Leseprobe - Diaphanes

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Leseprobe - Diaphanes
Spielregeln. 25 Aufstellungen
Herausgegeben von
Claus Pias und Joseph Vogl
Spielregeln. 25 Aufstellungen
Eine Festschrift für Wolfgang Pircher
Herausgegeben von
Peter Berz, Marianne Kubaczek, Eva Laquièze-Waniek und David Unterholzner
diaphanes
Drucklegung mit freundlicher Unterstützung des philosophischen Instituts
der Universität Wien.
1. Auflage
ISBN 978-3-03734-194-0
© diaphanes, Zürich-Berlin 2012
www.diaphanes.net
Alle Rechte vorbehalten
Layout und Druckvorstufe: 2edit, Zürich
Druck: Pustet, Regensburg
Umschlagkonzept: Thomas Bechinger und Christoph Unger
Umschlagabbildung: Quarré navale, aus: Paul Hoste: L’Art des armées navales ou
Traité des évolutions navales, Lyon 1697.
Inhalt
Vorwort
9
ZUR EINSTIMMUNG
Markus Arnold
Regeln der Forschung | Regeln der Kunst
13
BERECHENBAR: DATEN, NETZE, ERWARTUNGEN
Peter Berz
Binary Random Nets I
25
Claus Pias
Zur Epistemologie der Computersimulation
41
Joseph Vogl
Gezähmte Zeit
61
Éric Brian
Das Zittern der unsichtbaren Hand
73
Hermann Rauchenschwandtner
Das Spiel des Lebens
83
ERWARTUNGEN: GEWINNER, VERLIERER, MITSPIELER
Harald Katzmair und Wolfgang Neurath
Up or Out
Herbert Hrachovec
Homo ludens bolognensis
97
107
MITSPIELER: GESCHLECHTER IN IHRER ABFOLGE UND
IHREN ERZÄHLUNGEN
Thomas Brandstetter
Außerirdische entwerfen
123
Klaus Hamberger
Potlatsch und Verwandtschaft
131
Richard Heinrich
The Green-Eyed Monster Game
141
Robert Pfaller
»Bohr nicht in der Nase! Schau dir die Frauen an!«
151
Elisabeth von Samsonow
Zum Spielzeugstatus zeitgenössischer Apparate
159
Katherina Zakravsky
Truth or Dare
173
ERZÄHLUNGEN VON DER LIEBE ZUR
SPRACHE UND ZUR FORM
Eva Laquièze-Waniek
Fort und Da. Zur Ankunft des Subjekts
185
Stanley L. Paulson
Inspiration Form: Wassily Kandinsky und Hans Kelsen
201
Daniel Gethmann
Sprechende Pferde
217
Ulrike Kadi
Bücherwurmeierspiel
233
FORM: ZU LAND, ZU WASSER UND ZU HAUS*
Gustav Deutsch und Hanna Schimek
Pflanzen der Wüste
249
Bernhard Siegert
Schiffe Versenken
259
Anton Tantner
Das Adressierungsspiel
271
ZU HAUS IM RAUSCHEN UND IM SCHNITT
Bernhard J. Dotzler
Treatment der Diven
279
Marianne Kubaczek
Martingale von Cage bis Mozart
293
SCHNITT FÜR SCHNITT VON FLEISCH UND
BLUT ZUR DNA – BERECHENBAR
Elfriede Jelinek
Aber sicher! 2. Akt
307
Rudolf Heinz
In der Regel in der Regel
317
Erich Hörl
Die technische Verwandlung
327
Peter Berz
Binary Random Nets II
343
Abbildungsnachweise
361
Die Autorinnen und Autoren
363
* »Ich kann bei so gestalten Sachen mir bei dem Toback jederzeit erbauliche
Gedanken machen, drum schmauch’ ich voll Zufriedenheit zu Land, zu Wasser und
zu Haus mein Pfeifchen stets in Andacht aus.« (J.S. Bach, BWV 515a)
Vorwort
Eine Regel, an die sich Spieler eines Spiels halten, ist nicht allgemein, wie Begriffe
oder Kategorien. Sie ist aber auch nicht schon die Konkretion des Spiels selbst.
Sie sagt nichts über die konkreten Spieler, die Umstände und den Ausgang einer
Partie. Die Spielregel eröffnet einen Ereignisraum. Er wird von Kulturtechniken
durchzogen, die in nichts anderem bestehen als der taktischen oder strategischen
Anwendung der Regel. Von reinen Vorschriften unterscheiden sich Regeln,
wenn sie das Verhalten von mindestens zwei Spielpartnern ritualisieren.
Gute Spielregeln sind sparsam und kurz im Vergleich zur Länge der aus ihr
folgenden Spiele oder möglichen strategischen Verknüpfungen. Darum werden
sie auch anders überliefert oder aufgezeichnet als bloße Texte. In ihrer Armut
sind sie streng und erheben keinen Besitzanspruch. Aber sie können sich ändern,
mit Gefahr für den Spielablauf selbst.
Kurzum: Spielregeln eröffnen ein Feld, in dem das Denken des Konkreten mit
dem des Abstrakten immer schon konvergiert. Sie geben Urszenen einer kulturund medienwissenschaftlich erweiterten Philosophie zu denken.
Das hier vorliegende Buch versammelt fünfundzwanzig derartige Urszenen um
das Werk eines Wissenschaftlers, der wie kaum ein anderer dem Denken des
Konkreten als Allgemeines verpflichtet ist: der Wiener Philosoph Wolfgang
Pircher. Die Partien, die das Buch ihm zu Ehren durch- und aufspielt, stammen
aus Forschungsfeldern, die er seit langen Jahren mit Hingabe und mitreißender
Leidenschaft bewohnt: Technik & Medien, Ökonomie, Kunst & Psychoanalyse.
Die Beiträge, die sich allesamt aus einer Spielregel entfalten und über sie hinaus
oder in sie hinein gehen, zeichnen in ihrer Verteilung auf diese verschiedenen
Felder des Forschens auch die junge Geschichte einer Philosophie der Kulturtechniken nach, deren Entwicklung Wolfgang Pircher mit vorangetrieben hat.
Sie spielt nicht nur zwischen Disziplinen, sondern auch zwischen Sprachen, in
einem, nicht zuletzt, französisch-deutsch-österreichischen Dialog.
Der Band trägt den Charakter einer kaum geplanten Versammlung. Die Herkünfte der Autorinnen und Autoren sind nicht nur disziplinär sehr verschieden:
sie stammen aus akademischen, nicht akademischen, außer- und nebenakademischen Arbeits- und Lebensweisen. Niemandem, auch nicht den Herausgeberinnen und Herausgebern war bekannt, »woran ich jetzt arbeite« (jandl 23.6.1973).
Und doch schreiben alle, als ob sie es wüssten, in einem Wissenschafts- und
Kunst-Paralog voller Resonanzen.
Wir danken Markus Arnold sehr herzlich für seinen freundlichen Eröffnungszug, wie auch Daniel Eckert, Gert Hasenhütl und Richard Miklin für ihre praktische Unterstützung beim Zustandekommen dieses Buches.
ZUR EINSTIMMUNG
Markus Arnold
Regeln der Forschung | Regeln der Kunst
Wer versucht, allen Regeln zu folgen, wird letztlich
keiner Regel gerecht.
Spiele werden immer wieder als Modell für das soziale Zusammenleben, die
Kommunikation oder auch das miteinander Arbeiten herangezogen. Nicht nur
Wittgenstein widmete sich den Regeln und ihrer regelgerechten Befolgung, als
er das miteinander Sprechen als ein Sprachspiel untersuchte,1 etwa zur selben
Zeit, in den 1920er und 1930er Jahren, waren Spiele mit ihren Regeln auch
Ausgangspunkt für sozialwissenschaftliche Modellierungen des Sozialen, insbesondere dort, wo es darum geht, die Identität sozialer Akteure zu verstehen.
George Herbert Mead, pragmatischer Philosoph und Psychologe, sah zum Beispiel im Spiel den Ort, an dem Kinder das erste Mal lernen, soziale Rollen zu
übernehmen, um mithilfe von Regeln ihr Verhalten mit dem Verhalten anderer
Akteure zu koordinieren. Noch wichtiger war Mead dabei jedoch jene Transformation, durch die ein einzelnes Individuum zu einem sozialen Mitspieler
wird, wie sich der Blick eines Kindes auf sich selbst verändert, wenn es sich
im Spiel als jemanden wahrnimmt, der in der Öffentlichkeit eine soziale Rolle
übernimmt. Seine Beschreibung ist es wert, ausführlich zitiert zu werden:
»[I]n a game where a number of individuals are involved, […] the child taking one role
must be ready to take the role of everyone else. […] He must know what everyone else
is going to do in order to carry out his own play. […] They do not all have to be present
in consciousness at the same time, but at some moments he has to have three or four
individuals present in his own attitude, such as the one who is going to throw the ball,
the one who is going to catch it, and so on. […] This organization is put in the form
of the rules of the game. Children take a great interest in rules. They make rules on the
spot in order to help themselves out of difficulties. Part of the enjoyment of the game is
to get these rules.«2
Mit der Hilfe der Mitspieler verändert sich der Blick auf das eigene Ich: Es sind
ihre kritischen Kommentare, die einem helfen, seine Rolle »richtig« zu spielen.
Man lernt, sich selbst aus der Perspektive der anderen wahrzunehmen und sein
eigenes Ich (»I«) mit dem durch die Kommentare der anderen konstruierten
sozialen Ich (»Me«) zu vergleichen. Man beginnt, ein Selbstbewusstsein zu entwickeln, indem man lernt, sich selbst so zu beurteilen, wie andere einen sehen.3
Es sind die Regeln des Spiels und die von ihnen definierten sozialen Rollen,
1. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Kritisch-genetische Edition, hg. v. Joachim
Schulte u.a., Frankfurt am Main 2001.
2. Georg Herbert Mead: Mind, Self, and Society (1934), Chicago, London 1967, S. 151f.
3. Ebd., S. 173ff.
14
Markus Arnold
welche jene Öffentlichkeit schaffen, vor deren Tribunal wir uns zu rechtfertigen
lernen. In ihr begegnen wir der Perspektive der Gesellschaft, jenem Meadschen
»generalisierten Anderen (generalized other)«, das Erwartungen an uns richtet und
nicht nur unser Verhalten, sondern auch unser Sein kritisch bewertet.4
Doch das ist noch nicht alles: Jene, mit denen man zusammen spielt, sind auch
jene, mit denen man sich verbunden fühlt, deren Urteile man in der Beurteilung
der eigenen Person berücksichtigt, sodass man so etwas wie eine Gemeinschaft
bildet, mit der man sich als Person unwillkürlich identifiziert. Wer dieselben
Spiele nach denselben Regeln spielt, empfindet dieselben Leidenschaften für
dieselben Dinge. Man teilt eine gemeinsame »Kultur«, die unterschieden ist von
den Kulturen jener, die nach anderen Regeln spielen. Mit jedem erfolgreichen
»Spiel« steigt daher auch die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Spiel eine Fortsetzung findet – dieselben Mitspieler erneut zu einem Spiel zusammenkommen
werden, da nur sie den Wert des Spiels und seiner Trophäen würdigen können.
Die Häufigkeit der sozialen Interaktionen und Kontakte zwischen den Mitspielern steigt, während die Kontakte zu jenen, die an dem Spiel nicht teilnehmen,
seltener werden. Kurz: Soziale Spiele knüpfen zwischen einzelnen Personen das,
was die Netzwerktheorie »enge Beziehungen (close ties)« nennt.5
Federico Fellinis ORCHESTERPROBE
Auch Musiker in einem Orchester spielen eine Art Spiel. Federico Fellini konnte
daher auch ein Jahr nach der Ermordung Aldo Moros durch die Roten Brigaden in seinem Film Orchesterprobe (Orig. Prova d’orchestra, 1979) die
Spannungen innerhalb eines Orchesters satirisch für die sozialen Spannungen
innerhalb der italienischen Gesellschaft als Modell verwenden: Ein Fernsehteam
filmt eine Orchesterprobe und interviewt in den Pausen die Musiker und den
Dirigenten. Die Fernsehkamera wird Zeuge, wie der Dirigent mit dem anarchischen Individualismus der Musiker kämpft, aber auch mit den Forderungen der
gewerkschaftlichen Interessensvertretung. Ein Aufstand der Musiker gegen den
autoritären Dirigenten, der in der Kunst etwas Heiliges sieht, das sich demokratischen Entscheidungen entzieht, endet jedoch im Chaos, da die Musiker
und Musikerinnen sich nicht auf alternative Formen der Kooperation einigen
können. Während die einen jede Art der Unterordnung unter eine Autorität
ablehnen, versuchen andere, die persönliche Macht des Dirigenten durch einen
»objektiven« Mechanismus der Koordination zu ersetzen: ein überdimensionales
Metronom, das jubelnd an der Stelle, wo sonst das Dirigentenpult steht, aufgestellt wird. Doch der Widerstand jener, die sich dieser unpersönlichen Herrschaft
nicht unterwerfen wollen, entlädt sich in Gewalt. Das Metronom wird zerstört,
4. Ebd., S. 154ff. Vgl. Markus Arnold: »Öffentlichkeitsregime. Über Macht, Wissen und narrative
Diskurse«, in: Markus Arnold, Gert Dressel und Willy Viehöver (Hg.): Erzählungen im Öffentlichen.
Über die Wirkung narrativer Diskurse, Wiesbaden 2012, S. 363–433.
5. Randall Collins: Interaction Ritual Chains, Princeton, Oxford 2004.
Regeln der Forschung | Regeln der Kunst
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Kämpfe brechen aus, als plötzlich eine Abrissbirne eine Wand des Probensaals
durchschlägt und die Harfenistin tot unter ihren Trümmern begräbt. Geschockt
scharen sich die Musiker wieder um den Dirigenten, um das Musikstück weiter
zu proben. Der Film endet, während der Dirigent, einem Diktator ähnlich,
immer wieder in seine deutsche Muttersprache verfallend, brüllend Anweisungen gibt.
Der Kampf in der Orchesterprobe ist ein Kampf um die Etablierung eines
gemeinsamen, geordneten Spiels. Der Stolz jedes einzelnen auf sein Instrument,
dessen Bedeutung meist auf Kosten der anderen hervorgehoben wird, ist dabei
nur eines der Probleme. Mehrere Orchestermitglieder lassen sich ablenken, da
ihre Aufmerksamkeit durch andere Spiele in Anspruch genommen wird: einer
hört die Radioübertragung eines Fußballspiels, andere treiben ihre Scherze, der
Gewerkschaftsvertreter verhandelt fortwährend am Telefon und ein Pärchen
schäkert und widmet sich erotischen Spielen unter dem Orchesterflügel. Die
Konkurrenz um die Aufmerksamkeit ist groß und es ist schwer, die Konzentration aller auf die Musik und ihre Aufführung aufrechtzuerhalten. Die Regeln
des Musizierens, welche Musiker erst zu einem Orchester vereinigen, werden
ständig von den Regeln anderer Spiele – seien es jene des Sports, der Liebe oder
der Macht – außer Kraft gesetzt.
Obwohl Fellinis Film ein bitter-böses Gleichnis auf die zeitgenössische Politik
Italiens ist, könnte man ohne große Mühe die beißende Satire seiner Orchesterprobe auch auf andere Bereiche übertragen: etwa als Satire auf die – von
ähnlichen Spannungen geprägten – Universitäten, mit ihrem unauflösbaren
Konflikten zwischen den selbstbewussten Wissenschaftlern auf der einen und
dem Rektorat auf der anderen Seite. Auch der Versuch, die Autorität in Form
eines mechanischen Metronoms zu objektivieren, findet an den heutigen Universitäten seine Entsprechung: einerseits in den Diskussionen um »objektive«
Leistungsindikatoren, welche die informellen Entscheidungen der Vergangenheit ersetzen sollen, andererseits in den Diskussionen um Regelstudienzeiten
und eine stärkere Formalisierung der Curricula, welche dem Studienverlauf eine
international vergleichbare Ordnung geben sollen. Aber nicht nur die Universitäten als ganze, sondern jede größere Forschungsgruppe ist mit ähnlichen Problemen bei der Entwicklung und Durchsetzung eigener Spielregeln konfrontiert, wenn sie – wie ein gutes Orchester – koordiniert zusammenarbeiten soll.
Das eigene Spiel spielen
Man sollte annehmen, es sei leicht, die jeweils geltenden Regeln der Forschung
zu bestimmen. Doch dem ist nicht so. Die Grundlagenforschung verfügt über
keine soziale »Rolle« im strengen Sinne, da sie keine funktionale Arbeitsteilung
impliziert, in der einer etwas für einen anderen tut. Klar definierte soziale Rollen
treten in der Regel paarweise auf, sodass die Funktion der einen Rolle durch
die Funktion der anderen bestimmt werden kann. Oder anders gesagt: Soziale
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Markus Arnold
Rollen sind nur relational zu anderen Rollen zu definieren,6 wie etwa die Rolle
des Arztes zu der des Patienten, die des Lehrenden zu der des Studierenden oder
auch die Rollen des Auftragnehmers zu der des Auftraggebers, des Administrators zu der des Administrierten oder auch des Beraters zu der des Beratenen. Die
Regeln der einen Rolle beziehen sich dabei immer auf die Regeln der anderen
Rolle, sodass beide zusammen Verhaltensroutinen entwickeln können, bei der
jede der beiden Seiten gewisse Erwartungen an das Verhalten der anderen Seite
richten kann, Erwartungen, denen entsprochen werden kann, die aber auch
enttäuscht werden können.
Die gesellschaftlichen Erwartungen an die Grundlagenforschung als zentraler
Aufgabe der Wissenschaft werden (im Unterschied zur angewandten Forschung)
jedoch ganz bewusst gesellschaftlich nicht eindeutig definiert. Gernot Böhme
spricht daher – bezogen auf die Grundlagenforschung und ihre Autonomie –
von der »mangelnden gesellschaftlichen Integration der Wissenschaft«.7 Der
»Forscher« bzw. die »Forscherin« ist zwar eine sozial anerkannte Rolle, doch
lassen sich aus den gesellschaftlichen Erwartungen an diese Rolle nur wenige
Verhaltensrichtlinien für die Forschungsarbeit selbst ableiten – am ehesten noch
jene, methodisch abgesicherte Erkenntnisse zu produzieren, die auch der Kritik
standhalten und weitere Forschungen anregen können.
Doch ihre Ziele und ihre gesellschaftlichen Aufgaben werden meist nur vage
angegeben: Nicht nur, wie man zu seinem Ziel kommt, ist unklar, ja ob das
ausgewählte Ziel überhaupt das richtige ist, d.h. ob es erreichbar ist bzw. am
Ende auch das erfüllen kann, was man sich von ihm verspricht, wird bewusst
offen gelassen. Oft weiß man nicht genau, was man sucht, und muss daher im
Forschungsprozess seine Ziele immer wieder neu ordnen. Forschungsgruppen
müssen lernen, immer wieder ihr eigenes Spiel zu eröffnen, mit eigenen Regeln
und eigenen Forschungszielen. Denn letztlich ist es den Forschern und Forscherinnen selbst überantwortet zu entscheiden, welchem Thema sie sich in ihren
Forschungen zuwenden.
Wissenschaftler sollen ein für die Wissenschaft relevantes neues Wissen produzieren, doch ob das Wissen relevant sein wird, lässt sich nicht im Vorhinein
planen. Es bleibt immer der nachfolgenden Entwicklung überlassen, ob dieses
Wissen zur Grundlage weiteren Wissens wird oder ob es keine Beachtung findet. Der einzelne Forscher verfügt damit über keine eindeutigen Richtlinien,
wohin er seine Aufmerksamkeit richten soll, um nicht nur methodisch korrekte,
sondern auch wissenschaftlich relevante Ergebnisse zu produzieren. Ist dies für
die Wissenschaft als solche auch kein Problem, da ihr das Schicksal der einzelnen Forscher gleichgültig ist, für die persönliche Karriereplanung (und auch das
Selbstwertgefühl) des einzelnen Forschers kann dies belastend sein.
6. Gernot Böhme: »Beiläufigkeit – Probleme der Rollentheorie in der Wissenschaftssoziologie«, in:
Ders.: Am Ende des Baconschen Zeitalters. Studien zur Wissenschaftsentwicklung, Frankfurt am Main 1993,
S. 369–392, hier S. 378ff.; Peter L. Berger und Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der
Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main 1980, S. 80f.
7. Böhme: »Beiläufigkeit«, in: Am Ende des Baconschen Zeitalters, a.a.O., S. 378.
Regeln der Forschung | Regeln der Kunst
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Dies hat Konsequenzen für die Steuerung von Wissenschaft: Weil sich die
Grundlagenforschung nicht dogmatisch an vorgegebenen Zielen orientieren
kann, da sie sich dem Neuen und Unvorhersehbaren öffnen soll, können Forscher sich dauerhaft nur über gemeinsame Regeln koordinieren. Folglich müssen sie sich, um diese Regeln zu finden, drei Fragen stellen: (1.) Was für eine
Art Situation ist dies? (2.) Was für eine Person bin ich bzw. will ich in dieser
Situation sein? Und (3.) was soll eine Person wie ich in einer solchen Situation
tun?8 – Die erste Frage ist die Frage nach der Art des Spiels, das in dieser Situation
gespielt werden sollte, die zweite Frage wäre die Frage nach der eigenen Rolle
in diesem Spiel und die dritte entspricht der Frage nach den Regeln für diese
Rolle.
Die Regel der Beiläufigkeit
Um die Grundlagenforschung zu legitimieren, obwohl sie sich durch keine eindeutig definierte soziale Rolle vereinnahmen lässt, beruft man sich aus gutem
Grund meist auf das eine oder andere Argument der »Beiläufigkeit« (Böhme):
Eine Vielzahl an Zielen soll gleichsam nebenbei erreicht werden, obwohl diese
Ziele zu keinem Zeitpunkt von den Akteuren direkt angestrebt werden. Dann
heißt es, Wissenschaft verfolge als Grundlagenforschung zwar ihre eigenen
Ziele, längerfristig aber werden diese dennoch auch den Zielen der Gesellschaft
zugutekommen. Interessanterweise beruft sich aber auch die Auftragsforschung
auf ein Argument der »Beiläufigkeit«, wenn ihre Vertreter erklären, sie verfolge
zwar in erster Linie die von ihren Auftraggebern vorgegebenen Ziele, doch
könnte sie damit (beiläufig) auch den Zielen der Wissenschaft dienen, da die
dabei gewonnenen Erkenntnisse in der Regel über den unmittelbaren Nutzen
hinausweisen würden. Und wenn die Frage aufgeworfen wird, wie am besten
der universitären Lehre gedient werden kann, heißt es an den Universitäten
traditionell, Forschung sei der beste Weg, um (beiläufig) auch das Ziel einer
guten Lehre zu erreichen. Denn – man denke nur an die berühmte »Einheit von
Forschung und Lehre« – wer ein guter und erfolgreicher Forscher sei, könne dies
auch am besten in seinen Lehrveranstaltungen an die Studierenden weitergeben.
Eigene Didaktikseminare seien daher nicht notwendig.
Auf diese Weise ähneln die Rechtfertigungen der Autonomie der Wissenschaften den Argumenten von Adam Smith und seiner »unsichtbaren Hand (invisible hand)« des Marktes bzw. Mandevilles »öffentlichem Nutzen (public benefits)«,
der – ohne dass man dies bewusst anstreben müsste – aus »privaten Lastern (privat
vices)« wie der Gier und der Verschwendung entstehe. Obwohl nur ein Ziel
8. James G. March: A Primer on Decision Making. How Decisions Happen, New York 1994, S. 58. Der
Organisationstheoretiker James G. March zeigt, dass es zwei Arten von Entscheidungen gibt, um die
Zusammenarbeit von Personen zu organisieren: einerseits die Entscheidungen, welche versuchen,
bewusst zwischen unterschiedlichen Zielen zu wählen (rational choice) und andererseits die Entscheidungen, welche Regeln aufzustellen sind, um sich dann an diesen zu orientieren (rule following). Beide
Entscheidungsarten folgen einer eigenen Logik.
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Markus Arnold
direkt angestrebt wird, sollen sich dennoch auch die anderen Ziele erreichen
lassen – indirekt und ganz beiläufig.
Da die gleichzeitige Orientierung an mehreren miteinander konfligierenden
Zielen leicht in einer Überforderung mündet oder aber in einer mittelmäßigen Erfolgsquote in jedem der Bereiche, ist es durchaus rational, den Wissenschaftlern zu ermöglichen, sich auf ein Ziel zu konzentrieren und anzunehmen,
dass – unter gewissen Voraussetzungen – die anderen Ziele auch ohne bewusste
Anstrengung erreicht werden können. Die Regel der Beiläufigkeit ermöglicht
der Forschung, sich auf eine Sache zu spezialisieren, da man hoffen darf, nicht
nur trotz, sondern mithilfe dieser Spezialisierung auch den allgemeineren Erwartungen und Ziele der Gesellschaft zu entsprechen – auch wenn man nicht genau
sagen kann, warum.9
Die Regeln der Reputation
Es ist daher auch kein Zufall, wenn Niklas Luhmann diese indirekte und beiläufige Art der Steuerung als eines der zentralen Charakteristika des autonomen Wissenschaftssystems beschrieben hat. Hierbei greift er auf seine bekannte
Unterscheidung zwischen einem Primär- und einem Sekundärcode zurück: Ist
der Primärcode in der Wissenschaft auch die Unterscheidung wahr/falsch, so
wird dieser notwendigerweise von Sekundärcodes begleitet. Denn der wahr/
falsch-Code kann die Forscher nicht unmittelbar motivieren zu forschen. Hierfür brauchen sie ergänzend Anreize, vor allem durch die Vergabe von Reputation auf der einen und durch finanzielle Inzentive, wie sie durch formale Karriereverläufe institutionalisiert werden, auf der anderen Seite.10 Eine allein an
der Wahrheit orientierte Wissenschaft könnte eben nicht im Leben der Forscher
relevant werden. Dabei sind beide, die Reputation innerhalb der scientific community wie auch der Rang innerhalb der universitären Organisation, selbst schon
Sekundärcodes, die unmittelbar mit dem wahr/falsch-Code der Wissenschaft
nichts zu tun haben, sondern – ähnlich wie die Citation indices und die Rankings
von Instituten und Universitäten – nur ein indirektes Maß für die Qualität der
Forschung bereitstellen.
Wenn aber die Reputation innerhalb der scientific community – und damit die
sozialen Mechanismen der Anerkennung – im Wissenschaftssystem über die
Vergabe von Ressourcen entscheidet, ist es letztlich so, dass paradoxerweise »die
labileren, riskierteren, fragwürdigeren Prozesse im Sozialsystem der Wissenschaft
berufen sind, die stabileren, funktionssichereren, eindeutig legitimierbaren Prozesse zu führen«.11 Denn in der Praxis führt dies zu einer Ziel-Mittel-Umkehr:
9. Rudolf Stichweh: »Bildung, Individualität und die kulturelle Legitimation von Spezialisierung«,
in: Ders.: Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen, Frankfurt am Main 1994, S. 207–
227.
10. Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1992, S. 352ff.
11. Niklas Luhmann: »Selbststeuerung der Wissenschaft« (1968), in: Ders.: Soziologische Aufklärung 1,
Wiesbaden 2005, S. 291–316, hier S. 308.
Regeln der Forschung | Regeln der Kunst
19
Das, was bloß Mittel sein sollte, wird stillschweigend zu einem eigenen Ziel,
während das, was das eigentliche Ziel sein sollte, zu einem bloßen Mittel wird:
»Reputation wird [offiziell] als gerechte Folge der Wahrheitsforderung dargestellt, während praktisch die Wahrheit als Mittel zur Erlangung von Reputation
gefordert wird.«12 Da dies aber der einzige Weg ist, um bei der Steuerung der
Wissenschaft wissenschaftsinterne Kriterien verwenden zu können, ist ein solcher
indirekter Steuerungsmodus – trotz seiner Fragwürdigkeit – die Bedingung für
eine »Selbststeuerung« der Wissenschaft, d.h. für ihre Autonomie.
Die Regeln delegitimieren
Doch nicht nur die Regeln, sondern auch der richtige Umgang mit den Regeln
muss gelernt werden. Denn auch hier gilt das, was einst Aristoteles in seiner
Nikomachischen Ethik in einem ähnlichen Zusammenhang (der richtigen Methode
bei der Beurteilung tugendhaften Handelns) gesagt hat: Es gehe darum, »in den
einzelnen Gebieten [nur] so viel Präzision zu verlangen, als es die Natur des
Gegenstandes zulässt«.13 Das heißt in diesem Fall: Um die Vorteile einer solchen Steuerung der Wissenschaften mithilfe eines Reputationssystems möglichst
ohne die sie begleitenden Nachteile nutzen zu können, muss eine wichtige
Regel eingehalten werden: Die auf Reputation aufbauenden Steuerungssysteme
müssen – trotz ihrer großen Bedeutung – gezielt delegitimiert werden, da Reputation immer nur ein unsicherer Indikator für wissenschaftliche Qualität sein
kann. Eine Wissenschaft, die sich ohne Wenn und Aber an diesem Kriterium
orientiert, läuft Gefahr, ihr eigentliches Ziel, die Erforschung von methodisch
geprüften Aussagen (»Wahrheit«) zu verfehlen. Denn wenn alle Forscher ihre
Forschungsfragen danach ausrichten, was ihrer Meinung nach aktuell am prestigeträchtigsten ist, würden viele relevante Forschungsfragen unbearbeitet liegen
bleiben. Diese Form der Delegitimierung eines unverzichtbaren Steuerungsverfahrens erfordert sogar einen eigenen Sprechstil, wenn über Reputation gesprochen wird. Niklas Luhmann, der immer wieder darauf hinwies, dass Wissenschaft über Reputation gesteuert wird, hat daher zugleich die öffentlich zur
Schau gestellte Gleichgültigkeit gegenüber der Reputation für ein wesentliches
Element dieser Steuerungsform gehalten:
»Steuerungsprozesse dieser Art [werden …] aus systeminternen Gründen unterlegitimiert, damit sie sich nicht als Herrschaft konsolidieren und so ihre offene Komplexität
verlieren. Das zwingt unter anderem zu kommunikativer Vorsicht, zu weitgehendem
Gebrauch indirekter, maskierter, anspielender, unbeantwortbarer Kommunikation, vor
12. Ebd., S. 300. Eine solche Ziel-Mittel-Umkehr findet aber auch auf der Ebene der Lehre statt,
wenn in der Lehr- und Lernpraxis das Sammeln von Zeugnissen (»Scheinen«) die letztlich nicht formal erfassbare Bildung als Ziel ersetzt: vgl. Rudolf Stichweh: »Die Form der Universität«, in: Ders.:
Wissenschaft, Universität, Professionen, a.a.O., S. 246–277.
13. Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1094b 12–13 (übers. v. Ursula Wolf, Hamburg 2006).
20
Markus Arnold
allem Verzicht auf direktes Ansprechen von Personen auf ihre Reputation hin (außer
in stark formalisierten Situationen wie Prüfungen oder Einstellungsverhandlungen oder
in besonders freundschaftlichen Beziehungen). Eine hohe Unsicherheit über die eigene
Reputation ist die Folge, die besonders jüngere Wissenschaftler bedrückt.«14
Die indirekte Steuerung der modernen Wissenschaft verdankt sich nicht
zuletzt ihrer inhaltlichen Offenheit: In der Forschung gibt es nicht mehr eine
»dogmatische« inhaltliche Definition der Wahrheit, wie bis heute in der katholischen Kirche, in der eine bestimmte Anzahl an Aussagen als Dogmen fixiert
wurden, um die theologische Diskussion zu steuern und anhand dieser Gläubige
von Ungläubigen zu unterscheiden. Eine ähnliche Autonomie und Offenheit
hat sich im Bereich der Kunst etabliert.
Die Regeln der Kunst
Die Kunst und die grundlagenorientierte Forschung der Wissenschaft haben
eines gemeinsam: ihre moderne Autonomie. Waren sowohl das Wissen als auch
die Kunst früher eingebettet in soziale Kontexte mit vorgegebenen Zielen und
Aufgaben, so befreiten sich beide seit dem 18. Jahrhundert von diesen äußeren
Rollenzuschreibungen. Anstatt sich an vorgegebenen Regeln zu orientieren,
hatten sie selbst neue Regeln zu erfinden. Gesteuert wurden beide dabei nur
indirekt durch die Vergabe von Reputation und Anerkennung, einerseits durch
die scientific community und andererseits durch die ästhetische Öffentlichkeit der
Kunstkritik und der Kunstsammler.
War der Inhalt der Kunst früher bestimmt durch ihre Einbettung in religiöse Praktiken, wenn sie etwa mit ihren Bildern, Statuen und Gesängen die
kirchliche Andacht unterstützen sollte, so befreite sie sich seit dem 18. Jahrhundert zunehmend von solchen gesellschaftlichen Rollenzuweisungen. Während sowohl Platon wie auch Aristoteles noch ganz selbstverständlich Dichtung,
Gesang und auch Tanz als Instrumente der politisch-ethischen Erziehung der
Bürger angesehen hatten, die gesellschaftlich kontrolliert und zensiert werden
mussten,15 hat sich ab dem 18. Jahrhundert die ästhetische Beurteilung der Kunst
zunehmend von inhaltlichen Vorgaben gelöst, indem nun dem künstlerischen
»Genie« die Aufgabe zufiel, Neues zu schaffen, das sich nicht aus bestehenden
Regeln und künstlerischen Vorschriften ableiten ließ. Die Kunst sollte sich ihre
eigenen Regeln geben oder wie es in Immanuel Kants klassischer Formulierung
über das künstlerische Talent hieß: »Genie ist das Talent (Naturgabe), welches
der Kunst die Regel gibt.«16
14. Niklas Luhmann: »Selbststeuerung der Wissenschaft«, in: Soziologische Aufklärung 1, a.a.O.,
S. 300f.
15. Platon: Politeia 376c-403c, Aristoteles: Politik, 1339a10–1342b35 (übers. v. Franz Susemihl, Hamburg 1994), vgl. Markus Arnold: »Die platonische Logik der Harmonie. Versuch der Rekonstruktion
eines initiatorischen Handelns«, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie XXVII (1995), S. 45–78.
16. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft: B 181.

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