Liebe per Vertrag

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Liebe per Vertrag
Emma Jahn
Liebe per Vertrag
Roman
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1. Auflage Mai 2016
Copyright © 2016 by Emma Jahn
Lektorat: Petra Förster
Coverentwurf: Heiner Meemken
Coverfotos:
© istockphoto.com/MichaelJay
© istockphoto.com/Alexander Chernyakov
© istockphoto.com/Ridofranz
© istockphoto.com/PeopleImages
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher
Genehmigung des Autors. Personen und Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und
nicht beabsichtigt. Markennamen sowie Warenzeichen, die in diesem Buch
verwendet werden, sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Eigentümer.
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1.
Lilly sah ihren Chef entsetzt an.
»Ich bin doch keine …« Sie rang nach Worten. Wie konnte
dieser Mann auch nur denken, dass sie sich auf solch eine Sache einlassen würde?
»Nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Es geht einzig und allein um – wie soll ich das ausdrücken – ein Spiel oder, vielleicht
besser, eine Show. Sie tun selbstverständlich nur so, als wären
Sie meine Verlobte, nicht mehr und nicht weniger. Es ist sozusagen ein Geschenk für meine Tante. Sie wird in zwei Wochen
achtzig und wünscht sich nichts sehnlicher, als mich in festen
Händen zu sehen, sozusagen kurz vor der Familiengründung.«
Lilly vergaß für einen Moment, dass es sich bei dem Mann,
der vor ihr saß, um ihren Chef handelte. »Dann sollten Sie das
vielleicht einfach tun. Ein solches Schauspiel würde doch nach
kurzer Zeit auffliegen. Oder wollen Sie mich auch pro forma
heiraten und mit mir Kinder bekommen?«
Julius Bergers Gesichtsausdruck wurde ernst. »Ich weiß sehr
gut, was ich da von Ihnen verlange, aber …« Er atmete schwer
ein. »Wir brauchen den Kredit. Ohne ihn werde ich mit hoher Wahrscheinlichkeit in zwei Monaten Insolvenz anmelden
müssen.«
»Was für einen Kredit?«, fragte Lilly verwirrt.
»Unsere Agentur ist mehr oder weniger pleite. Nachdem das
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Konkursverfahren der Basco AG eröffnet wurde, können wir
quasi unsere gesamten Ausstände abschreiben. Immerhin fast
eine halbe Million Euro. Bei der Basco AG ist definitiv nichts
zu holen. Das hat der Konkursverwalter mir gestern erklärt.«
»Aber … was hat das … jetzt mit Ihrer Tante zu tun?«,
stammelte Lilly.
»Sie ist stille Teilhaberin der Agentur und in der Lage, uns
über den finanziellen Engpass hinwegzuhelfen. Und bevor Sie
fragen: Unsere Hausbank hat eine weitere Erhöhung des Kreditrahmens kategorisch abgelehnt.«
Lilly sah ihn ungläubig an. »Und Ihre Tante wird nur einwilligen, wenn Sie ihr eine Verlobte präsentieren?«
»Davon gehe ich definitiv aus. Bei meinem letzten Besuch hat
sie mir verkündet, dass ich mich nicht einmal bei ihrer Geburtstagsfeier sehen lassen solle, solange ich ihre Bedingungen
nicht erfüllt habe. Da können Sie sich sicher vorstellen, dass ich
auf eine Kapitalerhöhung schon gar keine Chance habe.«
Lilly dachte an ihre Kollegen, die, im Gegensatz zu ihr selbst,
fast alle Familie hatten und von heute auf morgen auf der Straße stehen würden. Trotzdem war sie nicht bereit, einer alten
Dame eine dicke Lüge aufzutischen, um ihr das Geld aus der
Tasche zu ziehen.
»Tut mir leid. Jemandem wegen einem Kredit einen solchen
Bären aufzubinden, bin ich nicht bereit. Ich würde mich in
Grund und Boden schämen.«
Julius Berger nickte bedächtig. »Ich verstehe, was Sie meinen.
Allerdings …« Er machte eine kurze Pause und schien zu überlegen, ob er weitersprechen sollte. »Es gibt da noch einen anderen Aspekt. Der eigentlich für mich viel entscheidender ist.«
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Lilly sah ihn fragend an. Sie konnte sich nicht im Ansatz vorstellen, auf was er hinauswollte.
»Es ist eine sehr private Angelegenheit, müssen Sie wissen.«
Er schluckte und Lilly spürte, wie schwer ihm das Reden fiel.
»Sie … ist schwer krank und hat nicht mehr lange zu leben.«
Lilly sah ihn betreten an. »Sie meinen …«
»Ja, leider. Die Diagnose scheint eindeutig. Sie hat Krebs. Es
geht um einige wenige Monate.«
»Und Sie wollen ihr jetzt ihren letzten Wunsch erfüllen?«
Julius Berger nickte.
»Und ihr gleichzeitig das Geld aus der Tasche ziehen«, fügte
Lilly ärgerlich hinzu.
»Es ist nicht ganz so. Sie müssen wissen, ich werde im Testament als Alleinerbe genannt – bekomme also das Geld über
kurz oder lang ohnehin. Aber eben nicht früh genug, um die
Agentur zu retten. Natürlich bin ich für jeden Tag dankbar,
den meine Tante noch am Leben ist. Ich hoffe, dass sie trotz der
schlechten Diagnose länger lebt, vielleicht sogar ein Wunder
geschieht. Sie wäre nicht die Erste, bei der die Ärzte vollkommen danebenliegen.«
Lilly zögerte ihre Antwort hinaus. Den Wunsch einer Sterbenden zu erfüllen, war natürlich etwas ganz anderes, als jemanden um sein Geld zu betrügen. Trotzdem war ihr ganz
und gar nicht wohl bei dem Gedanken, die Verlobte von Julius
Berger zu mimen.
»Sie würden natürlich die Zeit bezahlt bekommen«, fuhr Julius Berger fort. »Wir werden sicher ein paar Tage für die Vorbereitung brauchen. Meine Tante ist eine sehr intelligente Frau
und wenn wir sie überzeugen wollen, müssen wir uns gut auf-
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einander einstimmen.« Er räusperte sich. »Was halten Sie von
tausend Euro? Sieben bis zehn Tage werden wir uns wohl Zeit
nehmen müssen. Das wären dann um die zehntausend Euro.«
Lilly starrte ihn an. »Ist das Ihr Ernst?«
»Die freien Tage würden selbstverständlich nicht zu Lasten
Ihres Urlaubs gehen. Ich könnte natürlich noch …«
»Warum gerade ich? Für das Geld finden Sie Hunderte von
Kandidatinnen.«
Julius Berger sah sie mit seinen großen kastanienbraunen Augen an. Wahrscheinlich würden es viele Frauen sogar umsonst
machen, schoss es Lilly durch den Kopf. Einfach in der Hoffnung, dass sie diesem verdammt gutaussehenden Mann und
zukünftigen Erben eines beträchtlichen Vermögens fast zwei
Wochen nahe sein könnten.
Julius Berger räusperte sich. »Sie sind genau der Typ Frau, den
meine Tante sich für mich vorstellen würde. Jung, aber nicht
zu jung, empathisch, verantwortungsvoll, durchsetzungsstark.
Eine Frau, die das Wort Tradition nicht nur buchstabieren
kann, die nur ihrem Gewissen folgt und für die Familie ein
hoher Wert ist.«
Lilly sah ihn ungläubig an. »Und woher wollen Sie bitte wissen, dass ich so bin? Sie kennen mich doch gar nicht.«
Julius Berger nickte nachdenklich. »Im Prinzip haben Sie natürlich recht. Ich kann es nur vermuten. Aber in meiner Position muss man notgedrungen eine gute Menschenkenntnis
haben. Und Sie sind mir vom ersten Tag an aufgefallen. Sie
hören Ihren Kollegen aufmerksam zu, haben aber gleichzeitig
nicht die geringste Angst, Ihre Meinung zu vertreten. Wenn
Sie etwas sagen, spürt man gleich, dass Sie mit Herzblut dabei
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sind. Dann haben Sie schon zwei- oder dreimal Überstunden
abgelehnt, weil Sie einen familiären Termin hatten. Alles andere kann man in Ihren Augen lesen.«
Lilly sah verlegen auf die Tischplatte. »Ich weiß nicht. Sie reimen sich da was zusammen. Einmal davon abgesehen, dass ich
niemanden betrügen möchte, bin ich sicher die vollkommen
falsche Person für diese … Sache.«
»Schade. Es hätte mir wirklich viel bedeutet.«
»Sie finden schon eine Frau. Es ist ja noch Zeit. Was sagten
Sie? Wann ist das Fest?«
»In knapp zwei Wochen. Trotzdem sehe ich schwarz. Wie gesagt, meine Tante ist eine sehr intelligente Frau, der man nicht
so leicht etwas vormachen kann. Deshalb hatte ich ja die Vorbereitungszeit mit eingeplant.« Julius Berger sah sie direkt an.
»Frau Husmann, wollen Sie nicht eine Nacht über meinen Vorschlag schlafen und wir reden morgen noch einmal darüber.«
»Ich glaube nicht, dass …«
»Bitte!« In seiner Stimme klang etwas Flehendes mit.
Lilly schloss für einen Moment die Augen. Sie wusste nur zu
gut, dass Julius Berger sie an ihrem schwächsten Punkt erwischt hatte: Sie hatte seit jeher große Probleme mit dem NeinSagen.
»Okay. Ich denke darüber nach. Machen Sie sich aber bitte
nicht zu viel Hoffnung.«
Sie stand auf, nickte ihm zum Abschied zu und wandte sich
ab, bevor er noch etwas sagen konnte.
»Was? Du hast abgelehnt?«, fragte Kim entsetzt. »Zehntausend.
Ist dir klar, wie viel das ist? Wie lange müsstest du dafür in eu-
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rer schicken Werbeagentur arbeiten? Und jetzt brauchst du nur
für zwei Tage seine Braut zu mimen? Das ist doch total easy.«
»Wenn es so einfach wäre. Er will eine schwer kranke alte
Dame betrügen. Und dabei soll ich mitmachen?«
Kim schob den Laptop zu ihr hinüber. »Ist er etwa das hier?«
»Ja, das ist Herr Berger. Warum?«
»Hey! Sieht der in echt auch so aus? Ich meine …«
Lilly sah sich das Foto genauer an. »Ja, da ist er ganz gut getroffen.«
»Oh Gott. Ich dachte, das wäre ein uralter Knacker und du
lehnst deshalb ab. Der sieht doch zum Anbeißen aus und ist
kaum älter als wir.«
Lilly rollte mit den Augen. »Erstens, er ist sechs Jahre älter
als ich, und zweitens, ich kann dir gerne seine Telefonnummer
geben. Vielleicht versuchst du mal dein Glück.«
Kim sah sie grimmig an. »Sehr witzig. Aber mit der doofen
Kim kann man’s ja machen. Die ist ein feiner Punchingball für
alle Gelegenheiten.«
Lilly setzte sich neben ihre Freundin und nahm sie in den
Arm.
»Entschuldige. Das war wirklich nicht so gemeint. Du kennst
mich doch. Ich hasse Betrug und Betrüger noch mehr. Da kann
ich doch nicht bei solch einer Show mitmachen.«
»Warum denn nicht? Die Frau ist sterbenskrank. Du bereitest ihr eine große letzte Freude. Was kann es Schöneres geben? Wenn das nicht christlich ist. Außerdem rettest du eure
Agentur. Hast du nicht immer erzählt, dass deine Kollegen fast
alle Familie haben? Mal ganz abgesehen von deinem eigenen
Arbeitsplatz. Und überhaupt: Wenn du Skrupel hast wegen
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dem Geld, dann finden wir schon einen Abnehmer.« Sie grinste
breit. »Ich würde mich natürlich – unter Umständen –, wenn
du mich sehr bittest …«
Lilly lachte. »Du bist wirklich eine Ulknudel. Es macht doch
keinen Unterschied, ob ich es bekomme oder du.«
Kim zog einen Schmollmund. »Einen Versuch war es wert.
Aber im Ernst. Dann nimmst du halt weniger Geld. Immerhin zwei Wochen Zusatzurlaub und eine nette Ablenkung vom
Alltag. Seit du Philipp mit dieser Schnalle im Bett erwischt
hast, schottest du dich vollkommen von der Welt ab. Arbeit,
Arbeit, Arbeit. Nur für mich hast du noch hin und wieder ein
paar freie Minuten übrig. Also, ich würde sagen, dieses Projekt
tut dir gut.« Sie stutzte. »Karitatives Projekt, wollte ich eigentlich sagen.«
»Ist ja gut, Kim. Ich habe ja verstanden. Aber es ändert nichts.
Ich würde mir vorkommen wie eine Prostituierte. Also, Ende
der Diskussion. Wollen wir uns jetzt das Video angucken, oder
nicht?«
Kim zog maulend die DVD aus ihrer Handtasche. »Hier.
Dann setzen wir uns halt vor eine Schnulze, anstatt selbst etwas zu erleben. Ist ja auch viel einfacher.«
»Ruhe!«, sagte Lilly und zog dabei jede Silbe in die Länge.
Sie griff nach der DVD und schob sie in den Player. Zurück
auf dem Sofa kuschelte sie sich bei Kim an und legte die große
Wolldecke über sich und ihre Freundin.
Als Kim nach Hause gegangen war, saß Lilly unschlüssig auf
ihrem kleinen Balkon. Es war kurz nach acht Uhr und selbst
für einen Augustabend sehr mild. Sie überlegte, ob sie noch
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einen Spaziergang machen oder sich eine Pizza bestellen sollte.
Schließlich entschied sie sich für eine Glas Weißwein und eine
kleine Käseplatte. Als sie alles auf dem Tablett platziert hatte, ging sie zurück auf den Balkon. Neben einem Tisch stand
hier ein gemütlicher Gartensessel. Zwei Jahre zuvor hatte sie
die kleine Wohnung in einem ehemaligen Arbeiterviertel von
Hamburg bekommen. Die Wohnungsbaugesellschaft hatte
lange Wartelisten und ohne die Vermittlung ihres Vaters, der
einen Freund aus Jugendtagen um Hilfe gebeten hatte, hätte sie
eine Ewigkeit ausharren müssen. Sie hatte lange überlegt, ob
sie das Angebot annehmen sollte, und erst zugestimmt, als ihr
Vater ihr versichert hatte, dass fast alle Plätze auf diese Weise
vergeben wurden. Trotzdem hatte sie jedes Mal Schuldgefühle,
wenn sie an ihren Einzug dachte.
Lilly trank einen Schluck Wein und aß den in Würfel geschnittenen Käse. Immer wieder kam ihr das Gespräch mit
Julius Berger in den Sinn. Sollte sie heute eine Entscheidung
treffen oder tatsächlich erst eine Nacht darüber schlafen? Auf
jeden Fall würde ihr Chef am Vormittag mit ihr reden wollen.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie eine alte kranke Frau, deren
letzter Wunsch nicht in Erfüllung gehen würde, wenn Lilly
nicht über ihren Schatten springen könnte. So hatte es zumindest Kim ausgedrückt. Für Kim war die Angelegenheit glasklar. Ein Abenteuer, das man sich nicht entgehen lassen konnte. Betrug hin, Betrug her. Menschen würden nun mal lügen,
hatte sie gemeint und, dass nicht jede Lüge unbedingt schlecht
sein musste. Manchmal sei man sogar moralisch verpflichtet,
dem anderen nicht die Wahrheit zu sagen. Lilly schüttelte lächelnd den Kopf. Kim nahm das Leben, wie es kam. Warum
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nur musste sie sich selbst immer über alles den Kopf zerbrechen? War es das Geld, das Julius Berger ihr angeboten hatte?
Hätte sie bei einer einfachen Bitte um Hilfe schneller zugesagt?
Wahrscheinlich ist es so, dachte Lilly. Gefühle und Geld waren
für sie nur schwer vereinbar.
Beim Gedanken an Kims Vorschlag, ihr das Honorar zu geben, musste Lilly schmunzeln. Dann stutzte sie. Und wenn das
Geld einer gemeinnützigen Organisation zugutekäme? Sie hatte von einem Kinderhospiz in der Nähe von Hamburg gehört,
das auf regelmäßige Spenden angewiesen war. Hier wurden
schwer kranke Kinder und Jugendliche, deren Lebenszeit dem
Ende zuging, zusammen mit ihren Eltern betreut. Das Hospiz
würde sich sicherlich über zehntausend Euro freuen. Seufzend
trank Lilly den letzten Schluck Wein und ging zurück in die
Wohnung.
Bevor Lilly an der Tür von Julius Bergers Büro klopfte, atmete sie noch einmal tief durch. Seitdem sie am Morgen erwacht
war, hatte sie mit sich um eine Entscheidung gerungen.
»Guten Morgen, Frau Husmann«, sagte eine freundliche
Stimme hinter ihr.
Lilly drehte sich um und sah Julius Berger direkt in die Augen.
»Kommen Sie doch rein«, sagte er und öffnete die Tür. »Ich
hatte Sie gar nicht so früh erwartet.«
»Guten Morgen, Herr Berger.«
»Möchten Sie etwas trinken? Kaffee, Cappuccino, Latte …«
»Nein, danke.«
»Setzen Sie sich doch. Ich bin schon mächtig gespannt, wie
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Sie sich entschieden haben.« Er lächelte sie an. »Sie haben sich
doch entschieden?«
Lilly ließ sich auf dem Platz vor dem Schreibtisch nieder.
»Noch nicht so ganz. Ich hätte da ein paar Bedingungen.«
»Wenn ich sie erfüllen kann, gerne.«
Lilly legte ihren Kopf in den Nacken und versuchte ihre Atmung in den Griff zu bekommen. Seit sie das Büro betreten
hatte, war ihr Puls nach oben geschnellt, und sie hatte Mühe,
einen klaren Gedanken zu fassen.
»Ich kann kein Geld von Ihnen annehmen. Zumindest nicht
für eine solche … Arbeit.«
»Okay«, sagte Julius Berger.
»Sie können es stattdessen spenden. Es gibt in der Nähe ein
Kinderhospiz, das auf Spenden angewiesen ist. Wir legen das
vertraglich fest und ich bekomme eine Kopie der Überweisung.«
»Akzeptiert.«
»Keiner in der Agentur erfährt etwas von der Sache. Ich gehe
offiziell auf eine Fortbildung. Meine Projekte übernimmt meine Kollegin Anne oder sie bleiben so lange liegen, bis ich wieder da bin.«
Julius Berger nickte. »Das ist eine gute Idee.«
»Ich nehme keine Geschenke von Ihnen an. Und wenn ich
etwas brauche für … Wie soll das jetzt nennen?«
»Unser Spiel?«, schlug er vor.
»… unser Spiel, dann bekommen Sie es nach dem Wochenende zurück.«
»Wie Sie möchten. Sicherlich benötigen wir ein paar Dinge.
Da wären schon mal die Verlobungsringe, dann brauchen Sie
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etwas zum Anziehen und …«
»Das können wir ja später besprechen«, unterbrach Lilly ihren Chef. Sie wunderte sich selbst, wie forsch sie auftrat, und
sprach schnell weiter. »Wir werden uns notgedrungen duzen
müssen. Sobald wir wieder hier in der Agentur sind …«
»Ja, natürlich. Die Vertraulichkeiten sind auf die zwei Wochen beschränkt.«
»Genau das wäre meine letzte Frage. Wie bitte wollen wir
Ihrer Tante vorgaukeln, dass wir verliebt sind? Ich kann mir
nicht vorstellen, dass wir uns in den Arm nehmen oder gar …«
»Sie haben recht«, sagte Julius Berger. »Wir werden uns nicht
unbedingt küssen müssen, aber etwas näher als unser jetziger
Abstand …« Er zeigte mit der Hand in ihre Richtung. »… werden wir uns wohl ab und zu sein müssen. Aber ich verspreche
Ihnen, dass ich …«
»Schon gut«, sagte Lilly. »Es lässt sich wohl nicht vermeiden.
Gut. Ich vertraue Ihnen.«
»Das freut mich. Haben Sie noch weitere Bedingungen?«
Lilly überlegte. Da sie sich mit solchen Angelegenheiten nicht
auskannte, war es natürlich schwer, alle Eventualitäten vorherzusehen.
»Sie haben von einer Vorbereitung gesprochen«, sagte sie
schließlich. »Wahrscheinlich haben Sie sich schon Gedanken
gemacht oder sogar eine Art Programm zurechtgelegt.«
»Na ja, Gedanken schon.«
»Ich möchte Einfluss darauf haben. Mir ist schon klar, dass
wir etwas Zeit miteinander verbringen müssen, damit wir
nicht nach ein paar Minuten auffliegen, aber …«
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Jeder von uns hat abwech-
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selnd das Sagen, darf bestimmen, wie wir die Sache angehen.
Ganz demokratisch. Was halten Sie davon?«
Lilly überlegte kurz. »Ja, so könnte es funktionieren.«
»Wunderbar! Dann sind wir uns ja einig.«
Julius Berger stand auf und reichte ihr die Hand.
»Julius«, sagte er.
Zögerlich ergriff sie seine Hand und sagte: »Lilly oder eigentlich Elisabeth.«
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2.
Lilly saß auf ihrem Balkon und starrte in den Himmel. Die
Dämmerung hatte eingesetzt und in spätestens einer halben
Stunde würde es dunkel werden. Das Weinglas auf dem Tisch
war noch unberührt, die Pizza inzwischen kalt. Nach dem
Gespräch mit Julius Berger hatte sie bis zum Nachmittag weitergearbeitet und dann ihre Aufträge an ihre Kollegin Anne
übergeben. Dass sie von jetzt auf gleich zu einem Fortbildungsseminar fahren würde, hatte Lilly mit einem Nachrückerplatz
begründet. Anne hatte sie zwar irritiert angeschaut, aber nichts
weiter dazu gesagt.
Lilly schob das Glas von der einen Seite des Tisches auf die
andere. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass sie diesem
absurden Spiel zugestimmt hatte. Die Vereinbarung, die Julius
Berger aufgesetzt hatte, lag unterschrieben vor ihr. In wenigen
Sätzen hatte er ihre Aufgabe umschrieben und festgehalten, an
welche Organisation die Spende gehen sollte.
Kommenden Vormittag um neun wollten sie sich in einem
Innenstadtcafé treffen, zusammen frühstücken und danach auf
die Suche nach einem Verlobungsring gehen. Als er sie fragte,
ob sie eher eine schlichte Variante oder einen Ring mit Diamanten bevorzuge, hatte sie ihn mit großen Augen angeschaut
und nicht gewusst, was sie antworten sollte. Sie hatte sich mit
ihren achtundzwanzig Jahren bisher weder über Trauringe Ge-
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danken gemacht, noch über so etwas Altmodisches wie eine
Verlobung.
Kopfschüttelnd stand sie auf und räumte den Tisch ab.
Im Bett war an Schlaf nicht zu denken. Sie wälzte sich von
einer Seite auf die andere und versuchte mehrere Stunden vergeblich an etwas anderes zu denken als an den nächsten Tag.
Als Lilly um zehn nach neun das Café betrat, saß Julius Berger
an einem Zweiertisch direkt am großen Fenster zur Straße. Er
stand auf und winkte ihr zu.
»Guten Morgen, Herr Berger«, sagte Lilly und stutzte. »Julius,
meine ich.«
Er zuckte mit den Schultern. »Mir lag auch Ihr Nachname
auf der Zunge. Da werden wir wohl noch etwas üben müssen.«
Lilly zog ihre Jacke aus und setzte sich. »Dein«, sagte sie und
fügte hinzu, als sie sein fragendes Gesicht sah: »Dein Nachname, muss es heißen.«
Er grinste. »Aller Anfang ist schwer. Was trinkst du?«
»Milchkaffee. Ohne Zucker und mit viel Schaum. Und du?«
»Normalen Kaffee, ohne Milch und Zucker. Am liebsten
stark.«
Lilly verzog ihr Gesicht. »Tödlich, würde ich mal sagen. Aber
gut zu behalten.«
Julius bestellte die Getränke und ging kurz darauf gemeinsam mit Lilly zum Frühstücksbüffet. Als sie wieder am Platz
saßen, studierte jeder der beiden den Teller des anderen.
»Croissant, Erdbeermarmelade, Käse und Rührei«, zählte er
mit Blick auf ihren Teller auf.
»Und Sie – ich meine, du magst kein Ei?«
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Auf seinem Teller befanden sich ein Laugenbrötchen, ein
Stück Camembert, Schinkenscheiben und Weintrauben.
»Nein«, antwortete er. »Ei liegt mir schwer im Magen.«
Als eine Kellnerin die Getränke brachte, sagten Lilly und Julius gleichzeitig: »Danke!«
»Aller Anfang ist schwer!«, zitierte Lilly ihn schmunzelnd.
Während sie aßen, erzählte Julius Berger aus seiner, wie er
es nannte, Biografie. Seine Eltern waren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als er neun Jahre alt war. Er sei
dann nach einem Jahr Irrfahrt durch die Verwandtschaft zu
seiner Tante ins Alte Land gekommen und habe in Jork auf
dem Gymnasium sein Abitur gemacht.
»Anschließend habe ich in Hamburg studiert. Betriebswirtschaft und nebenbei habe ich Kurse an einer privaten Kunstschule besucht. Zum Künstler hat am Schluss leider nicht
gereicht, aber für meine Arbeit waren meine künstlerischen
Ambitionen natürlich schon von Vorteil. Irgendwann ergab
sich die Sache mit der eigenen Agentur. Zuerst zu dritt, wie
du ja sicher aus der Geschäftschronik weißt und seit fünf Jahren als alleiniger Geschäftsführer und mit meiner Tante als
stille Teilhaberin. Ich brauchte das Geld, um meine Kompagnons auszahlen zu können. Da du seit zwei Jahren bei uns
bist, kennst du den Rest. Allerdings mischt sich meine Tante
nicht ins operative Geschäft ein, von daher wird das kaum ein
Thema sein.«
»Wir bleiben dabei, dass ich in der Agentur arbeite?«
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Ich denke, wir
haben uns über die Arbeit kennengelernt. So ganz klassisch.
Allerdings passt es dann nicht, dass du schon zwei Jahre in der
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Agentur bist. Was hältst du von drei Monaten?«
Lilly zuckte mit den Schultern. »Ja, warum nicht?«
»Dann wird das mit der Liebe auf den ersten Blick nachvollziehbar. Bei deinem Vorstellungsgespräch war ich erkrankt
und wir haben uns erst kennengelernt, als du schon bei uns
gearbeitet hast.«
Lilly sah ihn erstaunt an. »Warum?«
»Damit es nicht so aussieht, als hätte ich dich nur wegen deiner schönen Augen angestellt. Du bist natürlich hochqualifiziert und …«
»Sie scheinen sich ja alles schon genau zurechtgelegt zu haben«, unterbrach Lilly ihn.
Er schmunzelte. »Wollen wir vielleicht eine kleine Kasse aufmachen? Für jedes Sie einen Euro, den wir zu der Summe für
das Hospiz hinzurechnen?«
Lilly stöhnte leise. »Das wird ganz schön schwierig mit dem
Du. Kaum entspanne ich ein wenig und bin nicht mehr ganz so
konzentriert, rutscht automatisch dieses Sie wieder rein.«
»Wir haben ja noch ein paar Tage Zeit. Das wird sich legen,
wenn wir uns erst einmal richtig kennengelernt haben.«
Ihre Blicke trafen sich und einen Moment sahen sie einander
in die Augen, bevor Lilly den Kopf senkte. »Das klingt jetzt …«,
sagte sie, ehe sie abbrach.
»Hätte ich es anders ausdrücken sollen?«, fragte Julius Berger
vorsichtig. »Ich meine, in gewisser Weise ist das doch ein fast
klassisches Kennenlernen wie in jeder beginnenden Zweierbeziehung. Am Ende wirst du wohl das eine oder andere über
mich wissen, was normalerweise … eigentlich …« Er stutzte.
»Na ja, etwas privater ist. Und vermutlich umgekehrt genauso.«
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Julius Berger sprach das aus, was Lilly schon die ganze Zeit
Kopfzerbrechen bereitete. Wollte sie wirklich ihr ganzes Leben
vor ihrem Chef ausbreiten? Konnte sie später noch mit ihm zusammenarbeiten, obwohl sie so viel von ihm wusste?
»Wir werden wohl etwas aufpassen müssen, wie weit wir gehen«, sagte sie schließlich.
Wieder trafen sich ihre Blicke. Seine kastanienbraunen Augen schienen sie anzulächeln. Für einen Moment hatte sie das
Gefühl, in ihnen zu versinken. Ihr Atem stockte.
»Ich meine … Es gibt auch ein Danach. Immerhin bist du
mein Chef und wir müssen auch später miteinander auskommen.«
Julius Berger beugte sich vor und legte die Hand auf ihren
Arm. »Ich glaube, das schaffen wir schon.«
Lillys erster Impuls war, seine Hand abzuschütteln, aber sie
zwang sich, ruhig zu bleiben, bis Julius Berger seine Hand zurückzog.
Jetzt schmunzelte er. »Hast du dir schon Gedanken über den
Verlobungsring gemacht?«
Lilly sah ihn ernst an. Mit der Frage hatte sie schon den
ganzen Morgen gerechnet. »Groß, teuer, protzig. Was sonst?«
Für einen Moment schien Julius Berger irritiert. Doch als sich
auf Lillys Gesicht ein Grinsen breitmachte, sagte er schließlich:
»Eins zu null für dich.« Mit einem Lächeln erkundigte er sich:
»Noch einen Milchkaffee?«
»Gerne«, antwortete Lilly und freute sich insgeheim über ihre
spritzige Antwort auf die Frage nach dem Ring. Sie wollte auf
keinen Fall den Eindruck hinterlassen, von der ganzen Sache
finanziell profitieren zu wollen. Sicher war ein Ring notwen-
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dig, um Julius Bergers Tante zu überzeugen, aber … Sie stutzte.
Immer noch nannte sie ihren Chef in Gedanken beim ganzen
Namen. Sie würde sich zwingen müssen, nur noch seinen Vornamen zu benutzen. Dabei gefiel ihr gerade der Vorname ausgesprochen gut. Er hatte etwas Jungenhaftes und gleichzeitig
Weltmännisches an sich.
Als der Milchkaffee vor ihr stand, fragte Julius sie nach ihrem
Leben.
»Da gibt es nicht viel zu erzählen.«
»Das kann ich mir nun wirklich schlecht vorstellen. Eine Frau
mit deiner Ausstrahlung und Schönheit wird doch sicher einiges erlebt haben.«
Lilly sah ihn streng an. »Flirten Sie gerade mit mir?«
Julius schreckte zurück. »Aber Frau Husmann. Das würde ich
mir niemals erlauben.«
Lilly musste unwillkürlich lachen. »Okay! Eins zu eins. Ich
habe dich wieder gesiezt.« Sie zog ihr Portemonnaie aus der
Handtasche und legte einen Euro auf den Tisch. »Wohin damit?«
Julius nahm die Münze an sich. »Ich sammle sie.«
Lilly nickte. »Aber meine Frage war nicht ganz unberechtigt,
oder?«
»Lediglich eine kleine Trockenübung. Meine Tante ist nur
schwer zu überzeugen. Da muss ich mich …«
»Schon gut«, unterbrach sie ihn. »Also, dann muss ich wohl
oder übel etwas von mir erzählen.« Sie machte eine kurze Pause und überlegte, womit sie anfangen sollte. »Geboren bin ich –
bitte, jetzt nicht lachen – in Ostfriesland. In einem Vorort von
Leer. Meine Eltern sind ganz normale Leute. Papa ist Sachbear-
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beiter im Jugendamt und meine Mama ist Erzieherin im Kindergarten. Zumindest war sie es, bevor meine Geschwister und
ich kamen. Mein Bruder ist zwei Jahre älter als ich und meine
beiden Schwestern drei beziehungsweise fünf Jahre jünger.«
»Da ist es ja sicher hoch hergegangen bei euch.«
»Hin und wieder schon. Aber eigentlich waren wir ein Herz
und eine Seele. Und sind es natürlich noch. Meinen Eltern war
unser Familienleben immer heilig. Am Morgen das gemeinsame Frühstück und abends zum Abschluss des Tages wieder
an unserem großen Küchentisch. Da fand sozusagen das ganze
Leben statt. Wir haben dort gespielt und gemalt und später, als
wir älter waren, unsere Schularbeiten gemacht. Meine Mutter
war auf der einen Seite immer da und hat uns trotzdem viele
Freiheiten gelassen. Wir konnten jederzeit auf sie bauen. Wenn
ein Lehrer uns ungerecht behandelt hatte, war sie im nächsten
Augenblick in der Schule und hat für uns wie eine Löwin gekämpft.«
Julius hatte aufmerksam zugehört und lächelte. »In einer solchen Familie wäre ich auch gerne groß geworden. Ich war leider ein Einzelkind. Meiner Mutter war ihre Arbeit immer sehr
wichtig. Da ist die Familie auch mal zu kurz gekommen.«
»Kinder machen viel Arbeit. Die Entscheidung, zehn oder
zwanzig Jahre aus dem Beruf auszuscheiden, ist wirklich nicht
einfach. Heute arbeitet Mama wieder im Kindergarten, aber
als sie neu eingestiegen ist, musste sie einiges nachholen. Wieder die Schulbank drücken, hat sie es genannt. Aber ich glaube
nicht, dass sie ihre Entscheidung jemals bereut hat. Und wenn
ich sehe, wie sie mit ihrem ersten Enkelkind umgeht, glaube
ich eher, sie trauert der Zeit mit ihren Kindern nach und würde
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sie gerne zurückholen.«
»Du bist also Tante?«
Lillys Augen leuchten auf. »Ja, Emilia ist jetzt fünf Jahre alt
und das süßeste Kind, das ich je gesehen habe. Ich bin ihre
Taufpatin.«
»Das klingt, als hättest du später auch gerne Kinder.«
»Wenn ich den richtigen Mann dazu finde, natürlich.«
»Eins oder zwei?«
»Kann man das im Vorfeld sagen? Wünschen würde ich mir
zwei Mädchen und einen Jungen. Aber auch alles andere wäre
mir recht. Ich glaube, wenn das Kind erst einmal da ist, vergisst
man ganz, wie man sich das in der Theorie mal vorgestellt hat.
Das muss ein überwältigendes Gefühl sein, ein solches kleines
Bündel Mensch im Arm zu haben und zu wissen, dass es ein
Teil von einem selbst und von dem Menschen ist, den man
liebt.«
Julius sah sie lächelnd an. »Ich glaube, du wirst das Herz meiner Tante in Windeseile erobern. Ihr seid euch sehr ähnlich.«
Eine halbe Stunde später saßen sie bei einem Juwelier vor einer
Vitrine und sahen sich die Ringe an. Der Verkäufer hatte im
ersten Moment gezögert, als Julius sein Anliegen schilderte.
Vermutlich saß zum ersten Mal nicht nur der zukünftige Bräutigam vor ihm, sondern auch die Frau, die den Verlobungsring
tragen würde.
»Haben Sie schon Vorstellungen, in welche Richtung es gehen
soll?«, fragte der Mann mittleren Alters.
»Eigentlich nicht«, sagte Julius schmunzelnd und schien an
Lillys Anforderung zu denken: groß, teuer, protzig. »Aber ich
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glaube, ich habe so eine Ahnung, was meine Freundin bevorzugt.« Er sah kurz zu Lilly, die die Augenbrauen hob und gespannt darauf wartete, was er vorschlagen würde. »Ich denke,
es sollte schlicht, aber edel sein. Kein Gold, höchstens Weißgold oder Platin. Nein, Platin nicht, Weißgold ist ein guter
Mittelweg. Nicht zu breit, aber auch nicht so schmal, dass er
fast nicht mehr sichtbar ist. Und ein Diamant wäre gut. Die
Größe: Ein Karat ist sicher zu mächtig.« Er sah Lilly an. »Oder
sollte ich zu protzig sagen? Also, ich denke ein schöner Stein
zwischen einem viertel und einem halben Karat wäre genau
richtig. Dann bleibt nur noch die Frage, wie der Diamant eingelassen sein soll.« Julius schien zu überlegen oder auf Hilfe
von Lilly zu warten. Die schüttelte den Kopf und sagte: »Jetzt
bin ich aber gespannt.«
»Wie wäre es, wenn wir den Ring aufschneiden und den Stein
als Brücke einsetzen?«
»Ich bin beeindruckt.« Lilly wandte sich an den Verkäufer, der
die Szene mit wachsendem Erstaunen verfolgt hatte. »Mein zukünftiger Verlobter kennt mich wirklich ausgezeichnet. Haben
Sie einen Ring, der alle seine Kriterien erfüllt?«
Hastig zog der Mann mehrere Schubladen auf und suchte unterschiedliche Ringe zusammen, die er gleich darauf auf eine
Unterlage aus schwarzem Samt legte.
»Ich habe hier acht unterschiedliche Modelle, die ihren Vorstellungen nahekommen. Ich persönlich würde dieses Exemplar empfehlen.« Er griff nach einem der Ringe und reichte ihn
Lilly.
Sie nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn. »Was meinst
du?«, fragte sie an Julius gewandt.
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»Der Stein ist zu groß und thront regelrecht obendrauf.« Er
nahm einen der anderen Ringe, streifte ihn Lilly über den Finger und fragte: »Richtig?«
Der Diamant schien nahezu mit den beiden Seiten des aufgeschnittenen Rings zu verschmelzen, als versuche er, zu vermitteln und elegant die zerstörte Einheit wiederherzustellen.
Lilly war verblüfft über Julius‘ Wahl. Der Ring war wunderschön und passte hervorragend an ihre Hand. Gleichzeitig hatte er genau die richtige Größe. War es Zufall gewesen oder war
Julius ein so guter Beobachter?
»Perfekt!«, sagte Lilly schließlich.
Julius legte seine Kreditkarte auf den Tisch. Der Verkäufer
zögerte einen Augenblick, als vermute er einen Scherz, nahm
dann aber mit einem professionellen Lächeln die Kreditkarte entgegen, schob Julius Berger den Preiszettel zu und ging,
nachdem dieser kurz genickt hatte, mit der Kreditkarte zur
Kasse.
Wenig später standen Lilly und Julius vor dem Juweliergeschäft und schauten sich unschlüssig an.
»Das hat ja wunderbar geklappt«, sagte Julius mit Blick auf
die kleine schwarze Schachtel in seiner Hand. »Wie wäre es mit
einem Spaziergang um die Binnenalster? Anschließend essen
wir eine Kleinigkeit und heute Nachmittag gehen wir einkaufen.«
Nur wenige Jogger und Spaziergänger begegneten ihnen auf
dem Weg. Lilly blieb stehen und sah übers Wasser auf die Häuser-Silhouette auf der anderen Seite. Julius folgte ihrem Blick
und zeigte auf das Hotel Vier Jahreszeiten. »Das wäre doch der
richtige Rahmen für unsere Hochzeit.«
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»Was kostet dort ein Zimmer? Fünfhundert? Und die Hochzeitssuite? Viertausend? Würdest du wirklich da feiern wollen?«
Er überlegte einen Moment und lächelte dann. »Nein, du hast
recht. Das würde nicht zu uns beiden passen.«
»Außerdem findet die Hochzeit doch traditionell im Heimatort der Braut statt.«
»Dann nehmen wir einen ostfriesischen Landgasthof, laden
die Hamburger Gäste in ein Schiff und fahren mit ihnen die
Küste entlang. Hat Leer einen Hafen?«
»Das solltest du als mein zukünftiger Bräutigam aber wissen.
Oder habe ich dich noch nicht meinen Eltern vorgestellt?«
»Auf jeden Fall. Ich meine, dass ich deine Eltern besucht habe.
Und mit der Geschichte von Leer und Ostfriesland werde ich
mich auch noch beschäftigen. Also, gibt es jetzt einen Hafen?«
»Nicht nur das. Im 15. Jahrhundert hat sich Leer mit Hamburg gegen die damals weit verbreiteten Piraten verbündet und
mehrere Burgen in Ostfriesland gebaut.«
»Klingt gut! Das wird meine Tante begeistern. Eine Verbindung über Jahrhunderte.« Er grinste. »Sozusagen ein Pakt für
die Ewigkeit.«
Lilly wurde ernst. »Sollten wir nicht etwas … seriöser mit der
ganzen Sache umgehen? Deine Tante ist sehr krank und wir
spielen ihr heile Welt vor, da möchte ich mich nicht auch noch
lustig machen über unsere vermeintliche Beziehung.«
Julius hielt ihr die gefalteten Hände entgegen. »Entschuldige!
Du hast natürlich recht. Das ist wohl meine Unsicherheit, weil
ich nicht weiß, wie ich mit uns umgehen soll. Das war immerhin der erste Verlobungsring, den ich gekauft habe.« Er öffnete
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die Schachtel, die er immer noch in der Hand hatte. »Wann soll
oder darf ich ihn dir denn anstecken?«
Lilly rollte mit den Augen. »Wenn wir auf dem Weg zu deiner
Tante sind. So weit brauchen wir das Spiel wirklich nicht zu
treiben, dass du mir einen Heiratsantrag machst – am besten
noch mit Kniefall und allem Drum und Dran.«
»Schade! Ich hatte gehofft …«
Lilly schüttelte missbilligend den Kopf. »Ende, Herr Berger.
Und übrigens: Wir hatten eine Abmachung. Wir wollten abwechselnd bestimmen, was wir gemeinsam machen. Der RingKauf war deine Idee, der Spaziergang auch und den Einkaufsbummel hast auch du vorgeschlagen.«
Julius hob entschuldigend die Hände hoch. »Stimmt! Schlechte Angewohnheit, immer die Linie vorgeben zu wollen. Ich gelobe, mich zu bessern, und schweige erst mal.« Er presste mit
Daumen und Zeigefinger die Lippen zusammen.
Lilly stöhnte leise und murmelte: »Männer! Nun gut. Kennt
deine Tante deine Hamburger Wohnung?«
Er nickte schweigend.
»Dann nehmen wir gleich ein Taxi und ich bekomme eine
Führung.«
Julius riss die Augen auf, als sei er erschrocken, schwieg aber
weiter.
»Keine Widerrede. Oder erwartet mich da eine ganz besondere Überraschung?«
Er schaute sie fragend an und brach sein Schweigen. »Du
meinst eine wunderschöne Blondine, die halbnackt durch meine Wohnung läuft und dich mitleidig angrinst.«
Als Lilly ihm gerade antworten wollte, trat Julius auf die Stra-
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ße und riss den Arm hoch. Erst jetzt sah Lilly das sich nähernde
Taxi, das gleich darauf auf ihrer Höhe hielt. Julius öffnete die
Tür und wartete, bis Lilly eingestiegen war.
Als der Fahrer sich umdrehte und nach der Adresse fragte,
nannte Julius Straße und Stadtteil.
»Nur eine Wohnung«, meinte er entschuldigend, als er Lilly
schlucken sah. »Nicht wirklich groß und auch nur gemietet.«
Die nicht wirklich große Wohnung stellte sich als Dachgeschossloft mit Blick auf die Elbe heraus. Beste Adresse in
Blankenese, Altbauvilla mit einem parkartigen Garten. Vor
der Wohnungstür blieb Julius stehen. »Ich habe dich gewarnt.
Meine Putzfrau kommt erst morgen und …«
»Blond oder brünett?«
Julius hielt sein Ohr an die Tür, als würde er horchen. Dann
drehte er sich zu Lilly um und grinste. »Ehrlich, ich habe keine
Ahnung. Ich habe gestern ein paar Glas zu viel getrunken und
…«
»Schlüssel!«, forderte Lilly und hielt ihm die geöffnete Hand
entgegen. Sie wunderte sich immer mehr über ihre resolute
und gleichzeitig ungezwungene Art, mit Julius Berger umzugehen. Normalerweise dachte sie immer erst ewig nach, ehe
ihr eine spritzige Antwort in den Sinn kam – und dann war
es meist schon zu spät. Aber bei ihm fiel es ihr plötzlich ganz
leicht. Und sie musste zugeben, dass die Zeit mit Julius Berger
wie im Fluge verging.
Sie öffnete die Tür und stand einen Moment später in einem
kleinen Flur, von dem fünf Türen abgingen.
»Links das Schlafzimmer, die Gästetoilette und das Bad. In
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der Mitte die Küche, ganz rechts das Wohnzimmer«, erklärte
Julius.
Lilly öffnete die rechte Tür und befand sich in einem circa
fünfzig Quadratmeter großen Raum, dessen Fenster zur Elbe
hinausgingen. In der Mitte des Zimmers standen drei mit
hellem Stoff bezogene Sofas, die in einem Halbkreis angeordnet waren. In jeder der vier Ecken thronte eine große schlanke
Musikbox. An der hinteren Wand sah Lilly ein Bücherregal,
das bis zur Decke reichte. Davor eine verschiebbare Leiter. Außer einem alten großen Holzschrank befand sich nichts weiter
im Zimmer. Der Raum strahlte eine unglaubliche Ruhe aus,
lud geradezu zum Entspannen und Krafttanken ein.
»Hast du keinen Fernseher?«, fragte Lilly.
»Den habe ich vor langer Zeit aus dem Fenster geworfen. Ich
glaube, er hatte einen Defekt. Mir sind Musik und Bücher lieber. Und natürlich der Ausblick. Darf ich die Anlage anstellen?«
»Es ist immer noch deine Wohnung.«
»Und du bist mein Gast. Und der ist der König«, ergänzte Julius.
Er ging zum Schrank und öffnete ihn. Hierin befand sich
neben der Anlage eine Art Bar. Julius legte eine CD ein und
schloss den Schrank wieder. Norah Jones‘ Stimme erklang und
erfüllte den Raum mit einem Meer von Klängen. Julius zeigte
auf die Sofas und wartete, bis Lilly sich gesetzt hatte. In der
Sitzposition vervielfachte sich das Klangerlebnis durch die optimal angeordneten Boxen. Lilly schloss die Augen und fühlte
sich wie in einem Konzertsaal.
»Wow! Das habe ich noch nie erlebt. Die Anlage muss ein
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Vermögen gekostet haben.«
Julius zuckte mit den Schultern. »Die hat mir meine Tante
zum dreißigsten Geburtstag geschenkt. Jedes Mal, wenn sie
hier ist, bringt sie mir klassische Musik mit und besteht darauf,
dass wir eine CD lang schweigend nebeneinandersitzen. Außer
einem guten Glas Rotwein möchte sie dann nichts haben.«
»Von ihrem Lieblingsneffen einmal abgesehen«, fügte Lilly
hinzu.
»Da ich der Einzige bin, ist ein solcher Titel nicht so schwer zu
erringen. Gefällt dir das Zimmer?«
»Wenn ich für einen Augenblick ausblende, wie hoch die
Mietkosten sein werden und dass ich mir etwas Vergleichbares
wahrscheinlich nie in meinem Leben werde leisten können,
würde ich mal sagen …« Sie lehnte sich auf dem kuschelig weichen Sofa zurück. »… erste Sahne, würde mein Bruder es nennen.«
Julius grinste breit. »Klingt so, als sollte ich ihn bald mal kennenlernen. War er jetzt älter oder jünger als du?«
Lilly zwang sich, ruhig zu bleiben. Wenn Julius so vergesslich
ist, dachte sie, können wir die Aktion gleich abbrechen.
»Älter und meine Schwestern jünger. Enno, Marie und Edda.«
Julius wiederholte die Namen leise und meinte kleinlaut:
»Wir sind ja schließlich erst seit drei Monaten zusammen.«
Lilly stand auf. »Und jetzt die Küche.« Bevor Julius etwas
einwenden konnte, war sie bereits auf dem Weg zur Tür und
stand einen Augenblick später in der Küche. Auf den ersten
Blick sah sie, dass der Raum benutzt wurde. Die Küchenmöbel
waren funktional angeordnet, auf den großen Arbeitsplatten
befanden sich neben einer italienischen Espressomaschine ein
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