Leseprobe - Diaphanes
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Leseprobe - Diaphanes
Spielregeln. 25 Aufstellungen Herausgegeben von Claus Pias und Joseph Vogl Spielregeln. 25 Aufstellungen Eine Festschrift für Wolfgang Pircher Herausgegeben von Peter Berz, Marianne Kubaczek, Eva Laquièze-Waniek und David Unterholzner diaphanes Drucklegung mit freundlicher Unterstützung des philosophischen Instituts der Universität Wien. 1. Auflage ISBN 978-3-03734-194-0 © diaphanes, Zürich-Berlin 2012 www.diaphanes.net Alle Rechte vorbehalten Layout und Druckvorstufe: 2edit, Zürich Druck: Pustet, Regensburg Umschlagkonzept: Thomas Bechinger und Christoph Unger Umschlagabbildung: Quarré navale, aus: Paul Hoste: L’Art des armées navales ou Traité des évolutions navales, Lyon 1697. Inhalt Vorwort 9 ZUR EINSTIMMUNG Markus Arnold Regeln der Forschung | Regeln der Kunst 13 BERECHENBAR: DATEN, NETZE, ERWARTUNGEN Peter Berz Binary Random Nets I 25 Claus Pias Zur Epistemologie der Computersimulation 41 Joseph Vogl Gezähmte Zeit 61 Éric Brian Das Zittern der unsichtbaren Hand 73 Hermann Rauchenschwandtner Das Spiel des Lebens 83 ERWARTUNGEN: GEWINNER, VERLIERER, MITSPIELER Harald Katzmair und Wolfgang Neurath Up or Out Herbert Hrachovec Homo ludens bolognensis 97 107 MITSPIELER: GESCHLECHTER IN IHRER ABFOLGE UND IHREN ERZÄHLUNGEN Thomas Brandstetter Außerirdische entwerfen 123 Klaus Hamberger Potlatsch und Verwandtschaft 131 Richard Heinrich The Green-Eyed Monster Game 141 Robert Pfaller »Bohr nicht in der Nase! Schau dir die Frauen an!« 151 Elisabeth von Samsonow Zum Spielzeugstatus zeitgenössischer Apparate 159 Katherina Zakravsky Truth or Dare 173 ERZÄHLUNGEN VON DER LIEBE ZUR SPRACHE UND ZUR FORM Eva Laquièze-Waniek Fort und Da. Zur Ankunft des Subjekts 185 Stanley L. Paulson Inspiration Form: Wassily Kandinsky und Hans Kelsen 201 Daniel Gethmann Sprechende Pferde 217 Ulrike Kadi Bücherwurmeierspiel 233 FORM: ZU LAND, ZU WASSER UND ZU HAUS* Gustav Deutsch und Hanna Schimek Pflanzen der Wüste 249 Bernhard Siegert Schiffe Versenken 259 Anton Tantner Das Adressierungsspiel 271 ZU HAUS IM RAUSCHEN UND IM SCHNITT Bernhard J. Dotzler Treatment der Diven 279 Marianne Kubaczek Martingale von Cage bis Mozart 293 SCHNITT FÜR SCHNITT VON FLEISCH UND BLUT ZUR DNA – BERECHENBAR Elfriede Jelinek Aber sicher! 2. Akt 307 Rudolf Heinz In der Regel in der Regel 317 Erich Hörl Die technische Verwandlung 327 Peter Berz Binary Random Nets II 343 Abbildungsnachweise 361 Die Autorinnen und Autoren 363 * »Ich kann bei so gestalten Sachen mir bei dem Toback jederzeit erbauliche Gedanken machen, drum schmauch’ ich voll Zufriedenheit zu Land, zu Wasser und zu Haus mein Pfeifchen stets in Andacht aus.« (J.S. Bach, BWV 515a) Vorwort Eine Regel, an die sich Spieler eines Spiels halten, ist nicht allgemein, wie Begriffe oder Kategorien. Sie ist aber auch nicht schon die Konkretion des Spiels selbst. Sie sagt nichts über die konkreten Spieler, die Umstände und den Ausgang einer Partie. Die Spielregel eröffnet einen Ereignisraum. Er wird von Kulturtechniken durchzogen, die in nichts anderem bestehen als der taktischen oder strategischen Anwendung der Regel. Von reinen Vorschriften unterscheiden sich Regeln, wenn sie das Verhalten von mindestens zwei Spielpartnern ritualisieren. Gute Spielregeln sind sparsam und kurz im Vergleich zur Länge der aus ihr folgenden Spiele oder möglichen strategischen Verknüpfungen. Darum werden sie auch anders überliefert oder aufgezeichnet als bloße Texte. In ihrer Armut sind sie streng und erheben keinen Besitzanspruch. Aber sie können sich ändern, mit Gefahr für den Spielablauf selbst. Kurzum: Spielregeln eröffnen ein Feld, in dem das Denken des Konkreten mit dem des Abstrakten immer schon konvergiert. Sie geben Urszenen einer kulturund medienwissenschaftlich erweiterten Philosophie zu denken. Das hier vorliegende Buch versammelt fünfundzwanzig derartige Urszenen um das Werk eines Wissenschaftlers, der wie kaum ein anderer dem Denken des Konkreten als Allgemeines verpflichtet ist: der Wiener Philosoph Wolfgang Pircher. Die Partien, die das Buch ihm zu Ehren durch- und aufspielt, stammen aus Forschungsfeldern, die er seit langen Jahren mit Hingabe und mitreißender Leidenschaft bewohnt: Technik & Medien, Ökonomie, Kunst & Psychoanalyse. Die Beiträge, die sich allesamt aus einer Spielregel entfalten und über sie hinaus oder in sie hinein gehen, zeichnen in ihrer Verteilung auf diese verschiedenen Felder des Forschens auch die junge Geschichte einer Philosophie der Kulturtechniken nach, deren Entwicklung Wolfgang Pircher mit vorangetrieben hat. Sie spielt nicht nur zwischen Disziplinen, sondern auch zwischen Sprachen, in einem, nicht zuletzt, französisch-deutsch-österreichischen Dialog. Der Band trägt den Charakter einer kaum geplanten Versammlung. Die Herkünfte der Autorinnen und Autoren sind nicht nur disziplinär sehr verschieden: sie stammen aus akademischen, nicht akademischen, außer- und nebenakademischen Arbeits- und Lebensweisen. Niemandem, auch nicht den Herausgeberinnen und Herausgebern war bekannt, »woran ich jetzt arbeite« (jandl 23.6.1973). Und doch schreiben alle, als ob sie es wüssten, in einem Wissenschafts- und Kunst-Paralog voller Resonanzen. Wir danken Markus Arnold sehr herzlich für seinen freundlichen Eröffnungszug, wie auch Daniel Eckert, Gert Hasenhütl und Richard Miklin für ihre praktische Unterstützung beim Zustandekommen dieses Buches. ZUR EINSTIMMUNG Markus Arnold Regeln der Forschung | Regeln der Kunst Wer versucht, allen Regeln zu folgen, wird letztlich keiner Regel gerecht. Spiele werden immer wieder als Modell für das soziale Zusammenleben, die Kommunikation oder auch das miteinander Arbeiten herangezogen. Nicht nur Wittgenstein widmete sich den Regeln und ihrer regelgerechten Befolgung, als er das miteinander Sprechen als ein Sprachspiel untersuchte,1 etwa zur selben Zeit, in den 1920er und 1930er Jahren, waren Spiele mit ihren Regeln auch Ausgangspunkt für sozialwissenschaftliche Modellierungen des Sozialen, insbesondere dort, wo es darum geht, die Identität sozialer Akteure zu verstehen. George Herbert Mead, pragmatischer Philosoph und Psychologe, sah zum Beispiel im Spiel den Ort, an dem Kinder das erste Mal lernen, soziale Rollen zu übernehmen, um mithilfe von Regeln ihr Verhalten mit dem Verhalten anderer Akteure zu koordinieren. Noch wichtiger war Mead dabei jedoch jene Transformation, durch die ein einzelnes Individuum zu einem sozialen Mitspieler wird, wie sich der Blick eines Kindes auf sich selbst verändert, wenn es sich im Spiel als jemanden wahrnimmt, der in der Öffentlichkeit eine soziale Rolle übernimmt. Seine Beschreibung ist es wert, ausführlich zitiert zu werden: »[I]n a game where a number of individuals are involved, […] the child taking one role must be ready to take the role of everyone else. […] He must know what everyone else is going to do in order to carry out his own play. […] They do not all have to be present in consciousness at the same time, but at some moments he has to have three or four individuals present in his own attitude, such as the one who is going to throw the ball, the one who is going to catch it, and so on. […] This organization is put in the form of the rules of the game. Children take a great interest in rules. They make rules on the spot in order to help themselves out of difficulties. Part of the enjoyment of the game is to get these rules.«2 Mit der Hilfe der Mitspieler verändert sich der Blick auf das eigene Ich: Es sind ihre kritischen Kommentare, die einem helfen, seine Rolle »richtig« zu spielen. Man lernt, sich selbst aus der Perspektive der anderen wahrzunehmen und sein eigenes Ich (»I«) mit dem durch die Kommentare der anderen konstruierten sozialen Ich (»Me«) zu vergleichen. Man beginnt, ein Selbstbewusstsein zu entwickeln, indem man lernt, sich selbst so zu beurteilen, wie andere einen sehen.3 Es sind die Regeln des Spiels und die von ihnen definierten sozialen Rollen, 1. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Kritisch-genetische Edition, hg. v. Joachim Schulte u.a., Frankfurt am Main 2001. 2. Georg Herbert Mead: Mind, Self, and Society (1934), Chicago, London 1967, S. 151f. 3. Ebd., S. 173ff. 14 Markus Arnold welche jene Öffentlichkeit schaffen, vor deren Tribunal wir uns zu rechtfertigen lernen. In ihr begegnen wir der Perspektive der Gesellschaft, jenem Meadschen »generalisierten Anderen (generalized other)«, das Erwartungen an uns richtet und nicht nur unser Verhalten, sondern auch unser Sein kritisch bewertet.4 Doch das ist noch nicht alles: Jene, mit denen man zusammen spielt, sind auch jene, mit denen man sich verbunden fühlt, deren Urteile man in der Beurteilung der eigenen Person berücksichtigt, sodass man so etwas wie eine Gemeinschaft bildet, mit der man sich als Person unwillkürlich identifiziert. Wer dieselben Spiele nach denselben Regeln spielt, empfindet dieselben Leidenschaften für dieselben Dinge. Man teilt eine gemeinsame »Kultur«, die unterschieden ist von den Kulturen jener, die nach anderen Regeln spielen. Mit jedem erfolgreichen »Spiel« steigt daher auch die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Spiel eine Fortsetzung findet – dieselben Mitspieler erneut zu einem Spiel zusammenkommen werden, da nur sie den Wert des Spiels und seiner Trophäen würdigen können. Die Häufigkeit der sozialen Interaktionen und Kontakte zwischen den Mitspielern steigt, während die Kontakte zu jenen, die an dem Spiel nicht teilnehmen, seltener werden. Kurz: Soziale Spiele knüpfen zwischen einzelnen Personen das, was die Netzwerktheorie »enge Beziehungen (close ties)« nennt.5 Federico Fellinis ORCHESTERPROBE Auch Musiker in einem Orchester spielen eine Art Spiel. Federico Fellini konnte daher auch ein Jahr nach der Ermordung Aldo Moros durch die Roten Brigaden in seinem Film Orchesterprobe (Orig. Prova d’orchestra, 1979) die Spannungen innerhalb eines Orchesters satirisch für die sozialen Spannungen innerhalb der italienischen Gesellschaft als Modell verwenden: Ein Fernsehteam filmt eine Orchesterprobe und interviewt in den Pausen die Musiker und den Dirigenten. Die Fernsehkamera wird Zeuge, wie der Dirigent mit dem anarchischen Individualismus der Musiker kämpft, aber auch mit den Forderungen der gewerkschaftlichen Interessensvertretung. Ein Aufstand der Musiker gegen den autoritären Dirigenten, der in der Kunst etwas Heiliges sieht, das sich demokratischen Entscheidungen entzieht, endet jedoch im Chaos, da die Musiker und Musikerinnen sich nicht auf alternative Formen der Kooperation einigen können. Während die einen jede Art der Unterordnung unter eine Autorität ablehnen, versuchen andere, die persönliche Macht des Dirigenten durch einen »objektiven« Mechanismus der Koordination zu ersetzen: ein überdimensionales Metronom, das jubelnd an der Stelle, wo sonst das Dirigentenpult steht, aufgestellt wird. Doch der Widerstand jener, die sich dieser unpersönlichen Herrschaft nicht unterwerfen wollen, entlädt sich in Gewalt. Das Metronom wird zerstört, 4. Ebd., S. 154ff. Vgl. Markus Arnold: »Öffentlichkeitsregime. Über Macht, Wissen und narrative Diskurse«, in: Markus Arnold, Gert Dressel und Willy Viehöver (Hg.): Erzählungen im Öffentlichen. Über die Wirkung narrativer Diskurse, Wiesbaden 2012, S. 363–433. 5. Randall Collins: Interaction Ritual Chains, Princeton, Oxford 2004. Regeln der Forschung | Regeln der Kunst 15 Kämpfe brechen aus, als plötzlich eine Abrissbirne eine Wand des Probensaals durchschlägt und die Harfenistin tot unter ihren Trümmern begräbt. Geschockt scharen sich die Musiker wieder um den Dirigenten, um das Musikstück weiter zu proben. Der Film endet, während der Dirigent, einem Diktator ähnlich, immer wieder in seine deutsche Muttersprache verfallend, brüllend Anweisungen gibt. Der Kampf in der Orchesterprobe ist ein Kampf um die Etablierung eines gemeinsamen, geordneten Spiels. Der Stolz jedes einzelnen auf sein Instrument, dessen Bedeutung meist auf Kosten der anderen hervorgehoben wird, ist dabei nur eines der Probleme. Mehrere Orchestermitglieder lassen sich ablenken, da ihre Aufmerksamkeit durch andere Spiele in Anspruch genommen wird: einer hört die Radioübertragung eines Fußballspiels, andere treiben ihre Scherze, der Gewerkschaftsvertreter verhandelt fortwährend am Telefon und ein Pärchen schäkert und widmet sich erotischen Spielen unter dem Orchesterflügel. Die Konkurrenz um die Aufmerksamkeit ist groß und es ist schwer, die Konzentration aller auf die Musik und ihre Aufführung aufrechtzuerhalten. Die Regeln des Musizierens, welche Musiker erst zu einem Orchester vereinigen, werden ständig von den Regeln anderer Spiele – seien es jene des Sports, der Liebe oder der Macht – außer Kraft gesetzt. Obwohl Fellinis Film ein bitter-böses Gleichnis auf die zeitgenössische Politik Italiens ist, könnte man ohne große Mühe die beißende Satire seiner Orchesterprobe auch auf andere Bereiche übertragen: etwa als Satire auf die – von ähnlichen Spannungen geprägten – Universitäten, mit ihrem unauflösbaren Konflikten zwischen den selbstbewussten Wissenschaftlern auf der einen und dem Rektorat auf der anderen Seite. Auch der Versuch, die Autorität in Form eines mechanischen Metronoms zu objektivieren, findet an den heutigen Universitäten seine Entsprechung: einerseits in den Diskussionen um »objektive« Leistungsindikatoren, welche die informellen Entscheidungen der Vergangenheit ersetzen sollen, andererseits in den Diskussionen um Regelstudienzeiten und eine stärkere Formalisierung der Curricula, welche dem Studienverlauf eine international vergleichbare Ordnung geben sollen. Aber nicht nur die Universitäten als ganze, sondern jede größere Forschungsgruppe ist mit ähnlichen Problemen bei der Entwicklung und Durchsetzung eigener Spielregeln konfrontiert, wenn sie – wie ein gutes Orchester – koordiniert zusammenarbeiten soll. Das eigene Spiel spielen Man sollte annehmen, es sei leicht, die jeweils geltenden Regeln der Forschung zu bestimmen. Doch dem ist nicht so. Die Grundlagenforschung verfügt über keine soziale »Rolle« im strengen Sinne, da sie keine funktionale Arbeitsteilung impliziert, in der einer etwas für einen anderen tut. Klar definierte soziale Rollen treten in der Regel paarweise auf, sodass die Funktion der einen Rolle durch die Funktion der anderen bestimmt werden kann. Oder anders gesagt: Soziale 16 Markus Arnold Rollen sind nur relational zu anderen Rollen zu definieren,6 wie etwa die Rolle des Arztes zu der des Patienten, die des Lehrenden zu der des Studierenden oder auch die Rollen des Auftragnehmers zu der des Auftraggebers, des Administrators zu der des Administrierten oder auch des Beraters zu der des Beratenen. Die Regeln der einen Rolle beziehen sich dabei immer auf die Regeln der anderen Rolle, sodass beide zusammen Verhaltensroutinen entwickeln können, bei der jede der beiden Seiten gewisse Erwartungen an das Verhalten der anderen Seite richten kann, Erwartungen, denen entsprochen werden kann, die aber auch enttäuscht werden können. Die gesellschaftlichen Erwartungen an die Grundlagenforschung als zentraler Aufgabe der Wissenschaft werden (im Unterschied zur angewandten Forschung) jedoch ganz bewusst gesellschaftlich nicht eindeutig definiert. Gernot Böhme spricht daher – bezogen auf die Grundlagenforschung und ihre Autonomie – von der »mangelnden gesellschaftlichen Integration der Wissenschaft«.7 Der »Forscher« bzw. die »Forscherin« ist zwar eine sozial anerkannte Rolle, doch lassen sich aus den gesellschaftlichen Erwartungen an diese Rolle nur wenige Verhaltensrichtlinien für die Forschungsarbeit selbst ableiten – am ehesten noch jene, methodisch abgesicherte Erkenntnisse zu produzieren, die auch der Kritik standhalten und weitere Forschungen anregen können. Doch ihre Ziele und ihre gesellschaftlichen Aufgaben werden meist nur vage angegeben: Nicht nur, wie man zu seinem Ziel kommt, ist unklar, ja ob das ausgewählte Ziel überhaupt das richtige ist, d.h. ob es erreichbar ist bzw. am Ende auch das erfüllen kann, was man sich von ihm verspricht, wird bewusst offen gelassen. Oft weiß man nicht genau, was man sucht, und muss daher im Forschungsprozess seine Ziele immer wieder neu ordnen. Forschungsgruppen müssen lernen, immer wieder ihr eigenes Spiel zu eröffnen, mit eigenen Regeln und eigenen Forschungszielen. Denn letztlich ist es den Forschern und Forscherinnen selbst überantwortet zu entscheiden, welchem Thema sie sich in ihren Forschungen zuwenden. Wissenschaftler sollen ein für die Wissenschaft relevantes neues Wissen produzieren, doch ob das Wissen relevant sein wird, lässt sich nicht im Vorhinein planen. Es bleibt immer der nachfolgenden Entwicklung überlassen, ob dieses Wissen zur Grundlage weiteren Wissens wird oder ob es keine Beachtung findet. Der einzelne Forscher verfügt damit über keine eindeutigen Richtlinien, wohin er seine Aufmerksamkeit richten soll, um nicht nur methodisch korrekte, sondern auch wissenschaftlich relevante Ergebnisse zu produzieren. Ist dies für die Wissenschaft als solche auch kein Problem, da ihr das Schicksal der einzelnen Forscher gleichgültig ist, für die persönliche Karriereplanung (und auch das Selbstwertgefühl) des einzelnen Forschers kann dies belastend sein. 6. Gernot Böhme: »Beiläufigkeit – Probleme der Rollentheorie in der Wissenschaftssoziologie«, in: Ders.: Am Ende des Baconschen Zeitalters. Studien zur Wissenschaftsentwicklung, Frankfurt am Main 1993, S. 369–392, hier S. 378ff.; Peter L. Berger und Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main 1980, S. 80f. 7. Böhme: »Beiläufigkeit«, in: Am Ende des Baconschen Zeitalters, a.a.O., S. 378. Regeln der Forschung | Regeln der Kunst 17 Dies hat Konsequenzen für die Steuerung von Wissenschaft: Weil sich die Grundlagenforschung nicht dogmatisch an vorgegebenen Zielen orientieren kann, da sie sich dem Neuen und Unvorhersehbaren öffnen soll, können Forscher sich dauerhaft nur über gemeinsame Regeln koordinieren. Folglich müssen sie sich, um diese Regeln zu finden, drei Fragen stellen: (1.) Was für eine Art Situation ist dies? (2.) Was für eine Person bin ich bzw. will ich in dieser Situation sein? Und (3.) was soll eine Person wie ich in einer solchen Situation tun?8 – Die erste Frage ist die Frage nach der Art des Spiels, das in dieser Situation gespielt werden sollte, die zweite Frage wäre die Frage nach der eigenen Rolle in diesem Spiel und die dritte entspricht der Frage nach den Regeln für diese Rolle. Die Regel der Beiläufigkeit Um die Grundlagenforschung zu legitimieren, obwohl sie sich durch keine eindeutig definierte soziale Rolle vereinnahmen lässt, beruft man sich aus gutem Grund meist auf das eine oder andere Argument der »Beiläufigkeit« (Böhme): Eine Vielzahl an Zielen soll gleichsam nebenbei erreicht werden, obwohl diese Ziele zu keinem Zeitpunkt von den Akteuren direkt angestrebt werden. Dann heißt es, Wissenschaft verfolge als Grundlagenforschung zwar ihre eigenen Ziele, längerfristig aber werden diese dennoch auch den Zielen der Gesellschaft zugutekommen. Interessanterweise beruft sich aber auch die Auftragsforschung auf ein Argument der »Beiläufigkeit«, wenn ihre Vertreter erklären, sie verfolge zwar in erster Linie die von ihren Auftraggebern vorgegebenen Ziele, doch könnte sie damit (beiläufig) auch den Zielen der Wissenschaft dienen, da die dabei gewonnenen Erkenntnisse in der Regel über den unmittelbaren Nutzen hinausweisen würden. Und wenn die Frage aufgeworfen wird, wie am besten der universitären Lehre gedient werden kann, heißt es an den Universitäten traditionell, Forschung sei der beste Weg, um (beiläufig) auch das Ziel einer guten Lehre zu erreichen. Denn – man denke nur an die berühmte »Einheit von Forschung und Lehre« – wer ein guter und erfolgreicher Forscher sei, könne dies auch am besten in seinen Lehrveranstaltungen an die Studierenden weitergeben. Eigene Didaktikseminare seien daher nicht notwendig. Auf diese Weise ähneln die Rechtfertigungen der Autonomie der Wissenschaften den Argumenten von Adam Smith und seiner »unsichtbaren Hand (invisible hand)« des Marktes bzw. Mandevilles »öffentlichem Nutzen (public benefits)«, der – ohne dass man dies bewusst anstreben müsste – aus »privaten Lastern (privat vices)« wie der Gier und der Verschwendung entstehe. Obwohl nur ein Ziel 8. James G. March: A Primer on Decision Making. How Decisions Happen, New York 1994, S. 58. Der Organisationstheoretiker James G. March zeigt, dass es zwei Arten von Entscheidungen gibt, um die Zusammenarbeit von Personen zu organisieren: einerseits die Entscheidungen, welche versuchen, bewusst zwischen unterschiedlichen Zielen zu wählen (rational choice) und andererseits die Entscheidungen, welche Regeln aufzustellen sind, um sich dann an diesen zu orientieren (rule following). Beide Entscheidungsarten folgen einer eigenen Logik. 18 Markus Arnold direkt angestrebt wird, sollen sich dennoch auch die anderen Ziele erreichen lassen – indirekt und ganz beiläufig. Da die gleichzeitige Orientierung an mehreren miteinander konfligierenden Zielen leicht in einer Überforderung mündet oder aber in einer mittelmäßigen Erfolgsquote in jedem der Bereiche, ist es durchaus rational, den Wissenschaftlern zu ermöglichen, sich auf ein Ziel zu konzentrieren und anzunehmen, dass – unter gewissen Voraussetzungen – die anderen Ziele auch ohne bewusste Anstrengung erreicht werden können. Die Regel der Beiläufigkeit ermöglicht der Forschung, sich auf eine Sache zu spezialisieren, da man hoffen darf, nicht nur trotz, sondern mithilfe dieser Spezialisierung auch den allgemeineren Erwartungen und Ziele der Gesellschaft zu entsprechen – auch wenn man nicht genau sagen kann, warum.9 Die Regeln der Reputation Es ist daher auch kein Zufall, wenn Niklas Luhmann diese indirekte und beiläufige Art der Steuerung als eines der zentralen Charakteristika des autonomen Wissenschaftssystems beschrieben hat. Hierbei greift er auf seine bekannte Unterscheidung zwischen einem Primär- und einem Sekundärcode zurück: Ist der Primärcode in der Wissenschaft auch die Unterscheidung wahr/falsch, so wird dieser notwendigerweise von Sekundärcodes begleitet. Denn der wahr/ falsch-Code kann die Forscher nicht unmittelbar motivieren zu forschen. Hierfür brauchen sie ergänzend Anreize, vor allem durch die Vergabe von Reputation auf der einen und durch finanzielle Inzentive, wie sie durch formale Karriereverläufe institutionalisiert werden, auf der anderen Seite.10 Eine allein an der Wahrheit orientierte Wissenschaft könnte eben nicht im Leben der Forscher relevant werden. Dabei sind beide, die Reputation innerhalb der scientific community wie auch der Rang innerhalb der universitären Organisation, selbst schon Sekundärcodes, die unmittelbar mit dem wahr/falsch-Code der Wissenschaft nichts zu tun haben, sondern – ähnlich wie die Citation indices und die Rankings von Instituten und Universitäten – nur ein indirektes Maß für die Qualität der Forschung bereitstellen. Wenn aber die Reputation innerhalb der scientific community – und damit die sozialen Mechanismen der Anerkennung – im Wissenschaftssystem über die Vergabe von Ressourcen entscheidet, ist es letztlich so, dass paradoxerweise »die labileren, riskierteren, fragwürdigeren Prozesse im Sozialsystem der Wissenschaft berufen sind, die stabileren, funktionssichereren, eindeutig legitimierbaren Prozesse zu führen«.11 Denn in der Praxis führt dies zu einer Ziel-Mittel-Umkehr: 9. Rudolf Stichweh: »Bildung, Individualität und die kulturelle Legitimation von Spezialisierung«, in: Ders.: Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen, Frankfurt am Main 1994, S. 207– 227. 10. Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1992, S. 352ff. 11. Niklas Luhmann: »Selbststeuerung der Wissenschaft« (1968), in: Ders.: Soziologische Aufklärung 1, Wiesbaden 2005, S. 291–316, hier S. 308. Regeln der Forschung | Regeln der Kunst 19 Das, was bloß Mittel sein sollte, wird stillschweigend zu einem eigenen Ziel, während das, was das eigentliche Ziel sein sollte, zu einem bloßen Mittel wird: »Reputation wird [offiziell] als gerechte Folge der Wahrheitsforderung dargestellt, während praktisch die Wahrheit als Mittel zur Erlangung von Reputation gefordert wird.«12 Da dies aber der einzige Weg ist, um bei der Steuerung der Wissenschaft wissenschaftsinterne Kriterien verwenden zu können, ist ein solcher indirekter Steuerungsmodus – trotz seiner Fragwürdigkeit – die Bedingung für eine »Selbststeuerung« der Wissenschaft, d.h. für ihre Autonomie. Die Regeln delegitimieren Doch nicht nur die Regeln, sondern auch der richtige Umgang mit den Regeln muss gelernt werden. Denn auch hier gilt das, was einst Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik in einem ähnlichen Zusammenhang (der richtigen Methode bei der Beurteilung tugendhaften Handelns) gesagt hat: Es gehe darum, »in den einzelnen Gebieten [nur] so viel Präzision zu verlangen, als es die Natur des Gegenstandes zulässt«.13 Das heißt in diesem Fall: Um die Vorteile einer solchen Steuerung der Wissenschaften mithilfe eines Reputationssystems möglichst ohne die sie begleitenden Nachteile nutzen zu können, muss eine wichtige Regel eingehalten werden: Die auf Reputation aufbauenden Steuerungssysteme müssen – trotz ihrer großen Bedeutung – gezielt delegitimiert werden, da Reputation immer nur ein unsicherer Indikator für wissenschaftliche Qualität sein kann. Eine Wissenschaft, die sich ohne Wenn und Aber an diesem Kriterium orientiert, läuft Gefahr, ihr eigentliches Ziel, die Erforschung von methodisch geprüften Aussagen (»Wahrheit«) zu verfehlen. Denn wenn alle Forscher ihre Forschungsfragen danach ausrichten, was ihrer Meinung nach aktuell am prestigeträchtigsten ist, würden viele relevante Forschungsfragen unbearbeitet liegen bleiben. Diese Form der Delegitimierung eines unverzichtbaren Steuerungsverfahrens erfordert sogar einen eigenen Sprechstil, wenn über Reputation gesprochen wird. Niklas Luhmann, der immer wieder darauf hinwies, dass Wissenschaft über Reputation gesteuert wird, hat daher zugleich die öffentlich zur Schau gestellte Gleichgültigkeit gegenüber der Reputation für ein wesentliches Element dieser Steuerungsform gehalten: »Steuerungsprozesse dieser Art [werden …] aus systeminternen Gründen unterlegitimiert, damit sie sich nicht als Herrschaft konsolidieren und so ihre offene Komplexität verlieren. Das zwingt unter anderem zu kommunikativer Vorsicht, zu weitgehendem Gebrauch indirekter, maskierter, anspielender, unbeantwortbarer Kommunikation, vor 12. Ebd., S. 300. Eine solche Ziel-Mittel-Umkehr findet aber auch auf der Ebene der Lehre statt, wenn in der Lehr- und Lernpraxis das Sammeln von Zeugnissen (»Scheinen«) die letztlich nicht formal erfassbare Bildung als Ziel ersetzt: vgl. Rudolf Stichweh: »Die Form der Universität«, in: Ders.: Wissenschaft, Universität, Professionen, a.a.O., S. 246–277. 13. Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1094b 12–13 (übers. v. Ursula Wolf, Hamburg 2006). 20 Markus Arnold allem Verzicht auf direktes Ansprechen von Personen auf ihre Reputation hin (außer in stark formalisierten Situationen wie Prüfungen oder Einstellungsverhandlungen oder in besonders freundschaftlichen Beziehungen). Eine hohe Unsicherheit über die eigene Reputation ist die Folge, die besonders jüngere Wissenschaftler bedrückt.«14 Die indirekte Steuerung der modernen Wissenschaft verdankt sich nicht zuletzt ihrer inhaltlichen Offenheit: In der Forschung gibt es nicht mehr eine »dogmatische« inhaltliche Definition der Wahrheit, wie bis heute in der katholischen Kirche, in der eine bestimmte Anzahl an Aussagen als Dogmen fixiert wurden, um die theologische Diskussion zu steuern und anhand dieser Gläubige von Ungläubigen zu unterscheiden. Eine ähnliche Autonomie und Offenheit hat sich im Bereich der Kunst etabliert. Die Regeln der Kunst Die Kunst und die grundlagenorientierte Forschung der Wissenschaft haben eines gemeinsam: ihre moderne Autonomie. Waren sowohl das Wissen als auch die Kunst früher eingebettet in soziale Kontexte mit vorgegebenen Zielen und Aufgaben, so befreiten sich beide seit dem 18. Jahrhundert von diesen äußeren Rollenzuschreibungen. Anstatt sich an vorgegebenen Regeln zu orientieren, hatten sie selbst neue Regeln zu erfinden. Gesteuert wurden beide dabei nur indirekt durch die Vergabe von Reputation und Anerkennung, einerseits durch die scientific community und andererseits durch die ästhetische Öffentlichkeit der Kunstkritik und der Kunstsammler. War der Inhalt der Kunst früher bestimmt durch ihre Einbettung in religiöse Praktiken, wenn sie etwa mit ihren Bildern, Statuen und Gesängen die kirchliche Andacht unterstützen sollte, so befreite sie sich seit dem 18. Jahrhundert zunehmend von solchen gesellschaftlichen Rollenzuweisungen. Während sowohl Platon wie auch Aristoteles noch ganz selbstverständlich Dichtung, Gesang und auch Tanz als Instrumente der politisch-ethischen Erziehung der Bürger angesehen hatten, die gesellschaftlich kontrolliert und zensiert werden mussten,15 hat sich ab dem 18. Jahrhundert die ästhetische Beurteilung der Kunst zunehmend von inhaltlichen Vorgaben gelöst, indem nun dem künstlerischen »Genie« die Aufgabe zufiel, Neues zu schaffen, das sich nicht aus bestehenden Regeln und künstlerischen Vorschriften ableiten ließ. Die Kunst sollte sich ihre eigenen Regeln geben oder wie es in Immanuel Kants klassischer Formulierung über das künstlerische Talent hieß: »Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt.«16 14. Niklas Luhmann: »Selbststeuerung der Wissenschaft«, in: Soziologische Aufklärung 1, a.a.O., S. 300f. 15. Platon: Politeia 376c-403c, Aristoteles: Politik, 1339a10–1342b35 (übers. v. Franz Susemihl, Hamburg 1994), vgl. Markus Arnold: »Die platonische Logik der Harmonie. Versuch der Rekonstruktion eines initiatorischen Handelns«, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie XXVII (1995), S. 45–78. 16. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft: B 181.