S. 175-181.
203
besorgten Sammlung radikaler Lieder, die unter dem Titel „Paddy’s Ressource“
ab 1796 massenhaft von den United Irishmen unters Volk gebracht wurden, bis
zur Hinrichtungsrede der Ikone der United Irishmen, William Orr, von 1797. Davor wurden Debatten über die staatliche Autorität oder Kritik am Regime in der
presbyterianischen Gemeinschaft stets religiös verbrämt und als Teil der Toleranzdiskussion geführt.622 Ein schönes Beispiel für die immer noch enge Verbindung zwischen religiösen und politischen Inhalten aus den letzten Jahren des 18.
Jahrhunderts stellt die millenaristische Schrift “Examination of the scripture
prophecies ... in which ... the late revolution in France is shewn to be plainly foretold” (1795) dar.
Ansonsten fällt vor allem der Mangel an literarischem Interesse auf: Burns Lyrik,
eine – wahrscheinlich höchst erbauliche – Tragödie über Cato den Älteren, Aesops Fabeln und als bemerkenswerter ‚Ausreißer’ Ovids Ars amandi – das ist alles. Dazu paßt R.B. MCDOWELLS Befund, daß Belfast als kulturelles Zentrum des
presbyterianischen Nordens während des 18. Jahrhunderts keinen bekannten Autor und keine gefeierte literarische Gruppe beherbergte.623 Politisch und philosophisch mag Belfast das ‚Athen des Nordens’ gewesen sein, wie die Herausgeber
des Northern Star 1792 behaupteten, literarisch erinnert es jedoch eher an die
Wüste Sinai.
Einen weiteren Baustein in der Verbreitung von Bildungsgütern bildeten die Bibliotheken. Kommerzielle Leihbüchereien, die vermittels ihrer niedrigen Gebühren
den Zugang zur Bildung auch für untere soziale Schichten ermöglichten, gab es in
Ulster seit den frühen 1770er Jahren. Ein Beispiel hierfür ist die Leihbücherei
Hugh Warrens in Belfast, die 1780 bereits mehr als 1.000 Bände umfaßte.624 Für
die Benutzung einer solchen Bibliothek waren monatliche, viertel- oder ganzjährige Beiträge zu entrichten, die sich in der Größenordnung von 13 Schilling p.a.
bewegten.625 Das war für einen Tagelöhner, der laut eines Pamphlets von 1786 im
621
Diese und die nachfolgenden Bemerkungen zu publizierten Titeln beziehen sich auf die von
Adams zusammengestellte Liste derjenigen Werke, die in Ulster zwischen 1699 und 1800 publiziert wurden. Vgl. daher summarisch ebd., Appendix I, S. 175-181.
622
Tesch, Radicalism, S. 37.
623
McDowell, Late 18th Century, S. 59.
624
Adams, Word, S. 37f.
625
Vgl. ebd., S. 38.
204
Schnitt über ein Bruttojahreseinkommen von 5 £, 16 Sh. und 7 d. verfügte,626 immer noch deutlich zuviel, aber für durchschnittliche Pächter und Handwerker bereits erschwinglich.
Gleichzeitig traten Büchereien in Erscheinung, die von in Lesegesellschaften organisierten Privatpersonen gegründet und finanziert wurden.627 Die größte dieser
Gesellschaften, die 1785 gegründete Belfast Reading Society, benannte sich 1792
in Belfast Society for Promoting Knowledge um und betrieb den Aufbau einer
Bibliothek, die den Mitgliedern einen „vollständigen philosophischen Apparat“
zur Verfügung stellen sollte.628
Da den Presbyterianern wie den Katholiken der Zugang zu Trinity College versperrt blieb, wandten sie sich vorwiegend nach Schottland, wo sie an den Universitäten von Glasgow und Edinburgh studierten. Über den gesamten Zeitraum zwischen 1690 und 1820 bildeten ‚Scotohiberni’ (also presbyterianische Iren schottischen Ursprungs) nicht weniger als 16 % der in Glasgow immatrikulierten Studenten und unter den Graduierungen schlugen Examinanten aus Ulster sogar mit
etwa einem Drittel zu Buche.629 In der Hochphase der schottischen Aufklärung in
den 1760er und 1770er Jahren stieg der Anteil schottisch-irischer Presbyterianer
sogar auf über 45 %.630 Während Glasgow das Zentrum des Theologiestudiums
war, avancierte Edinburgh aufgrund des guten Rufs seiner medizinischen Ausbildung am Ende des 18. Jahrhunderts zum bevorzugten Studienort angehender Ärzte. Ein Drittel dieser Medizinstudenten stammte aus Ulster.631 Der Anteil nordirischer Studenten an diesen schottischen Universitäten sank erst wieder gegen Ende
des 18. Jahrhunderts, nachdem in Belfast 1785 von einem privaten Komitee die
Belfast Academy gegründet wurde, „in der die Söhne von Gentlemen, die nicht
626
Anon., A Congratulatory Address to his Majesty from the Peasantry of Ireland, vulgarly denominated Whiteboys, or Rightboys, Dublin (P. Byrne) 1786, S. 16.
627
Adams, Word, S. 38-40.
628
Aus dieser Sammlung entstand die Linen Hall Library, die wichtigste Belfaster Bibliothek.
Vgl. McDowell, Late 18th Century, S. 58f.
629
McBride, Drennan, S. 51f. Zur Selbstbezeichnung der Studenten aus Ulster findet sich bei
Lydon, Making, S. 227 eine aufschlußreiche Geschichte: 1722 protestierten Glasgower Studenten
aus Ulster dagegen, daß zwei ihrer Kommilitonen dem Lordadvokat als „Iren“ vorgeführt wurden
und bestanden darauf, daß der schottischen Herkunft der Studenten aus Ulster vor Gericht mit der
Bezeichnung ‚Scotohibernus‘ Rechnung getragen werde. Das ist ein faszinierendes Indiz für das
regionale Sonderbewußtsein der schottisch-irischen Presbyterianer.
630
Ebd., S. 52.
631
Zu den Zahlen nordirischer Studenten an den Universitäten Glasgow und Edinburgh vgl.
summarisch ebd., S. 51f.
205
komfortabel [d.h. aus Geldmangel – MR] aufs College geschickt werden konnten,
eine liberale Erziehung erhalten konnten.“632
Soziales Engagement und Wohlfahrtsdenken. Die zweite zentrale Komponente
der presbyterianischen Kultur bestand in ihrem ausgeprägten sozialen Engagement, das sich in einer für die Presbyterianer typischen Neigung zur Gründung
von Wohlfahrtsausschüssen und -komitees zeigte. 1768 wurde in Belfast die Charitable Society gegründet, die ein Armenhaus für Alte, Bettler und Waisen einrichteten, das durch Einkünfte aus der vom Verein verbesserten privaten Wasserversorgung der Stadt finanziert wurde.633 1792 erfolgte unter der Ägide der gleichen Organisation die Gründung eines Dispensariums für mittellose Kranke und
kurz danach wurde von der Humane Female Society ein kleines Mutterschaftshospital eingerichtet.634 Ansonsten wurden private Mittel vor allem für die Errichtung schmuckloser, aber solider Gebetshäusern mobilisiert, von denen es in Belfast allein fünf gab.635 Architektonischer Pomp bedeutete den Presbyterianern
offenbar wenig. Orte, die in Dublin der sozialen und kulturellen Ostentation gedient hätten, brachten sie in Nutzgebäuden unter: Die White Linen Hall, die 1785
als Umschlagplatz für den Leinenhandel errichtet worden war, beherbergte so die
Bibliothek und den Leseraum der Belfast Reading Society, in der New Exchange,
einem Markthaus, befanden sich im ersten Stock die Assembly Rooms, die nach
ihrer Errichtung im Jahr 1775 für Jahrzehnte den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens darstellten, wo Bälle und Konzerte abgehalten wurden.636 Allenfalls
die Errichtung eines neuen Theaters in Belfast im Jahre 1784 kann den Eindruck
konterkarieren, daß die presbyterianische Kultur insgesamt sehr kopflastig war.637
Die Zentren gesellschaftlicher Begegnung und kulturellen Austausches lagen in
Ulster (nicht nur in Belfast) jedenfalls eher in der Handelskammer und in Wohlfahrtsvereinen, in den diversen Lesegesellschaften und in Freimaurerlogen.638
632
McDowell, Late 18th Century, S. 58; Stewart, Narrow Ground, S. 94.
McDowell, ebd., S. 55, 58.
634
Ebd., S. 58.
635
Ebd., S. 57.
636
C.E.B. Brett, The Georgian Town: Belfast About 1800, in: J.C. Beckett u.a. (Hgg.), Belfast,
the Growth of an Industrial City, London 1967, S. 67-77, S. 70f.
637
McDowell, Late 18th Century, S. 59.
638
Crawford, Change, S. 199; zur Rolle der Freimaurer in Ulster vgl. J. Smyth, Freemasonry and
the United Irishmen, in: Dickson, The United Irishmen, S. 167-175, S. 170-173.
633
206
Politische Festkultur. Die politische Festkultur in Ulster weist ebenfalls eine
eigene Handschrift auf. Zwar befolgten die Presbyterianer die gleichen Staatsfeiertage wie der Rest der Bevölkerung, aber sie begannen im späten 18. Jahrhundert
damit, eigene Akzente zu setzen: Während die anglikanische Bevölkerung das
Jubiläum der Schlacht an der Boyne feierten, zelebrierte die presbyterianische
Bevölkerung die Verteidigung Derrys und die Schlacht bei Enniskillen.639 Dieser
feine Unterschied ist tatsächlich höchst bedeutungsschwer, denn dahinter verbarg
sich eine kulturelle Kampfansage an das Ascendancy-Regime. Dazu muß man
wissen, daß die Verteidigung Derrys gegen die Truppen Jakobs II. und die
Schlacht bei Enniskillen die zentralen Beiträge der presbyterianischen Bevölkerung zum Erfolg Wilhelm von Oraniens im Stuart-Erbfolgekrieg darstellte. Unter
extrem hohen Verlusten hatten die Verteidiger Derrys 105 Tage im Kampf gegen
die jakobitische Armee, Hunger und Fieber durchgehalten, bevor vom Lough
Foyle endlich Entsatz kam.640 Die Geschichte der Belagerung von Derry versorgte
die presbyterianische Bevölkerung mit einem ganzen Arsenal politischer Symbole
und Rituale, die zum Teil noch heute von nordirischen Loyalisten eingesetzt werden und die bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts den Presbyterianern zur Abgrenzung gegenüber der Ascendancy dienten, wie etwa die Feiern zum einhundertjährigen Jubiläum der Belagerung von Derry im Jahre 1788 illustrieren.641 Zu
Beginn der 1790er Jahre erreichte die kulturelle Distanz zwischen der Festkultur
der Ascendancy und der presbyterianischen Gegenfestkultur schließlich ihren Höhepunkt: In Belfast begannen 1791 die Freiwilligenverbände den 14. Juli (den Tag
der Erstürmung der Bastille) mit öffentlichen Umzügen, Paraden, mit Illuminationen und Freudenfeuern zu feiern. Diese Feiern fanden zwar auch in Dublin, vor
allem aber in Belfast und anderen Städten Ulsters statt: Im Norden – dem Zentrum
und Ausgangspunkt der in Ulster vor allem presbyterianisch getragenen Freiwilli639
Stewart, Narrow Ground, S. 71.
Bardon, History, S. 152-158.
641
Dazu zählt das trotzige Motto ‚No surrender!’, das König Jakob von den Wällen Derrys entgegenschallte, als er am 18.4.1689 vor den Mauern der Stadt erschien, um die Besatzung zur Kapitulation aufzufordern, die rote Flagge, die an Colonel Michaelburns ‚blutige Flagge’ erinnert, die
während der Belagerung auf der Bastion und der Kathedrale der Stadt gehißt wurde, die Belagerungskanonen, aus denen nach Beendigung der Belagerung zu Ehren der Verteidiger Salutgeschossen wurde. Die wichtigsten mit der Belagerung von Derry verbundenen Rituale sind das
Schließen der Stadttore, das 1689 eigenmächtig und gegen den Willen des Militärgouverneurs von
Derry, Oberstleutnant Lundy, von dreizehn Handwerksgesellen durchgeführt wurde und die rituelle Verbrennung eines Bildes von Lundy, der – wie der anglikanische Bischof Hopkins – wegen
640
207
genbewegung – lag das Epizentrum der Feiern zum Bastilletag.642 Die vom Castle
finanzierte staatstragende Presse in Dublin betrachtete diese Feiern vor dem Hintergrund des herannahenden militärischen Konflikts zwischen Großbritannien und
dem revolutionären Frankreich als gezielte Provokation und kritisierte die mangelnde Würdigung der ‚britischen Konstitution’ durch die radikalen, vorwiegend
aus Presbyterianern bestehenden Freiwilligenverbände im Norden.643 Parallel zu
den presbyterianischen Feiern des Bastilletags ist überdies eine deutliche Revitalisierung der protestantischen Feiern zum Geburtstag Wilhelms III. zu beobachten.644 Die Ascendancy reagierte also auf die presbyterianische Herausforderung,
indem sie ihre ‚eigenen’ Festkultur rekonfessionalisierte und intensivierte. Daher
kann man mit Fug und Recht von einem beginnenden politischen ‚Repräsentationskampf’ (ROGER CHARTIER) in kulturellem Gewand sprechen, dessen Eskalation allein dadurch gestoppt wurde, daß nach dem Ausbruch des Krieges zwischen
Großbritannien und Frankreich im Jahr 1793 die Feiern zum Bastilletag von staatlicher Seite verboten wurden.
Selbst in ihrer, in den 1790er Jahren relativ spät einsetzenden Förderung der gälischen Kultur versuchten die Presbyterianer in Ulster einen Kontrapunkt zur kolonialen ‚Leitkultur‘ zu setzen. Am besten wird dies durch die Ausrichtung des
Harp Festival in Belfast illustriert, das 1792 unmittelbar vor den Feiern zum
Sturm der Bastille durchgeführt wurde.645 Die anti-Ascendancy Komponente des
Harp Festivals läßt sich nicht nur am Veranstaltungszeitpunkt sondern auch daran
ablesen, daß renommierte presbyterianische Radikale wie Thomas Russell sich an
der Organisation des Festivals beteiligten.646 Anläßlich dieses Festivals reisten
Reformer und Radikale aller Konfessionen aus ganz Irland an und während des
Festivals fanden zahlreiche Gespräche zwischen anglikanischen, presbyterianischen und katholischen Führungskräften der diversen Reformorganisationen statt,
Defätismus‘ der Stadt verwiesen wurde. Vgl. Stewart, Narrow Ground, S. 66-72. Zum Vollzug der
Einhundertjahrfeiern der Belagerung von Derry vgl. ebd., S. 71f.
642
Vgl. N.J. Curtin, The United Irishmen: Popular Politics in Ulster and Dublin, Oxford 1994, S.
228-230.
643
Vgl. Hill, National Festivals, S. 36.
644
Ebd., S. 36-38.
645
Connolly, Elite, S. 7.
646
Curtin, United Irishmen, S. 35, Anm. 91.
208
so daß das Festival auch den kulturellen Rahmen für ein vorsichtiges Kennenlernen verschiedenkonfessioneller, regimekritischer Organisationen diente.647
Fazit. Betrachtet man die kulturellen Entwicklungen im presbyterianischen Norden Irlands während des 18. Jahrhunderts, dann lassen sich nicht nur einige spezifische Charakteristika der presbyterianischen Kultur, sondern auch ein qualitativer
Wandel seit den 1770er Jahren feststellen. Zu den spezifischen Wesenszügen
presbyterianischer Kulturleistungen zählt vor allem ein besonders auffälliges, religiös fundiertes Interesse an Bildung (im Sinne der Volksaufklärung)648, ein ausgeprägtes, privat getragenes soziales Engagement und schließlich ein augenfälliges Desinteresse an kultureller Ostentation durch architektonischen oder gesellschaftlichen Pomp. Im presbyterianischen Norden wurde kulturelles und soziales
Kapital eher durch Wohltätigkeit und Bildung als durch prestigeträchtige kulturelle Zurschaustellung des sozialen Status generiert wie in der Ascendancy.
Der kulturelle Wandel in der presbyterianischen Bevölkerung bestand schließlich
darin, daß die durch religiöse und soziale Umstände geförderte kulturelle Geschlossenheit sich in der ersten Jahrhunderthälfte als kulturelle Selbst-Segregation
darstellte, ab den 1770er Jahren aber allmählich den Charakter einer dezidiert
gegen die Ascendancy gerichteten ‚Gegenkultur’ annahm. Am deutlichsten ist
dieser Wandel im Bereich der Festkultur und – ab den 1790er Jahren – auch in
den politischen Druckerzeugnissen nachzuweisen. Daß dieser Wandel jedoch
nicht grundlegend, sondern graduell war, läßt sich vor allem im Kontrast zu den
kulturellen Orientierungen des katholischen Bürgertums und Adels erkennen:
Während sich die soziale Elite der katholischen Bevölkerung durch ein gerüttelt
Maß an Assimilationsbereitschaft auszeichnete, verschloß sich die presbyterianische Bevölkerung von Anfang an vor der kolonialen ‚Leitkultur’ der Ascendancy.
Als kulturelles Gegengewicht dienten ihr dafür einerseits ihre engen kulturellen
Kontakte ins aufgeklärte Schottland und später auch in die USA, die durch einen
konstanten Zuwanderungsstrom aus Schottland und einen wachsenden Abwanderungsstrom in die USA stets neue Nahrung erhielten, und andererseits die Doktrinen des Presbyterianismus. Letzteres war offensichtlich entscheidend, denn insge-
647
T. Bartlett (Hg.) Life of Theobald Wolfe Tone, Compiled and Arranged by William Theobald
Wolfe Tone, Dublin 1998, S. 131-133.
648
W. Schneiders (Hg.), Lexikon der Aufklärung, Deutschland und Europa, München 1995, S.
434-437.
209
samt legt die presbyterianische Kultur in Ulster eindrucksvoll Zeugnis ab vom
Einklang zwischen kulturellen Formen und religiösen Überzeugungen.
III. Die irisch-internationale Dimension
Zum Verständnis der irischen Gesellschaft im 18. Jahrhundert reicht es nicht aus,
sich allein mit ihren inneren Konfliktstrukturen zu beschäftigen. Schon bei einem
der mächtigen europäischen Nationalstaaten könnte eine Betrachtung der äußeren
Beziehungen als Spiegel innerer Konfliktstrukturen lohnend sein, wenn man die
These vom ‚Primat der Innenpolitik‘ (Eckart Kehr) zugrunde legt. Hat man es
jedoch wie im vorliegenden Fall mit einem kleinen Land an der Peripherie Westeuropas zu tun, dessen nächste Nachbarn nicht nur die eigene Kolonialmacht
Großbritannien, sondern auch dessen heftigster Konkurrent um die europäische
Hegemonie, Frankreich, und das größere koloniale alter Ego in Nordamerika waren, das sich 1776 von der britischen Kolonialherrschaft befreiten konnte, dann ist
die Analyse der Außenbeziehungen nicht nur als Reflektionsfläche für innere
Konfliktstrukturen aufschlußreich, sondern in der Tat unerläßlich zur Erfassung
äußerer Einflüsse auf die gesellschaftliche Entwicklung in Irland. Genau hierum
geht es in der nachfolgenden Analyse: Welche äußeren Kontakte und Einflüsse
lassen sich feststellen und wie wirkten sie sich auf die innerirische Gesellschaftsentwicklungen aus?
210
1. Großbritannien und Irland
Bislang sind die Beziehungen zwischen Großbritannien und Irland nur von der
inneririschen Warte betrachtet worden, wobei der Schwerpunkt auf den gesellschaftlichen Interventionsmöglichkeiten der britischen Kolonialmacht gelegen
hat. Dabei konnte der Eindruck entstehen, daß Großbritannien zur Durchsetzung
seiner kolonialen Interessen in Irland lediglich mit dem Widerstand der angloirischen Kolonisten fertig werden mußte, und daß dies aufgrund der Mechanismen
des Kolonialmanagements – vor allem der Kontrolle der britischen Exekutive
über das irische Parlament – über weite Strecken des 18. Jahrhunderts relativ gut
funktionierte. Britische Handlungszwänge und notwendige Rücksichtnahmen sind
aus dieser Perspektive ebenso wenig zur Geltung gekommen wie die Tatsache,
daß die anglo-irischen Beziehungen sich nicht nur auf die höchste staatliche Ebene zwischen Großbritannien und Irland beschränkten. Um diese partielle ‚Unterbelichtung‘ zu beheben ist es daher erforderlich, sich nun dem Thema aus britischer Perspektive zu nähern und die Vorbehalte, welche die britische Kolonialmacht bei ihrer Irlandpolitik berücksichtigen mußte, genauer auszuleuchten und
zu bestimmen, in welchem Ausmaß innenpolitische und außenpolitische Faktoren
der britischen Politik die Irlandpolitik des Empire beeinflußten. Dabei wird a priori davon ausgegangen, daß zwischen Großbritannien und Irland vielschichtige
Beziehungen auf verschiedenen Ebenen bestanden – eine Arbeitshypothese, die es
im weiteren Verlauf dieses Kapitels zu untermauern gilt.
Äußere Bedingungsfaktoren der britischen Irlandpolitik. Wegen seiner geographischen Lage stellte Irland – militärisch gesehen – die Achillesferse Großbritanniens dar, denn der unzugängliche Westen des Landes lud zur Invasion einer
feindlichen Macht geradezu ein. Außerdem eignete sich Irland wegen der geringen Distanz zur britischen Insel – zwischen Nordirland und Schottland liegen an
der engsten Stelle gerade einmal 13 Meilen649 – hervorragend als Sprungbrett für
eine Invasion der britischen Hauptinsel. War eine Invasionstruppe in Irland erst
einmal gelandet, half auch die ganze Überlegenheit der britischen Flotte nicht
mehr, denn in Irland standen bis 1793 nie mehr als 12.000 Mann reguläre britische Truppen, die überdies in fünf verschiedenen Distrikten stationiert waren und
649
Andrews, Geographer’s View, S. 28.
211
so auch für eine verhältnismäßig kleine Streitmacht eine leichte Beute darstellten.650 Im Kontext außenpolitischer Handlungszwänge, welche die britische Irlandpolitik beeinflußten, ist entscheidend, daß die Furcht vor französischen Invasionen während der zahlreichen militärischen Auseinandersetzungen mit Frankreich immer wieder aufkam – und zwar völlig berechtigt wie Thurots Eroberung
Carrickfergus‘ im Jahr 1760, Hoches mißglückter Landungsversuch in Bantry
Bay 1796 und Humberts Landung in Killala Bay 1798 belegen.651 Je nach britischer Einschätzung der Größe der Gefahr, daß es zu einer Kooperation zwischen
Teilen der irischen Bevölkerung und französischen Invasoren kommen könnte,
reagierte die britische Seite entweder mit Repression oder mit Konzilianz. In der
ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als die britische Seite fest davon ausging, daß
die irischen Katholiken einen jakobitischen Einmarsch in Irland oder Großbritannien unterstützen würden, gerieten vor allem sie ins Fadenkreuz britischer Präventionsmaßnahmen. So führten etwa Gerüchte über eine französisch-jakobitische
Flotte, die Kurs auf England genommen habe, im Jahr 1708 dazu, daß in Irland
alle katholischen Geistlichen, derer man habhaft werden konnte, in Gefängnis
geworfen wurden, daß selbst protestantische Buchdrucker und -händler, die katho650
Beckett, Making, S. 200, 208; T. Bartlett u.a. (Hgg.), Rebellion – A Television History of
1798, Dublin 1998, S. 60f. Die militärische Schwäche Irlands wurde dadurch erhöht, daß bei Ausbruch des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges von den in Irland stationierten Truppen 4.000
abgezogen und nach Amerika verlegt wurden. Vgl. ebd., S. 16. Unruhen in den westindischen
Kolonien sorgten für eine weitere Schwächung der militärischen Präsenz Großbritanniens in Irland, da reguläre Truppen abgezogen und durch 9.000 schottische Fencibles ersetzt wurden, die
aus Soldaten bestanden, die für den Dienst in der regulären Armee für untauglich gehalten wurden. 1796 standen daher bloß noch 3.500 Mann Kavallerie und 1.600 Mann reguläre Truppen in
Irland. Zahlenmäßig wurden sie von ca. 18.000 Mann Miliztruppen und 20.000 Mann Yeomanry
Truppen aufgefüllt. Die Miliz war jedoch nicht zuverlässig, weil die Milizionäre zum Dienst
gepreßt wurden und die Yeomanrytruppen waren neu und schlecht ausgerüstet. Der Nominalstärke von gut 53.000 Mann unter Waffen war daher ein Witz, Dublin Castle war zurecht um die
Schlagkraft der Truppen besorgt. Vgl. ebd., S. 59-61. Zur mangelnden Zuverlässigkeit der Truppen vgl. T. Bartlett, Indiscipline and Disaffection in the French and Irish Armies During the Revolutionary Period, in: Gough/Dickson, Ireland, S. 179-201; ders., An End to Moral Economy: The
Irish Militia Disturbances of 1793, in: C.H.E. Philpin (Hg.), Nationalism and Popular Protest in
Ireland, Cambridge 1987, S. 191-218.
651
Großbritannien war mit Frankreich im Laufe des 18. Jahrhunderts wiederholt in militärische
Konflikte verwickelt: im spanischen Erbfolgekrieg (1701-1713), im Österreichischen Erbfolgekrieg (1740-1748), im Siebenjährigen Krieg zwischen Großbritannien und Frankreich (17561763), im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1778-1783) und – mit kurzen Unterbrechungen
(z.B. während des Friedens von Amiens) – während der Koalitionskriege seit 1793 und bis zur
finalen Niederlage Napoleons bei Waterloo im Jahr 1815. Invasionsängste spielten bei Kriegen
mit dem französischen Erbfeind immer eine wichtige Rolle. Vgl. Bartlett, Rebellion, S. 9, 16, 46.
Zu Thurots Invasion von 1760 vgl. Beckett, ebd., S. 196f. Zu den französischen Expeditionen
nach Bantry und Killala Bay und der Rolle der United Irishmen in diesen Unternehmungen vgl.
Elliott, Partners, S. 77-123, 214-231. Zu Napper Tandys Farce von einem Invasionsversuch und
zu Tones tragischem letzten Versuch, das Schicksal der Rebellion herumzureißen, der am Lough
Swilly ein jähes Ende fand, vgl. ebd., S. 232-237.
212
lische Gebetbücher feilboten, inhaftiert wurden und daß den irischen Magistraten
erlaubt wurde, willkürlich Katholiken festzunehmen und zu verhören. Die Aufregung mündete schließlich in die Verabschiedung des letzten Strafgesetzes von
1709 (8 Anne, c.3), wonach alle katholischen Priester des Landes verwiesen werden sollten, sofern sie sich weigerten bis zum 25.3.1710 den Oath of Abjuration
abzulegen.652 Ähnliche Vorfälle ereigneten sich angesichts einer spanischjakobitischen Invasionsdrohung 1718, dann noch einmal während der frühen
1720er Jahre (anläßlich der Entdeckung eines jakobitischen Plans für eine Invasion Englands) und natürlich während des Österreichischen Erbfolgekriegs (17401748) und des Siebenjährigen Krieges (1756-1763).653 Diese Reaktionen demonstrieren vor allem die panische Furcht der britischen Kolonialmacht vor einem jakobitischen Roll-back, sind zugleich aber auch ein Indiz für das Mißtrauen
der britischen Kolonialmacht und der anglo-irischen Kolonisten gegenüber der
katholischen Bevölkerung.
Die britische Haltung gegenüber den irischen Katholiken entspannte sich erst ab
den 1760er Jahren, nachdem diese in zwei jakobitischen Aufständen (1715 und
1745) weitgehend Ruhe bewahrt hatten, die Stuarts ab 1766 die politische Unterstützung des Vatikans und Frankreichs verloren hatten und vor allem die katholische Elite aus Klerus und Adel in Irland zu einer ostentativen Loyalitätspolitik
übergegangen war.654 Das prinzipielle britische und anglo-irische Mißtrauen gegenüber den irischen Katholiken bestand zwar fort, aber pogromartige Auswüchse
kamen nun nicht mehr vor. Vollends auf eine konziliante Linie schwenkte Großbritannien jedoch erst während des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges ein,
als die katholische Elite vehement darum nachsuchte, Großbritannien militärische
Hilfestellung zu leisten. Nun wurde katholisches Wohlverhalten nicht länger bloß
zur Kenntnis genommen, sondern – wie die Catholic Relief Acts von 1778, 1782
und 1793 belegen, die samt und sonders auf britische Initiative und gegen den
Widerstand der Ascendancy durchs irische Parlament gedrückt wurden – belohnt.655 Zugleich stellten diese Gesetze natürlich auch Warnsignale an die Adresse der Ascendancy dar, der die britische Kolonialmacht damit unmißverständlich
klar machte, daß mangelnde anglo-irische Kooperationsbereitschaft mit Privile652
Vgl. Wall, Penal Laws, S. 17f.
Vgl. ebd., S. 19f., dies., Catholic Loyalty, S. 109.
654
Bartlett, Rebellion, S. 15.
655
Ebd., S. 16.
653
213
gienentzug bestraft wurde und daß Großbritannien über politische Alternativen
zur anglo-irisch–britischen Achse verfügte. Nachdem das Katholische Komitee
sich ab 1795 mit den United Irishmen zusammentat, um einen Aufstand vorzubereiten, war es mit der britischen Konzilianz gegenüber den irischen Katholiken
allerdings wieder vorbei, so daß sich die ab 1797 angeordneten Repressionsmaßnahmen auch wieder gegen die katholische Bevölkerung richteten.
Ein weiterer Punkt, an dem sich die britische Außenpolitik auf die Irlandpolitik
des Empire auswirkten, war die notwendige Rücksichtnahme auf katholische
Bundesgenossen. Am deutlichsten läßt sich das während der schrittweisen Verhängung der Strafgesetze nachweisen. Als das irische Parlament 1697 den Banishment Act verabschiedete und ab Frühjahr 1698 mit der Ausweisung katholischer Priester und Ordensgeistlicher begann, bekam Wilhelm III. sofort Schwierigkeiten mit seinem katholischen Alliierten, Kaiser Leopold I.: Der österreichische Botschafter wurde vorstellig und protestierte nachdrücklich gegen die Ausweisung katholischer Bischöfe aus Irland. Wilhelm von Oranien konnte den Botschafter erst dadurch beruhigen, daß er den irischen Lordkanzler Methuen nach
London zitieren ließ, der dem Österreicher versicherte, daß keine Bischöfe ausgewiesen würden, daß das Gesetz nicht allzu streng angewendet werde und daß
überdies die freie Religionsausübung der Katholiken, die im Frieden von Limerick zugesichert worden war, nicht zur Debatte stand.656 Wilhelms Amtsnachfolgerin Anne sah sich mit ähnlichen Problemen konfrontiert: Als Reaktion auf den
Popery Act von 1709 flatterten ihr postwendend Protestnoten Kaiser Josephs I.,
König Stanislaus′ von Polen und anderer katholischer europäischer Herrscher ins
Haus. Die britische Seite hielt zwar in der Sache unerbittlich am Inhalt des Strafgesetzes fest – mit der Begründung, es handele sich lediglich um eine kleine Erweiterung bestehender Gesetze –, aber der amtierende Lord Lieutenant, Earl
Wharton, durfte u.a. wegen dieses diplomatischen Zwischenfalls 1710 seinen Hut
nehmen.657 Die Tatsachen, daß erstens die Strafgesetze gegen die irischen Katholiken weniger hart waren als die gegen die katholische Minderheit in England und
656
Wall, Penal Laws, S. 10. Der Kaiser hatte 1695 durch seine Intervention verhindert, daß der
Banishment Act bereits zum damaligen Zeitpunkt in Kraft trat. Vgl. Dickson, New Foundations,
S. 43.
657
Ebd., S. 18f.
214
daß zweitens ihre Umsetzung schon früh recht lax gehandhabt wurde,658 sind zumindest zum Teil darauf zurückzuführen, daß Großbritannien gezwungen war,
seinen katholischen Bundesgenossen gewisse Zugeständnisse zu machen. Insgesamt läßt sich daher festhalten, daß gerade das britische Verhältnis zu den Katholiken von spezifisch britischen, außenpolitischen Handlungszwängen ganz erheblich beeinflußt wurde.
Innere Bedingungsfaktoren der britischen Irlandpolitik. Die inneren Bedingungsfaktoren, die Großbritanniens Irlandpolitik beeinflußten waren ungleich
vielfältiger als die äußeren. Dieser Umstand reflektiert die enge Verbindung, die
zwischen Irland und Großbritannien realiter bestand und die leicht in Vergessenheit gerät, wenn man die anglo-irischen Beziehungen lediglich aus irischer Sicht –
und das bedeutet vor allem: von der Warte irischer Kritiker – betrachtet. Nur
wenn man das anglo-irische Verhältnis auch aus britischer Perspektive – also
gleichsam als imperiale Innenpolitik – in den Blick nimmt, tritt überhaupt zutage,
auf welchen verschiedenen Ebenen Irland eine bedeutende Rolle für Großbritannien spielte – mit entsprechenden Rückwirkungen auf Großbritanniens Irlandpolitik.
Wirtschaftliche Wechselwirkungen. Im wirtschaftlichen Bereich ist die Wechselwirkung zwischen Irland und der britischen Irlandpolitik am leichtesten zu identifizieren. So wie die protektionistischen Wirtschaftsinterventionen Großbritanniens ab 1698 in Irland als Zugeständnisse der Londoner Regierung an die Interessen der britischen Wirtschaft wahrgenommen wurden und heftige Proteste
hervorriefen, die sowohl von irischen Unternehmern, Kaufleuten und den abhängig Beschäftigten (wie z.B. den irischen Webern) getragen wurden, so führten das
Freihandelsgesetz von 1780, das den direkten Handelsverkehr Irlands mit den
amerikanischen Kolonien erlaubte und so den britischen Zwischenhandel
ausschloß, in Großbritannien zu erheblichen Widerständen: Aus den Zentren des
Kolonialhandels mit Amerika – in Liverpool, Manchester, Glasgow und Bristol –
ergoß sich ein Strom von Pro-testeingaben über die britische Regierung, in Westminster wurden unter den Abgeordneten dieser großen Handelszentren gar unverhohlene Drohungen ausgestoßen.659 Was die Regierung North als Pazifizierungs658
Zur Härte der englischen im Vergleich zu den irischen Strafgesetzen vgl. Foster, Modern Ireland, S. 154; Wall, Penal Laws, S. 8; zur laxen Handhabung vgl. Wall, ebd., S. 18-25.
659
Lecky, History of Ireland 2, S. 179f. Der Protest wurde nicht nur von den Handelsstädten,
sondern von allen Branchen getragen, die durch die Freigabe des Kolonialhandels Nachteile be-
215
maßnahme für die periphere Opposition in Irland geplant hatte, erwies sich nun
als Bumerang für die politische Situation in Großbritannien selbst. Premier North
sah sich deshalb gezwungen, die bereits zugesagten Freihandelsregelungen teilweise zurückzunehmen660 – mit dem Resultat, daß er weder die britische noch die
irische Seite zufriedenstellen konnte. Die britischen Proteste gegen das Freihandelsgesetz von 1780 sind insofern recht lehrreich, als sie demonstrieren, daß der
wirtschaftliche Interessenausgleich zwischen Irland und Großbritannien eine heikle Angelegenheit sein konnte, die genug Sprengkraft besaß, um eine britische Regierung ins Wanken zu bringen. Strukturell ist wichtig, daß die britische Regierung als politische Vermittlungsinstanz zwischen britischen und irischen Wirtschaftsinteressen zwischen allen Stühlen saß. Bis in die 1760er Jahre hinein
machte sich das nicht nachteilig bemerkbar, weil die Machtverhältnisse klar waren und die jeweilige britische Regierung britischen Wirtschaftsinteressen uneingeschränkte Priorität einräumen konnte. Je effektiver jedoch die anglo-irische
Kolonialelite britische Imperialkrisen zur Durchsetzung eigener Interessen zu
nutzen verstand, desto mehr geriet dieses Handlungsmuster ins Wanken – und die
britische Regierung in die Zwickmühle.
Kooperation der Oppositionen im irischen und im englischen Parlament.
Einen weiteren Faktor, den insbesondere konservative britische Regierungen in
ihr politisches Kalkül einfließen lassen mußten, stellte die potentielle Zusammenarbeit zwischen den Oppositionen im irischen und britischen Parlament dar. Vor
allem die englischen Whigs und die irischen „Patrioten“ kooperierten gern und
häufig miteinander – zum beiderseitigen Vorteil. Zwei Beispiele mögen genügen,
um diese enge Zusammenarbeit zu belegen: die Zeit von der irischen „FreeTrade“- Kampagne von 1779 bis zu „Grattan’s Revolution“ von 1782 und die
Regentschaftskrise von 1788.
Die irische Forderung nach Beseitigung der protektionistischen Handelsrestriktionen wurde 1779 von der englischen Whig-Opposition unter der Führung des Marquis von Rockingham genutzt, um den konservativen Premier Lord North in die
Enge zu treiben. Ende November 1779 begannen die englischen Whigs damit, im
fürchteten: Berufsgruppen wie die Agenten, die am Zwischenhandel zwischen den Kolonien und
Irland verdienten, protestierten ebenso nachdrücklich wie die Textilregion Lancashire, die befürchtete von der irischen Konkurrenz ausgestochen zu werden. Vgl. ebd., S. 178.
216
Parlament Norths Irlandpolitik heftig zu kritisieren, priesen die irische Volunteerbewegung und drohten unverhohlen damit, dem irischen Beispiel zu folgen. North
versuchte den politischen Druck zu reduzieren: Durch Aufhebung der Restriktionen für den irischen Kolonialhandel versuchte er die irisch-englische Oppositionsfront außer Gleichschritt zu bringen.661 Wie oben bereits ausgeführt, mißlang dieser Versuch jedoch. Die Regierung North, welche die Mißerfolge und Niederlagen im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zu verantworten hatte, wurde dadurch aus Irland zusätzlich unter Druck gesetzt – mit dem Ergebnis, daß die englische Regierung Ende März 1782 zurücktreten mußte.662 Norths Nachfolger war
niemand geringeres als der Marquis von Rockingham, der in Irland umgehend den
amtierenden Lord Lieutenant, den Earl von Carlisle, durch einen Whig-Favoriten,
den Herzog von Portland, austauschen ließ.663 Portland setzte am 16.3. 1782 das
Signal für Grattans dritten Antrag im irischen Parlament für eine Erklärung der
legislativen Unabhängigkeit Irlands, der diesmal einstimmig angenommen wurde,
obwohl er noch zwei Monate zuvor mit 137 zu 68 Stimmen abgeschmettert worden war.664 Dieser Vorgang belegt recht deutlich, daß „Grattan’s Revolution“
ohne die Unterstützung der englischen Whigs definitiv nicht so glatt (und vielleicht nicht einmal gewaltfrei) verlaufen wäre.
Auch in der Regentschaftskrise von 1788 kooperierten die irischen „Patrioten“
mit den englischen Whigs. Die politische Situation war – knapp umrissen – folgende: Im November 1788 war nicht mehr zu vertuschen, daß Georg III. wegen
einer Geisteskrankheit zumindest vorübergehend nicht mehr in der Lage sein
würde, seine Amtsgeschäfte wahrzunehmen, und daß ein Regent ernannt werden
mußte. Dafür kam nach Lage der Dinge nur der Prinz von Wales (der spätere Georg IV.) in Frage, dessen politische Vorliebe für die Whigs allgemein bekannt
war. Daher befürchtete der amtierende Premier William Pitt d. J., daß er und seine
Minister vom Kronprinz im Falle einer Regentschaft umgehend durch ein Whig660
Auf öffentlichen Druck in Großbritannien wurde eine Reihe von Produkten von dem Freihandelsgesetz ausgenommen: Hiervon waren Woll- und Baumwollstoffe ebenso betroffen wie Glasprodukte, Hopfen, Kohle und (natürlich) Schießpulver. Vgl. Lecky, History of Ireland 2, S. 180.
661
Zur englischen Seite der „Free-Trade“-Kampagne vgl. summarisch Beckett, Making, S. 217f.
662
Damit keine Mißverständnisse entstehen: North mußte natürlich vorwiegend wegen der
Kriegsentwicklung in den amerikanischen Kolonien gehen. Andererseits: Wenn die amerikanischen Ereignisse den Sarg seiner politischen Karriere bildeten, stellte die ‚irische Frage‘ definitiv
einige Sargnägel dar, die seinen Rücktritt beschleunigen halfen.
663
Maurer, Geschichte Irlands, S. 169, hebt in diesem Zusammenhang hervor, daß die Zusammenarbeit zwischen der englischen und irischen Opposition bereits „seit langem“ funktioniert habe.
664
Beckett, Making, S. 222f.
217
Kabinett unter der Führung Charles James Fox‘665 ersetzt werden würden. Er versuchte dem vorzubeugen, indem er dem Parlament vorschlug, vor der Einsetzung
eines Regenten dessen Befugnisse dergestalt zu beschneiden, daß dieser nicht
ermächtigt sei, das amtierende Kabinett zu entlassen. Die Opposition unter Fox‘
Führung protestierte natürlich energisch und argumentierte, daß ein Regent die
vollständige royale Autorität besitzen müsse. Die Debatten zogen sich bis zur
Eröffnung der Sitzungsperiode des irischen Parlaments am 5.2.1789 hin, das sich
umgehend in die englische Debatte einschaltete. In der Hoffnung, daß ein WhigPremier auch ihren politischen Forderungen mehr Entgegenkommen schenken
werde, ergriffen Grattan und seine Gefolgsleute sofort die Partei Fox‘. Zugleich
war es aber auch eine glänzende Gelegenheit, wieder einmal die irische ‚Unabhängigkeit‘ zu demonstrieren – das ‚unabhängige‘ Königreich Irland konnte sich
durch die Wahl eines Regenten als Großbritannien gleichgestellt gerieren. Die
Repräsentanten der Ascendancy – allen voran die landed country gentlemen –
665
Charles James Fox (1749-1806): Englischer Liberaler, britischer Außenminister und Oppositionsführer. Ururenkel Karls II. (mütterlicherseits), Erziehung und Ausbildung in Eton und Hertford
College, Oxford, Reisen in Frankreich (Treffen mit Voltaire), Italien und den Niederlanden; 1768
als Abgeordneter für Midhurst, Sussex, im Unterhaus; erwirbt dort schnell den Ruf eines enthusiastischen und überzeugenden Redners; 1770 bereits einer der Lords der Admiralität unter der
Regierung North; macht sich im Parlament unbeliebt, weil er die Pressefreiheit beschränken wollte
(1770/71); gab 1772 sein Amt in Norths Administration zurück und schließt sich der Opposition
um Conway und Edmund Burke an, kehrt aber ein paar Monate später als stellvertretender
Schatzmeister in die Administration Norths zurück; von Georg III. aus Verärgerung über sein
Auftreten entlassen; schloß sich 1774 der Rockingham Opposition an und kritisierte das Verhalten
des britischen Parlaments als den Grund für den Aufstand der amerikanischen Kolonisten; läßt
sich während des englisch-amerikanischen Krieges nicht mehr auf einen Posten in Norths Administration ein, sondern bleibt bei Rockingham; wird 1782 Außenminister in Rockinghams Kabinett; unterstützte Grattans Revolution und brachte im britischen Parlament den Entwurf zur Abschaffung des Declaratory Acgt ein; legte sein Amt über einen Streit mit dem Kolonialminister
über die Zuständigkeit für die Verhandlungen mit den USA 1783 nieder, was zur Spaltung der
Whigs führte; Fox ging mit seinen Anhängern eine Koalition mit North ein und wurde wieder
Außenminister (um den Preis, daß die Whigs als Partei ruiniert wurden); Ende 1783 vom König
erneut entlassen; skandalöser Wahlkampf gegen Pitt endet 1784 mit Wiederwahl Foxens und
empfindlichen Verlusten für seine Anhänger; Rückzug ins Privatleben; 1787 politische Renaissance; Gegner Pitts in der Regentschaftskrise von 1788; sprach sich von Anfang an für die Französische Revolution aus, überwarf sich dadurch mit Burke und verstellte sich mögliche Koalition
mit Pitt, was einige führende Whigs dazu veranlaßt, sich von Fox zu trennen und Pitt zu dienen;
vergeblicher Widerstand gegen den Krieg mit dem revolutionären Frankreich (1792/93); ebenso
gegen die Treason und Sedition Bills und die Regelungen zur Niederschlagung der Meuterei in
Spithead (1796); zog sich danach für fünf Jahre ins Privatleben zurück; begann an einer Geschichte der Revolution von 1688 zu schreiben; Gegner einer Union Irlands mit Großbritannien; 1802
als Abgeordneter wiedergewählt; mehrere Gespräche mit Bonaparte 1802, vertrat daraufhin die
Ansicht, daß Bonaparte den Frieden mit Großbritannien zu erhalten wünsche; setzte sich nun auch
wiederholt für die Pressefreiheit ein; Pitts Versuche, Fox wieder als Außenminister einzusetzen
scheitert am ausdrücklichen Verbot des Königs (1803, 1805); nach dem Tode Pitts von Grenville
als zweiter Mann ins Boot genommen, verfolgt Fox nun eine anti-napoleonische Linie; setzte sich
am Schluß seines Lebens stark für die Abschaffung des Sklavenhandels ein, lehnte einen Adelstitel nebst Versetzung ins Oberhaus ab und starb am 13.9.1806 an der Wassersucht.
218
schlossen sich (auch aus Opportunismus und handfesten Eigeninteressen) dieser
Sichtweise an und das irische Unter- und Oberhaus präsentierten je ihr eigenes,
einstimmiges Votum für die Wahl des Prinzen von Wales zum irischen Regenten.
Lord Lieutenant Buckingham weigerte sich, diese Voten nach London weiterzuleiten, nachdem es ihm nicht gelungen war, die Abstimmung in den beiden Kammern zu verhindern. Daraufhin ernannten beide Häuser Abgesandte, welche die
Abstimmungsergebnisse persönlich nach London bringen sollten. Es kam allerdings nicht komplett zum Eklat, weil sich der Gesundheitszustand des Königs
rechtzeitig besserte, die Streitfrage wurde daher nicht abschließen geklärt.666 Die
Regentschaftskrise erhärtet die These, daß englische und irische ‚Liberale‘ –
wenn man von der „patriotischen“ Kernforderung nach der legislativen Unabhängigkeit Irlands absieht, waren die „Patrioten“ im Prinzip auch Whigs – kooperierten, um das politische Gewicht der parlamentarischen Oppositionen in beiden
Ländern zu erhöhen – mit dem durchschlagenden Ergebnis, daß einzelne politische Entscheidungsträger, ja, ganze Kabinette darüber zu Fall kamen. Zum Teil
basierte diese interinsulare Zusammenarbeit auf verwandten politischen Interessen (z.B. der gemeinsamen Forderung nach Parlamentsreformen auf konstitutioneller Basis), entscheidend erleichtert aber wurde sie durch die Auffassung der
englischen Whigs, daß nur Bildungs- und Besitzkriterien, nicht aber die Staatsangehörigkeit die politische Partizipation beeinflussen dürfe – was aus Sicht britischer Liberaler für die britische Gesellschaft als ‚gut‘ und ‚fortschrittlich‘ eingeschätzt wurde, durfte auch der irischen Gesellschaft nicht verweigert werden. Das
ist zumindest die Konsequenz, die man aus der Unterstützung britischer Whigs für
„Grattan’s Revolution“ ziehen darf.667
Die schwierige Kooperation irischer, schottischer und englischer Radikaler.
Unterhalb der parlamentarischen Ebene bildete sich ab 1791 allmählich ebenfalls
eine Kooperationsachse heraus, welche die britische Regierung mit noch größerer
666
Summarisch zur Regentschaftskrise vgl. Beckett, Making, S. 240f., Foster, Modern Ireland, S.
256; zu knapp bei Maurer, Geschichte Irlands, S. 171, der sich um die irisch-englische Kooperation keine Gedanken macht. Sowohl Foster als auch Beckett führen auch andere Motive für das
irische Votum an (Beckett den Opportunismus der Repräsentanten der Ascendancy, Foster Pläne
der Magnaten, daß durch dieses Abstimmungsverhalten das politische Gewicht der alten Undertaker wieder erhöht werden könnte), aber beide rekurrieren an erster Stelle auf die enge Kooperation
zwischen der englischen und der irischen Opposition. Vgl. ebd.
667
Natürlich basiert diese These nicht allein auf dem Verhalten der Rockingham’schen Whigs
während „Grattan’s Revolution“ von 1782, sondern ebenso auf ihren ideologischen Entscheidungen, die ihre prinzipielle Radikalität eher zweifelhaft erscheinen lassen. Vgl. hierzu Dickinson,
Liberty, S. 197-210.
219
Sorge erfüllen mußte – eine Allianz zwischen den regimekritischen Organisationen in Irland, Schottland und England. Den Ausgangspunkt dieser radikalen ‚Internationale‘ im britischen Empire bildeten die United Irishmen, die sich schon im
Juni 1791 – also noch während der Planungsphase für die Lancierung der Organisation, die am 14.10.1791 in Belfast erstmals zusammentrat – auf die Fahnen
schrieben, „mit ähnlichen Gesellschaften im Ausland wie dem Jakobinerklub in
Frankreich, der Revolutionsgesellschaft in England [und] dem Komitee für Reformen in Schottland“ Kontakt aufzunehmen.668 Bei dem ursprünglich geplanten
Interessen- und Informationsaustausch blieben die United Irishmen jedoch nicht
stehen, sondern bemühten sich sukzessive um den Ausbau dieser Außenbeziehungen – mit dem Ziel, eine zur konzertierten politischen (und ab 1795 auch militärischen) Aktion befähigte radikale Phalanx zu schmieden. Ihre erste Offerte ging
am 26.10.1792 an die Friends of the People in London, denen sie in einer Adresse
nicht nur ihre politischen Prinzipien und Absichten erläuterten und eine detaillierte politische Zustandsbeschreibung Irlands gaben, sondern auch ein vorsichtiges
Kooperationsangebot unterbreiteten, das auf Interessengleichheit zwischen der
United Irish Organisation und den englischen ‚Volksfreunden‘ beruhte, aber
gleichwohl keine Verschmelzung beider Organisationen vorsah:
„Auf der Basis dieser [Prinzipien und Ziele der United Irishmen – MR] appellieren wir an diejenigen, die sich selbst als Freunde des Volkes bezeichnen. Schaut nicht mit einem unbeteiligten Auge auf Irland. Die Zeit irischer
Bedeutungslosigkeit schwindet rasch dahin. Falls die Nation [gemeint ist die
irische Bevölkerung als „Sockel legitimer politischer Macht“ – MR] jemals
verächtlich erschienen ist, dann lag das daran, daß die Nation nicht gehandelt
hat. (...) Mit Hinblick auf eine wie auch immer geartete Union zwischen den
Inseln [Großbritannien und Irland – MR] glaubt uns, wenn wir versichern,
daß unsere Union auf unserer wechselseitigen Unabhängigkeit beruht. Wir
werden einander lieben, sofern wir uns selbst überlassen werden. Es ist die
Union der Gedanken (union of minds) die diese Nationen zusammenbinden
sollte. Reziproke Interessen und wechselseitige Mißstände werden immer unsere wechselseitige Wertschätzung sicherstellen, wenn jedoch eine andere
Form der Union erzwungen würde – und nur Zwang könnte sie herbeiführen
– würdet ihr eure Freiheiten gefährden und wir unsere Rechte verlieren.“669
Diesem Dokument haftete noch eine zögerliche Ambivalenz an: Dem Willen zur
politischen Zusammenarbeit, den gemeinsame Interessen nahelegen, stand noch
die Befürchtung im Weg, daß englische Radikale versuchen könnten, die United
668
J. Brims, Scottish Radicalism and the United Irishmen, in: D. Dickson et al. (Hgg.), The United
Irishmen, Republicanism, Radicalism and Rebellion, Dublin 1993, S. 151-166, S. 151.
669
Address to the Friends of the People in London (26.10.1792), in: Society of United Irishmen of
Dublin, estab. November 9, 1791: „Let the Nation Stand“, Dublin 1794, S. 23-29, S. 29. (meine
220
Irishmen gewissermaßen zu ‚kolonisieren‘. Angesichts des mehr als zurückhaltenden Tons überrascht es nicht, daß diese Offerte auf taube Ohren stieß und die
United Irishmen von den Friends of the People in London nicht einmal eine Antwort erhielten. Knapp einen Monat später, am 26.11.1792, wurde darum ein zweiter Verstoß unternommen, um zu einer Zusammenarbeit mit regimekritischen Organisationen von der anderen Seite der irischen See zu gelangen. Die Adressaten
waren diesmal die Associated Friends of the People (AFP) in Schottland, die gerade dabei waren, ihren ersten Kongreß zu organisieren, der Mitte Dezember 1792
begann und auf dem die schottischen Reformer zu einem Beschluß darüber kommen wollten, ob sie eine moderat-reformerische oder eine radikale Richtung einschlagen sollten.670 Von Thomas Muir671, einem Radikalen aus dem inneren Zirkel der schottischen Reformer dazu ermutigt, wurde William Drennan672, einer
der Gründungsväter und – neben Theobald Wolfe Tone673 – prominenteste Autor
Übersetzung) United Irish Position zur Frage der Volkssouveränität vgl. ebd., S. 23f.; zu Zielen
ebd., S. 24, 28, zur Zustandsbeschreibung Irlands vgl. ebd., S. 25f.
670
Brims, Scottish Radicalism, S. 154f.
671
Thomas Muir (1765-1798): Schottischer Radikaler; Ausbildung in der Glasgow Grammar
School, juristisches Studium in Glasgow University (1777-1782, M.A.), dort wegen Protesten
gegen einige Professoren zwangsexmatrikuliert, beendete das Studium in Edinburgh, 1787 Zulassung als Mitglied der juristischen Fakultät; 1792 Teilnahme an mehreren Treffen der Associated
Friends of the People, deren Hauptredner er schnell wird; ebenso Teilnahme am Reformkongreß
in Edinburgh; Kontakte zu A.H. Rowan, einem führenden Dubliner United Irishmen – die beiden
bilden die wichtigste Verbindung zwischen schottischen und irischen Reformkräften; 1793 des
Umsturzes angeklagt, aber gegen Kaution wieder auf freien Fuß gesetzt; Reise nach Paris, um im
Namen der schottischen Reformer gegen die Hinrichtung Ludwigs XVI. zu protestieren; in Edinburgh in der Zwischenzeit zum Gesetzlosen erklärt und aus der Fakultät ausgeschlossen; nach
seiner Rückkehr ein Schauprozeß mit einer parteiischen Jury gegen ihn, der mit einer Verurteilung
zu 14 Jahren Deportation nach (Australien) endet; 1794 nach Botany Bay verschifft, 1796 von
amerikanischen Sympathisanten befreit; anschließend Odysee mit Schiffbruch, indianischer Gefangenschaft, Aufenthalt in Mexiko, Haft in Havanna; auf spanischer Frigatte nach Cadiz geschickt; verliert beim Angriff zweier britischer Schiffe ein Auge und Teil seiner Wange; vom
französischen Direktorium aus spanischer Gefangenschaft ausgelöst, über Bordeaux nach Paris
(4.2.1798) gebracht, wo er vom Direktorium willkommen geheißen wurde, französischer Staatsbürger; stirbt am 27.9.1798 an seinen Verletzungen.
672
William Drennan (1754-1820): Irischer Poet, ‚Educationalist‘ und United Irishman der alten
Generation, Sohn eines ehemaligen Assistenten des Moralphilosophen Francis Hutcheson in Glasgow, Medizinstudium in Glasgow (M.A. 1771); Promotion in Medizin an der medizinischen Fakultät in Edinburgh (1778); ausgewiesener aufgeklärter Pamphletist (Letters of Orellana, 178485), Gründervater und – neben Wolfe Tone – prominentester Autor der United Irishmen, bis zum
Ende seiner aktiven Zeit mißtrauisch gegenüber den politischen Motiven des Catholic Committee,
1792-93 Vorsitzender der Dubliner Gesellschaft der United Irishmen, 1794 wegen Aufruhrs für
seine Veröffentlichungen vor Gericht gestellt, aber freigesprochen; zog sich danach aus der Politik
und von den United Irishmen zurück; verfaßte zahlreiche patriotische Schriften (auch für den
Northern Star), darunter ein Lament auf William Orr, den Märtyrer der United Irishmen, prägte in
seinem Gedicht „When Erin first rose“ die Metapher über Irland als dem „Grünen Eiland“, 18081815 Herausgeber des Belfast Monthly Magazine, das literarische Texte und politische Kommentare verschmolz; einer der Gründer der Belfast Academical Institution.
673
Theobald Wolfe Tone (1763-1798): Radikaler, irischer Nationalist und United Irishman; als
Sohn eines anglikanischen Fuhrunternehmers geboren, erhielt juristische Ausbildung am Trinity
221
der United Irishmen damit beauftragt, die Adresse an den schottischen Reformkongreß zu verfassen.674 Drennans Adresse haftete keine Zögerlichkeit mehr an.
Er hob die nationale Unabhängigkeit Schottlands – des „Lande[s] wo Buchanan
schrieb, Fletcher sprach und Wallace kämpfte“675 – hervor, betonte den Gleichklang der Interessen zwischen den irischen und schottischen Reformern676 und
drängte auf Zusammenarbeit:
„Es ist nicht die Verfassung, sondern das Volk, das unverletzlich sein sollte,
und es ist Zeit, die Rechte der englischen, der schottischen und der irischen
Nation anzuerkennen und zu erneuern. (...) Unser Ziel: eine nationale Gesetzgebung; unser Mittel: eine Union des gesamten Volkes. Laßt diese Union
sich durch das ganze Empire ausdehnen. Laßt alle sich für alle vereinigen
oder jeden Menschen für alle leiden. In jedem Land laßt das Volk in friedlichen und verfassungsmäßigen Versammlungen zusammenkommen. Laßt Delegierte aus jedem Land einen Reformplan ausarbeiten, welcher der Situation
und den Umständen der jeweiligen Nation am besten entspricht und laßt der
Gesetzgebung sofort die Petitionen der dringlichen und einstimmigen Stimme Englands, Schottlands und Irlands vorlegen.
College Dublin, praktische Ausbildung an den Inns in London, mehr an Politik als an Juristerei
interessiert, unternahm er ab 1790 erste Versuche als politischer Pamphletist, erwarb sich dadurch
zuerst die Aufmerksamkeit des Northern Whig Club, die er aber frustriert über ihre moderaten
politischen Ansichten bald wieder verließ; 1791 Veröffentlichung seines Argument on Behalf of
the Catholics of Ireland, indem er für einen Zusammenschluß aller Reformkräfte mit den Katholiken plädierte, um gegen den Widerstand der Ascendancy, Parlamentsreformen und die katholische
Emanzipation auf den Weg zu bringen; daraufhin 1791 zur Vorbereitung der Gründung der United
Irishmen hinzugezogen und 1792 vom Catholic Committee zum Sekretär bestellt; geriet 1794 in
die Wirren der Jackson Affäre und konnte sich seinem Prozeß wegen Hochverrats nur dadurch
entziehen, daß er einwilligte, sich ‚freiwillig‘ ins Exil in die USA zu begeben; im Februar 1796
reiste er nach Paris, wo er sehr erfolgreich mit dem französischen Direktorium über französische
Waffenhilfe für die United Irishmen verhandelte; 1796 Teilnahme an der von Hoche geleiteten
französischen Expedition nach Bantry Bay; 1798 an Bord eines französischen Schiffs von Briten
vor der Küste Irlands festgenommen; beging in der Haft Selbstmord, um der Hinrichtung zu entgehen (dieser Selbstmord wird in irisch-nationalistischen Kreisen immer noch als britischer Mord
betrachtet); einer der wichtigsten Stichwortgeber für nachfolgende irische Nationalisten – etwa
mit der Bemerkung, daß „England die unfehlbare Quelle für alle Übel Irlands“ sei.
674
Brims, Scottish Radicalism, S. 157; D.A. Chart (Hg.), The Drennan Letters Being a Selection
from the Correspondence which Passed Between Wm. Drennan, M.D., and his Brother-in-Law
and Sister Samuel and Martha McTier During the Years 1776-1819 (with an Index), Belfast 1931,
S. 103.
675
Address from the Society of United Irishmen in Dublin to the Delegates for Promoting a Reform in Scotland, 23.11.1792, in: „Let the Nation Stand“, S. 32-40, S. 33. Die Adresse beginnt
insgesamt mit einer Hommage an die schottische Nation, die kraft ihrer politschen Orientierung
als distinkt und eigenständig konstruiert wird: „We greatly rejoice that the spirit of freedom moves
over the face of Scotland; that light seems to break from the chaos of her internal government; and
that a country so respectable for her attainments in science, in arts, and in arms; for men of literary
eminence, for the intelligence and morality of her people, now acts from a conviction of the union
between virtue, letters, and liberty: and, now rises to distinction, not by a calm, contented, secret
wish for a reform in Parliament, but by openly, actively, and urgently willing it, with the unity and
energy of an embodied nation. We rejoice that you do not consider yourselves as merged and
melted down into another country, but that in this great national question, you are still – Scotland
– the land where Buchanan wrote, and Fletcher spoke, and Wallace fought.“ Ebd., S. 32f.
676
„Our cause is your cause – If there is to be a struggle between us, let it be which nation shall be
foremost in the race of mind: Let this be the noble animosity kindled between us, who shal first
attain that free constitution from which both are equidistant, who shall first be the saviour of the
empire.“ Ebd. S. 33.
222
Ihr habt unsere Vorschläge. Antwortet uns, und das rasch. Dies ist nicht der
Zeitpunkt, um zu zaudern. Euer berühmter Fletcher hat gesagt, daß die Freiheiten eines Volkes nicht ohne das Durchschreiten großer Schwierigkeiten
gesichert werden können und keine Mühe oder Arbeit sollte gescheut werden, um ein Nation vor der Sklaverei zu bewahren.“677
Mit dieser Adresse verbanden sich bei den United Irishmen hohe Erwartungen.678
Um so größer war die Enttäuschung, als der schottische Reformkongreß die irische Offerte, die von Thomas Muir präsentiert wurde, ablehnte. Der Grund war,
daß die schottischen Reformer – obwohl sie prinzipiell mit den Thesen der United
Irishmen durchaus einverstanden waren – sich auf ihrem Kongreß auf eine moderat-konstitutionelle Reformpolitik verständigten, in der Verweise auf ProtoRepublikaner wie Buchanan ebenso fehl am Platz waren wie der Rekurs auf den
prominentesten Gegner der Union zwischen Schottland und England, Fletcher,
oder den Freiheitskämpfer Wallace. Darüber hinaus spekulierten die AFP darauf,
die Unterstützung des schottischen Bürgertums und Landadels gewinnen zu können, die durch derlei radikale Töne nur verschreckt wurden.679 Ein weiterer Vorstoß, der im Frühsommer 1793 von den vier Belfaster Gesellschaften der United
Irishmen unternommen wurde, verlief ebenso im Sande: Die Belfaster erhielten
nicht einmal Antwort aus Edinburgh.680
Die Zusammenarbeit zwischen schottischen und irischen Reformern und Radikalen nahm erst gegen Ende 1793 Gestalt an. Die politische Situation hatte sich in
der Zwischenzeit so geändert, daß beide Seiten ernsthaft an einer Zusammenarbeit
interessiert waren. In Irland war inzwischen die von den United Irishmen geförderte, aber von den Volunteers getragene Kampagne für Parlaments- und Wahlrechtsreformen unter dem Druck des Kolonialregimes kollabiert: Der Reformkongreß der Ulster Volunteerverbände in Dungannon wurde am 11.3.1793
zwangsaufgelöst und im August 1793 verabschiedete das irische Parlament den
Convention Act, der weitere Massenversammlungen und –kongresse unter strenge
Strafe stellte. Im gleichen Zug wurden auch die Volunteerbewegung unterdrückt,
677
Ebd. S. 39.
„The address to the Scotch is looked upon as a masterpiece. I think you will flatter the Scotch
into answers. You have attacked them on their weak side.“ Martha McTier an ihren Bruder William Drennan, 8.12.1792, DL, S. 103.
679
Brims, Scottish Radicalism, S. 156f.
680
Ebd., S. 159f.
678
223
die schon ab Januar 1793 wiederholt mit den Behörden in Konflikt geraten war.681
Damit nicht genug, begann Dublin Castle – unter dem Eindruck des heraufziehenden Kriegs mit Frankreich – mit der juristischen Verfolgung führender United
Irishmen (unter anderem auch der Gallionsfigur der Dubliner Radikalen, James
Napper Tandy).682 Die Reformbemühungen der United Irishmen gerieten ins Stocken und sie selbst unter Verfolgungsdruck – man benötigte also dringend politische Partner, um zu Erfolgen zu gelangen.
In Schottland hatte sich die moderate Reformpolitik der AFP mittlerweile als Irrweg erwiesen: Ihre Petitionskampagne für Parlamentsreformen war kläglich gescheitert und der Organisation begann die Basis wegzulaufen. In dieser Situation
wandte sich Thomas Hardy, der in Schottland geborene Sekretär der London Corresponding Society (LCS), einer republikanischen Organisation, an die AFP und
unterbreitete einen Vorschlag zur Zusammenarbeit, der diesmal von den schottischen ‚Volksfreunden‘ dankbar angenommen wurde, zumal auch in Schottland
die Behörden dazu übergingen, prominente Reformer zu kriminalisieren.683 Aufgrund der neuen Partnerschaft mit der LCS, aber auch aus Furcht, daß der irische
681
Curtin, United Irishmen, S. 58. Zu früheren Belästigungen der Volunteers durch die Behörden
vgl. NS 30/1/1793, 23/2/1793, 28/2/1793. Zum Teil stellten die Volunteers daraufhin ihre Aktivitäten freiwillig ein. Vgl. NS 2/3/1793.
682
Zur Verhaftung und Verurteilung Oliver Bonds und Simon Butlers wegen ihrer Kritik an einem
geheimen Untersuchungsausschuß der irischen Regierung vgl. NS 20/2/1793, 27/2/1793,
2/3/1793. Bond und Butler wurden zu je sechs Monaten Haft und 500 Pfund Strafe verurteilt. Am
21.3.1793 wurden die Eigentümer des National Evening Star – einer Dubliner Reformzeitung –
und James Napper Tandy vorgeladen, der aber untertauchte. NS 20/3/1793. Zur Verhaftung Dr.
James Reynolds wegen Aussageverweigerung vor dem Untersuchungsausschuß vgl NS
27/3/1793. Reynolds wurde erst Ende Juli 1793 wieder auf freien Fuß gesetzt (NS 27/7/1793). Zur
Reynolds-Affäre vgl. auch NS 30/3/1793, 24/4/1793. Auch Archibald Hamilton Rowan kam mit
der Justiz in Konflikt (NS 26/1/1793) – ebenso wie eine Reihe Drucker, Verleger und Buchhändler. Vgl. NS 26/1/1793, 4/5/1793.
James Napper Tandy (ca. 1737-1803): Kopf der Dubliner Radikalen, Patriot, Volunteer und United Irishman. Von Beruf ein Eisenwarenhändler und Landagent, war Tandy seit den späten 1770er
Jahren im Dubliner stadtrat und den Gilden ein notorischer Oppositionsführer und Chef einer der
Dubliner Volunteerbrigaden. 1791 von Wolfe Tone und Thomas Russell für die United Irishmen
begeistert, machte er seinen Einfluß zur Gründung der Dubliner United Irishmen gültig, deren
erster Sekretär er wurde. Wegen Zusammenarbeit mit den Defenders von den Behördern gesucht,
floh er 1793 in die USA und von dort 1797 nach Frankreich. Dort rivallisiert er mit Tone in den
Verhandlungen um französische Waffenhilfe und spaltete die Gemeinschaft der irischen Exilanten; brach 1798 als Kommandant eines Schiffes nach Irland auf, um Humbert Entsatz zu bringen;
erfuhr bei seiner Landung von Humberts Niederlage, trug eine ‚Erklärung‘ vor und mußte sinnlos
betrunken aufs Schiff zurückgetragen werden; in Hamburg im November 1798 festgenommen und
nach Irland zurückgebracht, wo er nach seinem Prozeß auf seine Hinrichtung wartete; seine Verhaftung führte zu diplomatischen Friktionen, weil sie als Verstoß gegen internationales Gesetz
betrachtet wurden, 1802 auf Intervention Napoleons anläßlich des Friedens von Amiens freigelassen und nach Frankreich gebracht, wo er 1803 verarmt starb.
683
Brims, Scottish Radicalism, S. 158f. Zur Kriminalisierung vgl. die Berichte und Kommentare
über den Prozeß gegen Thomas Muir in NS 7/9/1793, 11/11/1793 bzw. zur vorübergehenden
Verhaftung W. Skirvings, des Sekretärs der schottischen ‚Volksfreunde‘, vgl. NS 31/8/1793.
224
Convention Act einen Präzedenzfall darstelle, der auch in Schottland zur Anwendung kommen könne, vollzogen die schottischen ‚Volksfreunde‘ im Sommer
1793 einen Politikwechsel und begannen mit der Vorbereitung eines britischen
Reformkongresses, der am 19.11. 1793 in Edinburgh zusammentrat.684
Dieser Reformkongreß fand unter der Teilnahme zweier Delegierter der United
Irishmen – Simon Butler und Archibald Hamilton Rowan aus Dublin685 – statt,
denen dort kraft Beschluß des Kongresses vom 25.11.1793 Rede- und Abstimmungsrecht eingeräumt wurde.686 Damit war die Zusammenarbeit – nachdem die
United Irish Abgesandten das Kooperationsangebot mit einer feierlichen Antwortadresse bekräftigt hatten687 – faktisch beschlossene Sache, aber sie half nicht mehr
viel: Ein paar Tage später wurde der Reformkongreß vom Lord Provost von E684
Brims, ebd.
Simon Butler (1757-1797): Sohn des 10. Viscount Mountgarret; 1778 als Jurist zugelassen;
1784 Aufstieg zum King’s Counsel und Mitglied der Ehrenwerten Gesellschaft der King’s Inns;
Gründungsmitglied der Dubliner Gesellschaft der United Irishmen und ihr erster Vorsitzender
1791; Veröffentlich einer Zusammenfassung aller gesetzlichen Regelungen der Strafgesetze, welche die Katholiken behinderten (Digest of the Popery Laws) 1792 trägt ihm eine Ehrenprämie in
Höhe von 500 Pfund vom Catholic Committee ein; 1793 zusammen mit Oliver Bond vor Gericht
gestellt, wegen scharfer Kritik am Secret Committee des irischen Parlaments – ein von Bond und
Butler unterzeichnetes Papier hatte diesen Untersuchungsausschuß als verfassungswidrig kritisiert;
Bond und Butler verteidigen sich vor Gericht bravourös, werden aber dennoch zu sechs Monaten
Haft verurteilt; nach seiner Freilassung unternimmt er zusammen mit A.H. Rowan den Auftrag,
die United Irishmen auf dem Edinburgher Reformkongreß zu repräsentieren, muß aber Schottland
bald wieder verlassen, weil Rowan mit den schottischen Behörden in Konflikt gerät; nach dem
Verbot der United Irishmen versinkt er in politischer Bedeutungslosigkeit und verstirbt 40jährig in
Dublin.
Archibald Hamilton Rowan (1751-1834): einziger Sohn eines anglo-irischen Adeligen; in London
geboren; Ausbildung an einer englischen Privatschule in Marylebone; danach Studium (das mehr
der Jagd und den Hunden als den Büchern gewidmet war) in Queen's’College Cambridge; anschließende einige Monate Aufenthalt in Amerika; danach schlug Rowan die Offizierslaufbahn
ein, die er 1780 beendete; 1781-84 Aufenthalt in Paris als Pensionär; danach Umzug nach Irland;
Eintritt in die Volunteers, Teilnahme am Volunteerkongreß in der Rotunda 1784 als Delegierter
der Grafschaft Down; 1786 Kommandant der Killeleagh Volunteers; 1790 Gründungsmitglied des
NorthernWhig Clubs in Belfast, wo er im folgende Jahr die Bekanntschaft Tones machte und sich
anschließend den United Irishmen anschloß; Nachfolger Tandys als Sekretär der Dubliner Gesellschaft der United Irishmen; 1792 wegen eines Aufrufs an die Volunteers verhaftet aber auf Kaution freigelassen, nahm an der Expedition nach Schottland teil, wo er sich mit dem schottischen
Generalstaatsanwalt anlegte; 1794 in der alten Sache vor Gericht gestellt und zu 500 Pfund Strafe
und zwei Jahren Haft verurteilt; wegen seiner Kontakte zu Jackson mit einem weiteren Prozeß und
der Todesstrafe bedroht; Gefängnisausbruch und dramatische Flucht nach Frankreich; bei seiner
Ankunft als britischer Spion verhaftet und dem Wohlfahrtsausschuß vorgeführt; erhielt 1795 Erlaubnis, sich in die USA zu entfernen; ließ sich in Philadelphia und später am Delaware nieder, wo
er bald Tandy und Tone wiedertraf; weigerte sich, sich Tone anzuschließen und nach Frankreich
zu gehen, weil er vom Terreur angewidert seine politische Einstellung revidiert hatte; befürwortete
1799/1800 die Union, weil sie die Beseitigung der Ascendancy ermöglichte; suchte um Pardon
nach, daß ihm 1803 gewährt wurde, ließ sich als geachteter Landbesitzer auf dem Erbe seines
Vaters nieder und engagierte sich fürderhin nur noch für liberale Politik und die katholische Emanzipation, war Subskribent für O’Connells Catholic Association; starb wenige Monate nach
dem Tod seiner Frau und seines ältesten Sohnes.
686
Vgl. „Let the Nation Stand“, S. 121.
687
Vgl. „Let the Nation Stand“, S. 122f.
685
225
dinburgh zwangsaufgelöst, die führenden Köpfe der British Convention – der Präsident M. Campbell Browne, der Sekretär der AFP W. Skirving, M. Margorot und
J. Gerrald von der LCS und ein gewisser Sinclair, Delegierter der britischen Society for Constitutional Information, wurden verhaftet und von schottischen Gerichten zur Deportation verurteilt.688
Weder die schottischen noch die englischen Radikalen verfügten über die Massenbasis oder die militärischen Mittel, um den irischen Radikalen tatsächlich von
Nutzen sein zu können. Trotzdem versteiften sich gerade die United Irish Gesellschaften aus Ulster auf eine Zusammenarbeit: Nach dem Verbot der Organisation
im Jahr 1794 und der Reorganisation des Vereins als Untergrundbewegung versuchten sie – nominell recht erfolgreich –, in Schottland Mitglieder anzuwerben,
die im Fall einer französischen Invasion in Irland oder England in Schottland losschlagen sollten.689 Für die Beharrlichkeit, mit der gerade Radikale aus Ulster den
Schulterschluß mit den schottischen Regimekritikern suchte, gab es zwei Gründe:
Zum einen die geographische Nähe und die traditionell wichtige Rolle, die Schottland als Bezugspunkt für die Einwohner Ulsters spielte, und zum anderen die Tatsache, daß Schottland gerade den United Irishmen aus Ulster als Zufluchtsort
diente, als in Nordirland 1797 das Kriegsrecht verhängt wurde.690 Die schottischen Behörden waren sich der Kontakte jedoch sehr wohl bewußt und beobachteten die United Irish bzw. United Scottish Bewegungen sehr genau.691
Auch die Kooperationsversuche mit den englischen Radikalen führte zu keinem
befriedigenden Ergebnis. Die LCS war nach der Zerschlagung der British Convention ins Zentrum behördlicher Verfolgung geraten und obwohl ihre Anführer –
Hardy, Horne Tooke, Thelwall –von den englischen Juries freigesprochen wurden, standen sie unter permanenter Überwachung. Überdies waren die Mitglieder
der LCS untereinander zerstritten und ihre Kriegskasse war leer.692 Dennoch unternahmen einige besonders radikale United Irishmen wie James Coigley, Arthur
688
Vgl. NS 9/12/1793, 19/12/1793, 23/12/1793, 9/1/1794, 13/1/1794, 13/3/1794.
Brims, Scottish Radicalism, S. 163; Elliott, Partners, S. 145, spricht von 9.650 United Scotsmen im September 1797, aber diese Angaben sind – wie die official returns, die offiziellen Mitgliederzahlen in Irland – mit Vorsicht zu genießen: Die United Irishmen zählten jede Person als
Mitglied, die ihren Eid abgelegt hatte. Die aktive Mitgliedschaft (d.h. die Anzahl derjenigen, die
an einer Rebellion teilnehmen würden) wurde selbst von den militärischen Führern der United
Irishmen bloß bei etwa 10 Prozent der official returns vermutet.
690
Brims, ebd., S. 163f.
691
Vgl. HMC (Hg.), Laing Mss., in: Report of the Historical Manuscript Commission on the
Laing Manuscripts Preserved at the University of Edinburgh, Bd. II, London 1925, S. 628f., 635f.
692
Elliot, Partners, S. 146.
689
226
MacMahon und Samuel Turner den Versuch, in England zu agitieren.693 Insbesondere Coigley gelang es, den militanten Flügel der LCS unter dem Etikett „United Britons“ bzw. „United Englishmen“ ins Boot zu holen.694 Derweil agitierten
die United Scotsmen im Norden Englands.695 An Bemühungen mangelte es also
nicht, die Allianz zum Funktionieren zu bringen. Das Problem war jedoch, daß die
United Scotsmen und die United Englishmen von Anfang an nur Ableger der irischen Hauptorganisation darstellten, die sich vor allem aus irischen Emigranten
und Flüchtlingen sowie ein paar Hundert englischen und schottischen Radikalen
speiste. Nie gelang es, eine tragfähige Massenbasis herzustellen, welche die
schottischen und englischen Radikalen zu vollwertigen Partnern der United Irishmen gemacht hätte. JOHN BRIMS skeptische Bilanz, daß „es keine Hinweise
darauf gibt, daß die United Scotsmen irgendeinen Versuch unternommen hätten,
auch nur die beschränkteste Form aufständischer Aktivität in Unterstützung ihrer
irischen Alliierten zu organisieren“ läßt sich daher praeter propter auch auf die
United Englishmen übertragen.696 Die Bedeutung der Kooperation lag vor allem
darin, daß die United Irishmen so über Agenten in Großbritannien verfügten, die
sie vor allem dafür verwendeten, Informationen zu sammeln, und daß sie ihre
schottischen und englischen „Mobilisierungserfolge“ in Irland als Mobilisierungsinstrument und gelegentlich auch zur Stärkung der Moral ihrer dortigen Anhänger
einsetzen konnten. Es klingt paradox, ist aber dennoch zutreffend, daß für beide
Entwicklungen – das Zustandekommen einer interinsularen radikalen Kooperation
und deren Scheitern – britische Repressionen verantwortlich waren: Ohne das
harte Durchgreifen der Behörden gegen die British Convention und die anschließenden State Trials gegen führende Reformer wäre die schottische und die englische Reformbewegung nicht in dem Ausmaß geschwächt und gleichzeitig radikalisiert worden, das den Anschluß an die United Irishmen überhaupt erst möglich
machte. Wenn andererseits eine solche Allianz später entstanden wäre – ohne die
vorherige Schwächung der britischen Radikalen – dann hätte daraus eine ernste
Gefahr für den inneren Frieden Großbritanniens mit der Perspektive einer briti-
693
D. Keogh (Hg.), A Patriot Priest, The Life of Father James Coigly, 1761-1798 (Originaltitel:
The life of the Rev. James Coigly, an Address to the People of Ireland, as Written by Himself
During His confinement in Maidstone Gaol, London 1798), Cork 1998 (Irish Narratives), S. 14f.
694
Elliott, Partners, S. 146-149.
695
Ebd., S. 145.
696
Für die United Scotsmen vgl. Brims, Scottish Radicalism, S. 164-166, Zitat S. 165; für die
United Englishmen mit fast exakt dem gleichen Urteil vgl. Elliott, ebd., S. 149.
227
schen Revolution nach französischem Vorbild entstehen können. So blieb es lediglich ein weiteres Intermezzo in den fortlaufenden Versuchen der United Irishmen, Partner und Bundesgenossen für ihren Kampf gegen das irische Kolonialregime, die Ascendancy und ab 1796 gegen Großbritannien zu gewinnen.
Irische Seeleute in der britischen Marine. Einen Sonderfall der subversiven
Aktivitäten irischer Radikaler in Großbritannien stellt die Unterwanderung der
britischen Flotte in den Jahren 1797-1798 dar. In den Kriegsjahren 1796-1798
befand sich Großbritannien in einer verzweifelten innen- und außenpolitischen
Lage. Von seinen kontinentalen Alliierten Preußen und Österreich verlassen,
mußte Großbritannien, das unter einer ernsten Finanzkrise und kriegsbedingten
Rezession litt, die Kriegslast gegen das revolutionäre Frankreich allein tragen.
Friedensverhandlungen mit Frankreich, die Großbritannien eine Atempause hätten
verschaffen können, wurden von französischer Seite im März 1796 abgebrochen
und im Dezember 1796 wurde der britische Unterhändler Malmesbury in einem
Akt kalkulierter diplomatischer Demütigung aus Paris ausgewiesen.697 Auf sich
allein gestellt hing der Schutz Großbritanniens allein von seiner Flotte ab – und
just dort kam es ab Dezember 1796 andauernd zu Unruhen und Meutereien, die
sich wie eine Epidemie in den verschiedenen Flottenverbänden verbreiteten.698
Alle beteiligten Seiten wurden von diesen Ereignissen völlig überrascht. Die
Franzosen waren natürlich entzückt – der französische Direktor La RéveillièreLepeaux konnte selbst in einer Sitzung des Direktoriums vor Lachen über ein
Bonmot aus der französischen Tagespresse, welche die britische Flotte hämisch
als „schwimmende Republik“ bezeichnet hatte, kaum an sich halten – versäumten
aber, die britische Schwäche zu nutzen.699 Die britische Regierung dagegen war
selbstredend ebenso entsetzt wie die irische Kolonialverwaltung, denn eine französische Invasion war unter diesen Umständen zumindest in Irland nicht mehr
abzuwenden.700 Für die britische Seite war von Anfang an klar, daß die Meuterei
nur durch die Subversion irischer und französischer Agenten hervorgerufen wor-
697
Elliott, ebd., S. 134.
Den Anfang machte die Nordseeflotte im Dezember 1796, gefolgt von der Kanalflotte im Februar 1797, im April folgten die Schiffe, die in Portsmouth, Plymouth und Spithead stationiert
waren, im Mai griff die Meuterei auch auf die Nore Flotte und den Flottenverband in Yarmouth
über. Bis Juli hatte die Meuterei auch die Schiffe am Kap der guten Hoffnung und bis Oktober
1797 sogar diejenigen im Indischen Ozean erreicht. Vgl. ebd., S. 134f.
699
Ebd., S. 136.
700
So zumindest Lecky, History of Ireland 4, S. 171.
698
228
den sein konnte.701 Das stimmte zwar anfänglich nicht – es ging den Seeleuten um
eine Anhebung der Heuer, um eine bessere Lebensmittelversorgung und eine humanere Behandlung der Mannschaften durch die Offiziere702 –, aber die United
Irishmen erblickten nun in der Tat neue Chancen, um die britische Seite militärisch zu schwächen und so eine bessere Ausgangsposition für den geplanten Aufstand in Irland zu schaffen. Seit dem Ausbruch des Krieges im Jahr 1793 hatte die
britische Admiralität eine wenig zimperliche Rekrutierungspolitik betrieben und
entlassene Strafgefangene und soziales Strandgut aller Art in die Marine gezogen
– darunter auch eine ganze Anzahl von verurteilten United Irishmen und Defenders, die den Repressionsmaßnahmen der britischen Truppen in Irland seit 1795
zum Opfer gefallen waren, sowie Seeleute der irischen Handelsmarine, die von
Rekrutierungskommandos zum Dienst gepreßt worden waren.703 Theobald Wolfe
Tone, der ab 1796 als Emissär der United Irishmen beim französischen Direktorium tätig war, verstieg sich in einem seiner Memoranden für Lazare Carnot zu der
kühnen Behauptung, daß Irland 80.000 – und damit knapp zwei Drittel – der
135.000 britischen Seeleute und Marinesoldaten gestellt habe.704 Die tatsächliche
Anzahl lag wohl nur zwischen 15.000 und 25.000.705 Aber auch in dieser Größenordnung stellten die irischen Seeleute eine Bedrohung für die Funktionsfähigkeit
der britischen Flotte dar, denn die Schiffsbesatzungen, die 1798 aus Sympathie
mit der „Great Rebellion“ meuterten, bestanden tatsächlich zu mindestens 50 Prozent aus Iren.706 Hinsichtlich der britischen Wahrnehmung über die Verursacher
der Meutereien ist aufschlußreich, daß die Mehrheit derjenigen Seeleute, die für
ihre Teilnahme an den Meutereien nach Australien deportiert wurden, ebenfalls
aus Iren bestand.707 Selbst wenn also die Meutereien von Spithead, Portsmouth
und Plymouth nicht von irischen Seeleuten angezettelt wurden, ändert das nichts
an der Tatsache, daß es a) ein deutlich erkennbares, spezifisch irisches Protestpo-
701
Elliott, Partners, S. 137.
Vollständige Liste der Gravamina der Meuterer bei Lecky, History of Ireland 3, S. 169f.
703
Besonders drastisch hierzu Lecky, History of Ireland 4, S. 173f., moderater Elliott, Partners, S.
136.
704
Theobald Wolfe Tone, First Memorial on the Present State of Ireland, Delivered to the French
Govnment, February 1796, in: T. Bartlett (Hg.), Life of Theobald Wolfe Tone, Compiled and
Arranged by William Theobald Wolfe Tone, Dublin 1998, S. 603-612, S. 611.
705
H. W. Wilson, United Irishmen in die British Fleet, in Macmillan’s Magazine, London 1898, S.
340-347, S. 340, Elliott, Partners, S. 138.
706
Elliott, ebd., S. 138.
707
G. Rudé, Protest and Punishment, The Story of the Social and Political Protesters Transported
to Australia, 1788-1868 Oxford 1778, S. 183f.
702
229
tential in der britischen Flotte gab und daß b) die britische Obrigkeit von der Regierung bis zur Admiralität offensichtlich davon ausging, daß irische Radikale
hinter den Meutereien steckten.
Die United Irishmen zogen aus dem Ausbruch der Meutereien im Jahr 1796 ihre
eigene Konsequenz und versuchten mit viel Energie, die britische Flotte zu unterwandern. Auf einigen Schiffen seiner Majestät wurden verräterische Kassiber
gefunden – darunter auch die United Irish Eidformel und Aufrufe, in denen die
Mannschaften dazu ermutigt wurde, bei Ausbruch eines Aufstands in Irland ihre
Offiziere zu töten und die Schiffe nach Frankreich oder nach Irland zu entführen.708 Auch drängten United Irishmen nun verstärkt in die britische Marine: Allein bis Juli 1797 ließen sich etwa 1.200 von ihnen als Seeleute anwerben.709 Die
Meuterer wurden zusätzlich aus Irland mit Geld versorgt, das die United Irishmen
auf Jahrmärkten und per Subskription sammelten.710 Trotz dieses groß angelegten
Unterwanderungsprojekts führten die Meutereiversuche, die ab etwa Mitte 1797
tatsächlich auch von der United Irish Organisation angezettelt wurden, nicht zum
gewünschten Erfolg, weil sie frühzeitig entdeckt und die Rädelsführer hart bestraft wurden.711 Die United Irish Agitation mag die Meutereien verlängert haben
und die Gefahr, daß die Rebellion in der Flotte weitere Kreise schlug war durchaus real,712 aber die Anfälligkeit der United Irishmen gegenüber Spitzeln und das
rigorose Durchgreifen der Marineoffiziere verhinderten, daß die britische Flotte
dadurch 1798 in ihrer Funktionsfähigkeit behindert wurde.
Die fehlende Zusammenarbeit zwischen irischen und englischen Katholiken.
Angesichts der diversen politischen Kooperationsachsen zwischen Irland und
Großbritannien ist auffällig, daß Vergleichbares für die irischen und englischen
Katholiken selbst in den turbulenten 1790er Jahren nicht aufzufinden ist.713 Dieser
708
Wilson, United Irishmen, S. 343, 346f.
Elliott, Partners, S. 142.
710
Ebd.
711
Wilson, United Irishmen, S. 340.
712
So auch Elliott, Partners, S. 143.
713
Die Tatsache, daß keine Zusammenarbeit im engeren Sinne zustande kam, soll jedoch nicht
bedeuten, daß es nicht auch in diesem Feld Verbindungen zwischen England und Irland gegeben
hätte. So vertritt etwa Eamon O’Flaherty die These, daß die Aktivitäten des Katholischen Komitees in Irland ab 1789 durch die Agitation englischer Katholiken beeinflußt worden sei. Vgl. E.
O'Flaherty, Irish Catholics and the French Revolution, in: Gough/Dickson, Ireland, S. 52-67, S.
56f. Das mag insofern richtig sein, als es eine zeitliche Koinzidenz gegeben hat und nicht anzunehmen ist, daß die Katholiken diesseits und jenseits der irischen See keinen regen Informationsaustausch miteinander unterhalten hätten, aber andererseits sind solche Verbindungen, die nicht zu
einer konkreten politischen Zusammenarbeit führten, zu vage, um hier berücksichtigt zu werden.
709
230
Befund ist um so verwunderlicher, als das Catholic Committee entsprechend seines Anspruchs, eine repräsentative Interessenvertretung für den katholischen Adel, Klerus und das katholische Bürgertum darzustellen, in der Tat spätestens seit
1778 so etwas wie eine eigene englische ‚Außenpolitik‘ betrieb: Seit diesem Zeitpunkt nämlich, der nicht zufällig mit der Agitation für Gardiners ersten Catholic
Relief Act zusammenfällt, leistete sich das Catholic Committee bis 1792 einen
ständigen Interessenvertreter in London.714 Der Londoner „Agent“ des Catholic
Committee hatte vor allem die Aufgaben eines Lobbyisten, der britische Parlamentarier und andere politisch wichtige Personen für die Emanzipation der irischen Katholiken einnehmen sollte und dementsprechend über gute gesellschaftliche und politische Kontakte verfügen mußte, eines Nachrichtenoffiziers, der für
die irischen Katholiken relevante Nachrichten sammelte und nach Dublin weiterleitete, und eines politischen Repräsentanten, der stellvertretend Gänge und Sondierungsgespräche für das Catholic Committee unternahm.715 Angesichts dieser
vielfältigen, verantwortungsvollen Aufgabenbereiche liegt der Vergleich des Agentenamts mit dem eines – allerdings von britischer Seite nicht akkreditierten
und daher inoffiziellen – Botschafters der irischen Katholiken in London durchaus
nahe.
Der Grund, warum trotz alledem keine Kooperation zwischen den irischen und
den englischen Katholiken feststellbar ist, ist relativ simpel: Alle anderen Kooperationen zwischen englischen und irischen Gruppen waren auf beiderseitigen Vorteil angelegt – von einer Kooperation zwischen irischen und englischen Katholiken hätten jedoch nur die englischen Katholiken einen Vorteil erwarten können.
714
MBCC, Eintrag vom 11.11.1768, S. 32: „That it is the opinion of this committee [gemeint ist
das Select Committee, ein ständiger Ausschuß mit ursprünglich rein beratender Funktion, der sich
im Laufe der Zeit jedoch zum Führungszirkel des gesamten CC mauserte – MR] that it will be
highly necessary for us to have a resident agent in London to transact our lawfull business there.“
Für die Kosten wurden freiwillige jährliche Beitragszahlungen von den Mitgliedern des CC erhoben. Vgl. ebd. Das Amt des Londoner Agenten hatte zwischen 1778 und 1791 der Londoner Anwalt Daniel Macnamara inne (ebd., S. 33, 73), wobei die Formulierung, daß man Macnamara
bitten werde, sein Amt „fortzusetzen“ nahelegt, daß er bereits vor 1778 hier und da für das CC als
Agent tätig war (Vgl. ebd., S.33). 1791/92 wurde das Amt von Richard Burke, dem Sohn Edmund
Burkes, wahrgenommen – natürlich auch um die politischen Kontakte des Vaters für die Emanzipation der irischen Katholiken nutzbar machen zu können. Vgl. Wall, Keogh, S. 166. Wegen seines hitzköpfigen, undiplomatischen Auftretens war Burke Jr. jedoch kein geeigneter Mann für den
Posten und wurde darum bereits 1792 wieder entlassen. Vgl. Bartlett, Rise and Fall, S. 148. Sein
Nachfolger wurde niemand Geringeres als Theobald Wolfe Tone, der bis zu seiner Verhaftung
1794 im Amt blieb.
715
In den Protokollen des CC liest sich das sehr viel lakonischer; dort heißt es bloß, der Agent
solle in London ansässig sein und dort die rechtlichen Geschäfte des CC erledigen. Vgl. ebd., S.
231
Das hängt mit der außerordentlichen Schwäche der katholischen Bevölkerung in
England zusammen: Die Katholiken machten in England nur einen verschwindend geringen Prozentsatz der Bevölkerung aus, der sich zwischen 1685 und 1780
um über 75 % auf lediglich 70.000 Personen verkleinerte.716 Auch politisch hatten
sie seit ihrer Beteiligung am ersten Stuart-Aufstand von 1715, die zu neuen antikatholischen Repressionen und Verfolgungsmaßnahmen des anglikanischen
Staats führte, nichts mehr zu melden: Die Strafgesetze gegen die englischen Katholiken waren strenger als selbst die irischen Penal Laws!717 Aus diesem Grund
stellten die englischen Katholiken aus irisch-katholischer Sicht keinen hoffnungsvollen Partner, sondern lediglich eine Belastung dar. Außerdem hätte eine Kooperation aber auch protestantischen Ängsten vor einer katholischen Verschwörung
und katholischen Restaurationsabsichten neue Nahrung gegeben und den protestantischen Widerstand gegen die katholische Emanzipation auf beiden Seiten der
irischen See verstärkt. Wenn man bedenkt, daß alle wichtigen Catholic Relief Acts
(1778, 1782, 1793) auf britischer Initiative beruhten und mit erheblichem britischen Druck im irischen Parlament durchgesetzt wurden, wird vollends klar, warum das Catholic Committee keinen Wert darauf legte, das in jahrelanger Agitation mühsam und teuer erkämpfte Wohlwollen der britischen Seite durch einen
Pakt mit den – politisch nutzlosen – englischen Katholiken aufs Spiel zu setzen.
Fazit. Die wohl wichtigste Erkenntnis aus der Betrachtung der anglo-irischen
Beziehungen ist die Modifizierung der Wahrnehmung über den Handlungsspielraum und das politische Potential irischer Regimegegner. Waren diese uns bisher
aus der inneririschen Perspektive als Akteure vertraut, die primär reagierten, so
hat dieses Kapitel gezeigt, in welchem Umfang und mit welchen, zum Teil einschneidenden, Konsequenzen sie auf der politischen Bühne auch agieren konnten.
Das relativiert eine Sicht der irischen Bevölkerung, die mit einem kolonialen Interpretationsansatz nur zu leicht einhergeht: nämlich eine Festlegung der irischen
Akteure auf eine Opferrolle. Sowohl auf der parlamentarischen als auch auf der
außerparlamentarischen Ebene stellten die irischen Akteure beides dar: Agens und
Reagens. Die zweite wichtige Erkenntnis, welche den im kolonialen Interpretationsansatz fast deterministisch angelegten Stellenwert der Machthierarchie zwi33. Ein genauerer Eindruck über die Aufgabenbereiche des Londoner Agenten lassen sich jedoch
aus den Aktivitäten des Dubliner Agenten, Owen Hogan, ableiten. Vgl. ebd., S. 26.
716
Maurer, Geschichte Englands, S. 274.
717
Vgl. Wall, Penal Laws, S. 8.
232
schen Kolonialmacht und Kolonisten bzw. zwischen Kolonisten und Kolonisierten relativiert, ist, daß die anglo-irischen Beziehungen nicht nach dem Prinzip
einer Einbahnstraße funktionierten, in der vom übermächtigen kolonialen Mutterland beliebig alle Weichen gestellt wurden. Der Perspektivwechsel hat eine ganze
Reihe von Rückkoppelungseffekten zutage gefördert, durch welche die britische
Seite – unter dafür günstigen Voraussetzungen – aus Irland unter Zugzwang geriet: Das gilt sowohl für den wirtschaftlichen Bereich, für die Kooperation der
parlamentarischen Oppositionen in Irland und England und für die Subversionsversuche der United Irishmen. Das hilft, die historische Situation der 1790er Jahre
– trotz der vernichtenden Niederlage von 1798/99 – auch aus der Retrospektive
als ergebnisoffen begreifen zu können: Die Gegner des irischen Kolonialregimes
und der kolonialen Verbindung zwischen Irland und Großbritannien wurden nicht
wie eine tumbe Herde Schafe vom anglo-irischen Regime in Irland oder von
Großbritannien vor sich her und zur Schlachtbank getrieben, sie hatten Handlungschancen und sie versuchten, diese zu nutzen. Dabei bewegten sie sich – das
ist die letzte wichtige Feststellung – mit ebenso großer Selbstverständlichkeit auf
der britischen politischen Bühne wie die Kolonialmacht Großbritannien sich in
Irland bewegte – eine Einsicht, die man sich nur allzu schnell verstellt, wenn man
in den klassischen Formen irisch-republikanischer Nationalgeschichtsschreibung
denkt.
233
2. Irland und Amerika
Vermittels der gemeinsamen Kolonialmacht Großbritannien standen Irland und
die späteren USA im 18. Jahrhundert in einem Verhältnis zueinander, das durch
den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg vollständig auf den Kopf gestellt wurde. Bis zum Ausbruch der kriegerischen Auseinandersetzungen in Lexington
(18.4.1775) diente Irland als die ältere der beiden Dominions den britischen Gesetzgebern in den amerikanischen Kolonien als Modell: Der in den amerikanischen Kolonien 1766 erlassene Declaratory Act war praktisch eine Kopie des
1719 in Irland erlassenen, gleichnamigen Gesetzes.718
Die amerikanische Wahrnehmung Irlands. Es ist daher auch nicht verwunderlich, daß Irlands Proteste gegen die Superiorität des britischen Parlaments den
amerikanischen Widerstand gegen britische Ansprüche beeinflußten: Die auf Unabhängigkeit drängenden amerkanischen Kolonisten – allen voran Benjamin
Franklin und John Adams – rekurrierten auf William Molyneux und andere irische „Patrioten“, um ihren Anspruch auf konstitutionelle Unabhängigkeit mit Argumenten zu unterfüttern.719 In ihren Augen stellte Irland – wie OWEN DUDLEY
EDWARDS treffend bemerkt – eine ganze Reihen von Dingen dar: Einen konstitutionellen Präzedenzfall, einen potentiellen militärischen Bundesgenossen, ein Terrain für diplomatische Ablenkungsmanöver und ein Land, das auf eine fruchtbare
ökonomische Kooperation in der Zukunft hoffen ließ.720 Am deutlichsten trat das
anläßlich des Besuchs Benjamin Franklins in Dublin im Jahr 1771 zutage. Franklin konferierte mit führenden irischen „Patrioten“ und schrieb später über diese
Begegnungen:
„Ich fand sie Amerika gegenüber freundlich gesonnen und bemühte mich, sie
darin zu bestärken, indem ich ihnen in Aussicht stellte, daß unser wachsendes Gewicht eines Tages in ihre Waagschale geworfen werden könnte und
daß für uns wie für sie von dieser Nation [England – MR] eine gerechtere
718
O.D. Edwards, The Impact of the American Revolution on Ireland, in: The Impact of the American Revolution Abroad, Papers Presented at the Fourth Symposium, May 8 and 9, 1975, Washington 1976, S. 127-159, S. 127f.
719
Lecky, History of Ireland 1, S. 158; Edwards, Impact, S. 128; ergänzend dazu ders., The American Image of Ireland: A Study of its Early Phases, in: Perspectives in American History 4
(1970), S. 214-241.
720
Edwards, Impact, S. 128. Franklin und die Gebrüder Adams bezogen sich nicht nur auf Molyneux, sondern auch auf Robert Molesworth und Charles Lucas. Vgl. Dickson, New Foundations,
S. 142.
234
Behandlung erhalten werden könne, wenn wir unsere Interessen mit den ihren vereinten.“721
Die irische Wahrnehmung von den transatlantischen Kolonien. Wie aber sah
es auf der anderen Seite des Atlantiks, in Irland, aus? Dort hatte man bis zum heraufziehenden Unabhängigkeitskrieg die amerikanischen Kolonien vor allem als
begehrten Handelspartner und als Auswanderungsziel im Blick.722 Interessanterweise standen jedoch in Irland die von amerikanischer Seite betonten Parallelen
der konstitutionellen Situation Irlands mit der in den amerikanischen Kolonien
zunächst keineswegs im Vordergrund. Im Gegenteil: William Molyneux, der
anglo-irische Ideenlieferant Franklins und Adams, hatte 1698 noch mit Verweis
auf die ‚echten‘ Kolonien in Amerika Irlands konstitutionellen Sonderstatus reklamiert:
„Erscheint es nicht wegen der Verfassung Irlands offensichtlich, daß es sich
um ein in sich vollständiges Königreich handelt? Tragen nicht die Könige
von England neben ihren übrigen Königreichen den Titel Irlands im Namen?
Verträgt sich das mit dem Wesen einer Kolonie? Benutzen sie auch den Titel
723
eines Königs von Virginia, Neuengland oder Maryland?“
Mit dem Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges schlug die öffentliche Meinung in
Irland gegenüber den amerikanischen Kolonien jedoch jäh um: Nun wurden Stimmen laut, daß – wie ein irischer Parlamentarier blumig formulierte – die Amerikaner in Fresko darstellten, was die Iren in Wasserfarbe seien.724 Die Kriegsgegner
führten außerdem ins Feld, der Krieg gegen die amerikanischen Kolonien sei ungerecht, da die Amerikaner ein Recht hätten, sich willkürlicher Besteuerung zu
widersetzen und außerdem habe das Beispiel der „Glorious Revolution“ gezeigt,
daß nicht jeder Widerstand gegen die Krone grundsätzlich den Tatbestand der
Rebellion erfülle.725 Mit Ausnahme der Castle-treuen Presse hieben die Printmedien in dieselbe Kerbe: „Wir sind hier alle Amerikaner“, notierte ein Korrespondent aus Cork.726 Was steckte hinter diesem relativ abrupten Sinneswandel?
721
Lydon, Making, S. 249. (meine Übersetzung) Ähnlich auch John Adams: „Of their [die irische
– MR] friendly disposition, we do not yet despond; aware, as they must be, that they have nothing
more to expect from the same common enemy, than the humble favour of being last devoured.“
Zitiert nach Edwards, Impact, S. 134.
722
Zum Handel vgl. Dickson, Foundations, S. 118f; Foster, Modern Ireland, S. 201f. Zur Auswanderung nach Amerika vgl. Foster, ebd., S. 216.
723
Zitiert nach Boyce, Nationalism, S. 102. (meine Übersetzung)
724
Foster, Modern Ireland, S. 241.
725
O'Connell, Irish Politics, S. 27.
726
Beckett, Making, S. 207; ähnliche Äußerungen auch bei Edwards, Impact, S. 135.
235
Das wird sehr schnell deutlich, wenn man sich anschaut, wer diese öffentliche
Meinung konstituierte, die natürlich vom zur Loyalität verpflichteten Kolonialapparat um den Lord Lieutenant in Dublin Castle nicht geteilt wurde. Hinter der
amerika-freundlichen Haltung steckten in seltener Einigkeit sowohl die anglikanische, anglo-irische Kolonialelite als auch das „Patrioten“-Lager und die ‚Outs‘
um Ponsonby und den Herzog von Leinster im Parlament, die radikalen Presbyterianer aus Ulster, deren Presse die Ereignisse in den amerikanischen Kolonien
minutiös nachzeichnete, und ab 1778 auch die Volunteers, welche die außerparlamentarische Opposition bündelten und mit der innerparlamentarischen um Lord
Charlemont, Henry Flood, Barry Yelverston und natürlich Henry Grattan vernetzten.727 Mit anderen Worten: Alle gesellschaftlichen Kräfte, die aus Eigennutz oder
prinzipiellen Gründen an einer Aufwertung des irischen gegenüber dem britischen
Parlament interessiert waren und daher konstitutionelle Parallelen zwischen Amerika und Irland erblicken wollten – gleichviel, ob sie tatsächlich vorhanden waren.
Denn de facto gab es genug Gründe, die gegen eine solche Gleichstellung Irlands
mit den amerikanischen Kolonien sprachen: Im Gegensatz zu den amerikanischen
Kolonien war Irland verfassungstheoretisch und -technisch durchaus ein eigenes
Königreich, verfügte sogar über ein eigenes Parlament, ohne dessen Zustimmung
während des 18. Jahrhunderts in Irland niemals Steuern erhoben wurden.728 Dementsprechend ging es aus irischer Sicht eigentlich auch nicht darum, auf naturrechtlicher Basis neue Rechte einzufordern (wie das die amerikanischen Kolonisten taten), sondern darum, die alten Selbstbestimmungsrechte Irlands wiederherzustellen.729 Dieser Umstand erklärt auch, warum – wie D. GEORGE BOYCE ausführt – irische Gegner der Superiorität des englischen bzw. britischen Parlaments
(im Prinzip seit Molyneux) weniger auf Verfassungstheorie als auf historische
Präzedenz abhoben und selten amerikanisches Material verwendeten, um ihre
Position argumentativ zu verstärken.730 Der springende Punkt, an dem die irische
Pro-Amerika-Fraktion ihre Parallelitätsthese konstitutionell festmachte, war jedoch, daß das britische Parlament auf der Grundlage von Poynings‘ Law und des
727
Dickson, New Foundations, S. 142f.
Einige Zeitgenossen behielten diese Unterschiede durchaus im Blick. Der unabhängige Abgeordnete, Sir Hercules Langrishe, griff in den 1770er Jahren Molyneuxs Differenzbestimmung
zwischen Amerika und Irland wieder auf, indem er notierte, daß Irland „an ancient kingdom [war
– MR], great in its own growth, entrenchend behind an ancient constitution, co-equal and co-eval
with England.“ Zitiert nach McDowell, Irish Public Opinion, S. 48.
729
So auch Henry Grattan im Jahr 1780, vgl. Boyce, Nationalism, S. 111.
728
236
Declaratory Act von 1719 potentiell dazu in der Lage gewesen wäre, Irland ohne
parlamentarische Zustimmung zu besteuern – und zwar völlig legal.731
Die Interessenbasis irischer Wahrnehmungen. Tatsächlich jedoch standen hinter der These, daß eine konstitutionelle Parallele zwischen Irland und den amerikanischen Kolonien bestand, in Irland handfeste, gruppenspezifische Motive. Zum
einen bot die imperiale Krise Großbritanniens den „Patrioten“ eine Gelegenheit,
dem kolonialen Mutterland Zugeständnisse abzutrotzen. Das Kalkül war simpel:
Mit den Problemen in den amerikanischen Kolonien behaftet würde Großbritannien alles tun, um die Entstehung eines zweiten Krisenherds in Irland zu vermeiden.732 Die Zugeständnisse, zu denen Großbritannien in Irland bis zum Pariser
Frieden von 1783 gezwungen war – von der Abschaffung aller irischen Handelsbeschränkungen im Handel mit den amerikanischen Kolonien (24.2.1780) bis zur
Abschaffung des Declaratory Act (21.6.1782) und zur Modifikation von Poynings‘ Law (27.7.1782) – belegen zweifelsfrei, daß diese Rechnung perfekt aufging. Für die Ascendancy, die natürlich auch keine Einwände gegen die Aufwertung des von ihr dominierten irischen Parlaments hatte, bedeutete die koloniale
Krise in Amerika außerdem, daß ihre Kooperation für das koloniale Mutterland
wertvoller wurde und daher zu einem höheren Preis verkauft werden konnte.733
Zudem erhielt sie hier die Chance, Macht zurückzugewinnen, die durch das energische Durchgreifen Lord Lieutenant Townshends verlorengegangen war.734 Politische Rachegedanken mögen dabei ebenfalls eine gewisse Rolle gespielt haben.735 Alle politischen Gruppierungen in der anglikanischen Bevölkerung waren
schließlich auch aus konfessionell-politischen Gründen gegen die britische Amerikapolitik eingenommen. Hier bildete der Quebec Act von 1774, in dem West730
Ebd.; ebenso O’Connell, Irish Politics, S. 30f.
Beckett, Making, S. 206. Prägnant auf den Punkt gebracht wurde diese Position vom irischen
„Patrioten“ George Ogle, der im irischen Parlament während der Debatten zur Loyalitätsadresse
an Georg den III. 1775 zu Protokoll gab: „If you vote the Americans to be rebels, for resisting a
taxation where they are not represented, what can you say when the English will tax you?“ Zitiert
nach O'Connell, ebd., S. 27.
732
Beckett, ebd., S. 207.
733
Entsprechend schwieriger wurde es für die Lord Lieutenants Harcourt und Buckingham das
Parlament zu kontrollieren. Der Kontrollverlust schlug sich unmittelbar in der Free-TradeKontroverse nieder, die mit einem Einlenken Großbritannien endete. Ebd., S. 209-219.
734
Das erklärt, warum die Anhänger der Ponsonbys zur Pro-Amerika-Fraktion gehörten, denn
Ponsonby als Mitglied des Undertaker-Triumvirats war von Townshend aus seinen Ämtern und
dem Kronrat geworfen worden und mußte 1771 sein Präsidentenamt im Parlament niederlegen.
735
Zumindest vertritt O’Connell die These, daß die Konflikte in den amerikanischen Kolonien in
der irischen Politik viel mehr dazu eingesetzt wurden, um Dublin Castle und die englische Regie731
237
minster den Katholiken in der Provinz Quebec, die 1763 von den Franzosen an
Großbritannien abgetreten worden war, die freie Religionsausübung zusicherte,
den Stein des Anstoßes. In der Befürchtung, daß dieses Beispiel in Irland Schule
machen könnte, daß der Quebec Act als amerikanischer Präzedenzfall für eine
Lockerung der Strafgesetze in Irland dienen könnte, fühlte sich die Ascendancy –
wieder einmal – in ihren Grundfesten bedroht und reagierte entsprechend ablehnend.736
Die Presbyterianer aus Ulster hatten ihre eigenen Gründe, die amerikanischen
Kolonisten zu unterstützen. Zum einen waren diese persönlicher Natur, denn die
Kolonien in der neuen Welt waren während des gesamten 18. Jahrhunderts das
Hauptziel presbyterianischer Emigration aus Ulster. Die Bedeutung dieser umfangreichen Wanderungsbewegung – allein zwischen 1769 und 1774 wanderten
etwa 40.000 Presbyterianer aus Ulster nach Amerika aus, insgesamt waren es
während des 18. Jahrhunderts rund eine Viertelmillion737 – schlug sich auch in der
Konfliktwahrnehmung der presbyterianischen Bevölkerung nieder, da – wie der
New Light Prediger Dr. William Steel Dickson 1776 anmerkte – „es kaum eine
presbyterianische Mittelschichtfamilie unter uns gibt, die sich nicht mit den Einwohnern dieses ausgedehnten Kontinents verwandt fühlt.“738 Mit Stolz und Anteilnahme verfolgte man daher in Ulster die Erfolge der amerikanischen Armee,
an denen zu einem nicht unerheblichen Teil die ‚Scotch-Irish‘ aus Ulster beteiligt
waren.739 Aber auch aus prinzipiellen, ideologischen Gründen war der Krieg gegen die Kolonien in Ulster, den Dr. Dickson öffentlich als einen „wahnsinnigen
Krieg“ verurteilte, nicht populär. Ein anderer Zeitgenosse, der presbyterianische
Geistliche Dr. William Campbell, faßte die Stimmung in Ulster um die Mitte der
1770er Jahre retrospektiv mit den beredten Worten zusammen:
„Die Presbyterianer aus Ulster verurteilen diesen Krieg als ungerecht, grausam und verachtenswert. Mit Sorge und mit Schrecken hielten sie ihn für den
verwerflichsten, unprovoziertesten Despotismus. Ihre Freunde und Verwand-
rung unter Druck zu setzen als aus einem genuinen Interesse daran, den amerikanischen Kolonisten moralische Unterstützung zuteil werden zu lassen. Vgl. O’Connell, Irish Politics, S. 31.
736
Besonders stark macht Owen Dudley Edwards die Konfession in seiner Argumentation, bürdet
ihr dabei aber m.E. eine zu große Erklärungslast auf, denn anderen Komponenten wird hier wenig
Beachtung geschenkt. Wertvoll ist aber immerhin die Erkenntnis, daß die irischen Amerikafreunde in ihren Reihen auch die entschiedensten Gegnern der katholischen Emanzipation hatten.
Vgl. Edwards, Impact, S. 132-135; auch Dickson, New Foundations, S. 142.
737
Tesch, Radicalism, S. 42; Foster, Modern Ireland, S. 216.
738
Zitiert nach McDowell, Public Irish Opinion, S. 44; vgl. auch O’Connell, Irish Politics, S. 28,
der sich ebenfalls auf McDowell beruft. (meine Übersetzung)
739
Dickson, New Foundations, S. 144.
238
ten befanden sich in großer Zahl in den verschiedenen Provinzen Amerikas
und sie hörten mit Stolz, daß sie die Blüte von Washingtons Armee bildeten,
um – getragen von einer angeborenen Freiheitsliebe – für die Sicherheit ihres
angenommenen Heimatlandes jeder Gefahr ins Auge zu blicken.“740
Hier kam also wieder die radikale Komponente des Presbyterianismus zum Tragen, die Übergriffe der staatlichen Autorität auf individuelle Freiheitsrechte nicht
duldete und den ‚Opfern‘ solcher staatlicher Zumutungen ein prinzipielles Recht
auf Widerstand einräumte. Wie feindlich die Stimmung in Ulster von britischer
Seite eingeschätzt wurde läßt sich bereits daran ablesen, daß man es 1775/76 vermied, in der Provinz Ulster Rekruten für den Einsatz in den amerikanischen Kolonien anzuwerben.741
Bezeichnend für die spezifisch irische Wahrnehmung des Kolonialkonflikts in
Amerika ist, daß aus der katholischen Bevölkerung so gut wie gar keine Unterstützung für die amerikanischen Kolonisten kam. Im Hidden Ireland, dem gälischländlichen Teil der katholischen Bevölkerung, gab es zwar die eine oder andere
Stimme, die sich mit Schadenfreude über englische Niederlagen in den Kolonien
äußerte und Washingtons Erfolge feierte,742 aber der politisch aktive Teil der katholischen Bevölkerung unternahm alle erdenklichen Anstrengungen, um seine
Loyalität unter Beweis zu stellen und verhielt sich außerordentlich kooperativ.743
Angesichts der Tatsache, daß den Katholiken in dem von protestantischer Seite
vertretenen irisch-amerikanischen ‚Parallelitätsszenario‘ die Rolle der indianischen Ureinwohner zukam, war diese Orientierung wenig überraschend: Da die
katholische Bevölkerung von der Ascendancy keine Erleichterung zu erwarten
hatten, schlug sie sich halt auf die britische Seite – in der Hoffnung, daß im Gegenzug die Strafgesetze von Großbritannien zumindest teilweise abgeschafft wür-
740
Zitiert nach Tesch, Presbyterian Radicalism, S. 43. (meine Übersetzung)
Dickson, New Foundations, S. 144.
742
Ebd.
743
Im September 1775 präsentierte das Catholic Committee Lord Lieutenant Harcourt eine Loyalitätsadresse, in der es seine „Abscheu über die unnatürliche Rebellion“ zum Ausdruck brachte, „die
kürzlich unter einigen amerikanischen Subjekten seiner Majestät“ ausgebrochen sei und in unmißverständlichen Worten die uneingeschränkte Kooperation der katholischen Bevölkerung Irlands in
Aussicht stellte: „We humbly presume to lay at his [Majesty’s – MR] feet, two millions of loyal,
faithful, and affectionate hearts and hands, unarmed indeed, but zealous, ready and desirous to
exert themselves strenuously in defence of his Majesty’s most sacred person and Government.“
Zitiert nach O’Connell, Irish Politics, S. 33; vgl. auch Lecky, History of Ireland I, S. 165. Diesem
Angebot folgten durchaus Taten: Der katholische Adel setzte Rekrutierungsprämien für Katholiken aus, die sich von der britischen Armee oder Marine für den Kampf in den Kolonien anheuern
ließen. Vgl. Wall, Loyalty, S. 124. Katholisch beherrschte Städte wie Limerick oder Kilkenny
setzen ebenfalls Prämien für Dienstwillige aus. Vgl. Edwards, Impact, S. 135.
741
239
den. Protestantische Zeitgenossen in Irland betrachteten diese Entwicklung voller
Mißtrauen und Sorge. 1775 schrieb John Ridge aus Dublin an Edmund Burke:
„Die Römisch-Katholischen, die von ihren Mituntertanen anderer Konfession
keinen Gefallen, kein Pardon erhalten und die der Regierung für eine gewisse Milde in der Anwendung der Gesetze [d.h. der Strafgesetze – MR] gegen
sie zu Dank verpflichtet sind und die keine Freiheit besitzen ... sind bereit der
Regierung ihre bettlerische Zustimmung zu geben.“744
Wie wir aus den Notizen Lord Shelbournes wissen, hatte sich an dieser Situation
auch drei Jahre später noch nichts geändert:
„Ich finde alle Klassen dieses Königreichs [Irlands – MR] viel mehr über
Amerika in Unruhe versetzt als in England. Im Haus eines jeden Anglikaners
oder Presbyterianers ist der etablierte Trinkspruch ‚Erfolg für die Amerikaner!‘. Bei den Römisch-Katholischen dagegen redet man nicht nur, man agiert auch sehr offen auf der anderen Seite. In verschiedenen Gegenden sind
sie in Vereine eingetreten und haben großzügig gespendet, um Männer gegen
Amerika zu rekrutieren, wobei sie ihre Abneigung gegen eine Verfassung in
Amerika oder hier beschwören, an der zu partizipieren ihnen nicht gestattet
ist.“745
In dieser Situation war die katholische Loyalitätspolitik geradezu perfekt geeignet, um katholische Emanzipationsforderungen relativ risikolos verwirklichen zu
können. Einerseits konnte nämlich Großbritannien nicht allzu offensichtlich auf
die katholischen Offerten eingehen, weil dies den Widerstand in der protestantischen Bevölkerung weiter gesteigert hätte, so daß zu keinem Zeitpunkt zu befürchten stand, daß die Kolonialmacht Tausende irischer Katholiken im Unabhängigkeitskrieg ‚verheizen‘ würden. Andererseits war Großbritannien aber auch
nicht in der Position, die nachdrücklich vorgetragene katholische Kooperationsbereitschaft unbelohnt zu lassen und so die irischen Katholiken auch noch gegen
sich aufzubringen. Das Resultat dieser Politik – die Catholic Relief Acts von 1778
und 1782 – zeigt, wie die katholische Bevölkerung aus dieser britischen Zwangslage politisches Kapital zu schlagen verstand.
Während der katholische Adel und das katholische Bürgertum diese Politik bis in
die frühen 1790er Jahre unverändert beibehielten, erlahmte der AmerikaEnthusiasmus der protestantischen Bevölkerung rasch. Zum einen war hierfür der
Kriegseintritt Spaniens und Frankreichs – der katholischen ‚Erbfeinde‘ der AngloIren – auf Seiten der amerikanischen Kolonisten im Jahr 1778 verantwortlich,
denn damit war eine konfessionell imprägnierte Deutung der transatlantischen
744
745
Zitiert nach Edwards, ebd., S. 135. (meine Übersetzung)
Zitiert nach ebd. (meine Übersetzung)
240
Ereignisse zusehends schwieriger zu bewerkstelligen.746 Dazu kam, daß Frankreich Irland als britische Dependence auffaßte und daher mit einer Invasion bedrohte und die Aktivitäten von amerikanischen Korsaren und Schmugglern vor
den Küsten Nordirlands allmählich brenzlig wurden.747 Aber auch die politischen
Entwicklungen innerhalb Irlands sorgten dafür, daß die Amerikanische Revolution auf der irischen Politszene in den Hintergrund trat. Die Freihandelskontroverse
von 1779 und der unmittelbar daran anschließende Kampf um die legislative Unabhängigkeit des irischen Parlaments, der in „Grattan’s Revolution“ von 1782
mündete, fanden zwar vor dem Hintergrund und unter der latenten Drohung statt,
daß sich Irland für Großbritannien in ein Fiasko von amerikanischen Ausmaßen
verwandeln könnte, aber die primären Trägergruppen des pro-amerikanischen
Enthusiasmus Mitte der 1770er Jahre – allen voran die Volunteers und „Patrioten“
– waren vollauf mit der politischen Durchsetzung und Implementierung neudefinierter anglo-irischer Beziehungen beschäftigt.
Der Wahrnehmungswandel in Irland nach „Grattan’s Revolution“. Erst nachdem
die
Umsetzung
der
Reformpläne,
welche
die
Volunteer-
Nationalversammlung 1783 in Dublin verabschiedete, am Widerstand des Parlaments gescheitert waren, wurde die amerikanische Revolution in Irland politisch
für kurze Zeit wieder interessant. Der Gegensatz zwischen der neuen amerikanischen Republik mit ihrer schriftlich fixierten Verfassung, ihrer Religionsfreiheit
und ihrer Trennung zwischen Staat und Kirche und Irland, das lediglich über eine
legislative Unabhängigkeit verfügte, die aber das Grundproblem des korrupten
Kolonialmanagements nicht einmal im Ansatz löste, lud die enttäuschten Volunteers geradezu zu einer idealisierenden Identifikation mit den USA ein. Die erste
Dubliner Volunteerkompanie erklärte, mit den „glorreichen Brüdern der Volunteer-Bürger von Amerika“ eine unverbrüchliche Union bilden zu wollen. Die offene Frage, wie man den Einfluß der britischen Administration brechen wolle,
wurde im radikalen Volunteer Journal am 10.5.1784 unter Verweis auf die USA
746
Ebd., S. 142.
Maurer, Geschichte Irlands, S. 167; Edwards, ebd., S. 142; Lecky, History of Ireland I, S. 222;
über die Aktivitäten John Paul Jones, des schottischen Korsaren in amerikanischen Diensten, der
vor Belfast Lough im April 1778 die Drake kaperte, vgl. A.T.Q. Stewart, The Summer Soldiers:
The 1798 Rebellion in Antrim and Down, Belfast 1995, S. xif.
747
241
dahingehend beantwortet, daß man „durch Stärke, Hartnäckigkeit und Geschlossenheit (...) unsere Feinde besiegen werde, ohne einen Schlag zu führen.“748
Auch wenn diese erneute Identifikation mit der amerikanischen Revolution zeitlich gesehen nur ein kurzes Intermezzo darstellte, weil die Entrüstung der Volunteers über den Rückzieher der „Patrioten“ bald einer kompletten politischen Apathie wich, so ist sie dennoch von nicht zu unterschätzender Bedeutung, weil sich
hier eine neue Interpretation der Revolution in Irland abzeichnete, die bis zum
Jahrhundertende von Bedeutung sein sollte: Von einem als parallel wahrgenommenen Fall rückten die frischgebackenen USA nun einerseits zu einem nachahmenswerten politischem Modell und andererseits zu einem bis zum Mythos idealisierten Referenzpunkt politischer Hoffnungen in Irland auf.749
Ab 1789 wandte sich der Blick der irischen Presse allmählich von den USA ab,
traten die aktuellen Tagesereignisse in Frankreich in den Vordergrund. Aber
selbst wenn Frankreich nun die Hauptaufmerksamkeit regimekritischer und oppositioneller irischer Gruppierungen zuteil wurde, bedeutete das keineswegs, daß die
Amerikanische Revolution nun keinen wichtigen Bezugspunkt mehr für diesen
Personenkreis darstellte. Die Aktualität der Französischen Revolution überlagerte
die Amerikabegeisterung, sie substituierte sie nicht. Einen verläßlichen Indikator
hierfür bilden die Kataloge der Trinksprüche, die auf den Bastilletagfeiern, die
1791 von den Belfaster Volunteers und dem Northern Whig Club ausgerichtet
wurden, ausgebracht und in den nächsten Ausgaben oppositioneller Zeitungen
abgedruckt wurden.750 Wegen des Anlasses der Feiern war natürlich klar, daß
Toasts auf die revolutionären Entwicklungen in Frankreich im Vordergrund standen, aber weder die radikalen Belfaster Volunteerkompanien noch die sozial exklusiven und daher moderateren Reformer vom Northern Whig Club vergaßen,
Toasts auf George Washington, das Andenken Benjamin Franklins und die „freien
748
Zitiert nach McDowell, Irish Public Opinion, S. 114. (meine Übersetzung)
Smyth, Men, S. 84f.
750
Die Bedeutung, die diesem politischen Ritual beigemessen wurde, läßt sich schon daran erkennen, daß die Veranstalter solcher Feiern immer Sorge dafür trugen, daß die Toasts in der Presse
veröffentlicht wurden. Vollends deutlich wird die Bedeutung jedoch, wenn man sich vor Augen
führt, daß diese Trinksprüche von einem Komitee jeweils sorgfältig vorbereitet und nicht ad hoc
ausgebracht wurden – „as it is usual in similar circumstances to make some necessary arrangements, and to agree upon certain toasts appropriate to the occasion, and expressive of the principles of the assembly, and the object of commemoration“, wie es dazu erläuternd im Nor-thern
Star hieß. Vgl. NS, 14/4/1794. Im Dezember 1794 führte ein Streit über einen Toast auf Parlamentsreformen sogar zu eienr Spaltung des Katholischen Komitees, der die Friktionen zwischen
der moderaten Mehrheit und der radikalen Minderheit im Catholic Committee anzeigte. Vgl. ebd.
749
242
Staaten von Amerika“ auszubringen.751 Überraschenderweise sind selbst von katholischer Seite solche Trinksprüche belegt.752 Erst als die protestantischen Reformer und die katholischen Emanzipationisten über genügend eigene ‚Helden‘
und ‚Erfolge‘ verfügten, wurden Trinksprüche auf auswärtige Lichtgestalten der
Reformszene seltener, traten in der Reihenfolge der Toasts an das Ende der Liste
oder verschwanden ganz.753 Das zeigt, daß die USA lange Zeit eine Art kompensatorisch angelegter Stellvertreterrolle in der Wahrnehmung irischer Reformer
spielten, daß die Erfolge der amerikanischen Kolonisten gefeiert wurden, weil es
an irischen Reformimpulsen und
-erfolgen fehlte.
Fazit. Was war also – zusammenfassend gefragt – die Bedeutung der Amerikanischen Revolution und der Vereinigten Staaten für die irische Gesellschaft im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts? OWEN DUDLEY EDWARDS warnt zurecht davor,
den Einfluß der Amerikanischen Revolution in Irland zu hoch zu veranschlagen,
weil Europa als Orientierungspunkt wesentlich höher rangiert habe als die USA,
da es in Irland festere Kontakte nach Europa und größeres Wissen über europäi-
751
Zu politischen Orientierung des Northern Whig Club vgl. Curtin, United Irishmen, S. 42. Zu
den Feiern der Belfaster Volunteers und der Northern Whigs vgl. Dublin Evening Post aus der
zweiten Hälfte des Juli 1791. Auch die Reihenfolge der Toasts ist wichtig, um ihren relativen
Stellenwert ermessen zu können: In diesem Zusammenhang ist aufschlußreich, daß die Toasts auf
Amerika unmittelbar im Anschluß an die Toasts auf den Anlaß der Feierlichkeiten ausgebracht
wurden. Das bekräftigt noch einmal die große Bedeutung, die der Amerikanischen Revolution und
den USA im Weltbild der Reformkreise zugebilligt wurde. In Belfast wurden neben den Bildern
von Mirabeau und Dumouriez auch Konterfeis von Washington und Franklin öffentlich aufgestellt
und im März 1793 kam es zu Unruhen, weil Regierungstruppen versuchten, diese Bilder zu entfernen. Vgl. Lecky, History of Ireland 3, S. 194f.
752
Am Bastilletag 1792 reiste eine vierzehnköpfige Delegation des Katholischen Komitee nach
Belfast, um auf Einladung presbyterianischer Radikaler an den Feiern teilzunehmen. Dabei nahmen sie natürlich auch an dem Toast-Ritual teil. Vgl. The Proceedings of the General Committee
of the Catholics of Ireland, which sat in Dublin in the years 1792 and 1793, compared with the
proceedings of the Catholic Committee which sat in Dublin in the years 1810 and 1811, Dublin
1811, S. v. Bei einem Dinner der „führenden Katholiken Belfasts“ am 21.4.1791 wurden dieselben Toasts auf Washington, Franklin und die USA ausgebracht, die man bereits von den Volunteers und den Northern Whigs kannte. Vgl. NS, 18/4/1791.
753
Auf der Toastliste der „true friends of liberty“ aus Cork vom 30.3.1793 fehlt jeder Verweis auf
Franklin und der Trinkspruch auf Washington stand erst an 25. Stelle; auf der Toastliste des Katholischen Komitees für ein Dinner zu Ehren des Earl of Moira und des Duke of Leinster fehlt
jeder Verweis auf Amerika; dito auf einer Veranstaltung der unabhängigen Wähler von Antrim
vom 1.1.1794; dito auf einer Wahlfeier des unabhängigen Kandidaten in Co. Kerry im November
1794; dito auf einer Einwohnerversammlung in Belfast am 12.11.1794; auf der Toastliste für ein
Dinner, welches das katholische Komitee für die freigesprochenen Besitzer des Northern Star am
27.11.1794 ausrichtete, tauchte der Name Washington zwar wieder auf, aber erst an vorletzter
Stelle; auf einer Veranstaltung des Katholischen Komitees vom 12.12.1794 fehlt dagegen wieder
jeder Verweis auf Amerika – die Tendenz ist also eindeutig. Einzig bei den United Irishmen spielte Amerika den Toasts nach zu schließen 1793 noch eine große Rolle: Dort wurde auf die USA,
ihre ewige Freiheit und Unabhängigkeit sowie auf Washington getrunken. Vgl. NS, 17/4/1793,
21/8/1793, 24/8/1793, 2/1/1794, 27/11/1794.
243
sche als über amerikanische Zusammenhänge gegeben habe.754 Entscheidend ist
jedoch nicht, was irische Reformer über die USA wußten, sondern was sie subjektiv zu wissen glaubten. Daher birgt EDWARDS skeptisches Urteil, daß „die [Amerikanische – MR] Revolution einige Iren radikalisierte wie sie einige Amerikaner
radikalisierte“, deutlich zuviel Understatement: Die Amerikanische Revolution
verlieh einerseits der irischen Opposition bis 1783 einen beträchtlichen Zuwachs
politischen Handlungsspielraums gegenüber dem britischen Kolonialapparat, ohne
den weder die Catholic Relief Acts von 1778 und 1782 noch die Verwirklichung
der legislativen Autonomie Irlands möglich gewesen wären, und stellte andererseits ab 1782 – vor allem in irischen Reformkreisen, nicht dagegen in der breiten
Bevölkerung – einen zentralen Anknüpfungspunkt ungeheuer großer politischer
Hoffnungen dar. Gerade letzteres war von kaum zu unterschätzender Bedeutung
für die politische Entwicklung Irlands in den 1790er Jahren: Die Amerikanische
Revolution war nicht nur eine kulturelle Asservatenkammer, aus der irische Reformer und Radikale eine Menge politischer Argumente, Symbole und auch Idole
entlehnen konnten, sondern vor allem im Kontext der internationalen Aufklärungsbewegung ein geradezu providentielles Zeichen, daß Widerstand machbar
und die alte Ordnung nicht unbesiegbar war. Die Amerikanische Revolution ließ
sich als donnernden Startschuß für einen fundamentalen Wandel westlicher Gesellschaften interpretieren und gab insofern auch irischen Reformern Hoffnung
und Ansporn, denen die sie umgebenden gesellschaftlichen Zustände wenig Aussicht auf Besserung versprachen. Es ist kein Zufall, sondern direkt auf die Rezeption von Aufklärungsgedanken und die – wenn auch durch Vermittlung gebrochene und aufgrund politischer Wünsche idealisierte – Erfahrung der Amerikanischen
Revolution zurückzuführen, daß ausgerechnet die United Irishmen, die irische
Organisation mit dem nachdrücklichsten Reformwillen, ihre Gründungserklärung,
754
Edwards, Impact, S. 143. Diese These gewinnt an Glaubwürdigkeit, wenn man sich etwa die
Enttäuschung vor Auge hält, die aus einem Brief des frisch ins amerikanische Exil gegangenen
United Irishman Theobald Wolfe Tone an seinen Freund Thomas Russell in Belfast spricht: „Having now been a month in this Country and made many inquiries, I am a little more competent to
speak my opinion than when I wrote last. The result of my observation is a most unqualified dislike of the people. They, I mean those of Philadelphia, seem a selfish, churlish, unsocial race totally
absorbed in making money; a mongrel breed, half English, half Dutch, with the worst qualities of
both countries. The spirit of commerce has eaten up all other feeling, and the price of mercantile
wealth is, I promise you, little beneath the lofty pretensions of your Aristocracy.“ NAI 620/16/3/3
Tone an Russell (Philadelphia 1/9/95). Tone hatte sich ganz offensichtlich etwas anderes unter den
‚freien Staaten von Amerika‘ vorgestellt.
244
in der sie ihre politischen Ziele festlegten und der Öffentlichkeit vorstellten, mit
der folgenden Präambel begannen:
„In der jetzigen großartigen Reformära, in der ungerechte Regierungen in allen Teilen Europas fallen, in der religiöse Verfolgung gezwungen ist, ihrer
Tyrannei über das Gewissen abzuschwören, in der die Menschenrechte
(Rights of Men) in der Theorie bekräftigt und diese Theorie durch die Praxis
erhärtet wird, in der die alte Zeit nicht länger absurde und unterdrückende
Formen gegen den gesunden Menschenverstand (Common Sense) und die
gemeinsamen Interessen der Menschheit verteidigen kann, in der alle Regierungen anerkennen, daß sie vom Volk ausgehen, und nur insofern verpflichtend sind als sie dessen Rechte schützen und sein Wohlergehen fördern –
halten wir es für unsere Pflicht hervorzutreten und zu sagen, was wir als unsere schwere Bedrückung empfinden und was wir für die effektivste Heilung
halten.“755
Dieser Text bietet in der Tat ein schönes Beispiel für typisch irische Aufklärungsrhetorik, die durch wenig Originalität, aber dafür um so mehr durch deutlich erkennbare Anleihen bei den Klassikern der Aufklärung (in diesem Fall: John Locke vermittelt über William Molyneux und Thomas Paine) glänzt. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Bedeutung der Amerikanischen Revolution für Irland
ist jedoch viel aussagekräftiger, daß solch ein selbstbewußtes Auftreten nur durch
absolute politische Gewißheit erklärlich ist, daß die United Irishmen ihre Erklärung im Brustton der Überzeugung abfaßten, weil sie sich sicher waren, daß gesellschaftlicher Wandel unabdingbar war. Eine der Quellen für diese politische
Gewißheit war die Amerikanische Revolution und das ist – bezogen auf die
1790er Jahre – sicherlich die Quintessenz des Einflusses der Amerikanischen Revolution auf Irland.
3. Irland und Frankreich
Im Vergleich zur Amerikanischen Revolution polarisierte das andere Großereignis des späten 18. Jahrhunderts – die Französische Revolution von 1789 – die
irische Gesellschaft in einem viel höheren Ausmaß. Hatte die Amerikanische Revolution bei der protestantischen Bevölkerung zu lediglich unterschiedlich ausgeprägten Sympathieäußerungen geführt, denen sich die politische und soziale Elite
der katholischen Bevölkerung primär aus einem strategischen Kalkül heraus
(nicht notwendigerweise aus Mangel an Sympathie) verschloß, so schieden sich
an der Französischen Revolution grundsätzlich die Geister. Der Grund dafür ist
755
NAI 620/18/14/139
245
nicht allein im kataklysmatischen Revolutionsverlauf ab Ende 1792 – dem Ausbruch des ersten Koalitionskriegs, der Absetzung und Hinrichtung Ludwigs XVI.
sowie der nachfolgenden Terreur – zu suchen. Zumindest ebenso bedeutungsvoll
für die gesellschaftlich polarisierende Wirkung der Französischen Revolution in
Irland waren vorrevolutionäre Wahrnehmungen der irischen Bevölkerung von
Frankreich. Daher stießen das Epochenjahr 1789 und die Wirren von 1793 und
1794 in Irland auf präexistente frankophile und frankophobe Orientierungen und
Präferenzen der Bevölkerung, die sie lediglich verstärkten, während nur das numerisch relativ kleine, politisch radikale Bevölkerungssegment durch die Französische Revolution einen Impuls erhielt, der in die Entstehung neuer politischer
Positionen resultierte.
Die Ausgangslage: Vorrevolutionäre irische Wahrnehmungen von Frankreich. Zu Frankreich – Irlands nächstgelegenem Nachbarn auf dem europäischen
Festland – bestanden vielfältige religiöse, familiäre, intellektuelle, wirtschaftliche
und nicht zuletzt auch politische Beziehungen,756 die angesichts des langen
Schlagschattens, den das britische Empire über Irland warf, aus deutscher Sicht
nur zu leicht übersehen werden. Stellten für die anglo-irischen Anglikaner England und für die schottisch-irischen Presbyterianer in etwa gleichberechtigt
Schottland und die USA die primären äußeren Bezugspunkte dar, so spielte
Frankreich diese Rolle in Bezug auf die irischen Katholiken. Wie bereits verschiedentlich erwähnt repräsentierte Frankreich in ihren Augen nicht nur ein sicheres Refugium vor protestantischer Verfolgung, sondern – gerade in den jakobitisch imprägnierten katholischen Unterschichten – eine millenaristisch angehauchte Verheißung der Erlösung vom britischen Joch. Schließlich hatte Jakob
Stuart nach seiner Niederlage an der Boyne 1691 dort die politische Unterstützung Ludwigs XIV. und einen sicheren Zufluchtsort, hatten seine Anhänger, die
legendären ‚wild geese‘, in den irischen Brigaden der französischen Armee ein
neues Betätigungsfeld gefunden. Nach Frankreich schickten katholische Adelige
und Bürger ihre Söhne, um ihnen die akademische Ausbildung zuteil werden zu
lassen, die ihnen in Irland verweigert wurde. In Frankreich wurde auch das Gros
756
R.B. McDowell, The Age of the United Irishmen: Reform and Reaction, 1789-94, in: Moody/Vaughan, History of Ireland 4, S. 289-373, S. 289. (Bemerkung zur Zitierweise: Zur Unterscheidung von einem weiteren Kapitel R.B. MCDowells in Moodys und Vaughans ,New History
of Ireland‘, dessen Titel ebenfalls mit den Worten „Age of the United Irishmen“ beginnt, aber den
Zeitraum von 1794-1800 behandelt wird dieses Kapitel nachfolgend als „Age I“ zitiert.)
246
der katholischen Priester ausgebildet, die in Irland ihr geistliches Amt ausübten,
weil die Strafgesetze die Einrichtung katholischer Priesterseminare untersagten.757
Daß überdies irische Exilanten, die sich als Kaufleute in den französischen Atlantikhafenstädten niedergelassen hatten, ausgiebig mit ihren katholischen Glaubensbrüdern aus Limerick, Cork und Waterford Handel trieben, paßt ebenso ins Bild
wie die Tatsache, daß selbst irisch-katholische Schmuggler aus dem Süden Irlands
meist über exzellente Kontakte nach Frankreich verfügten. Mit einem Wort: Die
Frankophilie des katholischen Teils der irischen Bevölkerung stellte ein unbestreitbares Faktum dar.
Ganz anders dagegen positionierte sich die protestantische Bevölkerung Irlands. Gerade weil so enge Kontakte zwischen den irischen Katholiken und dem
gleichkonfessionellen Frankreich bestanden, stufte die protestantische Bevölkerung Frankreich insgesamt als bedrohlich ein: Eine katholische Restauration, die
mit französischer Hilfe herbeigeführt werden konnte, stellte schließlich nicht nur
die Grundfesten der kolonialen Gesellschaftsordnung Irlands, sondern darüber
hinaus essentiell auch das Leben und den Besitz der Protestanten auf irischem
Boden in Frage. Gleichwohl besteht weiterer Differenzierungsbedarf, denn in der
protestantischen Bevölkerung gab es – jenseits der allgemein geteilten Furcht vor
einer französisch-irisch-katholischen ‚Verschwörung‘ – durchaus unterschiedliche
Motive für Frankophobie, die zudem auch nicht überall gleich stark ausgeprägt
war.758 Zum Verständnis der sehr unterschiedlichen Reaktionen der protestantischen Bevölkerung auf die Französische Revolution ist es daher notwendig, diese
unterschiedlichen Motivlagen und die Variationsbreite der Frankophobie in den
einzelnen sozialen und konfessionellen Untergruppen der protestantischen Bevölkerung zumindest grob zu kartographieren. Am stärksten ausgeprägt war die
Frankophobie sicherlich in der Ascendancy, die bei einem katholischen Roll-back
am meisten zu verlieren hatte: Sie „haßte die Franzosen als potentielle Förderer
einer katholischen Rebellion in Irland.“759 In zweiter Linie gehörte die Frankophobie aber auch aufgrund der Muster kolonialen Kulturtransfers zur mentalen
757
Auf dem Festland gab es nicht weniger als 30 irische Priesterseminare zwischen Lissabon und
Prag. Von den 600 Theologiestudenten, die jeweils in diesen Seminaren ausgebildet wurden, wurde die Hälfte in Frankreich und ein Drittel in Paris ausgebildet. Vgl. L. Swords, The Green Cockade, The Irish in the French Revolution, 1789-1815, Dublin 1989, S. 16.
758
Grundlegend hierzu G. O'Brien, Francophobia in Later Eighteenth-Century Irish History, in:
Gough/Dickson, Ireland, S. 40-51.
759
Vgl. ebd., S. 42.
247
Grundausstattung der Ascendancy: Die englischen Kolonisten, die Ende des 17.
Jahrhunderts nach Irland kamen, trugen den Haß auf die Franzosen – einen englischen Haß wohlgemerkt! – bereits im Marschgepäck.760 Zwischen der englischen
und die anglo-irischen Frankophobie eröffnete sich jedoch im Verlauf des 18.
Jahrhunderts eine signifikante Divergenz: In Großbritannien verlor sie zumindest
vorübergehend an Virulenz, weil Frankreich nach dem Scheitern des jakobitischen Aufstandes von 1745 im Inneren Großbritanniens keinen Angriffspunkt
mehr besaß – die Jakobiten waren vernichtend geschlagen und die englischen Katholiken stellten bloß eine insignifikante Minderheit dar – und weil nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) auch die äußere Bedrohung durch
Frankreich nachließ. Wie GERARD O’BRIEN bemerkt wurde „die Frankophobie in
England als Schatten eines verblassenden religiösen Konflikts umdefiniert.“761
Diese Entwicklung vollzogen die anglo-irischen Kolonisten jedoch nicht mit:
Wegen der inneririschen Situation (vor allem wegen der numerischen Überlegenheit der katholischen Bevölkerung) blieb die Furcht vor katholischen Aufständen
weiterhin bestehen und die Frankophobie daher unverändert virulent. Während
also die englische Abneigung gegenüber Frankreich sich unter den wandelnden
Umständen des 18. Jahrhunderts modifizierte, blieb die anglo-irische Frankophobie nach wie vor in den konfessionellen Denkstrukturen des 17. Jahrhunderts gefangen und erwies sich auch dem aufgeklärten Katholizismus und der konsistent
vorgetragenen katholischen Loyalitätspolitik gegenüber dem irischen Staat ab den
späten 1740er Jahren als ausgesprochen resistent.762
Die presbyterianische Abneigung gegenüber Frankreich war weniger durch pragmatische Machtinteressen als vielmehr durch politisch-ideologische Prinzipien
und historische Erinnerungen geprägt, die – in für die irischen Presbyterianer typischer Weise – in ein konfessionelles Gewand gekleidet wurden. Wenn man sich
die bereits bekannten radikalen politischen und konfessionellen Positionen in der
presbyterianischen Bevölkerung vergegenwärtigt, dann fällt es nicht schwer, ihre
spezifischen Vorbehalte gegenüber Frankreich zu verstehen. Eingedenk der Tat760
Diese englische Abneigung gegenüber den französischen Erbfeinden hat Derek Jarrett sehr
plastisch auf den Punkt gebracht: „Before the English learn that there is a God to be worshipped,
they learn that there are Frenchmen to be detested.“ Vgl. D. Jarrett, The Begetters of Revolution:
England’s Involvement with France, 1759-1789, London 1973, S. 18. Zum englisch-französischen
Verhältnis vgl. auch J. Black, Natural and Necessary Enemies: Anglo-French Relations in the 18th
Century, London 1986.
761
O’Brien, Francophobia, S. 41.
248
sache, daß z.B. die radikalen Covenanters nicht einmal das Resultat der ‚Glorreichen Revolution‘ in Großbritannien anerkennen wollten, weil dadurch die episkopale Struktur der anglikanischen Staatskirche festgeschrieben worden war,763 überrascht es nicht, daß sie der engen Verbindung zwischen dem französischen
Staat und der katholischen Kirche nach dem von Ludwig XIV. vertretenen Motto
„Ein König, ein Glaube, ein Gesetz“ nichts abgewinnen konnten. Katholiken waren den Presbyterianern per se verdächtig, galten sie ihnen doch als obrigkeitshörig, ignorant und bigott und insofern summarisch als incapaces libertatis.764 Jenseits dieser generellen Ablehnung des Katholizismus spielte aber auch die katholische Tradition der Verfolgung von Abweichlern und Andersgläubigen eine wichtige Rolle in der presbyterianischen Wahrnehmung von Frankreich: Die Hugenottenverfolgungen des 16. und 17. Jahrhunderts und die Aufhebung des Edikts von
Nantes durch das Revolutionsedikt von Fontainebleau (22.10.1685), dem weitere
Verfolgungsmaßnahmen folgten, die eine massive hugenottische Auswanderungswelle (unter anderem auch nach Irland) in Gang setzten, gaben der Frankophobie der Dissenter zusätzlich Nahrung. Durch die hugenottischen Flüchtlinge,
die sich mehrheitlich in Dublin, aber auch in Cork, Waterford und vor allen Dingen in Lisburn – also mitten im Siedlungsgebiet der Dissenter in Ulster – niederließen,765 waren sie aus erster Hand über die Verfolgung ihrer calvinistischen
Glaubensbrüder durch den französischen Staat (von den berüchtigten Dragonnades bis zu Bibelverbrennungen und Hinrichtungen auf dem Scheiterhaufen) bestens orientiert. Der dritte Ansatzpunkt für presbyterianische Frankophobie bestand
in der absolutistischen Herrschaftsform des französischen Staates. Wie bereits
geschildert setzten sich die Dissenter hartnäckig gegen jeden staatlichen Eingriff
in die individuelle Religionsfreiheit zur Wehr und machten dabei auch vor der
Monarchie nicht Halt. Vor diesem Hintergrund konnte der französische Absolutismus nur als eine Inkarnation der Willkürherrschaft erscheinen. Gemildert hätte
dieser Eindruck lediglich dadurch werden können, daß Frankreich ein, vielleicht
sogar das wichtigste Zentrum der Aufklärung war. Dazu kam es wegen der bekannten engen kulturellen Beziehungen zwischen Schottland und Ulster jedoch
762
Ebd., S. 42f.
Tesch, Radicalism, S. 40. Ähnliches gilt aber auch für die Seceders. Vgl. ebd., S. 39.
764
K. Whelan, United and Disunited Irishmen, The State and Sectarianism in the 1790s, in: ders.,
Tree, S. 99-130, S. 100.
765
Vgl. Simms, Protestant Ascendancy, S. 26.
763
249
nicht: Die Dissenter rezipierten die Aufklärung via Schottland. Kurz und pointiert: Das katholische, absolutistische Frankreich stellte in den Augen der Dissenter ein ‚Reich des Bösen‘ von geradezu babylonischem Ausmaß dar. Das hilft
auch zu verstehen, warum sich ausgerechnet in Belfast, also im Herzen des presbyterianischen Siedlungsgebiets, 1778 die ersten Volunteerkompanien zur Verteidigung gegen eine potentielle französische Invasion zusammenfanden.
Der Wendepunkt von 1789: Irische Reaktionen. Die Französische Revolution
schlug auch in Irland ein wie eine Bombe. Keiner der zeitgenössischen Beobachter und Akteure konnte sich den revolutionären Ereignissen in Frankreich entziehen, jeder mußte sich auf die eine oder andere Art dazu positionieren. Wie Wolfe
Tone aus der Retrospektive treffend bemerkte: „Die Französische Revolution
wurde zum Test für die politische Überzeugung eines jeden (...)“766 Selbst Edmund Burke, der sich kurz darauf als dezidierter Revolutionsgegner entpuppte,
konnte sich dem Zeitgeist nicht entziehen: „Unsere Gedanken an alles was sich
Zuhause ereignet sind ausgesetzt durch unser Erstaunen über das wundervolle
Spektakel, das in einem benachbarten und rivalisierenden Land aufgeführt wird –
was für Zuschauer und was für Schauspieler!“767 Unter dem Eindruck der Revolution kam es partiell durchaus zu politischen Konversionen, vor allem aber verursachte die Französische Revolution in Irland eine zunehmende Polarisierung der
Gesellschaft und Verhärtung der politischen Fronten.768 Beides – Konversionen
und Polarisierungen – sind analog auch in Hinsicht auf die irische Wahrnehmungen von Frankreich feststellbar.
Die Reaktion der Ascendancy. Solange sie sich noch damit beruhigen konnte,
daß die Ereignisse in Frankreich nichts weiter darstellten als die um 100 Jahre
verspätete ‚gallische‘ Version der „Glorreichen Revolution“, verhielt sich die Ascendancy abwartend. Sobald aber absehbar wurde, daß es den französischen Revolutionären nicht bloß um konstitutionelle Reformen, sondern um die Abschaffung der Monarchie und die Ausrufung einer Republik ging, verwandelte sich die
Position der Ascendancy von beobachtender Anteilnahme in entsetzte Abwehr.
Denn nun hatte Frankreich in der Wahrnehmung der anglo-irischen Kolonialelite
eine neue Bedrohungsqualität angenommen: Zusätzlich zur Gefahr einer franzö766
Bartlett, Life, S. 38. (meine Übersetzung)
Zitiert nach McDowell, Age I, S. 289. (meine Übersetzung)
768
So auch die Wahrnehmung Wolfe Tones, der von der Entstehung einer „aristokratischen“ und
einer „demokratischen Partei“ berichtet. Vgl. Bartlett, Life, S. 38.
767
250
sisch-irisch-katholischen Kooperation bestand nun auch die Gefahr der Zusammenarbeit zwischen französischen Revolutionären und ‚umstürzlerischen Elementen‘ im benachbarten Ausland wie z.B. in Irland.769 Entsprechend groß war der
Beifall, den Edmund Burkes vernichtende Kritik an der Französischen Revolution, die Anfang November 1790 unter dem Titel „Reflections on the Revolution in
France“ erschien, von der alarmierten Ascendancy erhielt. Sofort begann die Kolonialelite damit den Text, der ihre Ansichten so brillant in Worte goß, in der irischen Gesellschaft zu verbreiten und den illustren Autoren zu ehren: Bereits am 9.
November begann das dem Castle gefügige Freeman’s Journal damit, die Reflections abzudrucken, und ehe noch der Monat um war, war in den Dubliner Buchläden eine irische Edition des Werkes zu haben. Burke selbst erhielt von seiner irischen Alma mater, dem Trinity College, das einen integralen Bestandteil des Ascendancy-Establishments bildete, die Ehrendoktorwürde verliehen.770 Burke, der
in der Französischen Revolution eine Mischung aus „Verbrechen, Sittenlosigkeit,
Chaos, Narretei und Wahnsinn“ erblickte, benutzte die Gelegenheit zu einem Plädoyer für die katholische Emanzipation, einem lange verfolgten Wunschprojekt:
Um der revolutionären Ansteckungsgefahr zu widerstehen, so argumentierte er,
müsse man alle gesellschaftlichen Kräfte sammeln, die an der Aufrechterhaltung
der gesellschaftlichen Ordnung interessiert seien – und dazu zählte er explizit die
Reste des katholischen Adels und das neue katholische Bürgertum, die aufgrund
ihrer „religiösen Prinzipien, ihrer Kirchenpolitik und ihrer habituellen Disziplin“
gewissermaßen ‚natürliche Konservative‘ darstellten.771 Diesem Teil der Burke’schen Argumentation schloß sich die Ascendancy natürlich nicht an.
Die Reaktion der Katholiken war wesentlich komplexer, weil dieser Teil der
Bevölkerung der kulturell und sozial heterogenste war. Es ist zweifelhaft, ob die
katholischen Unterschichten auf dem Lande überhaupt die Signifikanz der Französischen Revolution vollständig erfaßten – zumindest suggerieren das die spärlichen Quellen über die katholischen Defenders, also den noch am ehesten politi769
‚Benachbartes Ausland‘ mag auf den ersten Blick ein wenig übertrieben klingen, aber man muß
sich vor Augen halten, daß zwischen Brest und Cork nur knapp 500 km Wasserfläche liegen, also
in etwa die Strecke Kiel-Frankfurt. Auch bei den Transportbedingungen des 18. Jahrhunderts war
das keinesfalls unmöglich und die französischen Invasionsversuche in Bantry Bay, Killala Bay
und am Lough Swilly belegen das eindeutig.
770
Zur Verleihung der Ehrendoktorwürde und den irischen Veröffentlichungen der Reflections
vgl. McDowell, Age I, S. 290 u. Anm. 1, ebd. Zur Rolle des Trinity College im anglo-irischen
Establishment vgl. Foster, Modern Ireland, S: 124f.
251
sierten Teil der katholischen Landbevölkerung.772 Es ist auf jeden Fall bezeichnend, daß an verschiedenen Orten die katholische Landbevölkerung – nach jahrelanger, großflächiger Propagandaarbeit der United Irishmen – die Franzosen immer noch nur als katholische Glaubensbrüder (also nach traditionell jakobitischer
Manier) wahrnahmen. Die Tagebuchnotiz eines französischen Offiziers, der an
General Humberts Irlandkampagne teilnahm, spricht Bände:
„die Mehrzahl kannte die Franzosen nicht einmal dem Namen nach... Diese
unglücklichen Insulaner waren deshalb aber nicht weniger begeistert von der
Freiheit ... sie betrachten uns als ihre geborenen Befreier und Beschützer ihrer Religion, die katholisch ist.“773
Das war nicht die einzige Überraschung, welche die Franzosen im Kontakt mit
der irischen Landbevölkerung erlebten, die ihnen von den Emissären der United
Irishmen (wie Wolfe Tone und Arthur O’Connor) aus taktischen Gründen immer
in den glühendsten Farben als durch und durch revolutionär und politisch aufgeklärt geschildert worden war. Als Humberts Truppen 1798 in Killala Bay landeten
und in der kleinen Hafenstadt gleichen Namens einzogen, standen die Bauern in
ihren zerrissenen Kitteln am Straßenrand, hielten in ihren Händen Rosenkränze,
berührten die Uniformen der Offiziere ehrfurchtsvoll mit ihren Fingern (so wie
gläubige Katholiken auch heute noch Reliquare berühren oder küssen) und erklärten die Franzosen zu ‚Erlösern‘, die gekommen seien „um die Waffen für Frankreich und die gesegnete Jungfrau“ zu ergreifen.774 Kurzum: Humbert wurde begrüßt, als ob er ein Nachfahre der Stuarts775 oder ein Heiliger sei und nicht ein
typisches Produkt der Revolution – ein Bauernsohn aus den Vogesen, der sich
unter Hoche in der Vendée durch ungewöhnliche Waghalsigkeit ausgezeichnet
771
Vgl. R.B. McDowell, Burke and Ireland, in: Dickson, United Irishmen, S. 102-114, S. 108,
Zitate ebd. (meine Übersetzung)
772
Vgl. Elliott, Ireland, S. 79. Elliott belegt, daß die Defenders zwar Versatzstücke aus der französischen Revolutionsrhetorik übernahmen, zugleich wird aber auch deutlich, daß diese Entlehnungen mit einer merkwürden katholischen Firnis versehen wurden, wenn etwa – wie in einem der
Defenderkatechismen – die Franzosen als ihresgleichen, als French Defenders, bezeichnen. Vgl.
ebd. Ähnlich skeptisch äußert sich auch Tom Dunne, der den Defenders zwar (wie der ,popular
culture‘ überhaupt) ein recht hohes Ausmaß politischen Bewußtseins attestiert, andererseits aber
darauf verweist, daß revolutionäre Metaphern lediglich einen neuen Anstrich für traditionell, jakobitische Ideen darstellten und daß sich die traditionelle Semantik im Regelfall sehr rasch gegenüber der revolutionären durchsetzte. Vgl. T. Dunne, Popular Ballads, Revolutionary Rhetoric and
Politicisation, in: Gough/Dickson, Ireland, S. 139-155, S. 146. Ähnlich auch bei Smyth, Men, S.
113, 115.
773
Zitiert nach M. Elliott, The Origins and Transformation of Early Irish Republicanism, in: IRSH
23 (1978), S. 405-428, S. 419. (meine Übersetzung)
774
Elliott, Partners, S. 224.
775
Vgl. Elliots Bemerkungen über das kulturell tief in der katholischen Landbevölkerung verankerte mittelalterliche Königskonzept. Elliott, Ireland, S. 81 und Anm. 32, ebd.
252
hatte und es so trotz mangelnder Bildung zum Brigadegeneral gebracht hatte.776
Diese Reaktion der katholischen Landbevölkerung war vermutlich authentischer
als die exzentrische Mischung aus traditionalen und revolutionären Versatzstücken, die in den Defenderkatechismen in Erscheinung treten, denn hier ist nie
ganz auszuschließen, daß die Formulierungshilfen kleinbürgerlicher Vermittler
die Aussage der Quellen verzerrten.777 Insgesamt muß man daher davon ausgehen, daß sich an der traditionellen Frankreichwahrnehmung der katholischen
Landbevölkerung als dem mythischen Land, aus dem die jakobitischen Erlöser
vom englischen Joch kommen würden, durch die Französische Revolution wenig
änderte.
Anders dagegen lagen die Dinge im katholischen Bürgertum, Adel und Klerus.
Der katholische Adel und der Klerus reagierten entsprechend ihrer sozialen
Lage – mit anfänglicher Zurückhaltung und zunehmender Distanzierung. Die im
Juni 1790 in Frankreich verabschiedete Zivilverfassung des Klerus, die praktisch
einer Enteignung gleichkam,778 bildete für den katholischen Klerus in Irland den
Rubikon,779 die katholischen Adeligen erreichten ihn – wie ihre anglo-irischen
Standesgenossen – spätens zwischen September 1792 und Januar 1793, also zwischen der Ausrufung der Republik und der Hinrichtung Louis Capets. Die äußerlich sichtbare Folgen der Distanzierung des katholischen Adels und Klerus richteten sich jedoch nicht gegen Frankreich, sondern gegen die radikalemanzipatorische Fraktion im Katholischen Komitee. Diese nahmen nämlich die
Französische Revolution und die damit einhergehende Entspannung antikatholischer Vorurteile in presbyterianischen Kreisen zum Anlaß, um mit den
Radikalen aus Ulstern eine Allianz zu schmieden und die vollständige Beseitigung der Strafgesetze und Gleichstellung der Katholiken zu fordern.780 Die kon-
776
M. Elliott, The Role of Ireland in French War Strategy, 1796-1798, in: Gough/Dickson, Ireland, S. 202-219, S. 204f.
777
Dunne, Ballads, S. 146f.
778
Zur Zivilverfassung des Klerus vgl. den entsprechenden Artikel von Francois Furet in: F. Furet
u. M. Ozouf, Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, Bd. 2 (Institutionen und Neuerungen, Ideen, Deutungen und Darstellungen), Frankfurt/M. 1988, S. 944-955.
779
Grundlegend dazu: D. Keogh, The French Disease: The Catholic Church and Radicalism in
Ireland, 1790-1800, Blackrock 1993, S. 29-33; vgl. auch ders., Archbishop Troy, the Catholic
Church and Irish Radicalism, 1791-3, in: Dickson, United Irishmen, S. 124-134, S. 125.
780
E. O'Flaherty, Irish Catholics and the French Revolution, in: Gough/Dickson (Hgg.), Ireland
and the French Revolution, Dublin 1990, S. 52-67, S. 59f.; Wall, Keogh, S. 165f. Vgl. hierzu auch
die entsprechenden Pamphlete von Wolfe Tone und Theobald McKenna (dem Verfasser der
Gründungserklärung für die Catholic Society). T. Wolfe Tone, („A Northern Whig“), An Argument on Behalf of the Catholics of Ireland, In Which the Present Political State of That Country,
253
servative katholische Oberschicht aus Klerus und Adel war über diese Entwicklung zutiefst besorgt und machten dafür den verderblichen Einfluß der Französischen Revolution verantwortlich. Dr. Caulfield, der Bischof von Ferns, erklärte in
einem internen Schreiben an den Erzbischof von Dublin, Dr. Troy: „Der teuflische Geist der Jakobiner wird uns alle ruinieren.“ Der Widerstand, den die katholische Elite im Catholic Committee (CC) gegen die Radikalen geltend zu machen
versuchte, resultierte in ihrer vollständigen Isolation: Im Dezember 1791 wurde
Lord Kenmare, der Kopf der Adels- und Klerusfraktion im CC, formell aus dem
Komitee ausgeschlossen, weil er im Alleingang versucht hatte, mit Dublin Castle
zu verhandeln,. Aus Solidarität und im Bewußtsein, daß sie gegen die radikalen
Mittelstandskatholiken unter der Führung John Keoghs, Thomas Braughalls und
Theobald McKennas ohnehin nichts mehr ausrichten konnten, verließ daraufhin
die ganze alte Garde der katholischen Aristokraten und Kleriker das CC.781 Insbesondere die Bischöfe unter Führung Troys mobilisierten – auch auf Anweisung
des Vatikans!782 – anschließend alle Kräfte, um die Verbreitung radikalen Gedankenguts in der katholischen Bevölkerung zu verhindern, stieß dabei aber auf Widerstand und taube Ohren.783 Erzbischof Troy war schließlich zum Einlenken gezwungen, weil seine Schäfchen (die Mittelstandskatholiken) ihm in Scharen davonliefen.784 Die Ereignisse von 1791/92 indizieren eine deutliche Polarisierung
innerhalb der inoffiziellen politischen Vertretung der irischen Katholiken, die
zwar nicht durch die Französische Revolution direkt herbeigeführt wurde, aber
dennoch ursächlich damit zusammenhing. Es gibt zwei Indikatoren dafür: Erstens
der Umstand, daß die Konflikte im CC, die bereits seit Anfang der 1780er Jahre
latent bestanden, erst 1791/92 offen ausbrachen, und zweitens die Tatsache, daß
das CC seit 1784 im Prinzip vollständig inaktiv gewesen war und nun scheinbar
plötzlich zu einem neuen Anlauf ansetzte, die katholische Emanzipation zu erwirken – und das mit ungewöhnlich massivem Auftreten, denn nun forderte das CC
and the Necessity of a Parliamentary Reform are Considered, Addressed to the People, and More
Particularly to the Protestants of Ireland, Dublin 1791; T. McKenna, Declaration of the Catholic
Society of Dublin, Dublin 1791 (fortan zitiert als DecCS).
781
Wall, Keogh, S. 166f.; Keogh, Archbishop Troy, S. 126.
782
Kardinal Antonelli ermahnte Troy im Dezember 1791 aus Rom, er möge dafür sorgen, daß der
Gehorsam der Katholiken gegenüber der Regierung auf jeden Fall gewahrt werde. Dummerweise
konnte Troy den Einfluß, der dazu nötig gewsen wäre, gar nicht mehr aufbringen. Vgl.
O’Flaherty, Irish Catholics, S. 61; Keogh, ebd., S. 126.
783
Zu den Gegenmaßnahmen der Bischöfe vgl. die ausführliche Darstellung bei Keogh, French
Disease, S. 38-43.
784
Keogh, Archbishop Troy, S. 127f.; Bartlett, Fall, S. 148f.
254
das prinzipielle Recht der Katholiken auf Gleichstellung ein, statt wie bisher unter
Verweis auf ihr Wohlverhalten um Zugeständnisse vom Staat zu bitten.785 Diese
Vorgänge sind nur zu erklären, wenn man sich den Reaktionen der radikaleren
Mittelstandskatholiken und der protestantischen Reformer und Radikalen auf die
Französische Revolution zuwendet.
Die bürgerlichen Emanzipationisten im CC reagierten auf den Ausbruch der
Französischen Revolution, indem sie eine zweigleisige Politik verfolgten. Auf der
einen Seite nutzten sie den Handlungsspielraum, den ihnen Burke mit seinen Reflections eröffnet hatte, indem sie in ihrer neuen Kampagne zur Abschaffung der
Strafgesetze auf sein Argument abhoben, daß man die Katholiken von den Strafgesetzen befreien müsse, um zu verhindern, daß sie sich den radikalen Elementen
anschlossen. Genial war Keoghs Schachzug, sich dafür der Unterstützung keines
Geringeren als Edmund Burke selbst zu versichern, indem dessen Sohn, Richard
Burke, vom CC zum Londoner Agenten berufen wurde. Dieser Schritt sicherte
dem CC den Zugang zu Burke senior, dessen Reputation wegen der Veröffentlichung der Reflections im Zenit stand, und über Burke zu einflußreichen Mitgliedern des britischen Kabinetts wie namentlich dem britischen Innenminister Henry
Dundas, dessen Portefeuille auch für irische Angelegenheiten zuständig war.786
Um ihrem Anliegen mehr Nachdruck zu verleihen, warnte Burke davor, daß es zu
einer Allianz zwischen den Katholiken und den Presbyterianern kommen könnte.787 Parallel dazu organisierte das CC eine katholische Nationalversammlung in
785
Vgl. DecCS, S. 81: „We desire only that property in our hands may have ist natural weight, and
merit in our children its rational encouragement. We have sworn allegiance to our sovereign, and
the very evils we complain of prove how inviolabe is our attachment to such obligations. We
respect the peeragae, the ornament of the state, and bulwark of the people; interposing, as we hope
the Irish Catholics will experience, mediatory good offices between authority and the objects of it.
We solicit a share of interest in the existence of the commons. Do you require an additional test?
We offer one more unequivocal than a volume of abjurations. We hope to be free, and will endeavour to be united. Do ysou require new proofs of sincerity? We stood by you in the exigencies of
our country. We extend our hands, the pledge of cordiality. Who is he that calls himself the friend
to IRELAND, and will refuse us?“ (Hervorhebungen im Orignal – MR) Da es sich bei der Catholic
Society um eine Abspaltung radikaler Katholiken vom Catholic Committee handelte, sind ihre
Ansichten für die radikalen Emanzipationisten durchaus repräsentativ.
786
O’Flaherty, Irish Catholics, S. 58f.; Wall, Keogh, S. 166.
787
Vgl. Wall, ebd., S. 166. Gleichwohl verwendete Burke das Argument auch gegenüber irischen
Parlamentariern. Vgl. Burke, Letter to Langrishe, S. 267: „Suppose the people of Ireland divided
into three parts; of these (I speak within compass) two are Catholic. Of the remaining third onehalf is composed of Dissenters. There is no natural union between those descriptions. It may be
produced. If the two parts of Catholics be driven into close confederacy with half the third part of
Protestants, with a view to a change in the constitution in Church or State, or both, and you rest
the whole of their security on a handful of gentlemen, clergy, and their dependants; compute the
strength you have in Ireland to oppose to grounded discontent, to capricious innovation, to blind
popular fury, and to ambitious turbulent intrigue.“
255
Dublin, auf der die Delegierten die Forderung nach vollständiger Beseitigung der
Strafgesetze absegnen sollten. Diese Nationalversammlung, die Anfang Dezember
1792 in Tailor’s Hall in Dublin zusammentrat, beriet sich, verabschiedete diverse
Resolutionen und formulierte eine Petition, die von einer fünfköpfigen Delegation
unter der Führung Keoghs dem König in London persönlich vorgelegt werden
sollten – ein Novum, weil Petitionen normalerweise dem Lord Lieutenant vorgelegt werden mußten, der eigenständig darüber entschied, ob er solche Schriftstücke nach London weiterleitete oder nicht.788 Das Resultat der Verhandlungen in
London war, daß den Katholiken zwar nicht die vollständige Abschaffung der
Strafgesetze, wohl aber das aktive (wenn auch nicht das passive!) Wahlrecht zugestanden wurde.789 Der Umfang des britischen Entgegenkommens reflektiert die
Verhandlungsmacht der katholischen Delegation, die auf zwei Umständen beruhte: Einerseits dem britischen Zwang zur Zurückhaltung, weil bei Ankunft der katholischen Delegation in London bereits der Ausbruch des Krieges mit Frankreich
absehbar war und zweitens wegen wiederholter Offerten protestantischer Radikaler und Reformer, mit den Katholiken zusammenzuarbeiten. Damit sind wir an
dem Punkt angelangt, wo wir uns mit der Reaktion protestantischer Radikaler
auseinandersetzen müssen.
Die Reaktion protestantischer Radikaler und Reformer auf die Französische
Revolution fiel zunächst weder spontan noch sonderlich enthusiastisch aus. Selbst
der erste Jahrestag des Sturms auf die Bastille verstrich in Irland ohne öffentliche
Feiern.790 Das zeigt vor allem wie schlecht es um die Organisation der radikalen
Kräfte in Irland bestellt war: Seit dem Zusammenbruch der Volunteerbewegung
nach dem gescheiterten Reformversuch von 1783 befanden sich die irischen Radikalen gewissermaßen in einem Winterschlaf – und auch ein Jahr nach dem Ausbruch der Französischen Revolution rieben sie sich noch verschlafen ihre Augen.791 Die öffentlich sichtbare Reaktion der Radikalen auf die Französische Re788
Vgl. Wall, Keogh, S. 169; Bartlett, Fall, S. 149-152 (Catholic Convention), S. 155 (Verhandlungen in London).
789
Bartlett, ebd., S. 156f. und Wall, ebd., S. 167f. – dort auch zur anschließenden Debatte im CC,
ob sich die Delegation von den britischen Diplomaten mit zuwenig hatte abspeisen lassen. Wall
bejaht diese These, die von Tone und anderen Radikale vertreten wurde, Bartletts Urteil ist deutlich vorsichtiger, weil er davon ausgeht, daß mehr als das aktive Wahlrecht zum gegebenen Zeitpunkt einfach nicht zur Diskussion stand.
790
Smyth, Men, S. 91.
791
Implizit gab auch Wolfe Tone zu, daß die Reformkräfte in Irland bis zum Ausbruch der Französischen Revolution paralysiert waren: „The French Revolution had awakened all parties in the
nation from the stupor in which they lay plunged from the time of the dispersion of the ever me-
256
volution setzte in Irland erst als Reflex auf die von Burkes und Paines Veröffentlichungen 1790/91 losgetretene Debatte ein. Burkes Veröffentlichung hatte die
irischen und englischen Liberalen schockiert: Ausgerechnet ein ausgewiesener
Liberaler und elder Statesman, der unter Rockingham ein Ministeramt bekleidet
hatte, vollzog nun eine Kehrtwende um 180 Grad und griff den liberalen Hoffnungsträger Frankreich an.792 Um so dankbarer griffen sie Thomas Paines Antwort auf, deren erste Dubliner Edition im März 1791 erschien: The Rights of Man,
Part I. Paines Werk war ein Bestseller in Irland: Allein im Jahr 1791 hatte das
Buch mindestens sieben Auflagen, die ersten drei Auflagen (insgesamt ca. 10.000
Exemplare) waren bereits zwei Monate nach Erscheinen des Werks vergriffen –
und das, obwohl das Werk gleich in drei Dubliner und einer Belfaster Zeitung in
Auszügen oder als Serie veröffentlicht wurde.793 In Belfast genoß Paines Schrift,
wie Wolfe Tone lakonisch im Oktober 1791 in seinem Tagebuch notierte, alsbald
Kultstatus: „Paines Buch [The Rights of Man – MR], der Koran von Blefescu
[=Belfast – MR].“794 Der Grund für die rasante Verbreitung des Werkes war, daß
die Veröffentlichung von Anfang an von diversen Reformorganisationen subventioniert wurde.795 Paines Schrift enthielt nichts, mit dem die radikaleren Reformern nicht bereits vertraut waren – das Prinzip der Volkssouveränität, das Widerstandsrecht gegen eine ungerechte, korrupte Regierung, die tyrannische Qualität
eines monarchischen Systems, das nur qua Tradition legitimiert sei, das aber der
neuen Ära der Vernuft werde weichen müssen usw. –, aber die Klarheit und polemische Kraft der Sprache, mit der Paine sein Reformprojekt verteidigte, gab
irischen Reformern neue Hoffnung und Ausdrucksformen.796 Mit zwei knappen
morable volunteer convention [dem Nationalkongreß der Volunteers in der Rotunda von 1783 –
MR], and the citizens of Belfast were the first to raise their heads from the abyss, and to look the
situation of their country steadily in the face.“ Bartlett, Life, S. 43f.
792
D. Dickson, Paine and Ireland, in: Ders. u.a. (Hgg.), The United Irishmen, Republicanism,
Radicalism and Rebellion, Dublin 1993, S. 135-150, S. 137.
793
Ebd., S. 138.
794
Vgl. Bartlett, Life, S. 119. ‚Blefescu‘ ist eine phonetische Verballhornung des Wortes ‚Belfast‘, die Tone regelmäßig zur Bezeichnung der Stadt verwendete. Entlehnt hat er dieses Wort
natürlich aus Jonathan Swifts ‚Gullivers Reisen‘: ‚Blefescu‘ ist die Hauptstadt von Lilliput.
795
Die Whigs of the Capital, eine Gruppe moderater Reformer mit exklusivem sozialen Hintergrund, die sich am 26.6.1789 in Dublin konstuiert hatte, warfen eine billige Ausgabe der Rights of
Man auf den Markt, die zum Preis von 6 d. in zwei Tranchen etwa 20.000 Exemplare absetzte.
Das Unternehmen wurde qua Subkription finanziert. Vgl. Dickson, Paine, S. 138. Auch die United
Irishmen verteilten Exemplare gratis. Vgl. Smyth, Men, S. 92f.
796
Zum Inhalt der Rights of Men vgl. Dickson, ebd., S. 140 u. Curtin, United Irishmen, S. 22f.;
zum Einfluß des Werks vgl. McDowell, Age I, S. 290; Curtin, United Irishmen, S. 22 und v.a.
Smyth, Men, S. 92, der exemplarisch nachweist, wie Paines Sprache in die politische Sprache der
United Irishmen eindrang. Die Stimme einer weiblichen Zeitgenossin belegt die Durchschlagskraft
257
Sätzen faßte er die heimlichen Hoffnungen der irischen Regimekritiker zusammen: „Nach dem zu urteilen, was wir gerade sehen, sollte keine Reform der politischen Welt für unmöglich gehalten werden. Dies ist ein Zeitalter der Revolution,
in dem man auf alles hoffen darf.“797 Den irischen Oppositionellen und Reformern
ging es primär um Bestärkung ihrer Kritik, um massenwirksame, polemische Statements, nicht um philosophische Aussagen. Das läßt sich nicht zuletzt daran ablesen, daß sein antiklerikales Age of Reason – „verdammter Müll“, wie Wolfe
Tone ungnädig urteilte – aus bürgerlichen und vor allem presbyterianischen Reformkreisen vorwiegend Kritik auf sich zog.798 Als Ikone und – nach seiner Flucht
nach Frankreich im September 1792 – auch als Märtyrer der Oppositionellen allerdings ist Paines Bedeutung schwer zu überschätzen.799
Die Französische Revolution und die Renaissance der irischen Reformbewegung. 1791, das Veröffentlichungsjahr der Rights of Man, stellt parallel dazu den
Zeitpunkt dar, an dem wieder Bewegung in die außerparlamentarische Opposition
in Irland kam: Neben den moderaten Reformansätzen bei den Whig Clubs unternahmen die Volunteers erste Schritte, um ihre Anfang 1793 gescheiterte Kampagne für Parlamentsreformen auf den Weg zu bringen, das Catholic Committee begann mit seiner offensiveren Emanzipationspolitik, Katholiken und Dissenter traten in einen schwierigen, aber hoffnungsvollen Dialog über politische Zusammenarbeit ein und im Oktober 1791 gründeten radikale Volunteers in Belfast die
erste Gesellschaft der United Irishmen.800 Mit einem Wort: Die periphere Opposider Paine‘schen Rhetorik: „I never liked kings and Paine has said of them what I always suspected, thruth seems to dart from him in such plain and pregnant terms, that he, or she who runs may
read...“ Vgl. Martha McTier an William Drennan 28.10.1791, zitiert nach McDowell, Irish Public
Opinion, S. 163.
797
Zitiert nach McDowell, ebd., S. 290; Smyth, Men, S. 92.
798
Vgl. Dickson, Paine, S. 144-146, Tone-Zitat S. 145 u. T. Dunne, Theobald Wolfe Tone, Colonial Outsider, An Analysis of His Political Philosophy, Cork 1982, S. 26. Anders dagegen die
Rezeption des noch radikaleren zweiten Teils der Rights of Man, die von den Dubliner United
Irishmen per Subskription zum Preis von 1 d. unters Volk gebracht wurde. Zu den United Irish
Verbreitungsbemühungen vgl. Curtin, United Irishmen, S. 179f. Aus der Erfahrung mit Paines
Rights of Man lernten die United Irishmen die praktische Bedeutung der massenhaften Verbreitung von Propagandamaterial.
799
Dickson, ebd., S. 144. Bezeichnend für die Verehrung Paines in radikalen Kreise ist auch, daß
Paine von der Dubliner Gesellschaft der United Irishmen zum Ehrenmitglied erkoren wurde – eine
Ehre, die außer Paine nur Thomas Muir zuteil wurde. Vgl. ebd., S. 135; R.B. McDowell,The Personnel of the Dublin Society of United Irishmen, 1791-4, in: IHS 2 (1941), S. 12-53, S. 42, Einträge Nr. 291, 325. (Fortan zitiert als DSUI)
800
Zu den Whig Clubs und ihrem beschränkten öffentlichen Appeal vgl. Curtin, United Irishmen,
S. 42. Sowohl Wolfe Tone, der immerhin Mitglied der Northern Whigs war, auch als Drennan
hielten die Whig Clubs nach nur kurzer Zeit für politischen Humbug. Drennan erkundigte sich bei
seinem Schwager Samuel McTier über die Northern Whigs und berichtete über die Whigs of the
Capital: „How does your Whig Club? This one here does nothing more than eat and drink. They
258
tion in Irland war auf breiter Front wieder auf dem Vormarsch. Zumindest in zwei
Aspekten war dafür die Französische Revolution von zentraler Bedeutung: Erstens als Hintergrund zur Entstehung des katholisch-protestantischen Dialogs und
zweitens als Vernetzungsanlaß während der Feiern zum zweiten Jahrestags des
Sturms auf die Bastille.
Die Französische Revolution bildete insofern den Hintergrund für die Genese des
interkonfessionellen Dialogs, als sie den politisch radikalen Dissenters zu denken
gab: Sie fand in einem katholischen Land statt, in dem – wenn man es mit den
Augen presbyterianischer Radikaler aus Ulster betrachtet – Katholiken das ‚Wohl
der Nation‘ über ihre konfessionellen Interessen gestellt hatten. Nicht nur, daß die
angeblich zur Freiheit unfähigen Katholiken die ‚despotische‘ Monarchie gestürzt
hatten, sie schafften die Zehntzahlungen ab und enteigneten mit der Zivilverfassung des Klerus praktisch die katholische Kirche auf französischem Territorium.
Was wenn die irischen Katholiken – immerhin die Bevölkerungsmehrheit – zu
ähnlichen Leistungen in der Lage waren? Bestand vielleicht die Möglichkeit, den
Patt mit der Ascendancy durch eine Allianz mit den politisch aufgeklärten Katholiken zu überwinden?801
Samuel Neilson und ein paar andere Belfaster Radikale aus den Reihen der Belfast Volunteers fanden, daß dies zumindest einen Versuch wert war. Die Feiern
zum zweiten Jahrestags des Sturms auf die Bastille sollte den Rahmen für eine
Annäherung zwischen Katholiken und Dissenters stellen, Drennan und Tone wurde von den Belfast Volunteers separat mit der Unterbreitung geeigneter Adressen
beauftragt. Aus beiden Vorschlägen wurde jedoch jeder Verweis auf die Emanzihave no fellow-feeling with the people nor the people with them, and my own opinion is that every Volunteer should blush to quit his uniform and buy one for the either Whig Club, North and
South“ (Drennan an Saml. McTier, 5.2.1791, in: DL, S. 53f.) und Tone bezeichnete das System
der Whig Clubs als „elendig und fehlerhaft“ und ihre Anstrengungen als „kläglich“. Vgl. Bartlett,
Life, S. 39. Zu den Aktivitäten des Catholic Commitee von 1791 bis zum Catholic Relief Act von
1793 vgl. Smyth, Men, S. 52-66 u. Bartlett, Fall, S. 124-172; Zum katholisch-presbyterianischen
Dialog vgl. Smyth, Men, S. 53-57; zur Gründung immer noch lesenswert R. Jacob, The Rise of
the United Irishmen, 1791-94, London 1937, und A.T.Q. Stewart, 'A Stable Unseen Power'. Dr.
William Drennan and the Origins of the United Irishmen, in: J. Bossy/P. Jupp (Hgg.), Essays
Presented to Michael Roberts, Sometime Professor of Modern History in the Queen's University
of Belfast, Belfast 1976, S. 80-92; vgl. sonst Curtin, United Irishmen, S. 42-45.
801
Das sind sinngemäß auch die Fragen, die Drennan in einem Vorschlag zur Gründung einer
neuen – republikanischen – Organisation als Plattform für eine neue Kampagne für Parlementsrefomren niederlegte, der Anfang Juni 1791 in Dublin kursierte: „What are the rights of Roman
Catholics, and what are the immediate duties of Protestants respecting these rights? Are the Roman Catholics generally or partially capaces libertatis? And if not, what are the speediest means of
making them so?“ Vgl. P. Rogers, The Irish Volunteers and Catholic Emancipation (1778-1793),
259
pation der Katholiken herausgestrichen.802 Tone beschritt daraufhin enttäuscht,
aber nicht entmutigt einen anderen Weg, um seine Vorstellungen an die Öffentlichkeit zu bringen:803 Unter dem Pseudonym „A Northern Whig“ veröffentlichte
er Anfang August 1791 das Pamphlet, das allein ausgereicht hätte, um ihm einen
prominenten Platz in der irischen Geschichte zu reservieren – „An Argument on
Behalf of the Catholics of Ireland“.804
Die Bastilletag-Feiern von 1791. Vor der Veröffentlichung dieser Schrift, von
der ab Anfang August 1791 bis Ende 1792 6.000 Exemplare verkauft wurden und
von der die United Irishmen weitere 10.000 Exemplare unters Volk streuten,805
wurden jedoch am 14. Juli 1791 zunächst die Feiern zum zweiten Jahrestags des
Sturms auf die Bastille veranstaltet, die unter der Ägide der Volunteers standen.
Sie fanden nicht nur in Dublin und Belfast statt, sondern auch in einer Reihe anderer Städte in Ulster, was nicht nur einen Indikator für die politische Radikalität
Ulsters im Vergleich zum restlichen Irland darstellt, sondern auch augenfällig
unterstreicht, wo die Wurzeln der Volunteerbewegung lagen.806 Die Feierlichkeiten hatten – neben der offensichtlichen Aufgabe, den Sturm auf die Bastille als
Ereignis zu feiern – vielfältige Funktionen. Erstens meldeten sich die Volunteers
damit nach jahrelanger Abstinenz auf die politische Bühne zurück – und reklamierten auf diese Weise in der peripheren Opposition ihren Führungsanspruch,
demonstrierten aber gleichzeitig gegenüber dem Kolonialregime – auch mit Blick
auf die breite Bevölkerung – ihre Stärke und Entschlossenheit.807 Zweitens stellA Neglected Phase of Ireland's History, With an Introduction by Prof. Eoin MacNeill, UCD, London 1934, S. 209f, Zitat S. 210.
802
M. Elliott, Wolfe Tone, Prophet of Irish Independence, New Haven 1989, S. 125; Rogers,
Volunteers, S. 213-215.
803
Tones Ärger über die Säuberung seiner Adresse war beträchtlich: „I am, this day, July 17,
1791, informed that the last question [Tones Formulierung, daß keine Reform effektiv und gerecht
sein könne, wenn die Katholiken nicht gleichfalls in ihren Genuß kämen – MR] was lost. If so, my
present impression is to become a red hot Catholic; seeing that in the party apparently, and
perhaps really, most anxious for reform, it is rather a monopoly than an extension of liberty which
is their object, contrary to all justice and expediency.“ (meine Hervorhebung) Vgl. Bartlett, Life,
S. 119.
804
Vgl. Tones eigene, retrospektive und geschönte Darstellung der Ereignisse bei Bartlett, Life, S.
45f.; kritisch zu Tones Selbstlob Elliott, Tone, S. 125f.
805
Elliott, ebd., S. 129.
806
Neben den Belfaster und Dubliner Volunteerkompanien richteten auch die Volunteers von
Derry, Newry, Banbridge, Randalstown und Ballymoney zu diesem Anlaß Feiern aus. Vgl. Smyth,
Men, S. 94.
807
William Sharman, Oberst der Dromore Volunteers führte als einen Grund für seine Teilnahme
an den Feierlichkeiten Folgendes an: „The other [der andere Grund - MR] was to rejoice at it – as
a memento to the several governments of the earth to make a timely reform of abuses (...)“ Zitiert
nach Curtin, United Irishmen, S. 230f. Hier zumindest wurde die Feier also auch als Drohgebärde,
als memento mori aufgefaßt.
260
ten die Feiern aber auch eine Demonstration der respektablen sozialen Basis der
veranstaltenden Organisationen sowie – durch die Dignität und den demokratischen Habitus ihres Auftretens – für den Willen zur praktischen Umsetzung ihrer
politischen Reformziele dar.808 Drittens bemühten sie sich die Gelegenheit zu nutzen, um ihre Position in die Tradition der Amerikanischen und Französischen
Revolution einzureihen – einerseits um ihre Reformbestrebungen zu legitimieren
und andererseits, um entweder im Licht der amerikanischen und französischen
Erfolge der jüngsten Vergangenheit gute Chancen für ähnliche Erfolge in Irland
für die nahe Zukunft in Aussicht zu stellen oder um die französische Freiheit mit
der irischen Unterdrückung zu kontrastieren. Beides sollte zweifelsohne zur Mobilisierung der Bevölkerung dienen. Viertens schließlich diente diese Zeremonie –
wie die meisten Rituale – dazu, den inneren Zusammenhalt der Akteure zu stärken
und natürlich zur Unterhaltung von Teilnehmern und Zuschauern.809
Der rituelle Procedere der Feierlichkeiten ist wichtig und muß daher kurz skizziert
werden: Die Volunteers paradierten in voller Uniform und mit ihren Waffen und
Fahnen durch die Straßen der jeweiligen Stadt.810 Alle Teilnehmer der Parade und
auch viele Zuschauer waren mit grünen Kokarden angetan,811 die marschierenden
Volunteertruppen führten außerdem Transparente und Bilder mit. In Belfast waren das die Konterfeis von Franklin und Mirabeau, sowie ein doppelseitig bemaltes Transparent, das auf der einen Seite den Sturm auf die Bastille und auf der
anderen Seite eine gefesselte Hibernia darstellte, die von einem Volunteer in Galauniform der personifizierten Freiheit vorgestellt wurde.812 Außerdem wurden
stolz vier Kanonen als Symbol militärischer Stärke in die Parade integriert.813 In
808
Ebd., S. 229.
N.J. Curtin, Symbols and Rituals of United Irish Mobilisation, in: Gough/Dickson (Hgg.),
Ireland and the French Revolution, S. 68-82, S. 70
810
Ebd., S. 70. Die Motive, die Curtin in ‚Symbols and Rituals‘ angibt, sind relativ schwach, weitaus besser dagegen in Curtin, United Irishmen, S. 228f. Einen ausführlichen zeitgenössischen
Bericht über die Paraden in Dublin und Belfast findet man in der Dublin Evening Post. Vgl. DEP
16/7/1791. Bezeichnenderweise fanden die ersten Bastilletagfeiern auf den britischen Inseln nicht
in Irland, sondern 1790 in London statt. Vgl. DEP 13/7/1790, 20/7/1790. Danach zu urteilen ließen sich die irischen Radikalen also von englischen Revolutionsfreunden inspirieren.
811
Curtin, ebd., S. 229.
812
McDowell, Age I, S. 293; ausführlicher bei Froude, The English in Ireland 3, S. 17f. und Lecky, History of Ireland 3, S. 9f. Unter dem Portrait von Franklin stand das Motto „Where liberty
is; – There is my country“ und unter dem Konterfei Mirabeaus stand eine Sentenz aus seiner Rede
über die Menschenrechte: „Can the African Slave trade, tho‘ morally wrong, be politically right?“
Unter dem 8,5, mal 6 Fuß großen Transparent stand auf der Seite mit der Darstellung des Sturms
auf die Bastille das Motto „14 July 1789, Sacred to Liberty“ und auf der anderen Seite mit der
Hibernia der Satz: „For a people to be free; it is sufficient that they will it.“ Vgl. DEP 16/7/1791.
813
Rogers, Volunteers, S. 215.
809
261
Dublin führten die Volunteers einen großen erleuchteten Lampion mit, der u.a.
folgende Aufschriften trug: „Wir freuen uns nicht, weil wir Sklaven sind, sondern
wir freuen uns, weil die Franzosen frei sind“, „Rights of Man“.814 Die Belfaster
Parade wurde auf dem Platz vor der Linen Hall beendet, wo nach einem Ehrensalut zunächst feierlich eine Grußadresse an die Assemblée Nationale verlesen und
per Akklamation angenommen und im zweiten Schritt Resolutionen für Parlamentsreformen und für die Beseitigung ziviler und religiöser Intoleranz verabschiedet wurden.815 In Dublin versammelten sich die Volunteers abschließend in
Stephen’s Green und feuerten einen Ehrensalut.816 Der Rest des Rituals war in
Belfast und Dublin identisch: Man löste sich auf und traf sich am Abend in geschlossener Gesellschaft zum gemeinsamen Dinner und anschließenden Ausbringen von vorher von einem Komitee vorbereiteten Trinksprüchen.817 Durch die
Berichterstattung der Presse, die immer mit Listen dieser Trinksprüche und der
(oft übertriebenen) Anzahl der Gäste versehen wurde, sorgte dafür, daß die Öffentlichkeit auch davon umfassend in Kenntnis gesetzt wurde. 1792 fanden die
gleichen Rituale – wenngleich auch viel elaborierter (wie z.B. in Belfast durch
Kombination mit dem Harpers‘ Festival)818 – noch einmal statt. Nach dem Ausbruch des Kriegs gegen Frankreich Anfang 1793 war eine Wiederholung allerdings ausgeschlossen, ab August 1793 stellte der Convention Act öffentliche Paraden dieser Art grundsätzlich unter strenge Strafe.819 Signifikant an den Feiern ist
der ausgefeilte choreographische Dreiklang aus einem öffentlichen Teil, der das
Publikum integrierte, einem privaten Teil, der die ‚Eingeweihten‘ deutlich von der
Allgemeinheit distinguierte, und der medialen Rückkoppelung auch des privaten
Teils an die Öffentlichkeit. Nichts wurde dem Zufall überlassen: Die Feiern wur-
814
McDowell, Age I, S. 290; Dickson, Paine, S. 139. Die beiden anderen Seiten des Lampions
waren mit revolutionären Genealogien bedeckt. Die erste Seite trug unter dem Titel „Rights of
Men“ die Daten 12.10.1779 (Amerikanische Revolution), 16.4.1782 (Grattan’s Revolution),
14.7.1789 (Sturm auf die Bastille) und wertete so Grattan’s Revolution als Vorgängerin des
Sturms auf die Bastille auf. Die dritte Seite des Lampions beschrieb die Amerikanische Revolution als Quelle der Französischen Revolution und bezog auch polnische Reformbestrebungen unter
Stanislaus III. mit ein. Die Dublin Evening Post beschrieb diese Seite des Lampions wie folgt: „–
a representation of the hemispheres – the one inscribed – AMERICA – the other – FRANCE and
POLAND – with rays emanting from the former to the latter, and an inscription – THE NEW
WORLD ILLUMINATING THE OLD – indicating that the revolution in America was the source
of those in France and Poland.“ DEP 16/7/1791.
815
Rogers, Volunteers, S. 215f.; McDowell, ebd., S. 293.
816
McDowell, ebd., S. 291.
817
Ebd., S. 291; Rogers, Volunteers, S. 216.
818
Vgl. Curtin, Symbols, S. 70
819
Curtin, United Irishmen, S. 230.
262
den durch Anzeigen in den Tageszeitungen rechtzeitig angekündigt und von der
Marschordnung der Parade bis zu den Trinksprüchen war alles minutiös durch
eigens dafür eingerichtete Komitees geplant. Auch die Integration der Zuschauer
durch gemeinsame Symbole (die grünen Kokarden) und die kontrastive semantische Struktur der Transparente (irische Sklaven vs. französische Freie oder die
Befreiung der Bastille vs. die Befreiung der gefesselten Hibernia) ist augenfällig.
Ebenfalls wichtig ist die Tradition, in die sich die Volunteers durch die Abbildungen einreihten. Den Rekurs auf Paines Rights of Man hin oder her – die Wahl
Franklins und Mirabeaus zeigt es deutlich: Die Volunteers waren alles andere als
Montagnards.
Protestantisch-Katholische Annäherungen im Jahr 1791. Die Feiern hatten
zwar nicht – wie von Drennan oder Tone erhofft – dazu geführt, daß die radikalen
Volunteers aus Belfast mit den Katholiken eine politische Allianz eingingen, aber
selbst die etwas nebulöse Forderung der Belfaster Volunteers nach der Beseitigung aller religiösen Intoleranz reichte aus, um den Dialog zu eröffnen: Die Katholiken von Elphin und Jamestown verabschiedeten darauf eine an die Belfaster
Erste Volunteerkampagne gerichtete Dankadresse.820 In dieser Situation vorsichtiger gegenseitiger Annäherung erschien Anfang September Tones bereits erwähntes Pamphlet, in dem er argumentierte, daß ohne die Hilfe der Katholiken
keine Parlamentsreformen durchsetzbar seien, weil das korrupte Regime der Ascendancy auf der Spaltung der Nation (d.h. der Bevölkerung als politischer Souverän) beruhte. Die Schrift trug Tone nicht nur eine Reputation als politischer
Schreiber, sondern auch die Beachtung der Belfaster Radikalen und der Dubliner
Katholiken ein. Er lernte dadurch nicht nur den Führungszirkel des Catholic
Committee um Keogh, Braughall, Richard McCormick und Edward Byrne kennen, die ihn 1792 zum bezahlten Sekretär ihres Exekutivausschusses bestellten,
sondern auch die Volunteers von der Ersten (oder Grünen) Belfaster Kompanie,
die ihn zum Ehrenmitglied machten.821 Die Belfaster Kontakte führten dazu, daß
820
Rogers, Volunteers, S. 216.
Bartlett, Life, S. 46f. Von Zeitgenossen wie von Historiker der älteren Generation ist das Zustandekommen der losen katholisch-protesantischen Allianz vor allem Tones Traktat zugerechnnet
worden. Das erscheint vor dem Hintergrund der neueren Forschung als übertrieben. Tones Verdienst liegt eher darin, daß er die Tendenzen zur interkonfessionellen Annäherung richtig erfaßte
und in Paine’scher Manier prägnant und massenwirksam auf den Punkt brachte. Vgl. Elliott, Wolf
Tone, S. 129. Er war nicht der ‚Erfinder‘ der ‚cordial union‘, sondern ein begnadeter Propagandist
– und zwar auch in eigener Sache, denn er verstand es, ein Thema derart zu besetzen, daß es automatisch mit seinem Namen assoziiert wurde. Das gilt auch für seinen Anspruch, die United
821
263
Tone schon relativ früh in den Plan eingeweiht wurde, eine neue Reformorganisation – die United Irishmen – zu gründen, und an diesem Organisationsprozeß
maßgeblich beteiligt war.822 Auf der anderen Seite vermittelte er zwischen Volunteers und Katholiken und stimulierte so den interkonfessionellen Dialog. Im Oktober konnten sich die Volunteers in Dublin und Belfast endlich zu einem klaren
Wort in der Katholikenfrage durchringen: Am 4.10.1791 verabschiedete die Belfaster Volunteerkompanien eine Dankadresse für die Glückwünsche der Katholiken aus Elphin und Jamestown. Darin hieß es unmißverständlich:
„Ihr [die Katholiken – MR] seid oder solltet in unserer Sache engagiert sein –
es ist eine nationale Sache. (...) Laßt alle unsere Feindseligkeiten bei den
Gebeinen unserer Ahnen ruhen: Uns in unserer Religion unterscheidend wie
in unseren Gesichtszügen, aber in den großen Qualitäten der Menschheit aneinander erinnernd; laßt uns uns vereinigen, um unsere natürlichen Rechte zu
verteidigen; (...)“823
Am 23.10.1791 folgten die Dubliner Volunteerkompanien dem Belfaster Beispiel.824 Der Boden war bereitet: Ab Oktober 1791 standen die Volunteers und das
Catholic Committee im Austausch miteinander und die Ende Oktober 1791 in
Belfast bzw. Anfang November 1791 in Dublin gegründeten Gesellschaften der
United Irishmen, die ihren Wunsch auf Allianz mit den Katholiken in ihren Gründungsdeklarationen festhielten,825 machten ihren Einfluß auf beiden Seiten geltend, um die Zusammenarbeit zu vertiefen. Man kann also ohne Übertreibung
festhalten, daß die Bastilletagfeiern und die vor dem Hintergrund der Französischen Revolution unternommenen politischen Schritte von essentieller Bedeutung
für das Zustandekommen einer losen interkonfessionellen Allianz waren.
Irishmen ‚erfunden‘ zu haben: Er hat den Namen geprägt, aber die Idee stammte von Drennan.
Vgl. Stewart, Power, S. 80-92. Die traditionelle Lesart, daß Tone die United Irishmen gegründet
habe, findet sich bei Lecky, History of Ireland 3, S. 13.
822
Elliott, Tone, S. 133-141.
823
W. Sinclair, At a General Meeting of All the Volunteer Compagnies of Belfast, Held at the
Linen-Hall, 4th October, 1791, in: Anon., Tracts on Catholic Affairs, Appendix Nr. 5, Dublin (R.
White) 1792, S. 154-156, Zitat S. 155f.
824
J. Napper Tandy u.a., Meeting of Delegates from the Protestant Members of the Associated
Corps of the City of Dublin, 23rd October, 1791, in: Anon., Tracts on Catholic Affairs, Appendix
4/2, Dublin (R. White) 1792, S.152-153: „(...) we most aptly wish that outr animosities were entombed with the bones of our ancestors; and that we, and our Roman Catholic brethren, would
unite, like citizens, and claim the Rights of Man.“ Notabene die aufklärerische Brüderlichkeitssemantik, die auch in der Belfaster Deklaration durchscheint. Vgl. hierzu auch die am 17.10.1791
von den Independent Dublin Volunteers (einer der diversen Dubliner Kompanien) verabschiedeten Resolutionen, welche die gleichen Formulierungen enthalten: A. Hamilton Rowan, At a Full
Meeting of the Independent Dublin Volunteers on the 17th October, 1791, in: Anon., Tracts on
Catholic Affairs, Appendix Nr. 4/1, Dublin (R. White) 1792, S.149-151, S. 150f.
825
J. Napper Tandy, At a Meeting of the Society of United Irishmen of Dublin at the Eagle, Eustace Street, 9 November, 1791, in: Anon., Tracts on Catholic Affairs, Appendix Nr. 3, Dublin (R.
White) 1792, S. 143-148, S. 144, 147. S. 147 ist aus der Belfaster Deklaration entlehnt.
264
Die Französische Wahrnehmung Irlands im Jahr 1793/94. So wie der hoffnungsvolle Beginn der Reformbewegung der frühen 1790er Jahre mit Frankreich
zusammenhing, so hing auch das Ende der United Irishmen als einer öffentlich
agierenden Reformorganisation 1794 mit Frankreich zusammen. Dazu muß man
kurz Frankreichs strategische Wahrnehmung von Irland skizzieren. Nach einem
kurzen internationalistischen Intermezzo, in dem die brissotinische Fraktion der
Girondisten dafür sorgte, daß der Nationalkonvent am 19.11.1792 ein Dekret verabschiedete, welches ausländischen Revolutionären französische Unterstützung
und Hilfe zur Selbsthilfe in Aussicht stellte, wurde Frankreichs außenpolitische
und militärische Linie zunehmend von dem defensiven Ziel beherrscht, die Revolution in Frankreich gegen die europäische Reaktion zu verteidigen. Entsprechend
wurde das Dekret vom November 1792 zunächst wiederholt relativiert und
schließlich im April 1793 – also nach den Niederlagen der Revolutionsarmee im
März 1793 – von Danton zur ewigen Ruhe gebettet.826 Die Zusammenarbeit zwischen europäischen Radikalen und französischen Revolutionären stellte sich in
der Regel für beide Seiten als enttäuschend heraus: Die holländischen, belgischen
und Schweizer Patrioten waren verschwindend geringe Minderheiten ohne militärische Signifikanz, die Frankreich nicht nützen konnten, und gerade während der
Terreur befleißigte sich Frankreich eines rücksichtslosen Chauvinismus, der von
„Pufferzonen“ (Danton) für die Revolution sprach und damit tatsächlich französische Annektionen meinte, wie etwa die Belgier 1795 feststellen mußten.827
In diesem Szenario spielten irische Radikale von Anfang an ein andere Rolle: Sie
wurden von französischen Diplomaten und Militärs ernster genommen als etwa
ihre belgischen oder holländischen Kollegen. Dafür gab es zwei Gründe: Erstens
war Irland geopolitisch von entscheidender Bedeutung, um Großbritannien in die
Knie zu zwingen, denn – wie Lazare Hoche treffend bemerkte – ein direkter Angriff auf Großbritannien konnte nur als „Chimäre“ betrachtet werden.828 Zweitens
war Großbritannien durch seine Spionageaktivitäten in Paris, seine Interventionen
entlang der französischen Atlantikküste und durch seine Unterstützung für die
Aufstände in der Vendée und der Bretagne zum Hauptfeind der Revolution aufgestiegen und entsprechend stieg die Aufmerksamkeit, die französische Militärs und
826
Elliott, Partners, S. 53; dies., The Role of Ireland in French War Strategy, 1796-1798, in:
Gough/Dickson (Hgg.), Ireland and the French Revolution, S. 202-219, S. 201.
827
Furet/Ozouf, Kritisches Wörterbuch, S. 181-187.
828
Zitiert nach Elliott, Partners, S. 63.
265
Politiker Irland widmeten. Es gibt keinen Zweifel, daß etwa Carnot, der die französische Expedition nach Irland Ende 1796 befürwortete und für die Bereitstellung der dafür notwendigen Mittel sorgte, damit ganz klar die Absicht verfolgte,
Irland in eine britische Vendée zu verwandeln.829
Die Jackson-Affäre und ihre Folgen. 1793 war es jedoch auf das Betreiben eines Exil-Irens names Nicholas Madgett zurückzuführen, der ab Jahresmitte in
einer Abteilung des französischen Marineministerium als Berater für irische und
englische Angelegenheiten arbeitete, daß ein irischer Geistlicher namens William
Jackson, der den Großteil seines Lebens in England zugebracht hatte, damit beauftragt wurde, Kontakte mit den United Irishmen herzustellen.830 Jackson, der
sich für seine Mission der Unterstützung eines befreundeten Londoner Anwalts
namens John Cockayne versicherte, beging mit diesem Schritt einen tödlichen
Fehler: Cockayne war ein britischer Spion und die irische Regierung wußte früher
über Jacksons Ankunft Bescheid als dieser überhaupt irischen Boden betrat.831
Bei den meisten Anführern der Dubliner United Irishmen stieß Jackson auf taube
Ohren – Lord Edward Fitzgerald weigerte sich ihn zu treffen, Simon Butler behandelte seine Angebote als Witz, Wolfe Tone hielt ihn für einen englischen Agent provocateur.832 Aber beim bereits inhaftierten Hamilton Rowan fand Jackson
endlich Gehör und dieser beauftragte Tone damit, einen Bericht über die Lage in
Irland zu verfassen, und bat einen anderen United Irishman, Dr. James Reynolds,
mit Jackson nach Paris zurückzukehren, um dort über eine Kooperation zu verhandeln.833 Als Tones Bericht fertig war, gab Hamilton Rowan Jackson eine Abschrift, die dieser – sancta simplicitas! – einfach mit der Post nach Paris schickte.834 Der Brief wurde natürlich abgefangen und nun hatte die irische Regierung
die langersehnte Gelegenheit gegen die United Irishmen vorzugehen. Am 26.4.
1793 wurde Jackson verhaftet. Nachdem er davon erfahren hatte, floh Rowan am
1. Mai aus der Haft, Reynolds folgte kurze Zeit später seinem Beispiel.835 Die
Regierung, die es vor allem auf Rowan abgesehen hatte, schätzte Tone als kleinen
Fisch ein und ließ sich auf Fürsprache des Generalstaatsanwalts Arthur Wolfe,
829
Elliott, Role, S.204.
Elliott, Partners, S. 61-63. Zu dem vorangegangenen Versuchen, Kontakte herzustellen (etwa
durch Gespräche zwischen Lord Edward Fitzgerald und Thomas Paine) vgl. ebd., S. 58-61.
831
Ebd., S. 64; Lecky, History of Ireland 3, S. 233.
832
Elliott, ebd.
833
Lecky, History of Ireland 3, S. 233.
834
Elliott, Partners, S. 65.
830
266
eines Verwandten seines Patenonkels Theobald Wolfe, auf einen Kuhandel ein:
Eine Einstellung seines Verfahren (nolle prosequi) gegen Tones Abreise aus Irland ins lebenslange Exil. Die Dubliner United Irishmen als Organisation hingegen kamen nicht so glimpflich davon.836 Trotz ihrer Anstrengungen sich von Rowan und seiner Unvorsichtigkeit zu distanzieren, hoben die Behörden die Organisation, die schon längst mit Informanten des Castle durchsetzt war am 26.5.1794
aus: Bei einer Razzia wurde ihr Versammlungsort in Tailor’s Hall gestürmt, die
Vereinsdokumente wurden eingezogen, insgesamt etwa 40 Haftbefehle gegen
führende United Irishmen ausgestellt und die Organisation insgesamt verboten.837
Der Prozeß gegen Jackson, der im April 1793 stattfand, verwandelte sich aus der
Sicht der Kolonialregierung jedoch zum Fiasko: Zuerst verweigerte der Informant
Cockayne dem Staatsanwalt seine Kooperation (u.a. weil er Morddrohungen von
Dubliner Radikalen erhalten hatte), anschließend wurde er von Jacksons Verteidigern Curran und Ponsonby im Verhör durch den Fleischwolf gedreht und charakterlich komplett desavouiert und zum bösen Schluß beging der Delinquent auch
noch im Gerichtssaal mit Laudanum Selbstmord – und verstarb direkt auf der Angeklagtenbank.838 Das war natürlich ein gefundes Fressen für die Presse und um
die Absicht der Regierung, öffentlich ein Exempel zu statuieren, war es geschehen.839
Für die Beziehungen zwischen den irischen Radikalen und Frankreich hatte die
Jackson-Affäre vor allem drei Konsequenzen. Erstens hatte der Plan für eine französisch-irische Kooperation gegen Großbritannien und die Ascendancy durch den
Jackson-Prozeß eine ungeheure Publicity erhalten – mit dem Ergebnis, daß dieser
nun intensiver in der irischen Bevölkerung diskutiert wurde als je zuvor. Außerdem wirkte sich der Sturz Robespierres und das Ende der Terreur positiv auf die
835
Elliott, Tone, S. 243; zu Rowans dramatische Flucht vgl. Lecky, History of Ireland, S. 234f.
Elliott, ebd., S. 243f.
837
Curtin, United Irishmen, S. 60f.; Elliott, ebd., S. 244f.
838
Zur Verschwörung ein Attentat auf Cockayne zu verüben vgl. Smyth, Men, S. 147; zu Cockaynes ‚Blackout‘ vor Gericht vgl. NS 23/4/1795; Elliott, ebd., S. 250f.
839
Vgl. exemplarisch NS 23/4/1795, 30/4/1795, 4/5/1795; der Kommentar des Northern Star über
Jacksons Tod zeigt, daß die Presse nur zu genau über die Pläne der Regierung orientiert war: „The
unfortunate Mr. Jackson, we understand, was to have been executed with great pomp and solemnity, in front of the parliament house in College Green. He departed just in the critical moment, for
had he lived until sentence was pronounced, and died the moment after, the body would have been
hanged, drawn and quartered. (...) this death was occasioned by a draught of laudanum, which he
had taken previous to his arrival in court. He was perceived to be indisposed from the moment he
was put to the bar. He asked the court for a glass of water, and shortly after, during the Attorney
836
267
irische Wahrnehmung von Frankreich aus: Nun konnten sich wieder mehr irische
Reformer und Radikale eine Zusammenarbeit mit Frankreich vorstellen.840 Zweitens hatte die Zerschlagung der United Irishmen als einer reformorientierten Organisation den Weg für ihre Radikalisierung und Wiedergeburt in Form einer separatistischen Untergrundarmee bereitet. Für eine Rebellion bedurften die United
Irishmen der französischen Hilfe jedoch sehr viel mehr als vorher, wo sich hinter
der ganzen radikalen Rhetorik im Kern nichts anderes als ein moderates, liberales
Reformprogramm (Parlamentsreformen, Beseitigung der Korruption, virtuelle
Repräsentation à la Burke und katholische Emanzipation) verbarg. Die ‚alten‘
United Irishmen waren zur Kooperation mit dem Regime prinzipiell bereit, die
radikalen, ‚neuen‘ United Irishmen ab 1795 schlossen dies kategorisch aus. Rowans erstes Geschäft nach seiner Flucht nach Frankreich war, daß er Madgett Tones Lagebericht zukommen ließ, woraufhin die französische Seite wieder mehr
Interesse an Irland zu zeigen begann.841 Drittens hatten die Behörden den Fehler
gemacht, Tone lediglich als pro-katholischen Aktivisten und damit zu gering einzuschätzen. Tone, der ausgewiesenermaßen begnadete Propagandist, sollte so die
Gelegenheit erhalten, seine Talente ab 1796 in Paris einzusetzen, um Carnot und
Hoche von den Vorteilen einer französisch-irischen Kooperation zu überzeugen.
Hätte er das geahnt, hätte Marcus Beresford, der Vertreter der Staatsanwaltschaft
beim Aushandeln des Deals mit Tone, es sich wohl zweimal überlegt, die Meinung zu ventilieren, es sei kein schlechter Handel für die Regierung, Tone loszuwerden!842
Die brüchige französisch-irische Partnerschaft 1796-1798. Die ganzen diplomatischen Wendungen im Verhältnis zwischen irischen Radikalen und dem Französischen Direktorium zwischen 1796 und 1798 en detail zu entwirren, würde zu
weit führen.843 Gleichwohl ist die weitere Entwicklung der irisch-französischen
General’s reply to Mr. Curran, he arose, gave a significant smile, waved his hand, and in sitting
down fell off the chair, and expired after a few minutes with a groan.“ NS 30/4/1795.
840
Elliott, Tone, S. 246.
841
Elliott, Partners, S. 68.
842
Vgl. Elliott, Tone, S. 243.
843
Statt dessen sei hier auf die ungemein detaillierte, mit einem Preis der American Historical
Association ausgezeichnete Studie Marianne Elliotts, Partners in Revolution, The United Irishmen
and France, verwiesen, die auch knapp 20 Jahre nach ihrer Veröffentlichung immer noch unübertroffen ist und unbestritten das Standardwerk zu diesem Themenkomplex darstellt. Vgl. hierzu
auch das sehr positive Rezensionsecho aus der Mitte der 1980er Jahre: D.H. Akenson, Marianne
Elliot: "Partners in Revolution: The United Irishmen and France", in: The Historian 46 (1983/84),
S. 443; T. Bartlett, Marianne Elliott: "Partners in Revolution: the United Irishmen and France", in:
IHS 24 (1984/85), S. 107-109; G.C. Bond, Marianne Elliott: "Partners in Revolution: The United
268
Beziehungen von so großer Bedeutung, daß sie hier – zumindest kursorisch – Erwähnung finden muß.
Diplomatische Akteure und Interessenkonflikte. Beide Seiten machten sich
aufgrund der taktisch-strategisch begründeten Aussagen der Gegenseite falsche
Vorstellungen vom Charakter ihrer Kooperation. Im ersten Direktorium gab es
1796 ernsthafte Differenzen über das militärisch-strategische Vorgehen: Während
Direktor Reubell und Außenminister Delacroix einem Vorstoß gegen Österreich
den Vorzug gaben, um die Rheingrenze zu sichern, plädierte Direktor Carnot –
sekundiert von General Hoche – für einen Angriff auf England.844 Beide Optionen
reflektierten den persönlichen Hintergrund der beiden zerstrittenen Direktoren,
wurden aber über taktische und finanzielle Sachzwänge verhandelt.845 Tone, der
1796 in Paris eintraf, geriet mitten in diesen Konflikt und machte ihn sich zunutze, indem er an Delacroix und Madgett vorbei Kontakt zu Carnot und dessen
Sprachrohr General Clarke, einem Exil-Iren der zweiten Generation, aufnahm.846
Dieser Schritt förderte zwar das Vorankommen seiner Mission, weil Carnot an
einer Invasion in Irland sehr viel mehr interessiert war als Delacroix, aber gleichzeitig machte er sich Delacroix und Reubell damit zum Gegner und war somit auf
Carnot angewiesen. Dieser aber glaubte einerseits (durch den Einfluß Clarkes)
immer noch, daß die irischen Katholiken durch die Bank Jakobiten und damit
Royalisten und Reaktionäre waren, welche gegen die Errichtung einer Republik in
Irland kämpfen würden,847 und verfolgte andererseits unbeirrt sein Lieblingsprojekt, in Irland General Humberts Légion Noire landen zu lassen, um mittels dieser
Bande von Deserteuren, ehemaligen Chouans und Halsabschneidern Irland in
Irishmen and France", in: AHR 89,1 (1984), S. 129-130; A. Booth, Marianne Elliott: "Partners in
Revolution: The United Irishmen and France" & R. Wells, “Insurrection: the British Experience”,
in: Social History 9,3 (1984), S. 373-375.
844
Elliott, Partners, S. 82f.; zum steigenden Anglophobie Frankreichs ab 1793 vgl. ebd., S. 56f.,
62f.
845
Reubell stammte aus dem Elsaß, das er gegen Angriffe der Koalition zu sichern wünschte,
Carnot und Hoche hatten gegen die Chouannerie und in der Vendée gekämpft, was für ihre Anglophobie von entscheidender Bedeutung war. Darüber hinaus reflektierten die Differenzen aber
auch einen Zuständigkeits- und Machtkonflikt im Direktorium, in dem Carnot dem ineffektiv
agierenden Außenministerium in den Rücken fiel. Vgl. ebd., S. 82f., 85-88; Elliott, Role, S. 203f.
846
Vgl. Tones Tagebucheinträge zur Schilderung seiner schleppenden Zusammenarbeit mit Delacroix und zur Kontaktaufnahme mit Carnot in: Bartlett, Life, S. 467 (erste Begegnung), 469 (Delacroix verweist Tone an Madgett), 483-485 (erste diplomatische Vexierspielchen und Verhandlungen zwischen Delacroix und Tone), S. 491-494 (Delacroixs Weigerung, 20.000 Mann nach
Irland zu schicken, Tone enttäuscht über mangelndes französisches Entgegenkommen, hält Delacroixs und Madgetts Plan die britische Marine zu unterwandern für ‚flat nonsense‘), S. 476-481
(erstes Treffen mit Carnot, nachdem Tone von Madgett enttäuscht war, Gespräch mit Carnot läuft
hervorragend); Elliott, Partners, S. 83f.
269
Großbritanniens Vendée zu verwandeln und so Rache für Quiberon zu nehmen.848
Tone war über dieses Szenario natürlich entsetzt und schrieb wie ein Bessener
gegen diese Vorstellung an, indem er konfessionelle Konfliktpotentiale in Irland
komplett ausschloß, die irische Bevölkerung als durch und durch politisiert und
von der Französischen Revolution begeistert darstellte und den Organisationsgrad
der United Irishmen, die gerade erst dabei waren, sich im Untergrund zu reorganisieren, maßlos übertrieb.849 Seine Memoranden gipfelten in der These, daß es nur
einer relativ kleinen Invasionstreitmacht und großer Waffenvorräte bedürfe, um
die rebellionsbereite Bevölkerung zum Aufstand zu bewegen.850 Das wiederum
kollidierte mit den Gepflogenheiten der Franzosen, die nach schlechten Erfahrungen dazu übergegangen waren, erst dann ihre Unterstützung zu geben, wenn ausländische Revolutionäre durch den Ausbruch eines Aufstands ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt hatten. Tone gelang es jedoch, Carnot und vor allem
Hoche zu überzeugen.851
847
Bartlett, Life, S. 581.
Im Juni 1795 setzten englische Schiffe in der Bucht von Quiberon eine Streitmacht emigrierter
französischer Royalisten in der Bretagne an Land, die den Chouans Führung und Auftrieb geben
sollten. Elliott, Partners, S. 85; zur Légion Noire vgl. Elliott, Role, S. 204; zu Clarkes und Carnots
‚falschen‘ Vorstellungen vgl. Elliott, Partners, S. 85-87.
849
Über die Dissenter heißt es dort: „The Dissenters are, from the genius of their religion, and the
spirit of inquiry which it produces, sincere and enlightened republicans (...)“ Bartlett, Life, S. 605.
– Es fragt sich dann bloß, wo die Orangemen in Ulster herkamen, die ja auch Presbyterianer in
ihren Reihen hatten. Über die Union zwischen Katholiken und Presbyterianer schreibt Tone: „The
leaders on both sides saw that as they had but one common country, they had but one common
interest; that while they were mutually contending and ready to sacrifice each other, England profited of their folly to enslave both; and that it was only by cordial union , and affectionate cooperation, that they could assert their common liberty and establish the independence of Ireland.“
Bartlett, Life, S. 606. – Hier müßte relativierend eingefügt werden, daß das CC primär das Ziel der
katholischen Emanzipation, nicht der Unabhängigkeit Irlands verfolgte und daß es ein gerüttelt
Maß Mißtrauen bei den Presbyterianern über die revolutionäre Überzeugung der Katholiken gab,
wie etwa aus den Drennan Briefen von 1792 noch deutlich hervorgeht. Vgl. DL, S. 70f., 82, 97,
106f. Über die Gesamtlage schreibt Tone: „I hazard nothing in asserting that these three bodies
[United Irishmen, Defenders und CC – MR] are alike animated with an ardent desire for the independence of Ireland, an abhorrence of British tyranny, and a sincere attachment to the cause of
thde French Republic; and, what is of very great consequence, they have a perfect good understanding and communication with each other (that is to say, their leaders), so that, on any great
emergency, there would be no possible doubt of their mutual co-operation.“ Bartlett, Life, S. 610.
Daß die Defenders die Unabhängigkeit Irlands wollten, kann man getrost für ein Gerücht halten,
und was die ernsthafte Hingabe der katholischen Unterschichten zur Französischen Revolution
betrifft haben wir bereits von den Erfahrungen französischer Offiziere im Jahr 1798 gehört. Auch
hatte der Terreur bei vielen United Irishmen und Mitgliedern des CC beträchtliche Zweifel ausgelöst. Tones Statements waren nicht wirklich falsch, sondern eine Melange aus irreführender
Schönfärberei und der Wahrheit.
850
Tone sprach von mindestens 5.000 und höchstens 20.000 Mann unter der Führung eines berühmten Generals, der die Mobilisierung der irischen Rebellen erleichtern würde, von Waffenlieferungen (vor allem Artillerie) und Ingenieuren. Vgl. Bartlett, Life, S. 615.
851
Vgl. Tones Bericht über die abschließende Konferenz mit Carnot und Hoche über die Invasion.
Bartlett, Life, S. 580-582.
848
270
Zu allem Überfluß schalteten sich ab Mitte 1795 immer mehr United Irishmen in
die Verhandlungen mit Frankreich ein: Lord Edward Fitzgerald und Arthur
O’Connor aus Hamburg ab Anfang Juli 1795, die über den dortigen französischen
Gesandten Frédérique Reinhard mit Delacroix Verhandlungen aufnahmen, nach
dem Mißerfolg des Invasionsversuchs in Bantry Bay im Jahre 1796 auch Edward
Lewins ab Ende März 1797, sowie William James MacNeven ab Ende Juli 1797
und einige andere mehr.852 Wegen der schlechten Kommunikationsverhältnisse
verfügten alle United Irish Agenten über einen unterschiedlichen Wissenstand
und das Direktorium erhielt nun eine Vielzahl unterschiedlicher Informationen.
Allen gemein war lediglich das eindringliche Nachsuchen, eine französische Invasions-truppe aufzustellen und loszuschicken.
Wirklich fatal wurde die Lage jedoch erst als im Juni 1797 Napper Tandy aus
Amerika in Paris eintraf. Tandy reklamierte die uneingeschränkte Führungsrolle
für alle in Paris befindlichen Iren, obwohl er dafür nicht die geringste Handhabe
aus Dublin oder Belfast erhalten hatte. Sein theatralisches Auftreten beschädigten
die Position Tones und Lewins‘, der beiden authorisierten United Irish Agenten.
Er schreckte nicht einmal davor zurück, seine Eitelkeit dadurch zu befriedigen,
daß er mit dem schottischen Reformer Thomas Muir gemeinsame Sache machte,
der für sich eine ähnliche Position in Schottland reklamierte wie Tandy für Irland
und so als Chef einer – inexistenten – schottischen Befreiungsarmee mit den United Irishmen um französische Unterstützung konkurrierte. Sie störten die Geheimverhandlungen Tones und Lewins‘ dadurch, daß sie öffentliche Auftritte mit
Thomas Paine organisierten und sich ausgiebig in der Presse zu Wort meldeten.853
Frankreichs Abkehr von Irland. Die französische Seite wiederum hatte selbst
ernsthafte Probleme mit der Organisation und Finanzierung eines weiteren Invasionsversuchs. Die notorische finanzielle Misere des Direktoriums erforderte, daß
der Krieg sich durch Annektionen und Abgaben der eroberten Regionen und Länder selbst finanzierte854 – der erste Invasionsversuch von 1796 hatte jedoch nur
Geld gekostet, keins eingebracht. Es ist darum auch nicht verwunderlich, daß die
Partei, die eine weitere irische Unternehmung unterstützte, zunehmend geschwächt wurde. Der von Carnot nachdrücklich unterstützte Italienfeldzug Bonapartes hatte die – ebenfalls von Carnot – mühsam hergestellte Priorität eines An852
853
Elliott, Partners, S. 98-100, 130-132, 152f.
Zu Tandys Interventionen vgl. summarisch ebd., S. 170f.
271
griffs auf Großbritannien durch eine Invasion in Irland bereits relativiert, bevor
die Inva-sionsflotte unter Hoches Leitung im Dezember 1796 Brest mit Kurs auf
Irland verließ.855 Der Mißerfolg von Bantry Bay spielte Reubell in die Hände:
Carnot war nun isoliert und sein Plan für einen zweiten Invasionsversuch traf im
Direktorium auf entschiedenen Widerstand. Auch Hoches glänzende Reputation
als ‚Pacificateur de Vendée‘ war irreparabel beschädigt: Während er unverrichteter Dinge, aber mit schweren Verlusten (11 Schiffe und 5.000 Mann waren verlorengegangen) aus Irland zurückkehrte, fuhr sein ärgster Konkurrent in der Generalität, Bonaparte, einen Sieg nach dem anderen ein.856 Die Wirren um den Staatsstreich des 17. Fructidor (4.9.1797) veränderten die Lage noch einmal einschneidend: Dem Staatsstreich, an dem Hoche beteiligt war, fiel ein geplanter Invasionsversuch in Irland zum Opfer; Carnot wurde aus dem Direktorium entfernt und
zur Deportation nach Guyana verurteilt und Hoche, den man zum alleinigen Sündenbock für den mißglückten Coup d‘etat machte, wurde unehrenhaft aus dem
Dienst enlassen und von der Presse als Verräter angefeindet.857 Carnot und Hoche,
der nur knapp drei Wochen später mit 29 Jahren verstarb, waren erledigt und im
zweiten Direktorium saßen nun vornehmlich Gegner der Expeditionen nach Irland
– namentlich Reubell und Bonaparte. Schon angesichts dieser personellen Zusammensetzung war klar, daß die United Irish Agenten nicht mehr darauf hoffen
durften, daß Irland auf der französischen Militäragenda einen allzu großen Stellenwert einnehmen werde.858 Direktor Barras hielt Tone und Lewins hin und das
zweite Direktorium kehrte zur altbewährten politischen Linie zurück, nur denjenigen ausländischen Revolutionären zu helfen, die sich selbst helfen konnten.859 Als
1798 in Irland die Rebellion ausbrach waren die französischen Truppen entlang
des Rheines und in Ägypten gebunden, so daß überhaupt nur kleinere Aktionen
854
Elliott, Role, S. 208.
Zu Carnots Rolle bei der Vorbereitung des Itralienfeldzugs vgl. Furet/Ozouf, Kritisches Wörterbuch, S. 122; Elliott, ebd., S. 207.
856
Elliott, ebd., S. 207f.; Furet/Ozouf, ebd., S. 127-133.
857
Furet/Ozouf, ebd., S. 223f.; Elliott, ebd., S. 209f.
858
Entsprechend besorgt äußerte sich Tone über den Tod Hoches. „My fears, with regard to General Hoche, were but too well founded. He died this morning [18.9.1797 – MR] at four o’clock. His
lungs seemed to me quite gone. This most unfortunate event has so confounded and distressed me
that I know not what to think, nor what will be the consequences.“ Bartlett, Life, S. 811.
859
Elliott, Role, S. 210f.
855
272
möglich waren.860 Schlecht vorbereitet und ausgestattet hatten die Expeditionen
von Humbert und Hardy, Tandy und Tone nicht den Hauch einer Chance.861
Irische Hoffnungen auf französische Waffenhilfe und ihre Folgen. In Irland
dagegen war die Hoffnung auf eine französische Intervention vom Führungszirkel
der United Irishmen vor allem zu zwei Zwecken verwendet worden. Erstens zur
Mobilisierung der Bevölkerung, der man mit der Aussicht auf französische Waffenhilfe einen Aufstand schmackhafter machen konnte, da sich argumentieren
ließ, daß der Blutzoll einer Rebellion mit französischer Hilfe kleiner – die United
Irishmen behaupteten sogar: insignifikant klein – ausfallen werde und zweitens
zur Erhaltung der Moral der United Irish und Defender Anhängerschaft angesichts einer ab 1795 zunehmend härteren Repressionspolitik des Kolonialregimes.862 Überdies verwendete die Führung der United Irishmen die Aussicht auf
eine französische Intervention auch dazu, um 1797 ihre Anhänger davon abzuhalten unter dem Eindruck der Entwaffnung Ulsters durch General Lake und der
zahlreichen Übergriffe durch staatliche und nichtstaatliche Gruppen wie die lokalen Magistrate, die in latent unruhigen Gebieten stationierten Miliz- und Yeomanryverbände und den vor allem in Ulster und den angrenzenden Grafschaften aktiven Oranierorden, frühzeitig die Rebellion loszutreten. Dabei verkalkulierten sich
die Führungszirkel der United Irishmen jedoch in vielfacher Hinsicht: Zum einen
gaben sie so der Regierung die Möglichkeit, ihre Kontrolle über das platte Land
sukzessive auszubauen und zu verstärken, während die Rebellen durch Entwaffnungen, Verhaftungen und Deportationen aber auch durch gewaltsame Überfälle
geschwächt wurden – und das, wie sich später herausstellte, in einem Umfang, der
jede Verstärkung durch französische Waffenhilfe bei weitem übertraf. Zum anderen trieb diese enge Verknüpfung von französischer Waffenhilfe und Aufstand
einen Keil in die United Irish Führung, denn über die Frage, ob man vor Ankunft
der Franzosen oder erst danach losschlagen sollte entzweiten sich die Belfaster
und die Dubliner Führung mehrfach. Nach den Verhaftungen von 1798, in denen
praktisch der ganze Dubliner Führungsstab ausgehoben wurde, kam es in Ulster
wegen dieser Frage zu einem Putsch der Basis gegen die zögerliche Führungsspitze, die nicht losschlagen wollte, bevor französische Hilfe angekommen war.863 Es
860
Ebd., S. 211.
Ebd., S. 211-215.
862
Curtin, United Irishmen, S. 64-66, 87-89, 123f.
863
Ebd., S. 264-266.
861
273
mußten erste radikalere Führungskräfte wie Henry Joy McCracken und Henry
Munro aufs Schild gehoben werden, bevor die Rebellion überhaupt losgehen
konnte,864 und das zeigt überdeutlich, welchen Bärendienst sich die United Irishmen damit erwiesen, ihr Vorgehen so umfassend an französische Waffenhilfe zu
binden.
Fazit. Wendet man sich nun abschließend der Frage nach der Bedeutung der
Französischen Revolution für Irland zu, so kann man – in Analogie zur Bedeutung
der Amerikanischen Revolution – festhalten, daß sie in den Kreisen von Reformern und Radikalen enorme Hoffnungen auf gesellschaftlichen Wandel weckte
und insofern die zentrale Triebfeder für die Renaissance der irischen Reformbemühungen Anfang der 1790er Jahre darstellte. Die relative Gleichzeitigkeit der
Ereignisse in Frankreich und Irland mit bloßer chronologischer Koinzidenz abtun
zu wollen, stellt die einzige, aber wenig plausible Alternative dazu dar. Ebenfalls
analog zur Amerikanischen Revolution muß die Bedeutung revolutionärer Symbole und Rhetorik hervorgehoben werden, die aus Frankreich übernommen wurden und zu integralen Bestandteilen der politischen Sprache in Irland avancierten.
Darauf wird zu einem späteren Zeitpunkt unter besonderer Berücksichtigung des
Begriffs ‚Nation‘ noch zurückzukommen sein. Die letzte wichtige Gemeinsamkeit
ist schließlich, daß beide Großereignisse in Irland aus der Perspektive spezifisch
irischer Interessen und Wahrnehmungen rezipiert und gedeutet wurden. Entscheidend für die Rezeption beider Revolutionen war nicht, wie es eigentlich gewesen
war, sondern wie es subjektiv aus Sicht irischer Akteure wahrgenommen und gedeutet wurde. Dieser Hiatus zwischen dem Ereignis und seiner Wahrnehmung war
vor allem für einen Effekt der Französischen Revolution in Irland ausschlaggebend: Die fundamentale Polarisierung der irischen Gesellschaft. Die Nähe und die
Radikalität der französischen Umwälzung zwang – zumindest nach zeitgenössischen Äußerungen – jedermann zu einer Positionierung, die wahlweise und individuell nach politischen Präferenzen, sozialer Lage oder kulturellen Faktoren (von
der konfessionellen Zugehörigkeit bis zu tradierten Feindbildern) entschieden
werden konnte. In jedem Fall aber basierte die Entscheidung auf einer durch ein
Prisma irischer Wahrnehmungs- und Deutungsmuster gebrochenen Wahrnehmung
der Französischen Revolution. Es war das in der Revolution vermutete Bedrohungspotential für ihre gesellschaftliche Stellung in Irland, das die Ascendancy
864
Ebd., S. 265, 266f.
274
und die katholische Oberschicht aus Adel und Klerus zur Verteufelung der Revolution trieb, während irische Reformer vor allem das emanzipatorische Potential
der Revolution für Irland im Blick hatten und tendenziell eher mit einer Idealisierung der Revolution reagierten. Ein echtes Novum stellten die Kriterien der Positionierung dar: Während die Grenzlinie zwischen Befürwortern und Gegnern im
Fall der Amerikanischen Revolution konfessioneller Natur war, war sie während
der Französischen Revolution zunehmend an sozialen Grenzen ausgerichtet. Hier
standen sich nicht mehr Protestanten und Katholiken gegenüber, sondern der erste
und zweite Stand dem dritten und vierten. Eine Einschränkung ist zu dieser Aussage jedoch notwendig: Interessanterweise – und das belegt noch einmal die spezifisch irische Couleur der Interpretation der Französischen Revolution – konnte
sich trotz dieser veränderten Lage weder im ersten und zweiten noch im vierten
Stand eine konfessionsübergreifende Allianz ausbilden. Die Ascendancy dachte
gar nicht daran, mit dem katholischen Klerus und Adel zu kooperieren und die
Defenders blieben eine katholische Unterschichtenorganisation. Nur dem irischen
Wirtschafts- und Bildungsbürgertum gelang es mittels gemeinsamer Feindbilder
und partiell überlappender Interessen für kurze Zeit (zwischen 1795 und 1798)
eine labile Allianz herzustellen. Mit anderen Worten: Wenn man das irische Establishment analog zu Frankreich als Ancien régime auffassen will, dann muß
man in Rechnung stellen, daß es sich hier um einen kolonialen Subtypus dieses
Systems handelte und daß die irischen Wahrnehmungen der Französische Revolution auf Deutungsmustern beruhten, die aus präexistenten, kolonialen Konflikten
basierten
Ein weiterer Unterschied zwischen dem Einfluß der Amerikanischen und Französischen Revolution auf Irland eröffnet sich, wenn man die Akteursebene betrachtet. Im ersten Fall reagierten irische und britische Akteure bloß in Irland auf die
Aktivitäten der amerikanischen Kolonisten in Amerika, im zweiten Fall aber agierten französische und britische Akteure in Irland und irische Protagonisten in
Frankreich. Das demonstriert den fundamental anderen Charakter der irischfranzösischen Verbindung: Sie lag mit Blick auf die Dichte der Interaktion näher
an der Qualität der anglo-irischen als an der der amerikanisch-irischen Beziehungen. Dieser Umstand reflektiert nicht nur die geographische Nähe zwischen
Frankreich und Irland, sondern vor allem den Versuch irischer Radikaler und
französischer Revolutionäre, eine militärische Zusammenarbeit ins Leben rufen.
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Für das Scheitern dieses Unternehmens sind folgende Gründe festzuhalten: Erstens divergierende Interessen, die dazu führten, daß sich keine der beiden Seiten
von der jeweils anderen in die Karten schauen ließ, und zweitens unrealistische
Erwartungen auf beiden Seiten. MARIANNE ELLIOTT hat zurecht darauf hingewiesen, daß die französische Seite von den United Irishmen „alles für nichts“ erwartete, d.h. einen Sieg über Großbritannien bei minimalem französischen Einsatz.
Hierin wurden sie durch die irreführenden Informationen der United Irish Agenten bestärkt, die maßlos die Kampfstärke der United Irishmen und die Rebellionsbereitschaft der irischen Bevölkerung übertrieben, um einerseits überhaupt französische Waffenhilfe zu erhalten und andererseits Frankreich keinen Appetit auf
eine Annektion Irlands zu machen. Andererseits erwarteten zumindest einige der
United Irishmen zuviel, weil sie einerseits ihren Status als Alliierte Frankreichs
deutlich überschätzten, andererseits aber ihre eigenes Verhalten sowohl gegenüber ihrer Gefolgschaft wie gegenüber dem Gegner zu sehr von französischer
Waffenhilfe abhängig machten. Irland genoß nur für sehr kurze Zeit eine prominente Position in der französischen Militärstrategie und es grenzt an Realitätsverlust, wie Tandy und Konsorten angesichts dieser Situation in Frankreich auftraten.
Auch unterschätzten die United Irishmen – Tone und Lewins inklusive – die Fluidität der revolutionären Verhältnisse und die Kommunikationsschwierigkeiten,
die – auch ohne Tandy Eskapaden – verhinderten, daß die United Irishmen in Paris geschlossen auftreten und mit einer Stimme sprechen konnten. Es ist zwar eine
billige, weil retrospektive Kritik, aber den Erfolg der Mission in Frankreich
hauptsächlich an Carnot und Hoche zu hängen und ständig neue Interessenvertreter ins Rennen zu schicken war wohl ebenso ein Fehler wie bei der Vorbereitung
der Rebellion in Irland der französischen Waffenhilfe einen zu großen Stellenwert
zu verleihen.
IV. Innere und äußere Konfliktkonstellationen in Irland (1691-1798): ein
Bilanzierungsversuch
Das zentrale Resultat der Konstellationsanalyse – die fundamentale und umfassende Fragmentierung der irischen Gesellschaft – hat die Ausgangshypothese auf
breiter Front erhärtet, daß in Irland der Entstehungskontext des Nationalismus
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gegen Ende des 18. Jahrhunderts durch ein ungewöhnliches Maß gesellschaftlicher Zersplitterung geprägt wurde, der besondere Anstrengungen nötig machte,
um eine nationale Integrationsideologie überhaupt signifikanten Teilen der Bevölkerung plausibel zu machen. Zugleich ist aus der Konstellationsanalyse aber
auch deutlich hervorgegangen, daß irische Nationalisten potentiell auf eine Vielzahl von gesellschaftlichen Konflikten rekurrieren konnten, um eine nationale
Integrationsideologie zu legitimieren. Außerdem kann kaum ein Zweifel daran
bestehen, daß Irland gegen Ende des Jahrhunderts die Voraussetzungen mitbrachte, die für die Genese des Nationalismus zwar nicht hinreichend, aber unabdingbar
sind. Hierzu zählten vor allem eine in den urbanen Zentren, z.T. aber auch auf
dem Land zumindest ansatzweise politisierte Bevölkerung, eine funktionierende
Medienöffentlichkeit, die von der Presse und einer äußerst vitalen Flugschriftenliteratur getragen wurde und die mit der zunehmenden staatlichen Zentralisierung
in Irland einhergehende kommunikative und infrastrukturelle Anbindung der Peripherie an die Zentren in Dublin und Belfast, die sich nicht zuletzt in der Migration zwischen Stadt und Land und damit in einer wachsenden, wenn auch ungleich verteilten Mobilität der Bevölkerung niederschlug. Andererseits soll man
den Stellenwert dieser allgemeinen, letztlich modernisierungstheoretisch verankerten Faktoren nicht zu hoch veranschlagen, denn schließlich machen sie den
Nationalismus nicht, sie machen ihn nur möglich. Anders hingegen liegen die
Dinge, wenn es um die Folgen der Modernisierung der irischen Gesellschaft im
18. Jahrhundert geht, denn diese waren von entscheidender Bedeutung für die
Form und Qualität gesellschaftlicher Konflikte. Hier ist vor allem festzuhalten,
daß die gesellschaftliche Entwicklung Irlands im 18. Jahrhundert ungleichgewichtig war und daß sich die Konflikte in zwei gesellschaftlichen Dimensionen konzentrierten: dem politischen und dem sozialen Bereich. Die politische Partizipations- und die soziale Distributionskrise – das waren im 18. Jahrhundert die primären Konfliktherde in Irland.
Nimmt man nun die Konflikte selbst – d.h. ihre Form und Entwicklung über die
Zeit – in den Blick, dann lassen sich folgende Muster identifizieren:
1. Allgemeine gesellschaftliche Konflikte waren hochgradig anschlußfähig an
kolonial-konfessionelle Konflikte. Diese Feststellung erscheint auf den ersten
Blick widersinnig, weil kolonial-konfessionelle Konflikte natürlich auch prinzipiell den vier gesellschaftlichen Dimensionen zugeordnet werden können.
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Andererseits macht eine analytische Differenzierung zwischen ‚normalen‘, ubiquitären gesellschaftlichen Konflikten einer- und kolonial-konfessionellen
Konflikten andererseits Sinn. Denn nur so ist überhaupt feststellbar, wie kolonial-konfessionelle Wahrnehmungen, die aus ebensolchen Konflikten resultierten, das Verständnis der Zeitgenossen von den – am europäischen Durchsschnitt des 18. Jahrhunderts gemessen – nicht außergewöhnlichen Konflikten
überlagerte und z.T. verstärkte. Ein eklatantes Beispiel hierfür sei kurz ins
Gedächtnis gerufen, um zu verdeutlichen, was gemeint ist: Daß der Protest der
presbyterianischen Kleinpächter in Ulster, der durch eine Verschlechterung
der Pachtbedingungen hervorgerufen wurde und in den Peep-o‘-DayDefender-Auseinandersetzungen mündete, sich ab 1784 nicht gegen die Landbesitzer, sondern gegen die anderskonfessionellen Kleinpächter richtete, ist
ohne eine kolonial-konfessionelle Interpretation eines sozioökonomischen
Konflikts schlichtweg nicht zu erklären.
2. These 1 wird dadurch erhärtet, daß sich in allen gesellschaftlichen Bereichen
die koloniale Machthierarchie in der Konfliktstruktur widerspiegelt: Die
Handlungsinitiative lag grundsätzlich bei der kolonial überlegenen Machtinstanz. Die Ascendancy reagierte auf britische Interventionen, die Dissenter
und Katholiken auf die Offensiven der Ascendancy. Geschlossen wird der
Kreis dadurch, daß selbst die Kolonialmacht Großbritannien in bestimmten Situationen (vor allem in äußeren Krisen) von Irland aus unter Druck und in
Handlungszwänge geraten konnte. Dieses Muster wurde lediglich zu Beginn
der 1790er Jahre kurzfristig außer Kraft gesetzt, als die interkonfessionelle
Reformbewegung vorübergehend soviel Machtressourcen mobilisieren konnte, um die Kolonialelite in die Defensive zu drängen. Die anti-reformerischen
Repressionen ab dem Convention Act von 1793 demonstrieren allerdings, daß
die Ascendancy sehr bemüht war, den Status quo ante möglichst rasch wiederherzustellen.
3. Dauerhafter, aber parallel zu These 2, wurde die Deutungs- und Zuschreibungshegemonie der Ascendancy von den ‚peripheren‘ Bevölkerungsgruppen
angegriffen: Zu Anfang des 18. Jahrhundetrs lag die Deutungshegemonie und
die Hegemonie über die Zuschreibung des gesellschaftlichen Status einzelner
Bevölkerungsgruppen klar in den Händen der Ascendancy. Die Strafgesetze
liefern den schlagenden Beweis dafür. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts er278
kämpften sich die ‚peripheren‘ konfessionellen Gruppierungen – also die Katholiken und Dissenter – jedoch einen eigenen Deutungsanteil. Auf unterschiedliche Weise: Während die Dissenter mit regionaler Abkapselung und
Errichtung eines eigenen politisch-religiös fundierten Bezugsrahmens reagierten, der ihnen eine prinzipielle Oppositionshaltung gegenüber dem Kolonialregime ermöglichte, verfolgten die Katholiken eine pragmatische ‚Zweischienen-Politik‘, die durch Assimilationsversuche und Unterwerfungsgesten einerseits und einen auf Korporationsgeist beruhenden sozioökonomischen Wiederaufstieg andererseits charakterisiert war. Beides jedoch resultierte in einer
Steigerung des Selbstbewußtseins des presbyterianischen und katholischen
Bürgertums, der die Plattform für die Reformbewegung Anfang der 1780er
und 1790er Jahre bildete.
4. Als ein wesentlicher Faktor hinter allen kolonial motivierten Faktoren hat sich
die doppelte Frontstellung der Ascendancy gegen Großbritannien und den Rest
der irischen Bevölkerung herausgeschält. Die Eigenwahrnehmung der Ascendancy, die sich zwischen der Scylla britischer Intervention und der katholischen Charybdis gefangen sah, ist zusammen mit reinen Machtinteressen dafür verantwortlich zu machen, daß eine politische Zusammenarbeit – auch mit
dafür geeigneten und qualifizierten Teilen der katholischen Bevölkerung wie
dem Klerus und dem Adel nicht zustandekam. Daher rührt auch der Reformstau, den die periphere Opposition seit Anfang der 1790er Jahre mit zunehmender Nachdrücklichkeit gegenüber dem Kolonialregime und der Ascendancy geltend machte, und der Versuch, den Reformforderungen mittels ebenfalls
zunehmender Repressionen Herr zu werden. Der springende Punkt ist, daß
sich die Ascendancy aufgrund ihrer spezifischen Position in der irischen Gesellschaft zu einer defensiven Modernisierung vollständig außer Stande erwies, um den oppositionellen Druck kontrolliert entweichen zu lassen. Statt
dessen erhöhte sie den Gegendruck bis der Kessel platzte. Der Strudel von
1798 riß jedoch beide, die Opposition und die Ascendancy, mit sich fort: Der
Sieg der Ascendancy über die Opposition erwies sich als Pyrrhussieg. Während der staatlichen Vereinigung von Irland und Großbritannien im Jahr 1800
verleibte sich die britische Kolonialmacht kurzerhand das ein, was die inneririschen Auseinandersetzungen übriggelassen hatten.
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Die Untersuchung der irischen Außenbeziehungen nach Großbritannien, Amerika
und Frankreich hat vor allem das Ergebnis gehabt, die Thesen, die aus der Analyse der kolonialen Binnenstrukturen resultierten, zu modifizieren und zu ergänzen.
Speziell im Hinblick auf die anglo-irischen Beziehungen haben sich dabei zwei
wichtige Feststellungen ergeben. Erstens ist die Opferrolle der irischen Seite, die
im kolonialen Interpretationsansatz quasi automatisch enthalten ist, relativiert
worden, denn im Feld der anglo-irischen Beziehungen sind – für eine Vielzahl
irischer Akteure – Handlungsspielräume nachgewiesen worden, die ein solches
Verständnis nicht zulassen. Auch die klare dichotomische Kategorisierung ‚Kolonisten‘ vs. ‚Kolonisierte‘ hat sich zwar nicht als analytisch falsch, aber als faktisch problematisch herausgestellt, denn Allianzen irischer und britischer Akteure,
die sich in der Regel gegen eine Gruppe richteten, die in der Machthierarchie höher angesiedelt war, zeigen ein Verhalten, das mit der Vorstellung einer strikten
Trennung oder eines strikten Antagonismus nicht zu vereinbaren ist und so noch
einmal den idealtypisch überspitzten Charakter dieser zentralen Kategorie zur
Beschreibung der irischen Gesellschaft ins Bewußtsein ruft. Es waren Minderheiten an der Peripherie der konfessionell voneinander getrennten kolonialen Bevölkerungsgruppen, von denen die Impulse zur Überwindung der konfessionellkolonialen Grenzziehungen ausgingen: Auf der individuellen Ebene koloniale
Außenseiter wie Wolfe Tone, der zwar zum Dunstkreis der Ascendancy gehörte,
sich aber nie richtig in ihr etablieren konnte, auf der kollektiven Ebene marginalisierte politische und/oder konfessionelle Gruppen, wobei kritisch anzumerken ist,
daß politische Vorbehalte gegen das Regime und konfessionelle Orientierungen –
ebenso übrigens wie Regimekritik und soziale Lage – realiter tendenziell miteinander verschmolzen.
Die zweite wichtige Feststellung ist die Selbstverständlichkeit, mit der sich nicht
nur britische Akteure in Irland, sondern ebenso irische Akteure in Großbritannien
bewegten. Diese Erkenntnis relativiert die – nationalistisch imprägnierte – Sichtweise von zwei durch die irische See voneinander getrennten Inseln (und später:
Nationen). Die vielfältigen Interaktionen auf den diversen Ebenen der irischen
und der britischen Gesellschaft erlauben jedoch ebenso eine integrative Betrachtungsweise, die auf der Ebene der sozialen und politischen Eliten aller Konfessionen (sowohl der alten aristokratischen wie der neuen bürgerlichen) von einem
interinsularen politischen und kulturellen Raum ausgeht, die britischen Inseln also
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gleichsam als ein großes Ganzes auffaßt. Hierin kann man sicherlich eine Konsequenz des Kolonialismus sehen – nämlich der Selbst- oder Fremdassimilation der
irischen Kolonisierten unter der britischen Kolonialherrschaft –, aber das allein
greift nicht weit genug, obwohl es natürlich wichtig ist. Einerseits ist die englische Kolonialherrschaft über Irland erst im Laufe von zwei Jahrhunderten allmählich hergestellt worden, während andererseits die anglo-irischen Beziehungen
auch im 18. Jahrhundert schon auf eine ca. sechshundertjährige Geschichte zurückblicken konnten, wenn man die Ankunft Strongbows in Irland im Jahre 1170
– zugegebenermaßen relativ willkürlich – als Anfangspunkt setzt. Das bedeutet,
daß Iren und Engländer und noch sehr viel mehr Iren und Schotten bereits lange
vor der Kolonisation ‚vertraute Fremde‘ waren und daß man die Kolonisation –
obwohl nationalistisch gesinnte Iren gegen diese revisionistische These vehement
protestieren würden – auch als ‚Intensivierung‘ bereits bestehender politischer
und kultureller Kontakte verstehen kann. Die Nationalisierung der anglo-irischen
Beziehungen, die im späten 18. Jahrhundert einsetzte, hat diese interinsulare Vertrautheit, die Irland kulturell und politisch in die Rolle eines Westbritanniens
schiebt, zwar in den Hintergrund gedrängt, aber bis auf den heutigen Tag nicht
gänzlich zu beseitigen vermocht. Es mag zwar ein langer Weg nach Tipperary
sein, aber zwischen Dublin und London waren die Wege im 18. Jahrhundert bereits recht kurz und das sind sie heute immer noch.
Die beiden äußeren Großereignisse des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die Amerikanische und die Französische Revolution, waren vor allem als Impulsgeber und
als Hintergrund von inneririschen Politisierungs- und Reformprozessen wichtig.
Beide dienten oppositionellen Kreisen in Irland als Modell und historischer Präzedenzfall, die von den organisatorischen Kollektivakteuren – allen voran den
Volunteers und den United Irishmen – zur Massenmobilisierung und zur Stärkung
der Moral der Oppositionellen eingesetzt wurden, als Anknüpfungspunkt für politische Hoffnungen, als Quelle für spezifische Formen oppositoneller und radikaler
Rhetorik, Symbolik und Metaphorik und – im Fall Frankreichs – sogar als potentieller militärischer Bündnisgenosse. Kurzum: Durch diese beiden Großereignisse
wurden zwei aufeinander folgenden irische Generationen – entweder als Gegner
und Kritiker oder als Förderer und Befürworter – politisch sozialisiert. Dabei ist
allerdings deutlich zwischen den beiden Revolutionen hinsichtlich der Gruppen,
die in Irland durch die Ereignisse politisiert wurden, und der Qualität der Politi281
sierung zu unterscheiden. Die Amerikanische Revolution trug entscheidend zur
schichtübergreifenden Emanzipation der ‚protestantischen Nation‘ (d.h. des politisch aktiven Teils der protestantischen Bevölkerung) gegenüber der Kolonialmacht Großbritannien bei, während die Französische Revolution (zumindest bis
zur Terreur) konfes-sionsübergreifend das irische Bürgertum politisierte – mit
einer Tendenz zur Ausweitung der Politisierung in Richtung des vierten Standes.
Ein weiterer wesentlicher Unterschied bestand darin, daß die Amerikanische Revolution konstitutionellen Autonomiebestrebungen in Irland Auftrieb gab, die mit
klassischen liberalen Argumentationsstrukturen fast deckungsgleich waren, während die Französische Revolution zunehmend radikalere Orientierungen hin zur
Errichtung einer Republik, zur Beseitigung der Monachie und – in Verbindung
damit – auch zur vollständigen Trennung Irlands von Großbritannien begünstigte.
Ein dritter wichtiger Unterschied ist das Ausmaß der gesellschaftlichen Polarisierung in Irland, daß durch die beiden Großereignisse hervorgerufen wurde, und die
Fluidität der Wahrnehmungen von den Revolutionen in Irland. Zum Ausmaß der
Polarisierung läßt sich festhalten, daß diese im Hinblick auf die Französische Revolution wesentlich stärker ausgeprägt war, was zum Teil an der Radikalität der
Französischen Revolution und ihren gesellschaftlichen Implikationen, zum Teil
aber auch an den spezifischen zeitgenössischen Interpretationen der Französischen Revolution in Irland lag, die auf kolonialen, konfessionellen und sozialen
Wahrnehmungsmustern beruhte. Was die Fluidität der zeitgenössischen Interpretationen in Irland betrifft, kann hinsichtlich der Amerikanischen Revolution in
Anlehnung an OWEN DUDLEY EDWARDS festgehalten werden, daß lediglich zu
bemerken ist, daß die protestantische Amerikanophilie in dem Maße abnahm, wie
die Bündnispolitik der amerikanischen Kolonisten – also vor allem das Bündnis
mit Frankreich und Spanien – eine konfessionelle Lesart der Ereignisse erschwerte. Die Entwicklung der irischen Frankophilie bzw. –phobie hingegen unterlagen
einer anderen, schichtspezifischen Logik: Das Lager der irischen Revolutionsgegner setzte sich zunächst aus dem irischen Schichtpendant der französischen Revolutionsgegner zusammen (also aus Adel und Aristokratie) und erweiterte sich sukzessive um die moderaten Teile des irischen Bürgertums aller Konfessionen, bis
schließlich auf der Seite der Frankophilen nur noch Radikale aus allen Schichten
und Konfessionen und die Defenders als ansatzweise politisierte Repräsentanten
des (überwiegend katholischen) vierten Standes übrigblieben. Das Verhältnis des
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irischen Bürgertums zur Französischen Revolution entspannte sich allerdings
nach dem Ende der Terreur wahrnehmbar und das zeigt, daß der komplexe Verlauf der Französischen Revolution sich auch in den irischen Reaktionen darauf
widerspiegelte und nachzeichnen läßt.
Dies sind die gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen die Genese
des republikanischen, irischen Nationalismus in den 1790er Jahren stattfand, der
sich vom protestantischen Protonationalismus, dem sogenannten ‚colonial nationalism’ der sogenannten ‚Protestant Nation‘, kategoriell vor allem dadurch unterschied, daß er als Integrationsideologie an die Adresse der Iren aller Konfessionen
gerichtet war, daß er dezidiert politisch (und nicht kulturell) fundiert war und daß
er seine Gegner nicht nur in Großbritannien, sondern auch in der als britischer
Brückenkopf in Irland wahrgenommenen Ascendancy suchte und fand. Nun gilt
es, sich den Trägerschichten und organisatorischen Kollektivakteuren zuzuwenden, um mehr über die soziale Basis des republikanischen, irischen Nationalismus
zu erfahren.
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