Das Messer - bei Collini

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Das Messer - bei Collini
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Das Messer
von Michael Köhlmeier
Hans arbeitet sieben Jahre in der Fremde, weit von zu Hause,
weit von seiner Mutter. Er arbeitet gut und bekommt als Lohn
einen Klumpen Gold. Er trägt ihn auf der Schulter, als er sich
auf den Heimweg macht. Und weil ihm der Goldklumpen so
schwer ist, tauscht er ihn gegen ein Pferd. Und weil ihn das
Pferd abwirft, tauscht er es gegen eine Kuh. Und weil ihn die
Kuh tritt, als er sie melken will, tauscht er sie gegen ein
Schwein. Und weil er das Schwein nicht halten kann, tauscht er
es gegen eine Gans. Und weil er fürchtet, die Gans sei
gestohlen, tauscht er sie gegen einen Schleifstein. Der
Schleifstein ist schwer, ach, schwerer noch als das Gold, Hans
legt ihn auf den Rand eines Brunnens, er will sich ausruhen
und stößt den Stein aus Versehen in den Schacht.
Überglücklich, weil ihn nichts mehr beschwert, kehrt er zu
seiner Mutter zurück.
Meine Großmutter, die Erzerzählerin, hatte an dieser
Geschichte einiges auszusetzen. Den Schluss zum Beispiel
glaubte sie nicht.
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„Den Schluss hat sich der Hans ausgedacht, damit seine
Mutter ihn nicht schimpft“, sagte sie. „Ich glaube, er hat den
Stein einfach liegen lassen. Weil er zu faul war, ihn weiter zu
schleppen. Oder weil er zu faul war zu lernen, was man mit so
einem Stein anfängt. Aber das konnte er der Mutter natürlich
nicht sagen. Immer hat er Pech gehabt, der Hans. Na gut, für
Pech kann der Mensch nichts. Wenn einer Pech hat, darf man
ihn nicht schimpfen. Aber wenn er einen Schleifstein absichtlich
liegen lässt, weil er nicht weiß, was er damit anfangen soll,
dann muss man ihn schimpfen. Und darum hat er gelogen und
hat behauptet, er hat wieder Pech gehabt, der Stein ist ihm in
den Brunnen gefallen.“
Wir standen vor einem Schaufenster, als sie mir ihre Version
der Geschichte erzählte, vor einem „gewissen“ Schaufenster. Es
war unser liebstes Schaufenster. Ein schöneres Schaufenster
gab es für meine Großmutter und mich auf der ganzen Welt
nicht. Es war das Schaufenster des Besteck- und
Messergeschäfts Collini in der Maximilianstraße in Hohenems,
Vorarlberg, Österreich, Europa, Erde, Weltall.
Ich fragte meine Großmutter: „Wozu hätte Hans den
Schleifstein denn brauchen können?“
„Zum Bespiel, um eines dieser Messer hier zu schleifen,
wenn es irgendwann stumpf geworden ist“, sagte sie.
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Hohenems ist klein und war damals noch viel kleiner als
heute, und man musste nicht weit gehen, wenn man einen
Umweg machte. Ganz egal, wo meine Großmutter und ich zu
tun hatten, immer machten wir einen Umweg – beim Collini
vorbei. Sie schaute sich das Besteck an, ich mir die Messer. Und
beide haben wir geträumt.
Meine Großmutter war als Jugendliche Dienstmädchen
gewesen – bei einer „Herrschaft“, wie sie sich ausdrückte. „Ob
ein Haushalt vornehm ist oder nur so tut, als ob er vornehm ist,
das siehst du am Besteck“, pflegte sie zu sagen. Ihre
„Herrschaft“ besaß nur das beste Besteck. In Spatenform zum
Beispiel. Sie zeigte auf den prachtvollen Besteckkoffer in der
Mitte des Schaufensters. „Das ist vornehm!“, rief sie. Von
Damast umgeben lagen in dem Koffer zwölf Messer, zwölf
Gabeln, zwölf Löffel, dann noch Kaffeelöffel, Kuchengabeln,
Kuchenschaufel, Fischmesser und so weiter bis hin zu den
Messerbänkchen. Meine Großmutter war begeistert. Loben
konnte sie ebenso fantasievoll wie tadeln.
Mein Interesse galt freilich nicht dem Besteckkasten in der
Mitte des Schaufensters, sondern den Messern in der linken
Hälfte desselben. Eine unbeschreibliche Auswahl! Jedes
einzelne ein Objekt größter Sehnsucht! Wo soll ich anfangen?
Bei den Wurfmessern. Sie waren aus einem Teil gefertigt, der
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Griff unterschied sich von der Klinge nur dadurch, dass er
angemalt war, rot, grün, blau, gelb. Die Klinge war
doppelschneidig und hatte sichtbar deutlich mehr Gewicht als
der Griff. Dann lagen hier Taschenmesser mit aufgeklappten
verschiedenen Klingen – kleines Messer, großes Messer,
Korkenzieher, Ale, Feile, Scherchen. Am besten gefielen mir die
Fahrtenmesser. Sie steckten in einer Lederscheide, hatten einen
Griff aus dem Geweih eines Hirsches, waren, wie ich zu sehen
glaubte, unheimlich scharf, waren unheimlich lässig und
unheimlich brauchbar. Über solche Messer hatte ich gelesen. In
meinen Lieblingsbüchern. Lederstrumpf von James Fenimore
Cooper oder in Tom Sawyer von Mark Twain. Der gefährliche
Indianer Joe besaß genau so ein Messer. Und mit genau so
einem Messer tötete er Dr. Robinson nachts auf dem Friedhof.
„So eines hätte ich gern“, sagte ich zu meiner Großmutter,
hoffend, sie erinnerte sich vor Weihnachten daran.
„Dafür bist du zu klein“, antwortete sie kalt.
Und sie erklärte es mir. Wenn ein Kind ein Messer besitzt,
dann darf die Klinge nicht länger sein, als die Hand des Kindes
breit ist. Das sei ein Gesetz.
Wenn das stimmte, hatte ich keine Chance. Ich hatte sogar
für ein Kind kleine Hände.
Meine Großmutter sah, dass ich deprimiert war. Um mich
aufzuheitern, erzählte sie mir die Fortsetzung der Geschichte
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vom Hans im Glück – und das war die Geschichte von dem
Schleifstein. Sie setzte dort fort, wo der Schleifstein einsam
neben dem Brunnen liegt.
Sie hatte sich selbstverständlich längst kundig gemacht,
wer dieser Collini ist, der so wunderbares Besteck in der
Auslage seines Geschäfts zeigt – und auch so interessante
Messer, dass dem Enkel an ihrer Hand fast die Augen aus dem
Kopf fielen. Und so erzählte sie mir, um mich darüber hinweg
zu trösten, dass meine Hand zu klein für ein Bowiemesser war,
die folgende Geschichte:
Es war einmal, begann sie, sich streng an die Konvention
haltend, es war einmal ein Mann, der war von zu Hause
losgezogen, um in der Welt sein Glück zu machen – so einer wie
der Hans im Glück, ja, nur ein bisschen gescheiter als der. Der
hatte nichts bei sich als ein Messer, und dieses Messer war
obendrein stumpf, denn er hatte damit nicht nur sein Brot
geschnitten und ab und zu Käse und Wurst, sondern auch einen
Stecken, um besser wandern zu können. Und der Mann ging so
dahin und hatte Durst und kam zu einem Brunnen. Und da sah
er, neben dem Brunnen einen Schleifstein liegen, eben jenen
Schleifstein, den der Hans im Glück hier hatte liegen lassen,
weil er ihm zu schwer war und er keine Idee gehabt hatte, wozu
man so ein Ding brauchen konnte. Dieser Mann, eben der
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Collini, hat an dem Stein sein Messer geschliffen, und es ist
geworden wie neu. Und weil weit und breit niemand war, der
Anspruch auf den Schleifstein erhoben hätte, nahm der Collini
den Stein mit, trug ihn auf seinem Rücken, bis er nach
Hohenems kam. So erzählte meine Großmutter, und es hörte
sich nicht anders an als die Wahrheit. Und wie er Hunger hatte
und kein Geld hatte, der Collini, sagte sie, ging er von Haus zu
Haus und fragte, ob Messer und Scheren zu schleifen wären.
Überall waren Messer und Scheren zu schleifen, und so hat der
Collini Geld verdient. So viel Geld hat er verdient, dass er sich
bald eine Fabrik leisten konnte. In der Fabrik wurden Bestecke
erzeugt, wie sie von vornehmen Herrschaften verwendet
werden, und Messer wurden erzeugt, in die sich unreife Bengel
so sehr verlieben, dass sie traurige Augen bekommen, wenn sie
welche im Schaufenster sehen.
Wer, meine Damen und Herren, hat schon das Glück, einer
Märchenfigur leibhaftig zu begegnen? Ich jedenfalls kenne
niemanden, dem König Drosselbart oder König Blaubart über
den Weg gelaufen wäre oder das Rotkäppchen oder wenigstens
eines der sieben Geißlein. Aber den Collini aus dem Märchen
meiner Großmutter, den habe ich gesehen. Jedenfalls dachte
ich, es sei derjenige. Und meine Großmutter dachte es auch.
Den wir vor uns sahen, war freilich nicht Damian, der erste
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Collini in Hohenems, der klügere Bruder vom Hans im Glück,
der Ende des 19. Jahrhunderts tatsächlich mit einem
Schleifstein auf dem Buckel aus dem Trentino nach Vorarlberg
gekommen war. Mit einem Messer! Nein, den meine
Großmutter und ich sahen, war nicht Damian, sondern Aurelio
Collini. Die älteren unter Ihnen, meine Damen und Herren, die
sich noch an diesen prachtvollen Mann erinnern, werden mir
recht geben: Aurelio Collini passte in ein Märchen, als wäre er
von den Brüdern Grimm persönlich entworfen worden.
Und gerade – ich schwöre – gerade, als meine Großmutter
und ich unsere Nasen am Collini-Schaufenster wieder einmal
platt drückten, trat Aurelio Collini aus der Seitentür des
Hauses und ging gemessenen Schrittes auf die Garage zu. Was
für ein Mann! Wehendes onduliertes weißes Haar auf einem
Löwenkopf! Anzug auch am Werktag, keine Krawatte,
stattdessen ein schickes Tuch um den Hals, die Enden in den
Kragen geschoben. Sonnenbrille über den Augen. Er ging, nein
schlenderte, auf die Garage zu, am Finger den Zündschlüssel.
Ohne einen Blick auf seine Bewunderer öffnete er das
Garagentor. Trat ein. Wir sahen im Schatten die Konturen
eines Autos. Ich schäme mich beinahe, dieses Wunderding ein
Auto zu nennen. Ist es denn erlaubt, einen Chevrolet aus dieser
Zeit sprachlich in dieselbe Kategorie einzureihen wir einen VW
oder einen Opel Rekord? Nein, es ist nicht erlaubt! Nie mehr hat
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es schönere Autos gegeben. Dieser Chevrolet hatte eine türkis
Farbe, ein offenes Verdeck, und wenn ich mich recht erinnere,
einen Fuchsschwanz an der Antenne hängen, prachtvoll wie das
Haar seines Besitzers, nur eben rot und nicht weiß – vielleicht
hat den Fuchsschwanz aber auch meine Fantasie in die
Geschichte geschmuggelt. Und dann sahen meine Großmutter
und ich Aurelio Collini davonfahren, langsam, würdig, ganz und
gar märchenhaft.
Meine Großmutter brauchte mich angesichts dieses Mannes
weder von der Aktualität noch von der Realität des Märchens zu
überzeugen.
In den Schulpausen spielten einige Buben mit Messern. Es
waren vornehmlich solche aus der Südtirolersiedlung.
„Meassarla“ hieß das Spiel. Sie setzten das Messer mit der
Spitze erst auf die Stirn, ließen es fallen, wenn es im Boden
steckenblieb, durften sie weitermachen, wenn nicht, kam der
nächste dran. Stirn, Nasenspitze, Kinn, rechte Schulter, rechter
Ellenbogen, Handwurzel, dann eine Fingerspitze nach der
anderen, dann Hüfte, Knie, Ferse, und das Gleiche auf der
linken Körperhälfte. Gespielt wurde um Groschen. Mitspielen
durfte, wer ein eigenes Messer besaß. Ich besaß keines.
Ein anderes Spiel war riskanter und wurde nicht auf dem
Schulhof gespielt. Man legte die linke Hand auf eine harte
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Unterlage, spreizte die Finger, und dann stach man mit der
Messerspitze in die Zwischenräume. So schnell, wie man sich
eben traute. Je schneller, desto größer die Gefahr, dass man
nicht genau zielte und sich verletzte. Einer stoppte mit der Uhr,
einer zählte die Stiche. Wer das Messer in einen der Finger
rammte, war ausgeschieden und musste zahlen. Gewinner war
der Schnellste, der sich nicht verletzt hatte. Die Einsätze bei
diesem Spiel waren höher. Mitspielen durfte, wer ein eigenes
Messer besaß. Ich besaß keines.
Mein Interesse an Messern steigerte sich zur Wissenschaft.
Ich schlug im Lexikon nach, zeichnete verschiedene Exemplare
ab, afrikanische Messer, Messer aus Burma, Messer der
australischen Ureinwohner. Sogenannte Alleskönner. Meine
Sehnsucht, ein Messer zu besitzen, gewann an
Entschlossenheit, wandelte sich ins Fanatische. Alles, was mit
Messern zu tun hatte, faszinierte mich. In unserem
Besteckkasten allerdings war nicht eines, das der Rede wert
war.
Mein Vater und meine Mutter machten sich Sorgen, was den
Einfluss meiner Großmutter auf mein Seelen- und Geistesleben
betraf. Meine Mutter bangte mehr um meine Seele, mein Vater
mehr um meinen Geist.
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Mein Vater war Historiker, im Beruf des Historikers sah er
das Höchste, was ein Mensch auf dieser Welt erreichen konnte.
Die Märchenwelt meiner Großmutter aber war ihm
unheimlich, und dass sie Märchen und Realität mit
Selbstverständlichkeit durcheinander wirbelte und miteinander
verquickte, empörte ihn.
„Was nicht wahr ist, also Märchen, Sagen, Legenden, muss
als solches gekennzeichnet werden“, verlangte er.
Er hatte nichts gegen Sagen und Märchen, er schätzte die
griechischen Mythen, aber er hielt sie für Kinder und
Jugendliteratur. Der junge Mensch beginnt bei den antiken
Sagen, schreitet von Homer weiter zu Herodot, von Herodot zu
Thukydides, beschäftigt sich anschließend mit der Geschichte
Roms, liest also die acht Bände Römische Geschichte von
Theodor Mommsen, und arbeitet sich, inzwischen fast
erwachsen geworden, durch tausend Jahre Mittelalter, taucht
fröhlich ein in die Renaissance und in das Barock, kämpft sich
durch ein Meer von Jahreszahlen und Namen vor zur
Französischen Revolution und der amerikanischen
Unabhängigkeit, um schließlich im 19. Jahrhundert zu landen,
wo er, mit genügend Wissen und Abgebrühtheit ausgestattet,
sich auf das Grauen des 20. Jahrhunderts vorbereitet.
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Diesem Plan folgend und mein Alter bedenkend, schenkte
er mir zu Weihnachten Die Sagen des klassischen Altertums
von Gustav Schwab.
Ich las über die Entstehung der Welt, las, dass Gaia, die
Erde, und Uranos, der Himmel, in einer ewigen
Liebesumarmung beieinander lagen, las, dass Gaia unzählige
Kinder gebar, las, dass alles so weitergegangen wäre, wenn
nicht eines Tages aus ihrem Schoß anstatt schöne Titanen
hässliche Ungeheuer mit hundert Armen gekrochen wären.
Uranos wollte diese Kinder nicht anerkennen und stieß sie mit
seinem gigantischen Phallus zurück in die Erde. Gaia krümmte
sich unter Schmerzen, Hügel und Berge entstanden. Schließlich
bat sie ihren Sohn Kronos, ihr zu helfen. Sie ließ Eisen wachsen,
und Kronos schmiedete daraus – ja, Sie haben es erraten – ein
Messer. Und mit diesem Messer schnitt Kronos den Phallus
seines Vaters Uranos ab. Von da an waren Himmel und Erde
für immer getrennt. Kronos warf das Glied seines Vaters hinter
sich, es landete im Meer bei Zypern. Der Same, der bei der
Kastration gerade im Begriff war auszutreten, vermischte sich
mit dem Schaum des Meeres, und daraufhin stieg Aphrodite aus
den Wellen empor, die Schaumgeborene, wie sie auch genannt
wird, die Göttin der Liebe.
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Na also! Indirekt wenigstens verdanken wir das Beste, das
wir haben, nämlich die Liebe, einem Messer. Darüber habe ich
mich nun wirklich nicht gewundert.
Meine Mutter teilte durchaus die Bücherliebe ihres Mannes,
aufklärerische Gedanken waren ihr nicht fremd, und sie hörte
auch gerne zu, wenn meine Großmutter erzählte, aber bisweilen
zwickte sie ihr religiöses Gewissen, und sie fühlte sich
verpflichtet, diesem heidnischen Zeug aus Aberglaube und
Wissenschaft etwas Biblisches entgegenzuhalten. Also erzählte
sie mir oder las mir vor, was in den fünf Büchern des Mose
stand, und ich muss sagen, diese Geschichten fand ich nicht
weniger interessant als die Geschichten aus der griechischen
Mythologie. Auch hier wurde gemordet, totgeschlagen,
geplündert, gelogen und betrogen. Und Messer kamen auch vor.
Erinnern Sie sich an die alte Geschichte von Abraham und
seinem Sohn Isaak! Abraham und seine Frau Sara hatten so
lange auf ein Kind gewartet, und endlich hatte Gott ihre Gebete
erhört und ihnen einen Sohn geschenkt, den Isaak. Der Knabe
war das Glück ihres Lebens. Abraham war schon weit über
hundert, und Sara war schon nahe der Hundert. Und dann – bis
heute kommen der Herr Pfarrer und der Herr Rabbi in peinliche
Erklärungsnot –, dann verlangte Gott von Abraham, er solle
seinen Sohn Isaak opfern. Auf einen Berg führen, töten und als
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Opfergabe verbrennen. Und Abraham gehorchte. Heute würde
der Mann eingesperrt werden, damals war sein Tun vorbildlich.
Er führte Isaak auf den Berg, schichtete mit ihm gemeinsam
den Scheiterhaufen auf. Isaak fragte noch, was für ein Tier der
Vater zu opfern gedenke, da zückte Abraham – jawohl! – ein
Messer, wollte dem Sohn an die Gurgel, als ein Engel erschien,
Abrahams Hand fest hielt und ihr das Messer entwand. Schluss
mit Menschenopfer! Statt des Sohnes wird ein Hammel getötet.
Bibelinterpreten meinen, diese Geschichte enthalte den
Kern des Verbots zu töten, das uns später in den zehn Geboten
begegnet. Also den Kern des humanen Denkens, das uns
nahelegt, Konflikte nicht mit Mord und Totschlag lösen zu
wollen.
Das Messer tritt im Laufe seiner Geschichte in verschiedenen
Formen auf. Ich habe mir überlegt, ob ich zu meinem Vortrag
eine Auswahl aus meiner Sammlung mitbringen soll. Ich habe
mich dagegen entschieden. Man will schließlich nicht angeben.
Es gibt Messer, die sind dünn fast wie eine Nadel, andere
haben eine so satte breite Klinge, dass man sie als Spaten
verwenden könnte. Es gibt Messer mit rauer Klingenrückseite,
um Fische abzuschuppen. Es gibt das gefährliche elegante
Stilett, mit dem Don Juan gemordet hat. Es gibt das einfache
Taschenmesser des Bauern, gut, um Wurst, Brot und Käse zu
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schneiden und einem Huhn die Gurgel zu durchtrennen. Und es
gibt das respekteinflößende Bowiemesser, das wir Älteren aus
Büchern von Karl May kennen, für mich eine Königin. Auch das
Skalpell, mit dem der Chirurg Unerwünschtes aus unserem
Körper entfernt, ist ein Messer. Als sehr praktisch erweist sich
das Pfadfindermesser mit seiner Stahlscheide, in der die Klinge
durch Hineinschieben und Herausziehen immer wieder
geschliffen wird. Als Waffe gilt das Springmesser, Knopfdruck
genügt, und die Klinge springt heraus. Unbedingt erwähnen
möchte ich den Krottenhegel, ein einfacher Holzgriff und eine
einfache Klinge, die mit einer drehbaren Metallmuffe
festgestellt werden kann.
Im Faustkeil des Urmenschen darf ein Vorläufer des
Messers gesehen werden. Rasierklingenscharfe Steinmesser
wurden gefunden. Wie hätten die ersten Jäger die Haut ihrer
Beute öffnen können, um an das Fleisch zu gelangen, wenn
nicht mit einem Messer? Vielleicht ist der tödliche Neid des
Kain auf seinen Bruder Abel darauf zurückzuführen, dass jener,
der Jäger, ein Messer besaß, und dieser, der Ackerbauer, nicht.
Wenn die Klinge mondförmig gekrümmt ist, nennt man das
Messer Sichel. Wenn die Klinge sehr lang und breit ist,
sprechen wir von einem Schwert. Das Schwert eignet sich
hervorragend als Symbol, es verweist auf Stärke, Treue und
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andere Perversionen, die sich bis heute mit Vorliebe hinter
solchen großen Worten verbergen.
Wenn das Messer vorne auf einem Gewehrlauf befestigt
wird, sprechen wir von einem Bajonett. Wenn es auf einem
langen Stab steckt, nennen wir es Lanze. Die berühmteste
Lanzenspitze ist die des Longinus. Sie kann in der
Schatzkammer der Wiener Hofburg unter der Inventarnummer
XIII, 19 besichtigt werden. Longinus war einer jener römischen
Soldaten, die bei der Kreuzigung Christi auf dem Kalvarienberg
Wache heilten. Longinus war ein gutmütiger Mann, der solchen
Dienst eigentlich verabscheute. Er litt an einer Krankheit, die
seine Augen jucken ließ, so dass es kaum zum Aushalten war.
Immer wieder rieb er sich die Augen, die sich immer mehr
entzündeten. Longinus wusste, er würde blind werden. Er stand
unter dem Kreuz, an das Jesus genagelt war, und sah, wie
Jesus litt. Da hat er nicht mehr zuschauen wollen und hat dem
Heiland die Lanze in die Seite, ins Herz, gestoßen. Aus
Gutmütigkeit hat er das getan. Und Jesus hat ihn dafür
belohnt. Aus der Wunde rann Blut über den Schaft der Lanze
auf die Hand des Longinus, und dann hat er sich wieder die
Augen gerieben, und siehe, das Blut Christi hat ihn von seinem
Leiden erlöst.
Man stelle sich vor! Ein Gott wird ermordet und zwar aus
Gutmütigkeit, das war ja eindeutig ein Akt der Sterbehilfe –
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und was für ein Gegenstand spielt dabei die Hauptrolle? Das
Messer.
Mit der modernen Kriegsführung verlor das Messer, auch
jenes, das Schwert genannt wird, als militärische Waffe an
Bedeutung. Heißt es. Hieß es bis zum 11. September 2001. Da
haben Terroristen in Amerika Flugzeuge bestiegen und die
Piloten überwältigt. Womit? Mit simplen Teppichmessern. Mit
Messern haben sie der Großmacht USA den schlimmsten Schlag
ihrer Geschichte versetzt.
Jeden Tag stand ich vor dem Schaufenster vom Collini,
meistens sogar zweimal am Tag, vor der Schule und nach der
Schule, und betrachtete die Messer, hoffte halb, die Auslage
werde neu dekoriert, damit ich neue Messer zu sehen bekäme,
hoffte halb, sie werde so belassen, wie sie war, denn die Messer
kannte ich inzwischen von Herzen gut, hatte mit ihnen – in
meiner Fantasie – schon so viel erlebt, dass sie bereits ein
bisschen mir gehörten.
Aber sie gehörten nicht mir. Nicht eines gehörte mir.
Die spektakulärsten Exemplare waren für mich nicht
erschwinglich. Ich zweifelte daran, ob sie für mich je im Leben
erschwinglich sein würden. Messer, deren Griff verziert war
oder schlicht aus Ebenholz oder, wie schon erwähnt, aus Horn
gefertigt war. Messer, deren Scheide mit Lederfransen besetzt
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war, Indianermesser. Echte amerikanische Bowiemesser.
Gefährliche Springmesser, wie einer der Südtiroler eines besaß.
Und dann eines Tages war ein neues Messer in der
Auslage. Ein unscheinbares. Sogar von weitem konnte man
sehen, der Griff war aus billigem Plastik. Die Klinge, das
erkannte ein Fachmann wie ich auf einen Blick, würde nach
einer einzigen Nacht im Freien rosten. Die Scheide war
ebenfalls aus Plastik, nicht schön. Alles in allem ein
Schandfleck in diesem Schaufenster. Aber das Messer kostete
nur elf Schilling. Nichts im Vergleich zu den anderen. Immer
noch viel allerdings im Vergleich zu meiner Barschaft.
Ich habe aus dem Nachtkästchen meiner Mutter gestohlen,
was mir zu den elf Schillingen fehlte. Moralisch war ich unter
durch. Also habe ich auch gleich das Geschäft betreten. Ich habe
mit rauer Stimme gesagt, ich will ein Messer kaufen, aber es sei
nicht für mich, mein Onkel hat mich gebeten, ihm den Gefallen
zu tun, weil er keine Zeit hat. Frau Collini interessierte das
alles nicht. Sie hat auch nicht die Klinge des Messers auf meine
Hand gelegt, um zu überprüfen, ob sie darüber hinausragte. Sie
hat mir das Messer gegeben, hat das Geld genommen und hat
mir erlaubt, einige andere Messer in die Hand zu nehmen.
Sogar das Bowiemesser. Ich durfte es sogar an meinen Gürtel
hängen. Ich war glücklich.
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Und war unglücklich. Was sollte ich mit dem Elf-SchillingMesser tun? Ich verließ den Laden, steckte es in den Ärmel
meines Mantels. Ich blickte mich um, ob irgendwo vielleicht der
Baumann – unser Polizist – zu sehen war.
Wo sollte ich das Messer zu Hause verstecken? Unter
meinem Bett? Dorthin schaute meine Großmutter jeden Abend,
ob Gespenster auf ihre Gelegenheit lauerten. Ich versteckte es
in der Garage. Wir besaßen damals noch kein Auto, in der
Garage war nur eine Sauerei, sonst nichts. Eine Riesensauerei.
Niemand würde dort einen so kleinen Gegenstand wie dieses
Messer finden. Ganz hinten in der Sauerei versteckte ich es.
Noch hatte ich es nicht ein Mal aus der Scheide gezogen.
Wie es der Teufel will, rang sich mein Vater ausgerechnet
in diesen Tagen dazu durch, die Garage aufzuräumen. Er tat
das, während ich in der Schule war. Und er hatte naturgemäß
dabei eine schlechte Laune.
Als ich aus der Schule nach Hause kam, rief er mich zu sich
und fragte: „Was ist das?“
„Ein Messer“, sagte ich.
„Und wie kommt das in die Garage?“, fragte er.
„Weiß nicht“, sagte ich. „Vielleicht hat es der Reinhold hier
vergessen.“
Ich versprach, es zurückzubringen. Ich lief hinauf zum
Bahndamm und warf es in die Brenneseln. Ich habe es nie aus
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der Hülle gezogen. Nie habe ich seine Klinge gesehen. Es ist
verrostet und verrottet und auf seine Art gestorben.
In dem Märchen Die zwei Brüder wird von zwei Brüdern
erzählt, die in die Welt hinaus ziehen. Irgendwann kommen sie
überein, dass es besser sei, sich zu trennen. Jeder will sein
eigenes Leben führen. Aber sie wollen zueinander in
Verbindung bleiben. Sie besitzen ein gemeinsames Messer. Das
hauen sie in eine Eiche. Die eine Seite der Klinge zeigt die
Richtung an, in die der eine Bruder gehen will, die andere Seite
die Richtung des anderen. Sie versprechen einander, von Zeit zu
Zeit zu der Eiche zurückzukehren. Am Messer wird ein Bruder
ablesen können, wie es dem andern geht. Ist dessen Seite rostig,
geht es ihm schlecht.
Der Kommentar meiner Großmutter zu diesem Märchen:
„Und was ist, wenn seine eigene Seite rostig ist? Merkt er erst
dann, dass es ihm selbst schlecht geht?“
Ich glaube, ich habe mein ganzes Leben lang über diesen
Gedanken nachgedacht. Und über das Objekt, das diesen
Gedanken auslöste, das Messer, habe ich auch mein Leben lang
nachgedacht.