May-Britt Frank-Grosse Berlin Love Story

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May-Britt Frank-Grosse Berlin Love Story
Und dann kam da nichts mehr, als bloß ein Stück amtlichen
Papiers.
Mit Reichsadler und Hakenkreuz über der schwungvollen Unterschrift – so wie es sich gehörte. Ein paar hohle Worte standen darüber – von denen sie nur eines begriff: Vermisst! Gretmarie hatte
ihren Marten vermisst – vermisst, besonders an dem Morgen, als sie
allein vor dem tiefen schwarzen Loch stand und nur noch glimmerigen Rauch sah. Marten – ihre erste, ihre große Liebe. Acht Jahre
wäre sie heute schon seine Frau – wenn da nicht irgendjemand hätte
Gott spielen wollen.
Sie kann plötzlich nichts mehr sehen, weil das Wasser ihr in die
Augen schießt und zwei salzige Spuren auf ihre Wangen zeichnet.
Laut spricht sie ein Gebet. Sie ist nicht wütend auf ihren Herrgott – sie erträgt ja alles, bloß das alles mit ihrem kleinen Verstand zu
begreifen – das hat er sie noch nicht gelehrt.
In ihrer inwendigen Trauer hat sie nicht mitbekommen, dass die
Tür sich hinter ihr geöffnet hat. Zwei Mannsbilder sind leise in die
Kammer getreten – so leise, als wenn Engel durch den Himmel f liegen.
Eines von ihnen ist der greise, von der Last seiner Jahre gebeugte
Pastor Wübbenhorst – das andere Mannsbild ist Marten – ihr Marten. Auch gebeugt von der Last der Jahre – obwohl er doch erst gerade Mitte der dreißig ist. Gretmarie glaubt zu träumen – sie greift
nach ihm – sie streichelt sein mageres Gesicht – und sie spürt, dass er
lebt. Er lebt – es ist kein Traum, er lebt wahrhaftig.
Wie ein bildhafter Weihnachtsbaum stehen die beiden vor dem
blanken Spiegel – jetzt kann sie doch noch sehen, wie schön sie als
Braut aussieht. Das Strahlen und das Leuchten, das hat der alte
Pastor Wübbenhorst dazugetan – er hat das Versprechen der beiden
von vor neun Jahren in der kleinen Kammer in ein Sakrament
gepackt – er hat Gretmarie und Marten auf der Stelle getraut. Das
neue Leben – das in dieser heiligen Nacht in Gretes Leib zu leben
begann – das betrachten die beiden heute noch als ihr Christkind.
May-Britt Frank-Grosse
Berlin Love Story
eine Augen konnte ich nicht sehen, aber dafür deinen Atem
spüren. Am Ohr, am Hals bis hinunter zu dem feinen Flaum,
der allmählich in den Haaransatz übergeht. Ich war nicht auf den
Satz vorbereitet gewesen. Warum auch. Er war zu trivial, als dass er
jemals in der Wirklichkeit Bestand haben könnte. Ich hätte lachen,
deinen Gin Tonic annehmen und gehen sollen. Aber ich blieb länger, als ich hätte bleiben sollen.
Wir waren Freunde von Freunden und bereits viele Male grußlos in den stickigen Ost-Berliner Clubs aneinander vorbeigegangen. Die Frau an deiner Seite hatte ich stets übersehen und lange
geglaubt, es gäbe niemandem bei dir, bis sie an einem Abend neben
mir stand. Sie war ein Mädchentyp mit zierlicher Figur und schwarzem, langem Haar, aber der Stimme eines fünfzigjährigen Kettenrauchers. Ich nahm ihre Zigaretten und starrte auf ihre weißen
Adidas-Schuhe unter dem knielangen Rock. Worüber wir sprachen, hätte am nächsten Tag keine mehr zu sagen gewusst, aber es
lag eine Melancholie darin, als müssten wir uns für lange Zeit verabschieden und es blieben nur wenige Stunden, um alles auszusprechen, was es noch zu sagen gäbe.
Viel später, als die Tanzf läche leer gespielt war, verabschiedete
sie sich und ging zu dir hinüber. Ich aber brach auf in den nächsten
Club, ein wenig Zeit blieb noch, bis die Müdigkeit mich von der
Straße scheuchen würde. Dort stand ich in der Nähe des Eingangs,
ein Bein an die Fliesen gelehnt, während rote, blaue und weiße
Lichtsäulen das Halbdunkel teilten. Rauchend, lachend und tanzend drängten sich Fremde im Halbdunkel vorüber. Niemand
schien mich zu bemerken. Ich trank, rauchte und sah dem Treiben
aus wachsender Distanz zu. Mit einem Mal konnte ich mich nicht
mehr an den Grund ihrer Ausgelassenheit erinnern. Ich musste hier
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raus. Auf dem Weg zum Ausgang traf ich dich. Ein Gruß, ein Lächeln
und ein Glas Gin Tonic. »Ich hatte gehofft, dir heute noch zu begegnen.« Deine Worte klangen unglaubwürdig. Und gleichzeitig wie
ein Ausweg, ein Versprechen, eine Verheißung. Als wir später in
deinem Bett lagen, dein Atem staccato in meinem Nacken, begleitet vom Kreischen der U-Bahn draußen vor dem Fenster, überkamen mich noch einmal Zweifel. Hattest du den Satz vorsätzlich eingesetzt? Ich blieb nicht bei dir in dieser Nacht. Doch ich kam wieder,
trank bald Kaffee am Morgen, blieb bis zum Mittag und aß nachts
Spaghetti Aglio Olio vor dem großen Kachelofen in deinem Bett.
Dann brachte ich mein Lieblingsbuch, las daraus vor, bis uns laut
lachend dicke Tränen über die Wangen liefen. Und immerzu war
dein Körper ganz nah, als wolltest du mit mir verwachsen. Aber wir
konnten so nicht weiter machen. Ein klares Gespräch musste mit der
Anderen geführt werden, die ich nicht mehr gesehen hatte, seit jener
Nacht, als du mit mir, anstatt mit ihr nach Hause gegangen warst.
Gleich morgen würdest du zu ihr gehen, denn das mit uns war dir
ernst. Noch einmal blieb ich eine wunderschöne Nacht lang. Seither
warte ich auf Nachricht. Dein Anrufbeantworter ist still, deine Türe
verschlossen und kein Licht zu sehen, wenn ich mit Herzklopfen
durch die U-Bahnfenster zu dem dunklen Fensterkreuz hinüberschaue. Es ist noch nicht lange her. Du wirst dich melden. Bestimmt.
Die kleine Frau muss schon eine Weile vor mir gestanden haben.
Jede Nacht bin ich dort, wo du den verhängnisvollen Satz in mein
Ohr geraunt hast. Sie wird angerempelt, strauchelt, fängt sich,
lächelt, winkt und deutet auf einen ruhigen Nebenraum. Sie will
mir was sagen. Mein Herz klopft laut. Ich drehe den Kopf, aber du
bist nicht da. Dann sitzt sie unschlüssig neben mir, fächert den Rock
zwischen die Finger, bis der Saum über die Knie herauf rutscht. Sie
trägt keine Strumpfhose. Dann schaut sie mich an, lächelt und fragt,
wie es mir geht. Ich zögere. Warum hast du mich nicht auf diesen
Moment vorbereitet? Alles super, sage ich vorsichtig. Ich lasse mich
treiben, kein Problem in dieser Stadt. Viele Freunde, immer eine
Veranstaltung. Aber der Winter macht einen fertig. Diese elende
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Kälte. Der Schnee ist eher nicht so schlimm, eigentlich schön, wenn
er mal fällt. Aber sobald er am Boden liegt, zieht er den Schmutz an
wie nichts. Und die Schuhe, die kann man wegschmeißen.
Sie weiß es.
»Ich weiß es«, sagt sie, lächelt und schweigt, schaut zur Seite und
schweigt. Und sagt dann doch noch etwas. Du wärst zu ihr gegangen, vor ein paar Tagen schon. Aber nicht, um Schluss zu machen.
Ein Fehler sei ich gewesen, eine Versuchung, der du nicht widerstehen konntest. Aber nur eine Irritation, nichts, was nicht rückgängig
gemacht werden könne. Sie sei wütend gewesen und habe dich vor
die Tür gesetzt. Unter Tränen. Sie liebt dich ja trotzdem. Immer
wieder wärst du die 96 Stufen zu ihrer Wohnung hinaufgestiegen.
Mit Eisblumen am Kinn und Rosen im Arm. Bis an einem Abend
die Türe schon ein Stück offen stand und der warme Schein der
Flurlampe einen hellen Streifen in den schwach beleuchteten Flur
hinausmalte. Wie ein Traktorstrahl zog er dich wieder hinein in
ihre Welt. Ihr hattet euch noch in der gleichen Nacht ewige Liebe
geschworen. Und als der eisige Morgen heraufzog, bist du geblieben, suchst schon einen Nachmieter für dein Zimmer.
Die kleine Frau strahlt, als sie das sagt. Ja, es sei sogar viel schöner
als vorher. Mehr Ehrlichkeit. Mehr Aufmerksamkeit. Nicht wie
früher. Da hättest du sie schon mal wie Luft behandelt, wie eine, die
man besitzt, aber deren Wert man nicht schätzt. Manchmal hättest
du sie eine Woche lang nicht angerufen. Grundlos vermutlich, aber
dann war wieder alles wie vorher.
Du bist der Mann.
Sie lächelt fast schüchtern, als sie das sagt und steckt sich eine
neue Zigarette an. Viereinhalb Jahre schon. Viele Geschichten hätte
sie gehabt, aber mit dir sei es ernst. Familie gründen, Kinder, alt
werden. Das ganze Programm.
Endlich. Meine Zigarettenschachtel ist leer. Ich deute auf den
Automaten am Ausgang und entkomme in die Nacht. Die Straßen
sind vom Eis schlüpfrig, meine Schuhe finden nur schlechten Halt.
Während ich durch die Dunkelheit nach Hause laufe, begegnen mir
wenige Menschen.